Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 28. März 2015, 11.05 - 12.00 Uhr Der Zahn der Gezeiten: Der Atlantik nagt an Frankreichs Küste Mit Reportagen von Bettina Kaps Am Mikrophon: Jeanette Seiffert Musikauswahl: Babette Michel Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Design Gesichter Europas Atmo Brandung Musik O-Ton: "Als ich die Wohnung gekauft hatte, konnte ich das Meer nicht sehen. Dann kam der Orkan Xynthia und hat den oberen Teil der Düne komplett abgetragen. Das war nachts. Als ich morgens aufstand und plötzlich das Meer sehen konnte, dachte ich: Unmöglich, mit meinem Gehirn stimmt was nicht. Ich habe mir die Augen gerieben, dann war ich mir sicher: Es ist wirklich das Meer." Der Zahn der Gezeiten: Der Atlantik nagt an Frankreichs Küste. Eine Sendung mit Reportagen von Bettina Kaps. Am Mikrofon begrüßt Sie Jeanette Seiffert. Musik Atmo Springflut Literatur 1 "Lange bevor man das Meer erblickt, hört und ahnt man das Fürchterliche schon. Man vernimmt zunächst ein entferntes, dumpfes, eintöniges Rauschen. Allmählich jedoch geben alle anderen Geräusche ihm nach und werden von ihm überdeckt. Wo auch immer man den Ozean erblickt, er wird einem überall beeindruckend und beängstigend erscheinen. Man sieht seine Unendlichkeit nicht, doch man fühlt, man hört, man erahnt ihn unendlich." Moderation Vor über 150 Jahren veröffentlichte der Historiker und Schriftsteller Jules Michelet seine naturphilosophische Schrift "Das Meer". Die elementare Gewalt des Ozeans, die er so wortgewaltig beschreibt, faszinierte damals wie heute. Atmo Springflut kurz hoch "Die Flut kommt mit der Geschwindigkeit eines Pferdes im Galopp", so lautet eine Redensart auf der Klosterinsel Saint- Michel in der Normandie - sie hat bis heute einen unheilverkündenden Klang. Am vergangenen Wochenende strömten tausende Schaulustige dorthin, um eine "Jahrhundert-Flut" zu bestaunen: ein imposantes Naturspektakel, bei dem sich die Wellen bis zu 14 Meter hoch auftürmen. Die Springflut entsteht durch eine besondere Himmelskonstellation, die in Wahrheit nicht nur alle hundert, sondern alle 18 Jahre wiederkehrt. Für Besucher ist es ein Nervenkitzel der besonderen Art - für die Küstenbewohner aber Teil einer alltäglichen Gefahr. Denn in immer kürzeren Abständen brechen heftige Stürme über die französische Atlantikküste herein. Immer häufiger werden ganze Ortsteile überschwemmt. Besonders folgenreich war der Orkan "Xynthia", der im Februar 2010 wütete und insgesamt 53 Menschenleben forderte. In der Kleinstadt La Faute-sur-Mer in der Vendée markiert das Unglück eine Zeitenwende: Es gibt eine Zeit "vor Xynthia" und "nach Xynthia". -- Reportage 1: Xynthia oder Die Unberechenbarkeit des Ozeans Atmo Fluss mit Motorboot Schier endlos zieht sich der Damm am Dorfrand entlang. Hinter dem Erdwall wächst dickes Gras im Schlick. Ein Ufer ist nicht zu sehen. Nur ein paar Schiffsmasten verraten, dass 200 Meter entfernt ein Fluss fließt. Am Ende des Dorfs wird er breiter und mündet träge in den Atlantik. La Faute-sur-Mer liegt auf einer Landzunge zwischen zwei Gewässern, sagt Renaud Pinoit und zeigt über das grünbraune Sumpfgebiet. O-Ton Pinoit Der Fluss dahinten heißt Lay, er ist damals über die Ufer getreten und hat die Überschwemmung verursacht. Als der Sturm Xynthia tobte, ist das Meer in seine Mündung eingedrungen und hat ihn aufgestaut. Das Wasser flutete zuerst über zwei Schneisen ins Dorf, die hatte man im Deich für die Straßen geschaffen. Dann folgte eine enorme Welle, sie hat den Deich um 40 bis 50 Zentimeter überspült. Das war gewaltig. Renaud Pinoit, graues Haar, strenge schwarze Brille, ist Vorsitzender eines Vereins, der sich um die Opfer der Überschwemmungen kümmert. Er dreht sich um und zeigt auf eine Senke vor dem Damm. Zur seiner Rechten beginnt das Dorf: kleine weiße Häuser mit hellroten Ziegeldächern, die meisten nur ein Stockwerk hoch. Links ist Brachland. Aber in der verhängnisvollen Nacht zum 28. Februar 2010 stand hier noch eine Siedlung mit 600 Häusern. 29 Bewohner ertranken, viele wurden im Schlaf von den Wassermassen überrascht. Heute erinnern eine Gedenkstätte und eine Stele an die Überschwemmungskatastrophe. Renaud Pinoit streckt den Arm nach der Markierung aus. Er ist groß, erreicht sie aber bei weitem nicht: 2 Meter 80, so hoch kletterte das Wasser in einigen Häusern. Er selbst wohnt im höher gelegenen Ortskern, erzählt er, deshalb ist ihm damals nichts passiert. O-Ton Pinoit Wir sollten uns verschanzen, das hatte der Wetterdienst angeordnet. Ich habe also die Terrasse aufgeräumt, die Fenster verriegelt und gewartet, dass der Sturm vorüberzieht. Xynthia war gar nicht so schlimm, wie wir befürchtet hatten. Erst am Tag danach haben wir begriffen, dass die Gefahr nicht vom Wind, sondern vom Meer ausging. Atmo im Gras Renaud Pinoit ist Unternehmer, er entwirft Websites