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ATMO 2 : Geräusch Kernspintomograph kurz frei, dann unterlegen und allmählich weg. SPRECHERIN: Der Kerspintomograph ist nur eines der technischen Mittel, mit denen sich das Nervengeflecht des Gehirns erkunden lässt. Ihre Zahl ist in den letzten Jahren enorm gewachsen. Zahlreiche Neurowissenschaftler glauben daher, dass auch Geist und Psyche vom Gehirn her erklärbar sind. Einer ihrer bekanntesten Vertreter ist der Bremer Hirnforscher Gerhard Roth. Er war es, der den freien Willen des Menschen als Illusion bezeichnete: O- TON 1 (Roth 25. 16) Es ist eine Illusion in dem Sinne, dass das Gefühl, ich bin das, mein bewusststes, denkendes Ich ist das, das hat die Tat gemacht, das ist eine Illusion. Neurobiologisch und neuropsychologisch kann man aber zeigen: diese Illusion ist notwendig, damit ich willentlich Handlungen planen kann. Es wird eben dieser virtuelle Akteur eingerichtet, der da scheinbar handelt und plant und das ist auch offenbar sehr wichtig so . SPRECHERIN: Aber kann man die geistige und psychische Welt tatsächlich allein über den Blick ins Gehirn erfassen? Stößt die Hirnforschung hier nicht an Grenzen? Denn das Gehirn selbst besteht aus einem übergreifenden Netzwerk von Nervenzellen, das sich je nach Situation zu flexiblen Aktivitätszuständen zusammenschalten kann. Auch Professor Wolf Singer vom Frankfurter Max-Planck-Institut für Hirnforschung kommt daher nicht umhin, das Gehirn als ein wandelbares System zu beschreiben. O- TON 2 ( Singer 33. 23) Das alles sagt aber nicht, dass man das Gehirn auf alle Zeiten festlegen kann hinsichtlich dessen, was aus ihm wird, wie es sich entwickelt und in welche Richtung es weitergehen wird. Es ist ein nichtlineares System, das wird meistens vergessen dabei und die Leute denken dann immer an die Mechanik aus dem 19. Jahrhundert. Das ist es nicht, sondern es ist ein komplexes, nichtlineares System und das hat die wunderbare Eigenschaft, dass es sich selbst organisieren kann, selbst initiativ sein kann, in die Zukunft hinein nicht festgelegt ist. Das kann morgen etwas völlig Unerwartetes machen, was niemand heute hätte voraussagen können. Und außerdem ist es da noch einmal eingebettet in eine sehr reiche Umwelt, die es ständig mit neuen Reizen versorgt, die bewirken, dass es sich verändert und sich morgen anders verhält als heute. SPRECHERIN: Das Hirn ist ein soziales Organ, sagen vor allem die Sozialwissenschaftler. Denn Gefühle und Entscheidungen entfalten sich in komplexen Situationen des Alltags, in denen Menschen handeln und miteinander kommunizieren. Je nachdem, was der soziale Kontext verlangt: das dynamische Netzwerk des Gehirns kann zwischen logisch-rationalen, emotionalen, sozial taktierenden oder moralisch wertenden Operationen hin und her wechseln oder sie miteinander verkoppeln. Die Frage, wie es das macht, ist noch nicht im Detail beantwortet. Diskutiert wird vor allem ein Mechanismus, mit dem bestimmte Nervenzellen, die einen gemeinsamen Gegenstand oder ein gemeinsames Problem bearbeiten, miteinander in Resonanz treten. Sie verbinden sich zu kontextbezogenen Netzwerken, in denen die Nervenzellen ihre Signale im gleichen Takt von sich geben. Das Gehirn - und damit die Hirnforschung - scheint mit solchen Modellen jedenfalls offener zu werden. O- TON 3 (Slaby 55.02) Die Neurowissenschaftler heute, der jüngeren Generation, sind keine knallharten Reduktionisten mehr, die sich mit einem weltanschaulichen Materialismus nach vorne wagen und quasi die gesamte menschliche Erfahrung reduzieren oder sogar wegerklären wollen. Im Gegenteil, es ist der Versuch da, immer mehr Komplexität, immer mehr Spezifik, immer mehr feine Details der Erfahrung einzufangen auf präzise Weise und gerade eben nicht zu reduzieren, sondern in ihrem eigenen Recht zu bewahren. SPRECHERIN: Der Berliner Philosoph Jan Slaby. Er ist einer der Initiatoren des Projekts "Kritische Neurowissenschaft", dessen Mitglieder die Möglichkeiten und Grenzen der Hirnforschung interdisziplinär analysieren. Slaby spricht sich angesichts der realen Entwicklung der Hirnforschung dafür aus, alle Attacken einzustellen, die voreilig vor dem neuen, neuronal gesteuerten Menschen warnen. O- TON 4 (Slaby 58. 