HINTERGRUND KULTUR UND POLITIK Reihe : Zeitfragen/Literatur Ko T Titel der Sendung : ?Aufbruch und Abkehr? Das Gehen in der Literatur Autor/in : Stefan Berkholz Redakteurin : Dorothea Westphal Sendetermin : 13.05.2016 Regie : Stefanie Lazai Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig © Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503- O-Ton 1, Trojanow: (0?15) Ich glaube, das Entscheidende beim Gehen ist ja eine gewisse Entkleidung. Dass man sich nackt macht, sowohl im übertragenen Sinne, aber auch wortwörtlich. Das heißt, dass man ablegt. O-Ton 2, Popovic: (0?20) Sprecher (Übersetzung: ) Ich habe keine besonderen Gefühle, wenn ich gehe. Ich gehe, spüre den Boden, die Luft, ich atme. Wenn man von etwas sprechen könnte, dann von einem Gefühl der Entspannung. O-Ton 3, Fitzthum: (0?10) Diese physikalische Zeit, mit der wir unsern Alltag takten, implodiert beim Wandern. Nicht bei den ersten Schritten, sondern nach und nach. Das ist ein Prozess. Erzähler: Aufbruch aus dem alten Trott, nach Krankheiten oder Lebenskrisen: Das kann ein Beweggrund sein, um das Gehen in der Natur wieder zu entdecken. Oder das Bedürfnis nach Abkehr von einer Zivilisation, die immer hektischer und anonymer wird. O-Ton 4, Trojanow: (0?15) Das Gepäck des Alltags, das heißt aber natürlich auch die vielen Luxusartikel, die uns umgeben, ablegt und sich reduzieren muss auf das Wesentliche. Wie viel braucht der Mensch zum Leben, wenn er das, was er mit sich nehmen kann, auf dem Rücken tragen muss. O-Ton 5, Fitzthum: (0?15) Nach zwei Tagen hat jeder das Gefühl, seit Wochen unterwegs zu sein. Das ist eine solche Überfülle an Wahrnehmungen, die das Bewusstsein gar nicht mehr fassen kann, von denen das Bewusstsein überflossen wird, und das eben diesen ganz anderen Rhythmus erzeugt. O-Ton 6, Espedal: (0?35) Maybe I?m a bit romantic but I walk in nature very much. When I left norway now it was raining, it was flooded all over, the climate is changing because people are flying with aeroplanes and driving cars. I think it?s a warning in this book. If we continue to do like this it would be definitely the end of civilization too of culture and life. But in the end it?s a romantic story. Okay, the nature is there and it?s possible to live close to it, I try to do it myself. So walking is a part of being close to nature. Sprecher (Übersetzung: ) Mag sein, dass ich etwas romantisch bin, aber ich wandere sehr viel in der Natur. Als ich in Norwegen aufbrach, regnete es, alles war überflutet. Das Klima wandelt sich, weil Leute das Flugzeug nehmen oder das Auto. Ich warne auch in meinem Buch. Wenn wir so weitermachen, wird das zum Ende der Zivilisation führen. Aber zugleich ist es eine romantische Erzählung. Die Natur ist ja da, und es ist möglich, ihr nah zu sein, ich versuche es ja selbst. Wandern ist eine Möglichkeit, der Natur nah zu kommen. Musik Erzähler: Der Traum, unterwegs ein anderer Mensch zu werden und die Gewissheit, dass der lärmende Überfluss nicht das Maß aller Dinge sein kann ? viele Schriftsteller denken über die natürliche Fortbewegung des Menschen nach und brechen selbst auf in die Natur. O-Ton 7, Popovic: (0?35) Sprecher (Übersetzung: ) Für jede Veränderung im Leben gibt es meist natürliche Anlässe. Meistens sind es schlimme Ereignisse. Schlimme Dinge müssen aber nicht immer Schlimmes bedeuten. In meinem Fall war es die Krankheit, die mich in die Berge geführt hat. Und das war zu der Zeit sicherlich das Schönste, was mir passieren konnte. Erzähler: So kam der kroatische Schriftsteller Edo Popovic vom Kettenrauchen zur Erholung in der Natur. Popovic versteht seine Literatur als existentiell, er