und Anwendungen für Smartphones. Als er die Verwüstungen sah, startete er sofort einen Internet-Blog, um Hilfe zu organisieren. Daraus wurde der "Verein der Opfer der Überschwemmungen". Der 50-Jährige stapft über das Brachland, erinnert sich: Als er Kind war, weideten hier Kühe, sie standen oft mit den Hufen im Wasser. Dann entwickelte sich La Faute zu einem beliebten Badeort. In dem Feuchtgebiet schossen die Häuser wie Pilze aus dem Boden, viele waren im Winter leer, zum Glück, sonst wären noch mehr Menschen ertrunken. Inzwischen hat der Staat die Besitzer enteignet und die 600 Häuser abgerissen. Aber in Sachen Hochwasserschutz ist fast nichts passiert, schimpft Renaud Pinoit, und zeigt wieder auf den Deich. O-Ton Pinoit Nach Xynthia wurde er um einen Meter erhöht. Wo früher die Siedlung stand, besteht er jetzt sogar aus Steinen. Da, wo es nichts mehr zu schützen gibt, ist er also solide. Aber in der Verlängerung sieht man, dass er auf Höhe des Ortskerns immer noch aus Erde und Schlamm besteht. Das reicht nicht. Seit fünf Jahren warten wir, dass endlich daran gearbeitet wird. Pinoit blickt auf sein Handy. Er muss die Rechtsanwältin des "Vereins der Überschwemmungsopfer" anrufen. Die ehrenamtliche Tätigkeit verschlingt die Hälfte seiner Arbeitszeit. Zunächst galt es, 800 Versicherungsfälle zu verhandeln. Dann kam es zum Prozess gegen den ehemaligen Bürgermeister, seine Stellvertreterin, deren Sohn - von Beruf Immobilienhändler - und einen Bauunternehmer. Der Verein trat vor Gericht als Nebenkläger auf. O-Ton Pinoit Xynthia war kein Unfall. Das Gericht hat festgestellt, dass es menschliche Fehler und Amtsmissbrauch gegeben hat. Warum wurden wir nicht gewarnt? Weil es der Bürgermeister versäumt hat, zum Rathaus zu gehen, um das Fax mit der Sturmwarnung abzuholen. Warum standen Häuser in der Senke? Weil sich der Bürgermeister und seine Stellvertreterin den staatlichen Vorgaben widersetzt haben, um Geld zu verdienen. Warum wurde niemand evakuiert? Weil es nicht vorgesehen war. In Sachen Sicherheit, Vorbeugung und Alarm hat der Bürgermeister seinen Job nicht gemacht. Das Urteil fiel im Dezember: Vier Jahre Gefängnis für den Ex- Bürgermeister - ein Novum in Frankreich. Aber der Mann hat Berufung eingelegt. Renaud Pinoit hat mit der Rechtsanwältin am Telefon die nächsten Schritte geklärt. Jetzt sitzt er bei einem Nachbarn am Esstisch. Francois Anil, ein 70-jähriger Rentner, ist ebenfalls Vorstandsmitglied im "Verein der Überschwemmungsopfer". Auf der geblümten Wachstuchdecke stapeln sich Ordner und Akten. Vorbereitungen auf eine neue Runde im Prozess. Anils Haus liegt direkt am Deich, in der Zone, wo nicht abgerissen wurde. Seit 2005 weiß der ehemalige Firmenchef, dass der Erdwall marode ist. Schon damals hatte die Präfektur technische Kontrollen verlangt und die Gemeinde gewarnt - bis heute ist nichts passiert. In der Sturmnacht entdeckte Anil ein Rinnsal am Gartenzaun. Ihm war sofort klar, dass mehr kommen würde. Der hagere Mann zeigt auf ein massives Buffet an der Wand. O-Ton Anil Meine Frau und ich rechneten mit höchstens 80 Zentimetern Wasser, deshalb haben wir uns auf diese Anrichte gesetzt. Zuvor hatten sie alle Türen und Fenster geschlossen - ein schwerer Fehler, wie er heute weiß. Unter dem Druck der Wassermassen explodierten die Scheiben, Glasscherben und Holzstücke schossen durch den Raum. O-Ton Anil Als wir sahen, dass das Wasser immer höher stieg, bekamen wir Angst. Wenn es nicht aufhört, habe ich zu meiner Frau gesagt, dann müssen wir da rein und das Haus irgendwie verlassen. Die Familie Berlemont, die Marcos... Wir kennen viele, die erst getaucht sind, als das Wasser unter der Decke stand. Bei 1 Meter 60 wird es höchste Zeit, sonst ist man im Haus gefangen. Anette und Francois hatten Glück: Das Wasser stagnierte bei gut einem Meter. Der Hausherr zeigt in den Garten. Hinter einer Pappelreihe ist der morsche Deich zu sehen. Bei der nächsten Sturmflut wird er wieder nachgeben, sagt er. Deshalb hat er sein Haus um eine Sicherheitsetage erhöht, das ist jetzt Vorschrift in seinem Viertel, aber viele Nachbarn sind noch nicht so weit. Renaud Pinoit und François Anil haben durch die Vereinsarbeit viel Erfahrung gewonnen. Inzwischen denken sie über die eigene Katastrophe hinaus, wollen erreichen, dass die Sicherheitsauflagen bei Überschwemmungsgefahr landesweit erhöht werden. Damit ihre Nachbarn nicht ganz umsonst gestorben sind. --- Musik Literatur 2 "Wir Landmenschen schulden den Seefahrern Hochachtung dafür, dass sie den von ihnen bezeugten Phänomenen, dem was sie gesehen und erlitten haben, eine solche Bedeutung beigemessen haben. Ich halte die skeptische Leichtigkeit, welche die Stubengelehrten den Berichten der Seeleute - etwa über die Höhe der Wellen - entgegenbrachten, für ausgesprochen abgeschmackt. So mockieren sie sich über Seefahrer, die