16) Also der Alarmismus hilft nichts, denn meistens ist die Neurowissenschaft wirklich noch gar nicht so weit, wie sie da dargestellt wird, also man soll sie dann auch wirklich an der Realität, an dem was sie wirklich schon kann, messen, und nicht in irgendwelchen Zukunftsvisionen, die meist in der Wissenschaftsgeschichte sich ja nicht erfüllt haben. SPRECHERIN: Zumal Hirnforscher bis heute weder künstliche Gehirn bauen noch Geisteskrankheiten heilen können. Mehr noch: sie wissen längst nicht, mit welchem Code das Gehirn letztlich Informationen verarbeitet. ATMO 1:Nervzellentladungsgeräusche, kurz frei, dann unterlegen und langsam weg SPRECHERIN: Wie also können Neuro- und Sozialwissenschaftler fruchtbar zusammenarbeiten? Wie zum Beispiel könnte ein Konzept vom Ich aussehen, das nicht als feste und dinghafte, sondern als sozial veränderliche Größe verstanden wird? Und wie geht man überhaupt mit offenen, komplexen Systemen um, die in ständiger Wechselwirkung mit ihrer sozialen Umwelt stehen? O- TON 5 (Vogd 30. 33) Es muss ja einen Zusammenhang geben, weil unsere Gesellschaft kann nur so komplex sein, wie unsere Gehirne es aushalten. SPRECHERIN: Der Soziologe Werner Vogd von der Universität Witten-Herdecke ist davon überzeugt, dass Sozialwissenschaftler und Neurowissenschaftler voneinander lernen können. Denn "Gehirn und Gesellschaft"- so ein Buchtitel von ihm - würden direkt aufeinander verweisen. Werner Vogd geht von der Systemtheorie der Gesellschaft aus. Die moderne Gesellschaft hat sich demnach in verschiedene Systeme ausdifferenziert, die nach eigenen Regeln arbeiten: das Rechtssystem, das Wirtschaftssystem, das Wissenschaftssystem oder das Moralsystem. Der Mensch muss in dieser funktional ausdifferenzierten Gesellschaft daher mit verschiedenen Perspektiven zurechtkommen. Die rechtliche Perspektive etwa legt ihm nahe, Situationen nach den Kriterien "recht oder unrecht" zu beurteilen, die wissenschaftliche nach dem Kriterien "wahr oder unwahr", die moralische nach den Kriterien "gut oder böse". O- TON 6 (Vogd 14.00 Und das ist jetzt das Spannende, dass Menschen und damit natürlich auch Gehirne ständig mit diesen Unschärfen, die daraus entstehen, umgehen können. Also Gehirne sind in gewissem Maße Meister! Also jeder, der jetzt meinetwegen mal eine Sitzung mitmacht, meinetwegen eine Vorstandssitzung oder so: da findet ständig so ein Switchen statt. Also auf einmal ist es eine freundschaftliche Stimmung und dann macht irgendeiner eine Drohung, auf einmal ist der rechtliche Raum da. Dann kommt ein anderer und sagt, aber nee, nee, jetzt sozusagen geht es um die Wurst und jetzt müssen wir so eine kleine Rechtsverletzung hinnehmen, wir können nicht ehrlich sein, als wir müssen die Sachen ein bisschen verdecken, die wir haben, und dann ist da die wirtschaftliche Sache. Und das tariert sich sozusagen dann aus und am Ende entsteht eine Lösung, und das ist das Spannende, dass wir das alles verarbeiten können. ATMO 1: Nervzellentladungsgeräusche kurz frei, dann unterlegen SPRECHERIN:: Vor diesem Hintergrund lassen sich neuere Tendenzen der Hirnforschung besser begreifen. Die Neurowissenschaftler interessieren sich immer stärker für Themen der Kultur, des Sozialen und der Ethik. Sie verstehen das Gehirn als ein flexibles und soziales Organ, das die ganze Komplexität der Welt verarbeiten muss. Man könnte daher heute von einer "multiplen Neurowissenschaft" sprechen. O- TON 7 (Vogd 46. 