hat verstörende, rebellische, visionäre Texte veröffentlicht. Sein poetisch-philosophischer Essay ?Anleitung zum Gehen? sei nun so etwas wie die Quintessenz seines Denkens, sagt Popovic. Zitator: Gehen wir in irgendeine Richtung - egal in welche. Beim Gehen werden wir die eigenen Schritte hören und auch den eigenen Atem und das eigene Herz, und wenn wir uns vollständig entspannen, werden wir auch unsere eigenen Gedanken hören. Erzähler: Wie ein Bruder im Geiste liest sich der norwegische Schriftsteller Tomas Espedal. Er gilt als Meister des autobiographischen Romans, und er ist ein sensibler Sprachvirtuose. ?Gehen oder die Kunst, ein wildes und poetisches Leben zu führen?, so lautet der Titel seines ersten Buchs auf Deutsch. Es ist ein wundervoll versponnener, lebenspraller Romanessay, der hilft, zur Besinnung zu kommen. Ein fließend schönes Reisetagebuch der besonderen Art. Zitator: Ein Glücksgefühl übermannt mich überraschend. Es sagt nichts weiter als: Du bist glücklich. Hier und jetzt. Grundlos. In diesem Moment bist du glücklich, ein Geschenk. Anders lässt es sich nicht beschreiben. Ich habe nicht die geringste Veranlassung, glücklich zu sein, bin verkatert und deprimiert, habe vier Tage ununterbrochen getrunken, wohne allein in einem dreckigen Haus in einer schäbigen Straße, schlafe auf einer Matratze, keine Möbel, bin verlassen worden von ihr, mit der ich es schaffen zu können glaubte. Ich bin auf dem besten Weg, mich zugrunde zu richten, es ist eine harte und ernste Untergangsarbeit, ich trinke und gehe vor die Hunde, und dann bin ich urplötzlich glücklich. Warum? (?) Langsam wird mir klar: Du bist glücklich, weil du gehst. O-Ton 8, Espedal: (0?35) There are many reasons why people walk. When you meet other walkers they often have a serious story. Maybe the wife died or they have cancer or some kind of illness. There is a community out of the road and you meet them. In my case it?s just? Most of my time I?m sitting in front of my table, maybe two years to write a book. And after two years writing I?m completely destroyed. Than I go for a walk just to keep my health. Sprecher (Übersetzung: ) Es gibt viele Gründe, warum Menschen gehen. Wenn du andere Wanderer triffst, dann haben sie oft eine ernste Geschichte. Es mag sein, dass ihre Frau gestorben ist oder sie Krebs haben oder irgendeine andere Krankheit. Es gibt da draußen auf der Straße so etwas wie eine Community. Bei mir ist es so, dass ich ja die meiste Zeit an meinem Schreibtisch sitze und schreibe, an einem Buch manchmal zwei Jahre. Und nach diesen zwei Jahren bin ich komplett vernichtet. Dann gehe ich wandern, um meine Gesundheit zu erhalten. Erzähler: Edo Popovic wiederum verbindet seinen Erfahrungsbericht mit Gesellschaftskritik. Er schreibt über seinen Verdruss an den Medien und am Lärm der Werbung. Er erregt sich über die Hektik in unseren Städten. Er erwähnt unsere Süchte, den Autowahn, die Mauern, Stacheldrähte, Zäune um jeden Besitz. Und er erklärt die Langeweile und die vermeintliche Ausweglosigkeit, die viele empfinden: Zitator: Es ist viel leichter, es den anderen zu überlassen, für uns nachzudenken und zu entscheiden. Und dann auf eine Kündigung, Beförderung, die Rente, den Tod, auf was auch immer zu warten. Deshalb wird die Welt von einer kleinen Gruppe von Menschen regiert. Die anderen, die übrigen sechs, sieben Milliarden, machen das, was man ihnen sagt. Erzähler: Zivilisationskritik also. Und dann weitet der 58-jährige Popovic den Blick und spricht vom "Berg als Freiheitsraum". Und erklärt, dass man ja nur aufbrechen müsse, um neue, andere Wege zu suchen. So könne man zu Erkenntnissen kommen, die in der