Wellenhöhen bis zu hundert Fuß angeben. Ingenieure glaubten, dem Sturm Maß anlegen und präzise berechnen zu können, dass das Wasser kaum über 20 Fuß steigen kann. Man kann nicht - bei sich zu Hause sitzend - die Wahrhaftigkeit so vieler unerschrockener, abgehärteter, gefasster Männer leichthin in Zweifel ziehen, welche zu oft dem Tod ins Auge gesehen, um noch die kindliche Eitelkeit zu verspüren, ihre Gefahren übertreiben zu wollen." Moderation Küstenorte wie La Faute-sur-Mer sind seit über 200 Jahren bewohnt: Schon immer wüteten Stürme über sie hinweg, ohne große Schäden anzurichten. Viele Einwohner waren Fischer, die die Gefahren des Meeres kannten: Sie wussten die Sprache des Ozeans zu deuten und die Bedrohung einzuschätzen. Durch den Klimawandel und die immer kürzer aufeinander folgenden extremen Wetterereignisse weicht die französische Küste immer mehr zurück - auf einer Länge von über 1.700 Kilometern. Das entspricht einem Viertel der französischen Küstenlinie. Im vergangenen Winter drang das Meer an einigen Stellen bis zu 40 Meter weiter vor. Überschwemmungen sind mittlerweile die größte und die tödlichste Naturgefahr in Frankreich - weit vor der Brandgefahr. Doch das ist nur die Hälfte der Wahrheit. Denn gleichzeitig ist über die Jahrzehnte noch etwas anderes erodiert: Das Bewusstsein über die Gefahren des Meeres. Allen Warnungen zum Trotz ist der Drang zum Wasser unaufhaltsam: 17 Millionen Franzosen leben in Zonen, die Überschwemmungsgebiete sind - die Reicheren am Meer, die weniger Betuchten an Flussufern. Der Traum vom Haus am Wasser, so scheint es, vernebelt den Blick auf die Risiken. Reportage 2: La Faute-sur-Mer oder Die Erosion der Erinnerung Thierry Sauzeau "C´est pas un temps à mettre le nez dehors..." Wirklich kein Wetter, um aus dem Haus zu gehen, sagt Thierry Sauzeau, und begrüßt seinen Freund Jean-Claude Pelletier mit herzlichem Händedruck. Aber der Historiker weiß: Wind und Regen schrecken den ehemaligen Kapitän nicht ab. Zum Fischen fährt der 70-Jährige auch heute noch aufs Meer. Pelletier trägt Schirmkappe, Regenjacke, Gummistiefel. Der Hochschullehrer kämpft mit einem Regenschirm. Sein Wollmantel und die Lederschuhe saugen sich mit Wasser voll, trotzdem folgt Sauzeau dem älteren Mann auf einem Pfad durch die Düne zum Strand. Atmo Dialog Die Ebbe hat einen halbrunden Wall aus Feldsteinen freigelegt. Zum Strand hin ist er offen, zur Wasserseite geschlossen - eine alte Fischschleuse, erzählt Pelletier. O-Ton Pelletier Als Kind habe ich darin noch gefischt. Aber die Schleusen hatten noch eine andere Funktion: Sie haben die Erosion gebremst. Bei Flut brechen sie die Brandung. Auf der Ile d´Oleron gab es früher 250 solcher Fischschleusen. Thierry Sauzeau hört aufmerksam zu. Er ist auf "maritime Geschichte" spezialisiert, in seiner Doktorarbeit hat er das Leben der Küstenbewohner im 18. und 19. Jahrhundert erforscht. Seit dem Orkan Xynthia beschäftigt er sich verstärkt mit den Entwicklungen in den vergangenen hundert Jahren. Dabei stützt er sich auch auf die Kenntnisse der Einheimischen. Sauzeau hat festgestellt, dass die Erinnerung an Sturmkatastrophen verloren gegangen ist. O-Ton Thierry Sauzeau Bis in die 1960er Jahre hinein lebten die Menschen nur deshalb an der Küste, weil sie dort in Einkommen hatten, als Fischer, Austernzüchter oder Bauern. Sie hatten einen direkten Bezug zum Meer. Der Ozean konnte ihre Felder überfluten, Schiffsunglücke verursachen, Hafenanlagen zerstören... Das gehörte zum Alltag. Die Menschen lebten in Frieden mit dem Meer, weil sie dafür sorgten, dass seine Wutausbrüche sie nicht allzu schwer treffen konnten. Jean-Claude Pelletier nickt: Er selbst und seine Vorfahren hätten immer in sicherer Distanz zum Meer gewohnt. Der grauhaarige Mann klettert auf eine Düne und zeigt ins Landesinnere. O-Ton Pelletier Die Fläche, wo das Pampasgras wächst, das ist der Sumpf von Pontheziere. Vor sehr langer Zeit hatte sich der Dünengürtel noch nicht geschlossen und das Meer strömte in die Senke hinein. Deshalb wurde das alte Dorf auch auf einer Anhöhe gebaut, zwischen den beiden Sümpfen. Heute stehen auch in den Niederungen der Insel Häuser. Das Verhältnis zum Meer hat sich vor allem in den 1950er und 60er Jahren dramatisch verändert, sagt Thierry Sauzeau, während der Wirtschaftswunderzeit. Damals wurden Brücken gebaut, Fährverbindungen verbessert, und viele Franzosen konnten sich ein Auto leisten. Die Küste wurde zum Ferienziel für jedermann - und ist bis heute Sehnsuchtsort geblieben: O-Ton Thierry Sauzeau Die Menschen kamen vor allem im Sommer, wenn der Ozean ungefährlich ist. Einmal an der Küste fingen sie an zu träumen, so entwickelte hier eine Immobilienwirtschaft, die ihnen diesen Traum verkauft: Sie baute Häuser auf den Dünen, möglichst nah am Strand, in Zonen, die zuvor keinen besonderen Wert besaßen. Inzwischen ist die Gesellschaft gealtert, und immer mehr Rentner ziehen dauerhaft in die Feriendomizile ein. Diese Blauäugigkeit wurde durch einen Zufall der Natur noch verstärkt, sagt der Geschichtswissenschaftler: In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts blieben die großen Stürme ungewöhnlich lange aus. O-Ton Thierry Sauzeau Vorher gab es ständig Orkane und Überflutungen: Allein im Kriegswinter 1940 / 41 gab es zwei Stürme, die mit Xynthia vergleichbar sind. Aus Archiven und von Zeitzeugen wissen wir, dass die Überschwemmungen damals die gleichen Territorien betroffen haben: die Ile d´Oleron, die Ile de Noirmoutier und La Faute-sur-Mer in der Vendée. Doch es gibt einen fundamentalen Unterschied: Damals kamen fast keine Menschen zu Tode - weil die Überschwemmungsgebiete nicht bebaut waren. O-Ton Thierry Sauzeau Das Vergessen konnte auch deshalb gedeihen, weil sich an der Küste eine ganz neue Gesellschaft etablierte, die mit der ursprünglichen Bevölkerung wenig Berührungspunkte hatte. Die Einheimischen verkauften ihren Grund an Immobilienhändler, die damit machen konnten, was sie wollten, sogar wenn das Terrain unterhalb des Meeresspiegels lag. Bis in die 90er Jahre schränkte sie dabei kein Gesetz ein. Die Dezentralisierung in den 80er Jahren brachte Politiker und Beamte von auswärts in die Küstenregionen. Sie hatten kein Risikobewusstsein. Die Alteingesessenen dagegen wussten die Gefahren durch das Meer einzuschätzen. Der Historiker hat nachgewiesen: In der Nacht, als Xynthia tobte, ist niemand in einem Haus gestorben, das vor 1960 gebaut worden ist. Kapitän Pelletier wundert das nicht. Wenn man sich bei Einheimischen erkundigt und auf sie gehört hätte, sagt er, wäre die Katastrophe vermieden worden. O-Ton Pelletier Unsere Vorfahren lebten noch mit der Natur und durch die Natur. Sie waren täglich mit ihr konfrontiert und deshalb viel aufmerksamer als wir heute. O-Ton Sauzeau Sie haben auch nicht in Krisensituationen eingegriffen, sondern versucht, sich nach und nach anzupassen. Sie wussten genau, dass sie sich der Natur nicht in den Weg stellen können. Heute haben wir zwar viel mehr Möglichkeiten, aber wir tun gut daran, wenn wir die natürlichen Entwicklungen nachahmen oder zumindest begleiten. O-Ton Pelletier Genau das ist der Schlüssel zum Problem: Wir müssen vor der Natur bescheiden sein. Sie hat immer das letzte Wort. -- Musik Literatur 3 "Ist das Meer schuld, wenn dieser Strand so verräterisch ist? Keinesfalls. Laut und stark, aber auch redlich und offen spült es heran wie überall sonst. Die eigentliche Schuld liegt bei der Erde, deren heimtückische Unbeweglichkeit immer unschuldig erscheint und doch so hintergründig unter dem Watt die Wasser der Bäche durchsiebt: eine süßlich, weißliche Mischung erzeugt, die dem Boden jede Festigkeit entzieht. Die Schuld liegt vor allem bei dem Menschen, bei seiner Unwissenheit, seiner Nachlässigkeit. Man muss erst zum eigentlichen Verständnis des Meeres vordringen und nicht den falschen Vorstellungen erliegen, welche die nachbarliche Erde einem vermitteln mag, noch den schlimmen Illusionen, die das Meer allein durch die Größe seiner Phänomene, durch sein scheinbar entfesseltes, aber oftmals so wohltätiges Rasen in uns erwecken mag." Moderation "Le Signal" - so heißt ein fünftstöckiger Wohnblock, der Ende der 1960er Jahre am Hochufer des Badeortes Soulac-sur-Mer im Südwesten Frankreichs gebaut wurde. Es war die Zeit eines schier grenzenlosen Fortschrittsglaubens: Technisch wurde vieles möglich, was vorher undenkbar erschien. Wie ein Wahrzeichen des einstigen Machbarkeitswahns thront das Gebäude auf den Dünen. Es ist aber auch das in Beton gegossene Menetekel einer Entwicklung, die längst in vollem Gange ist. Bei hohem Seegang lecken mittlerweile die Wellen am Fundament, deshalb musste es aus Sicherheitsgründen geräumt werden. Das "Signal" steht aber auch für den Anspruch der Menschen in den gefährdeten Regionen, der Staat solle ihren Besitz vor den Gefahren des Meeres schützen. Gleichzeitig stellt sich die Frage, wer die Verantwortung für die Fehler der Vergangenheit trägt. -- Reportage 3 Le Signal oder Das Wahrzeichen des Vergessens Atmo O-Ton "Bon je prends quand meme ma clé, ca fait toujours bien d´avoir sa clé..." Jacqueline Gandoin steckt den Schlüsselbund in die Hosentasche, obwohl sie glaubt, dass ihr Appartement offen steht. Dann zieht sie eine veilchenblaue Fleecejacke an und nimmt ihren Gehstock in die Hand. Die 83-Jährige will ihre Eigentumswohnung in Soulac noch einmal sehen, bevor sie der Bagger platt macht - oder die Flut. Statt in ihrer Traumwohnung direkt am Meer wohnt sie nun in einer Seniorenanlage zwischen Friedhof und Supermarkt. O-Ton Jacqueline Gandoin Ich musste meine Wohnung am 29. Januar 2014 um 19 Uhr verlassen, wie alle anderen Bewohner auch. Es war erbärmlich. Innerhalb einer Woche wurden alle Leitungen gekappt: Heizung, Gas, Strom und Wasser. Man hat uns von allem abgeschnitten. Jacqueline Gandoin hat im "Signal" gewohnt. Der Name passt: Signal, so heißt der fünfstöckige Wohnblock, der wie ein klotziges Wahrzeichen auf der Düne steht. 