Hektik des Alltags verborgen sind. Im September 2006 begibt sich der schwer lungenkranke Schriftsteller erstmals auf eine Wanderung und beginnt, die Berge seiner Heimat zu entdecken, die Vielfalt von Pflanzen und Tieren, die Unendlichkeit des Himmels, die Zeitlosigkeit, die einer empfindet, der nicht nach der Uhr, sondern mit dem Sonnenauf- und Sonnenuntergang lebt. Zitator: Wenn ich etwas erfahren habe, während ich im Velebit-Gebirge wanderte, dann war es das Folgende: All das, was wir begehren, zum Beispiel Erfolg, Geld, Besitz, Ruhm, Ansehen und Macht, und wofür wir bereit sind, jahrelang zu schuften, uns zu verkaufen, zu intrigieren, Freunde zu verraten, uns zu erniedrigen, Menschen zu manipulieren oder sie zu zertreten, hat auf dem Berg keinen Wert und keine Bedeutung. Wenn diese Dinge auf dem Berg keinen Wert haben, wenn sie also nicht an sich einen Wert haben, wie können sie dann irgendwo anders einen Wert haben? Wer gibt ihnen einen Wert, und wer bestimmt ihren Wert? O-Ton 9, Trojanow: (0?30) Die eigene Wahrnehmung ändert sich völlig. Das kann nur jemand nachvollziehen, der tatsächlich Tage, Wochen, monatelang gegangen ist. Man stellt irgendwann fest, dass man mit dem ganzen Körper wahrnimmt. Das ist eine Erweiterung der kognitiven Fähigkeiten des Einzelnen. Das ist dann fast so etwas wie eine Offenbarung. Das ist ein intensiveres Leben und auch ein beglückteres Leben. Erzähler: So der Schriftsteller Ilija Trojanow, der eine Anthologie zum Thema herausgegeben hat, der Titel: ?Durch Welt und Wiese oder Reisen zu Fuß?. O-Ton 10, Trojanow: (0?35) Das Gehen in seiner reinen Form, so wie ich es in dem Buch in verschiedenen Texten herauskristallisiert habe, ist tatsächlich das ziellose Gehen. Es ist ja auch ? und das ist ein Leitmotiv in dem ganzen Buch, das war für mich auch die schönste Entdeckung bei der Recherche -, dass das Gehen eigentlich ja stets als subversiv gilt. Und dass es oft von den stabilen, sesshaften Strukturen der Macht misstrauisch beäugt wird. O-Ton 11, Popovic: (0?30) Sprecher (Übersetzung: ) Der echte Wanderer ist ein friedvoller Mensch, der in einer guten Beziehung steht zu Tieren und Pflanzen in seiner Umwelt. Für mich ist das Paradebeispiel des Wanderers Henry David Thoreau, den ich in meinem Buch auch erwähne. Zitator: Wenn du bereit bist, Vater und Mutter zu verlassen, Bruder und Schwester, Frau und Kind und deine Freunde, sie niemals wiederzusehen ? wenn du deine Schulden bezahlt, dein Testament gemacht, alle deine Angelegenheiten geregelt hast und ein freier Mensch bist ? dann bist du bereit zu wandern. Erzähler: Henry David Thoreau in seinem Essay ?Walking?. Im 19. Jahrhundert klagte Thoreau in Nordamerika über die Verstädterung und die Abstumpfung und Entfremdung der Städter von der Natur. Zwei Jahre lang lebte er mitten im Wald in einem selbstgebauten Blockhaus und schrieb darüber sein Buch vom einfachen Leben, ?Walden?, 1854 erstmals veröffentlicht. Heute ist Thoreau für manche so etwas wie ein Guru unter den Zivilisationskritikern. Aber hundert Jahre zuvor gab es in Europa einen berühmten Vorläufer: Jean-Jacques Rousseau. Erst in der Natur sei der Mensch natürlich, bekannte der Philosoph. Zitator: Er durchstreift die Wälder, ohne Industrie, ohne Reden, ohne Heimstatt, ohne Krieg und Verbindungen. Er braucht die anderen nicht und hat auch nicht den Wunsch, ihnen zu schaden. Erzähler: Jean-Jacques Rousseau war, wie Ilija Trojanow ihn bezeichnet, ?der erste große Denker des idealisierten Gehens?. Davon legt der französische Philosoph in seinen ?Träumereien eines einsamen Spaziergängers? sowie in seinen ?Bekenntnissen? Zeugnis ab. Zitator: Ich kann nur