78 Appartements mit Meeresblick. Bei starker Flut schrumpft die Entfernung zum Wasser inzwischen auf gerade einmal zwölf Meter. Anfang Januar 2014, nach einem besonders heftigen Sturm mit hohen Wellen, hatte der Präfekt die Evakuierung angeordnet. O-Ton Jacqueline Gandoin Wir sind hier in der Zone, die am heftigsten unter Erosion leidet. An der ganzen aquitanischen Küste, von Royan bis Biarritz, gibt es keinen Ort, der von den Wellen so stark angegriffen wird. Soulac-sur-Mer ist ein Badeort mit hübschen Giebelhäusern aus hellrotem Backstein. Ihre Eltern, erzählt Jacqueline, haben hier 1929 ein Sommerhaus gebaut, das war drei Jahre vor ihrer Geburt. Sie selbst hat alle Schulferien hier verbracht. Das "Signal" wurde 1965 in Angriff genommen - damals arbeitete sie in Paris als Vorführerin von Waschmaschinen. Da war das Meer noch rund 200 Meter von der Baustelle entfernt - die Baugenehmigung hat seinerzeit nicht der Bürgermeister erteilt, sondern eine staatliche Behörde. O-Ton Jacqueline Gandoin Meine Eltern hatten mir von diesem Bauvorhaben erzählt. Es gefiel ihnen nicht, weil sie genau wussten, welche Probleme zu erwarten waren. Das war für alle vorhersehbar! Außer für diejenigen, die es nicht wahrhaben wollten. 200 Meter sind für einen Ozean rein gar nichts. Und erst recht nicht, wenn es sich um die Biskaya handelt. Das ist ein geheimnisvolles Meer mit vielen Strömungen. Noch dazu befinden wir uns neben der größten Flussmündung Europas, der Gironde. Großes Delta heißt: gewaltige Strömungen. Im Rentenalter zog Jacqueline Gandoin ganz nach Soulac. Aber das Haus ihrer Eltern war ihr bald zu groß. 2005 kaufte sie sich stattdessen eine Drei-Zimmer-Wohnung im Signal. Obwohl das Meer inzwischen nur noch 70 Meter entfernt war und die Präfektur das Gelände ausdrücklich zur Gefahrenzone erklärt hatte. Das stand sogar im Kaufvertrag. O-Ton Jacqueline Gandoin Warum ich trotzdem gekauft habe? Weil man mir im Rathaus Versprechungen gemacht hat! Madame Gandoin, machen Sie sich keine Sorgen! Wir geben "Le Signal" nicht auf! Kaufen Sie nur, in 20 Jahren sehen wir weiter", sagte man mir. Damals war ich ja schon über 70, da schien mir das in Ordnung. Meine Enkel waren jedenfalls begeistert. Die resolute Frau stützt sich schwer auf ihren Stock, gekrümmt wie eine knorrige Eiche, die sich gegen den Seewind stemmt. Eine ehemalige Nachbarin fährt sie im Auto zu ihrer früheren Wohnung: Atmo Meer Autotüren / Stimmen Ein Baustellenzaun schirmt den Wohnblock ab. Die beige Fassade sieht gepflegt aus. Erst von Nahem zeigt sich, dass die Eingangstüren aufgebrochen und viele Fenster zersplittert sind. Atmo "Bonjour Monsieur Guichet. Bonjour Madame Gandoin. .. Jacqueline Gandoin begrüßt einen älteren Mann mit Baseballkappe. José Guichet, ehrenamtlicher Verwalter der Eigentümergemeinschaft, ist aus dem 100 Kilometer entfernten Bordeaux angereist. Er will nach dem Rechten sehen. Guichet hat seine Ferienwohnung im "Signal" bereits 1978 gekauft, zu einer Zeit, als sich hier niemand Sorgen machte. Er schiebt ein Stück Zaun zur Seite, geht voran. Auf dem Vorplatz liegen leere Bierflaschen, ein zerschmetterter Fernseher. Offensichtlich waren Vandalen am Werk. O-Ton Guichet Es ist eine Schande! Vor einem Jahr war das Gebäude noch vollkommen intakt. Vor acht Jahren erst haben wir große Reparaturen vorgenommen. Danach gab es außergewöhnliche Umstände, aber das Rathaus hat einfach nicht das getan, was nötig gewesen wäre. Atmo Glasscherben Außergewöhnliche Umstände: Da war zunächst der Orkan Xynthia im Februar 2010. Fortan schüttete der Gemeindeverband zwei- bis dreimal jährlich Sand auf, um die Erosion vor dem Wohnkomplex zu bremsen. Im Winter 2014 folgte dann ein Unwetter auf das nächste, die Düne schrumpfte auf 12 Meter zusammen und die Bagger mussten nach jeder großen Flut anrollen, um das Gebäude abzusichern. Das kam den Ort teuer zu stehen - aber für Guichet ist das längst nicht genug. Er zeigt auf den Boden, der mit Glasscherben übersät ist. O-Ton Guichet Und jetzt verhindert der Bürgermeister nicht einmal die Verwüstung. Innen sieht es aus wie in Beirut! Madame Gandoin, Sie müssen tapfer sein. Jacqueline Gandoin nickt. Ihre Wohnung im Erdgeschoss steht offen, den Schlüssel braucht sie nicht. Langsam, aber entschlossen geht sie in das große Wohnzimmer, zeigt ihr ehemaliges Schlafzimmer mit eingebautem Bad, die Zimmer der beiden Enkel. Die alte Frau öffnet die Fenstertür: ein gepflasterter Vorplatz, ein schmales Stück Wiese, dann bricht das Gelände ab zum Strand. Es ist Ebbe, noch ist das Meer weit entfernt. Die Wellen überspülen zwei schwarze