beim Gehen nachdenken. Bleibe ich stehen, tun dies auch meine Gedanken; mein Kopf bewegt sich im Einklang mit meinen Beinen. Erzähler: Ein Zitat aus Rousseaus ?Bekenntnissen?. Der türkische Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk hat diese Zeilen dem letzten Kapitel seines neuen Romans ?Diese Fremdheit in mir? vorangestellt. Denn auch Pamuks Held, ein alternder Straßenverkäufer in Istanbul, gelangt beim Gehen durch die Straßenschluchten zu erhellenden Einsichten, begreift allmählich den Sinn des Lebens. Zitator: Mevlut kam es so vor, als ob die Lichter und Schatten in seinem Kopf etwas mit dem Anblick der nächtlichen Stadt zu tun hatten. Und wohl deshalb ging er seit vierzig Jahren abends sein Boza verkaufen, egal ob ihm das noch etwas einbrachte oder nicht. Nun begriff er so recht, was er all die Jahre über schon irgendwie geahnt hatte, nämlich dass er auf seinen Streifzügen durch die Stadt das Gefühl hatte, sich im eigenen Kopf zu bewegen. Wenn er mit den Mauern, den Reklamen, den Schatten, den im Dunkel kaum auszumachenden geheimnisvollen Dingen sprach, war ihm deshalb auch so, als redete er mit sich selbst. Erzähler: Der dänische Philosoph und Theologe Sören Kierkegaard, den Ilija Trojanow als ersten ?Flaneur? und ?Großstadtgeher? bezeichnet, empfahl ein Jahrhundert nach Rousseau: Zitator: Vor allem verliere nie die Lust zu gehen. Jeden Tag gehe ich mich in einen Zustand des Wohlbefindens und gehe fort von jedweder Krankheit; ich bin zu meinen besten Gedanken gegangen, und ich kenne keinen Gedanken, der so bedrückend wäre, dass man ihn nicht gehend hinter sich lassen könnte. Erzähler: Henry David Thoreau formulierte bereits vor rund 150 Jahren Lehrsätze für eine Gesellschaft, in der es durch ständige Ablenkung immer schwieriger wird, sich zu konzentrieren. In seinen Gedanken ?Vom Wandern? schreibt Thoreau. Zitator: Selbstverständlich ist es sinnlos, unsere Schritte zum Wald zu lenken, wenn wir dort nicht wirklich ankommen. Ich bin beunruhigt, wenn ich merke, daß ich eine Meile in den Wald hineingegangen bin, ohne auch im Geist dort zu sein. (?) Was soll ich im Wald, wenn ich dabei an etwas denke, was nicht im Wald ist? Musikakzent: O-Ton 12, Popovic: (0?30) Sprecher (Übersetzung: ) Zu Anfang bin ich immer alleine gewandert. Später mit meiner Frau. Und ganz selten in einer Gruppe. Am liebsten laufe ich aber alleine, weil ich dann nicht dem Rhythmus einer anderen Person folgen muss. Dann kann ich mich am besten auf das, was um mich ist, einlassen. Zitator: Man sollte also, um sich recht daran erfreuen zu können, eine Wandertour allein unternehmen? Erzähler: Robert Louis Stevenson, schottischer Schriftsteller, 1850 bis 1894. Zitator: Wenn man in Gesellschaft geht oder auch nur als Paar, handelt es sich schon nur noch dem Namen nach um eine Wandertour; es wird zu etwas anderem und nimmt mehr die Natur eines Picknicks an. Man sollte sich allein auf eine Wandertour begeben, weil Freiheit essentiell dazugehört. Weil man in der Lage sein sollte, anzuhalten und weiterzugehen, diesen oder jenen Weg zu nehmen, wie die Laune einen gerade reitet. Erzähler: Der norwegische Schriftsteller Tomas Espedal kommt in seinem Romanessay ?Gehen: oder die Kunst, ein wildes und poetisches Leben zu führen? zu ähnlichen Überlegungen. Zitator: Der Rhythmus des Gehens, jetzt habe ich ihn gefunden. Gehen, ausruhen, essen, denken, sehen, in einem gleichbleibenden Tempo, als gingen die Beine von allein. Mühelos, fließend, als wischten meine Beine die Landschaft aus und zeichneten eine waagerechte Linie voraus. Es gleicht einem Rausch, vielleicht ist es sogar ein Rausch, der Rausch des Körpers, der Anstiege und Anstrengungen von mir nimmt, Sorgen und Schmerzen aufhebt, die schmerzenden wunden Stellen, die steifen Muskeln, den schweren Rucksack, ich merke nichts von all dem, erst als ich Halt mache und mich ausruhe, nur ganz kurz, ich gehe weiter. Es gibt einen Punkt, ein Stadium, in dem das Gehen spürbar eine Grenze überschritten hat; ich habe keine Lust mehr, Halt zu machen, will einfach weitergehen, gehen, gehen, es spielt keine Rolle mehr, wo und warum, in welche Richtung, das Gehen ist mir in Fleisch und Blut übergegangen, es ist ein Rausch, ein Freiheitsrausch; du kannst gehen, wohin du willst, so weit du willst, möglicherweise gehst du so weit, dass es schwierig werden könnte, zu dem zurückzukehren, was normal ist, zu dem, was früher war, eine Arbeit, ein Zuhause? Man geht zu etwas Neuem. O-Ton 13, Trojanow: (0?30) Bei extrem langen Gehunternehmungen ist es dann irgendwann mal so, dass der Kopf alles bewältigt hat, was irgendwie noch sich angesammelt hatte und man dann tatsächlich in so eine Art meditative Trance, um nicht zu sagen, vielleicht sogar Leere, hineingerät und dann weder denkt noch problematisiert, sondern einfach nur ist. Erzähler: Der Philosoph, Autor und Reisejournalist Gerhard Fitzthum ist zugleich passionierter Wanderer und Wanderführer. In seinem philosophischen Essayband ?Auf dem Weg. Zur Wiederentdeckung der Natur? macht er sich Gedanken über ?die Asphaltierung der Welt?, verfasst eine ?kleine Philosophie der Abwesenheit? sowie ?Konturen einer Philosophie des Wanderns?. Schließlich hält Fitzthum ein ?Plädoyer für den Abschied vom Sinn?. O-Ton 14, Fitzthum: (0?45) Der moderne Mensch sucht überall nach Sinn. Den gibt es natürlich nicht, den hat es nie gegeben. Das ist die Geschichte unserer christlich abendländischen Kultur, dass wir mit einer Sinnerwartung herumlaufen und damit ewig scheitern. Und das Wandern ist jetzt auch nicht der Sinn. Es braucht diesen Sinn aber überhaupt nicht. Aufgrund dieses sinnlich sinnenhaften Daseins, draußen Seins. Die Sinnfrage ist auch ein Zeichen eines Menschen, der von den Beinen geholt ist, der sich nicht mehr bewegt, der diese elementare Raumerfahrung nicht mehr macht. Erzähler: Der kroatische Schriftsteller Edo Popovic bevorzugt zielloses Wandern. Die Zeit verfliegt nicht mehr im Sekundentakt wie in der Hektik des Alltags. Die Zeit fließt dahin, im Rhythmus des Gehens und im Verlauf des Tages. O-Ton 15, Popovic: (0?30) Sprecher (Übersetzung: ) Ich habe kein Ziel, wenn ich wandere. Und es gibt dieses chinesische Sprichwort: Der Weg führt zu allen Orten, an denen man vorbeikommt. Aber natürlich habe ich gewisse zeitliche Rahmenbedingungen, damit dieses Wandern nicht endlos wird. Das ist aber auch der einzige Rahmen, den ich mir setze. Alles andere geschieht spontan. Ich wache morgens auf und beschließe, okay, jetzt laufe ich in diese Richtung. Oft geschieht es sogar, dass der Wind bestimmt, wohin ich gehe. Erzähler: Einer der bedeutendsten englischsprachigen Reiseschriftsteller des 20. Jahrhunderts, der Brite Patrick Leigh Fermor, wanderte in den 1930er Jahren von Holland quer durch Europa bis nach Konstantinopel. In seinem Reisebericht ?Die Zeit der Gaben? schrieb er vom Abenteuer des Wanderns in wenig gekennzeichnetem Gelände. Man konnte sich verirren, auch in Bayern oder Österreich, aber: kein Grund zur Panik! Zitator: Manchmal verstand ich die Wegbeschreibungen, die ich mir in Katen oder auf Bauernhöfen geben ließ, nicht ganz und verirrte mich.