Betonklötze: Wie verendete Dinosaurier liegen die deutschen Bunker aus dem 2. Weltkrieg im nassen Sand. O-Ton Jacqueline Gandoin Als ich die Wohnung gekauft hatte, konnte ich das Meer nicht sehen. Dann kam der Orkan Xynthia und hat den oberen Teil der Düne komplett abgetragen. Das war nachts. Als ich morgens aufstand und plötzlich das Meer sehen konnte, dachte ich: Unmöglich, mit meinem Gehirn stimmt was nicht. Ich habe mir die Augen gerieben, dann war ich mir sicher: Es ist wirklich das Meer. Die alte Frau schüttelt missbilligend den Kopf. O-Ton Sicher, es war riskant, dieses Haus zu bauen. Aber man hätte die Herausforderung meistern können, wenn man es nur unterhalten hätte. Der Ozean nagt, Tag für Tag. Wenn der Mensch zehn Jahre lang untätig bleibt - der Ozean arbeitet immer weiter. Wenn der Mensch dann aufwacht, ist es zu spät. Musik Moderation Eine karge Dünenlandschaft mit Gräsern und Gestrüpp, so sah die Küste im Medoc vor gut 200 Jahren aus. Dann wurden Kiefernwälder gepflanzt, um das sumpfige Hinterland zu entwässern und die Versandung der Region aufzuhalten. Immer wieder versanken damals ganze Dörfer im Sand: In Soulac-sur- Mer zum Beispiel ragte Mitte des 18. Jahrhunderts nur noch die Spitze des Kirchturms aus dem Sand hervor. Die Erosion ist ein natürlicher Kreislauf: Was Wind oder Meer an einem Ort fortnehmen, lagern sie anderswo wieder ab. Die Dämme, die als Schutzwälle gegen den immer näher rückenden Ozean gebaut oder erhöht werden, verstärken diesen Prozess. Buhnen, Wellenbrecher, Häfen: all das bringt die natürlichen Bewegungen von Sand und Geröll durch die Meeresströmungen aus dem Gleichgewicht. Es geht nur mit der, nicht gegen die Natur: Diese Erkenntnis setzt sich auch bei den französischen Behörden immer mehr durch. Deshalb werden immer häufiger natürliche Mittel eingesetzt, um die Erosion zu bremsen. Die Beamten des staatlichen Forstamtes bepflanzen und pflegen die Dünen, um den Sand festzuhalten und den Landverlust hinauszuzögern. Es ist ein Wettlauf gegen den nagenden Zahn der Zeit - der Ausgang steht schon jetzt weit gehend fest. -- Reportage 4: Montalivet oder Der Kampf gegen die Erosion Atmo Bagger, Planierraupen Badeort Montalivet, Paradies für FKK-Touristen, heißt es stolz in der örtlichen Werbebroschüre. Breite Stufen führen vom Parkplatz zum Strand. Aber ein Bretterzaun versperrt den Weg. Am Fuß der Treppe ist eine Baustelle zu sehen. Wo sich im Sommer Urlauber aalen, sind an diesem kalten Wintertag gelbe Schaufelbagger am Werk. David Robert sieht zu, wie die Arbeiter Felsbrocken zu einem Wall aufhäufen, der geradeaus ins Wasser führt. Die so genannte "Buhne" soll die Meereserosion bremsen, erklärt der Mann im grünen Anorak des staatlichen Forstamtes. O-Ton David Robert An dieser Küste kommen die Stürme aus dem Nordwesten von Island an. Die Dünung verläuft schräg, deshalb haben wir im Medoc eine Nord-Süd-Strömung, die den Sand wegzieht. Die Verantwortlichen der Gemeinde hoffen, dass die Buhnen den Sand von Norden auffangen werden. Als Forstaufseher ist David Robert für 30 Kilometer Dünenlandschaft verantwortlich. Der Mittdreißiger kämpft mit seiner Mannschaft gegen die Erosion durch den Wind. Alles andere hat ohnehin keinen Zweck: O-Ton David Robert Wir gehen davon aus, dass der Mensch gegen die Meereserosion wenig ausrichten kann. Das Einzige, was er tun kann, ist, die Küstenorte mit Vernunft auszubauen. Atmo Auto David Robert steigt in einen Kleinlaster, auf der offenen Ladefläche stapeln sich Bündel aus Strandhafer. Während er Richtung Norden fährt, erklärt er das Ökosystem: Am Strand beginnt die so genannte "weiße Düne" mit Strandhafer, anschließend kommt die "graue Düne". Die dunklere Schattierung verdankt sie der graugrünen Sandstrohblume. Dahinter wächst Wald, er ist vom Wind geformt: Auf Büsche und niedrige Bäume folgen immer höhere Kiefern. Wenn die drei Milieus intakt sind, ist das Ökosystem stabil, sagt er. Andernfalls greifen er und seine Leute ein. Mitten im Sand ist ein Mann mit Hacke und Pickel zu sehen. Robert parkt und bringt ihm die Dünengräser aus dem LKW. Neben dem Arbeiter steht auch sein Chef, Francis Maugard. Atmo Dialog Der Ingenieur unterhält sich mit dem Arbeiter, fragt, wo er den Strandhafer zuvor gepflückt hat und wie viele Setzlinge er jeweils in ein Loch steckt. Maugard ist für die Risikobekämpfung an der aquitanischen Küste verantwortlich: fast 200 Kilometer Flachküste, von der Gironde-Mündung bis hin zur spanischen Grenze. Noch mehr als Waldbrände und Pflanzenschutz beschäftigt auch ihn die Erosion. Das Forstamt vermisst jedes Jahr den Uferrückgang, der jüngste Bericht fiel erschreckend aus. O-Ton Francis Maugard In Zonen, wo wir vorher einen Landverlust von 1 Meter 50 bis drei Meter pro Jahr hatten, verzeichnen wir nach dem letzten Winter Rückgänge von 15, 20, ja an einigen Stellen sogar von 