(?) Unterwegs zu einem jener drei Flecken, deren Namen keine Karte verzeichnet, packte mich in der Abenddämmerung die Panik. Am letzten Wegweiser nach Pfaffenbichl und Marwang war ich lange vorüber ? ich weiß die beiden Namen noch, weil der erste so lustig und der zweite irgendwie bedrohlich klang. Mit einem Male war es dunkel, und dichtes Schneetreiben setzte ein. (?) Fünf Minuten darauf erblickte ich die Dächer und den Kirchturm und das Licht über der Tür. Es war wie ein Teppich aus Lampenschein, der da im Schnee für mich ausgerollt wurde, und die Flocken, die an den Fenstern vorbeistoben, glitzerten wie Pailletten. O-Ton 16, Popovic: (0?30) Sprecher (Übersetzung: ) Gehen ist in erster Linie Meditation. Ich bemühe mich, beim Gehen nicht zu denken. Und wenn ich dann oben auf dem Berg, in der Natur bin, schreibe ich auch nicht. Vielleicht einige Sätze, die mir einfallen. Aber ich bemühe mich wirklich, bei jedem Schritt zu gehen, ohne über etwas nachzudenken. Falls ich dann doch denke, dann meist über das Wetter. Wenn ich sehe, dass sich etwas zusammenbraut, dann überlege ich eben, wo stelle ich mich unter. Erzähler: Spricht Edo Popovic von der Friedfertigkeit des Wanderers, so sieht Tomas Espedal im Wanderer auch den Seher, der sich zum Radikalen entwickeln kann. O-Ton 17, Espedal: (0?15) There is a little essay about Rousseau. As you know the romantic movement really appreciated he?s so frightening. He just left everything. Sprecher (Übersetzung: ) Es gibt von mir einen kleinen Essay über Rousseau. Er ist voller Angst als die romantische Bewegung aufkommt. Und so verlässt er alles. Zitator: Nur in diesen Stunden der Einsamkeit, da ich Gelegenheit zum Nachsinnen habe und mich nichts ablenkt oder stört, bin ich ganz und gar ich selbst und gehöre mir allein? Sprecher: Jean-Jacques Rousseau, ?Träumereien eines einsamen Spaziergängers?. Zitator: ?.nur in diesen Stunden kann ich ehrlicherweise von mir behaupten zu sein, wie die Natur mich wollte. Erzähler: In seinem Romanessay schreibt Tomas Espedal: Zitator: Rousseau ist nicht der Erste, der eine Verbindung zwischen Gehen und gutem Denken herstellt, aber er ist der erste bedeutende Autor, der darüber reflektiert, was es eigentlich heißt, zu gehen; er schreibt dem Gehen einen romantischen Wert zu: Man kommt der Natur näher; dem Ursprünglichen, und empfindet sogleich Wohlbehagen, ein reines Glücksgefühl, außerdem ist man frei. Der Gehende fühlt sich frei. Er kann seine Wege selbst wählen. Außerdem ist es gut für das Denken und die Gesundheit, sich zu Fuß fortzubewegen. Erzähler: Im 19. Jahrhundert erkannte der deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer: Zitator: Es gibt nur eine Heilkraft, und das ist die Natur. Erzähler: Eins werden mit der Natur. Der Vergänglichkeit trotzen, sich befreien, loslassen. Ängste überwinden, zur Besinnung kommen, neue Einsichten erlangen, die Welt auf den Kopf stellen. Doch die Welt (und das Schicksal der Menschen) lässt auch den einsamen Wanderer nicht los. O-Ton 18, Espedal: (0?25) But you are radicalized when you walk. You get angry because you see powerty, you see gypsies, you see homeless people. You get very close to it. When you travel by car or by plane it?s somewhere. But when you really see it you get angry. Sprecher (Übersetzung: ) Man wird radikaler, wenn man wandert. Man wird zornig, weil man Armut siehst, Gypsies, Obdachlose. Wenn man mit dem Auto oder dem Flugzeug reist, dann ist all das irgendwo. Aber wenn man es direkt sieht, wird man zornig. Musik: Erzähler: Der Wanderer kann zum Rebellen gegen seine Zeit werden. Im 19. Jahrhundert wetterte Henry David Thoreau in Nordamerika gegen den Fortschritt der Zivilisation und die Vernichtung der Natur, und er forderte den Menschen zum Umdenken auf. Zitator: Die heutigen sogenannten zivilisatorischen Fortschritte, wie das Errichten von Häusern, das Roden von Wäldern und das Fällen aller großen Bäume, entstellen die Landschaft bloß und machen sie zahmer und billiger. Wo ist das Volk, das mit dem Verbrennen der Zäune beginnt und den Wald stehen lässt? Erzähler: Und Jean-Jacques Rousseau klärte bereits in seinem ?Diskurs über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen? auf. Orhan Pamuk hat diese Bemerkungen über die Beschränkungen der bürgerlichen Gesellschaft zum Motto seines neuen Romans ?Diese Fremdheit in mir? gemacht: Zitator: Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Musikakzent: Erzähler: Gehen ist heute ein Trend. Tourismusunternehmen berichten von stetig steigenden Zahlen im Wandersektor. Möglich, dass Hape Kerkeling vor zehn Jahren zum Boom in Deutschland beitrug. Manuel Andrack, ein anderes Fernsehgesicht, lässt sich mittlerweile als ?Deutschlands Wanderexperte? bezeichnen und pilgert mit seiner ?Wandershow? zu Lichtbildervorträgen durch die Veranstaltungsräume dieser Republik. Der Buchmarkt hat das Thema mittlerweile entdeckt, die Titel nehmen zu. Herausragend ist in diesem Frühjahr ein Titel, der so vielversprechend wie tiefgründig klingt ?Alte Wege? des britischen Literaturwissenschaftlers Robert Macfarlane. Zitator: Dieses Buch hätte nicht im Sitzen geschrieben werden können. Es handelt von der Beziehung zwischen Pfaden, Gehen und Vorstellungskraft, weshalb sich das Denken zumeist im Laufen vollzog ? und nicht anders hätte vollziehen können. (?) Vor allem aber erzählt dieses Buch von Menschen und Orten: vom Gehen als einer Entdeckungsreise ins Innere und davon, auf welch subtile Weise die Landschaften, die wir durchqueren, uns prägen und formen. Erzähler: Auch in den Romanen des israelischen Schriftstellers David Grossman hat das Gehen eine wichtige Funktion. In dem Roman ?Eine Frau flieht vor einer Nachricht?, 2009 auf Deutsch erschienen, wird eine mehrtägige Wanderung durch das Gebirge beschrieben. In seiner Totenklage von 2013 ?Aus der Zeit fallen? schreibt Grossman über den Verlust eines geliebten Menschen und nennt eine Figur ?der gehende Mann?. Und in einem Interview sagte Grossman einmal: Zitator: Wer geht, der löst sich aus der Erstarrung. Er flieht davor, eingefroren zu werden in seinem Zorn oder seinem Schmerz. Er verschafft sich Abstand. Er versichert sich des eigenen Körpers. Er geht. O-Ton 19, Grossman: (0?30) I?m writing while I?m walking. Not in older phases of writing. There are phases, when I have to sit and to write in long hand or to type. But for example now when I am hopefully about to begin something new, I even hesitate to call it a book, something, a creature, I?m going to start a creature and I find myself walking every day for hours. I just cannot sit. I sometimes force myself to sit because I?m exhausted. Sprecher (Übersetzung:) Ich schreibe, während ich gehe. Nicht im herkömmlichen Sinn von Schreiben. Aber zum Beispiel, wenn ich etwas Neues beginne, ich noch zögere, es ein Buch zu nennen, eher eine Schöpfung, irgendetwas, dann gehe ich jeden Tag stundenlang. Ich kann dann nicht sitzen. Und manchmal muss ich mich dazu zwingen, weil ich erschöpft bin. Erzähler: In seinem neuen Roman ?Kommt ein Pferd in die Bar? erzählt David Grossman von dem alternden Komiker Dovele, der als Kind auf Händen gelaufen ist ? ein Versuch, der Realität zu entfliehen, indem er sich und damit die Welt auf den Kopf stellte. In der Natur, so Grossman, könne sich so etwas wie Frieden zwischen den Menschen einstellen. O-Ton 20, Grossman: (0?30) When we meet nature we were demilitarized. We are only temporary here and we should be more humble in front of