30 bis 40 Metern. Das ist ein ganz ungewöhnliches Phänomen. Schuld war eine Serie von Stürmen mit außergewöhnlich starkem Seegang: Zwischen Dezember 2013 und März 2014 hat das Meer die Küste acht Mal angegriffen. O-Ton Francis Maugard Wir haben in den Archiven nachgeforscht: Nie zuvor haben wir eine Serie von Stürmen mit solch starker Dünung registriert. Einige Wellen waren über sechs Meter hoch und der Gezeiten-Koeffizient war auch sehr groß. Der erste Sturm spült den schützenden Sand fort und senkt den Strand ab, erklärt Maugard. Jeder weitere Sturm prallt direkt auf das geschädigte Ufer auf. Die Ursache für diese außergewöhnliche Sturmserie wird noch erforscht. O-Ton Francis Maugard Vermutlich erklärt sich dieses Phänomen durch den Klimawandel. Wir wissen ja, dass der Meeresspiegel ansteigt. Aber wir können noch nicht nachweisen, dass und wie die vielen Stürme damit zusammenhängen. Im Sommer spült das Meer neuen Sand an, aber das genügt nicht, um den Schaden auszugleichen und den Strand wieder zu erhöhen, sagt der Ingenieur. Umso wichtiger ist es, dass die Dünen geschützt werden. Der Arbeiter schlägt in geraden Linien Löcher in den Sand, steckt jeweils eine Pflanze hinein. Die hellbraunen Halme entwickeln ein ausgedehntes Wurzelwerk, das den Sand festhält und sein Abtragen durch Wind verhindert. Es dauert fünf Jahre, bis eine Düne wieder befestigt ist, sagt David Robert. O-Ton David Robert In meinem Sektor reguliert sich der größte Teil der Dünen von allein, weil sie bewachsen sind. Aber hier, wo wir jetzt stehen, war die Düne vor kurzem noch vier bis sechs Meter höher mit steilen Abbruchkanten, da konnte sich keine Pflanze halten. Und die Küstenstraße lag unter vier Meter Sand begraben. Deshalb haben wir radikal eingegriffen. Es hört sich brutal an, aber wir sind tatsächlich mit einem Bulldozer gekommen. Er zieht eine Grimasse. Schwere Baufahrzeuge in dieser unberührten Natur - das geht ihm sichtlich gegen den Strich. Zumal der Eingriff nur begrenzte Wirkung hat. Seine Erklärungen klingen wie Entschuldigungen. O Ton Robert Für mich war das hier ein außergewöhnlicher Eingriff, der auch nur einen Kilometer von meinem Sektor betraf. Wenn der Wind ein Loch gräbt oder in eine Kerbe fährt, die das Meer ins Ufer gefressen hat, gehe ich möglichst behutsam vor. Zumal wir ja genau wissen, dass unsere Arbeiten eine begrenzte Lebensdauer von fünf, zehn, höchstens 15 Jahren haben. Auch hier wird das Meer die Düne weiter aushöhlen, aber wenigstens ist der Sand jetzt fixiert. In absehbarer Zeit wird die Straße trotzdem im Meer sein. -- Literatur 4 "Es ist ein Segen für den Seefahrer, seinen Weg heute von jenen beiden flammenden Fackeln erhellt zu wissen: Auf der einen Seite lehrt ihn Maury die allgemeinen Gesetze der Luft und des Meeres, die Kunst, die Strömungen ausfindig zu machen und ihnen zu folgen; er geleitet ihn auf berechneten Bahnen, die gleichsam die Straßen des Ozeans darstellen. Auf der anderen gibt ihm Piddington in einem kleinen Band die gesammelte Erfahrung der Stürme in die Hand, alles, was man unternommen hat, um ihnen auszuweichen, bisweilen um sich ihrer zu bedienen. Dies ist von erhabener Einfachheit: Nicht der Sturm, aber die Unwissenheit wurden beseitigt, die Verwirrung und der Schauder, welche die Gefahr so düster mache, ja das Schlimmste an jeglicher Gefahr, das Vorgestellte, das Phantasierte an ihr ausmachen. Und muss man dennoch verderben, so weiß man warum." Musik Moderation Land schützen um jeden Preis? Das gilt an Frankreichs Atlantikküste längst nicht mehr. Man hat eingesehen, dass die Küstenlinie sich unaufhaltsam verändert - und die Erosion nicht überall auf Dauer einzudämmen ist. Es geht immer weniger darum, Dämme zu bauen oder zu erhöhen. Die Aufgabe der Zukunft liegt darin, zu entscheiden, wo sich der Kampf gegen den Landverlust überhaupt noch lohnt - und wie die Szenarien für jene Orte aussehen, wo das nicht der Fall ist. Im Badeort Lacanau gibt es dafür bereits konkrete Planspiele: Das Surferparadies mit den berühmten, über 60 Meter hohen Dünen könnte einer der ersten Orte an der französischen Atlantikküste werden, der teilweise aufgegeben wird. Reportage 5: Lacanau oder Der Rückzug vor den Fluten Atmo Meer Strahlender Sonnenschein über Lacanau. Schon vom Parkplatz aus ist der Atlantik zu sehen: Eine Welle nach der anderen rollt heran, bricht sich kurz vorm Strand, bildet weiße Gischt. Aber trotz des herrlichen Wetters ist kein einziger Surfer im Wasser. Gerard Depeyris wundert das nicht. O-Ton Gérard Depeyris Der Wind kommt aus Norden, die Dünung ist kräftig, die Sandbänke sind nicht ideal... Vielleicht steigen heute Nachmittag ein paar Jungs ins Wasser. Bei guten Bedingungen kann man hier leicht 200 Surfer sehen. Depeyris ist groß und sportlich. Wenn er lacht, bilden sich feine Fältchen um Augen und Mund, Zeichen dafür, dass er