this eternity. And maybe if we remember how temporary we are maybe we should try to embatter our life and the life of our neighbours. And be more respectful for the shortness of life that we have. Sprecher (Übersetzung:) Wenn wir uns in der Natur befinden, werden wir friedlicher. Wir sind nur vorübergehend hier, und wir sollten bescheidener, demütiger sein angesichts der Ewigkeit. Angesichts der Begrenztheit unseres Daseins sollten wir versuchen, unser Leben und das Leben unserer Mitmenschen zu verbessern. Uns unserem kurzen Dasein gegenüber respektvoller erweisen. O-Ton 21 Trojanow: (0?30) Wir sind von unserem Körperbau fürs Gehen geschaffen. Wir sind auch unglaublich gute Geher, im Gegensatz zu den andern Primaten oder auch vielen anderen Tieren. Unsere Schwäche ist eher das Laufen, vom Springen oder Hüpfen ganz zu schweigen, aber beim Gehen sind wir ja richtig stark. Wir können ja auch immens lange Strecken gehen, wenn man ein bisschen fit ist: fünfzig Kilometer am Tag ist kein Problem. O-Ton 22 Espedal: (0?45) It?s not easy. To be a wanderer is hard. You sleep out, you really get exhausted at times. It rains, you don?t sleep very well. You know, how the gypsies call us? Soft people. Because we have beds und pillows and temperature in the houses. They considered themselves as hard people. And the wanderer? You get used to sleep out. You don?t eat very much in periods. No, I don?t think everyone can do it. // But everyone can walk. And that was my intention with the book too. You can start a new room. You can have your daily walk, you can cross countries, everything is possible. Sprecher (Übersetzung:) Es ist nicht leicht, ein Wanderer zu sein. Man schläft draußen und ist manchmal richtig erschöpft. Wenn es regnet, schläft man nicht gut. Weißt du, wie die Gypsies uns bezeichnen? Als weiche Menschen. Weil wir Betten haben und Kopfkissen und Heizung in den Häusern. Sie betrachten sich selbst als harte Menschen. Aber der Wanderer hat es nicht leicht, nein, ich denke, das kann nicht jeder: draußen schlafen, wenig essen. Aber jeder kann gehen. Und das ist das, was ich mit meinem Buch ?Gehen? sagen wollte. Du kannst einen neuen Raum öffnen. Du kannst täglich spazieren gehen, du kannst Länder durchqueren, alles ist möglich. O-Ton 23, Fitzthum: (0?30) Und dafür muss man natürlich sich exponieren, man muss etwas wagen. Man muss eben einen Einsatz fahren, der körperliche Einsatz. Natürlich ist es mühevoll, zu wandern, und es ist vermeintlich leichter, Auto zu fahren. Aber das ist eigentlich unsere Existenz, das Wesentliche an unserem Sein, dass wir uns als körperliche Wesen erleben und spüren können, und nur das macht sicher. Alles andere macht unsicher. O-Ton 24, Grossman: (0?30) And the beauty of nature that really so comforting and so opening the soul, the generosity of nature. And also the feeling that when you walk on this ground you suddenly realize how eternal earth is and how temporary you are as a human being with all your troubles and with all your inconveniences. And all the wars that we are fighting and all that. Sprecher (Übersetzung:) Die Schönheit und Großzügigkeit der Natur ist so tröstlich und öffnet die Seele. Man spürt beim Gehen, wie ewig die Erde ist und wie temporär man selbst als menschliches Wesen ist, mit allen Sorgen und Mühen. Und mit all den Kriegen, die wir führen. O-Ton 25 Trojanow: (0?20) Insofern ist uns das quasi in die Wiege gelegt, das Gehen. Es geht nur darum, dass jede Generation das immer wieder entdecken muss, weil diese teuflischen Einflüsterungen der Bequemlichkeit und die unglaublichen Zugkräfte der weichen Couch einen gelegentlich davon ablenken. 1