sich viel im Freien bewegt. Der 57-Jährige ist selbst Surfer, er gehörte zu den Ersten, die das Wellenreiten in Lacanau unterrichtet haben. Das Wasser ist sein Element, sagt Depeyris. Als Surfer ist er viel herumgekommen in der Welt, hat immer am Meer gelebt. Heute stellt er Surfbretter her, seine Werkstatt liegt in Strandnähe Doch die hohen Wellen werden dem berühmten Ferienort zunehmend zum Verhängnis. Gerard Depeyris ist Mitglied einer Kommission aus Einwohnern, Geschäftsleuten, Politikern und Technikern, die Modelle entwickelt, wie die Stadt sich mittelfristig gegen die bedrohliche Erosion wappnen kann. Atmo Lokal Mit einigen von ihnen ist er im "Kayoc" zum Kaffee verabredet. Der Ort könnte nicht passender sein: Das Restaurant steht zuvorderst auf der Düne, von hier aus hat man den besten Blick auf den Atlantik. Aber vor einem Jahr ist ein Teil der Terrasse weggebrochen. Der Besitzer hat den Deich sofort wieder befestigen lassen, auf eigene Kosten. Martin Renard, dichtes blondes Haar, rundliches Gesicht, ist der Jüngste in der Gruppe. Der 28-jährige Geograf leitet die Studie. Den Auftrag dazu hat das Umweltministerium gegeben. O-Ton Martin Renard Das ist ein einzigartiges Projekt in Frankreich, es geht um etwas ganz Neues: Die Verlagerung von Betrieben und Gebäuden. Die ganze Uferzeile ist betroffen, 1.400 Wohnungen und 80 Geschäfte. Hier konzentriert sich das ökonomische Herz des Badeorts. Wir denken darüber nach, was zu tun ist, um die kilometerlange Strandpromenade an die Folgen der Erosion anzupassen. Lacanau ist die größte Stadt, die sich beteiligt. Die Mitwirkung der Einwohner ist ein zentraler Bestandteil des Projekts. Atmo Martin Renard "Alors on a 3 scénarios qui prennent en compte une relocalisation du front de mer..." Mittlerweile haben sich drei Szenarien herausgebildet, die davon ausgehen, dass die Uferzeile auf Dauer nicht zu retten sind, erkärt Martin Renard. Ansonsten fallen sie aber völlig unterschiedlich aus: Während ein Modell Lacanau in einen Badeort ohne ausufernden Tourismus verwandeln will, in dem es mehr Erst- als Zweitwohnsitze gibt, plant ein anderes, den Wassersport weiter auszubauen, der den Ort weltweit berühmt gemacht hat. Die dritte Option sieht Lacanau vor allem als Strand von Bordeaux. Die Großstadt liegt weniger als eine Autostunde entfernt. Nur ein einziges Modell will die Uferzeile dauerhaft gegen den erbarmungslos nagenden Zahn der Gezeiten verteidigen: Mit einem mächtigen Deich, der das Meer wie eine Mauer abprallen lässt. Der Strand ginge dabei allerdings verloren. Hervé Cazenave macht ein besorgtes Gesicht. Seit einem Jahr ist er beigeordneter Bürgermeister, zuständig für die Küste und damit auch für die Zukunft der strandnahen Viertel. O-Ton Hervé Cazenave Der vorletzte Winter hat vielen Leuten schlagartig klar gemacht, dass wir mit Entwicklungen konfrontiert sind, die niemand kontrollieren kann, und die dem Tourismus schaden. Als in Soulac das Hochhaus Le Signal geräumt wurde, wussten wir: Lacanau ist auch betroffen. Gérard Depeyris drängt auf rasches Handeln. Für ihn steht fest, dass die Uferzeile verloren und der Rückzug unvermeidlich ist. Die Kommune, so schlägt er vor, sollte so schnell wie möglich die Häuser an der Uferpromenade zurückkaufen und dann vermieten, bis sie abgerissen werden. Hervé Cazenave spinnt den Gedanken weiter. O-Ton Hervé Cazenave Wenn die Stadt im Jahr 2050 Besitzer aller Häuser in diesem Bereich wäre, könnten wir sie innerhalb von zwei Jahren abreißen und das Ufer an die Natur zurückgeben. Dann können wir die Düne neu gestalten. Aber ohne staatliche Hilfe kann sich Lacanau den Rückzug nie leisten, betont der beigeordnete Bürgermeister. Martin Renard will die Studie nun abschließen und dem Umweltministerium übergeben. Was danach geschieht, ist völlig offen. O-Ton Martin Renard Bürgermeister und Stadträte, die bei diesem Projekt mitgemacht haben, erwarten schnelle Antworten, denn für sie eilt es. Zum Glück war dieser Winter mild, aber keiner weiß, was noch kommt und wie lange die Schutzmauer vor dem Deich halten wird. Wir müssen hier immer auf das Schlimmste gefasst sein. Gerard Depeyris stimmt ihm zu. Obwohl er vom Surftourismus lebt, kann er den Rückzugsmodellen für Lacanau nur positive Seiten abgewinnen. O-Ton Gérard Depeyris Eine neue Stadt zu entwickeln- selbst wenn wir sie nicht mehr erleben werden - das ist doch fabelhaft. Wir denken die Zukunft neu, das ist eine echte Chance! -- Musik Moderation Der Zahn der Gezeiten: Der Atlantik nagt an Frankreichs Küste. Das waren Gesichter Europas, heute mit Reportagen von Bettina Kaps. Die Literaturauszüge stammten aus "Das Meer" von Jules Michelet, gelesen von Jean Paul Baeck. Musik und Regie: Babette Michel. Für Ton und Technik waren Gunther Rose und Oliver Dannert verantwortlich. Und am Mikrofon verabschiedet sich Jeanette Seiffert. 1