45) Komplexen Gegenständen kann man sich nur von verschiedenen Seiten her nähern und das trifft natürlich auch für Soziologen zu. Also unsere Gegenstände sind auch komplex und deswegen gibt es sehr viele verschiedene Theorien, die dann sich gewissermaßen ergänzen, weil sie unterschiedliche Gegenstandsbereiche sozusagen benennen. SPRECHERIN: Die multiperspektivische Herangehensweise an komplexe Themen sollten die Hirnforschern natürlich auch dann ernst nehmen, wenn es beispielsweise um die Diskussion über den "freien Willen" geht. Denn inwieweit eine Handlung autonom ist, hängt von verschiedenen Kriterien ab: ist sie in ihren Schritten und Folgen planbar und vorhersehbar? Lassen sich die ihr zugrundeliegenden Motive bewusst kontrollieren? Kommt sie unter dem Einfluss von Affekten oder äußerem Druck zustande? ATMO 3: Gehirnmusik kurz frei, dann unterlegen. SPRECHERIN: Wie aber kann man das Ich verstehen, das in seinem Wollen und Handeln mal mehr oder weniger planvoll, mehr oder weniger bewusst, mehr oder weniger autonom ist? ATMO 3: Gehirnmusik hoch, kurz frei, dann wieder unterlegen. SPRECHERIN: Solche"Gehirnmusik" entsteht, wenn Neurowissenschaftler die Signalaktivität einzelner Nervenzellen im Gehirn eines Affen Töne zu ordnen. Lassen sich auch Ich-Leistungen bestimmten Hirnaktivitäten in einer Weise einander zuordnen, die Erkenntnis fördernd ist? ATMO 3: Gehirnmusik kurz hoch, dann unterlegen und allmählich weg SPRECHERIN : Der Kölner Hirnforscher und Philosoph Kai Vogeley untersucht einzelne Aspekte, die mit dem Ich-Erleben oder dem Selbstbewusstsein in Zusammenhang gebracht werden. O-TON 8 (VOGELEY 27. 32) Dazu gehören zum Beispiel solche Teileigenschaften wie Perspektivität, die Tatsache nämlich, dass ich die Welt immer aus einer bestimmten Raumperspektive heraus erlebe, was ich sprachlich in der Regel durch die Verwendung des Wortes "ich" zum Beispiel anzeige. Eine andere Möglichkeit bezieht sich auf das, was man so als autobiographisches Gedächtnis bezeichnet, also ich erleben mich als eine Person, die über eine längere Zeit hinweg irgendwie die gleiche Person bleibt. SPRECHERIN Was passiert im Gehirn, wenn jemand sich als Urheber seiner Handlungen fühlt, die Ich-Perspektive einnimmt oder nach Kontinuitäten in seiner persönlichen Lebensgeschichte sucht? Studien von Kai Vogeley und anderen Forschergruppen zeigen, dass bei diesen Tätigkeiten unterschiedliche Hirnregionen wiederholt aktiviert werden. Kai Vogeley schließt daraus: Es gibt kein zentrales Ich im Gehirn, aber einen Attraktor für das Ich-Erleben, das heißt Zustände, auf die das Gehirn hinstrebt. O-TON 9 (VOGELEY 33.28) Man könnte auch formulieren, dass es sich bei dem Ich-System um eine Art "Attraktor" handelt von Aktivierungsverteilungsmustern, von dem aus dann bei verschiedenen Aufgaben mit verschiedenen Anforderungen gewisse Änderungen durchaus denkbar sind, aber trotzdem ein gewisser Kern von Aktivierungsverteilungen immer wieder vorgefunden werden kann. SPRECHERIN: Je nachdem, ob jemand die Ich-Perspektive räumlich oder sprachlich einnimmt oder ob er sich als Urheber einer Handlung fühlt, reagiert das Gehirn anders. Es aktiviert dabei aber immer Regionen eines großen Netzwerks, die sich an seiner Mittellinie entlang ziehen und kombiniert sie miteinander. Das Ich-Erleben ist dort sozusagen multipel organisiert. ATMO 3: Gehirnmusik kurz hoch, dann unterlegen und allmählich weg SPRECHERIN: Zu diesem Netzwerk gehören zum Beispiel Gehirnregionen, die mit der Repräsentation des eigenen Körpers zu tun haben. Diese werden auch aktiv, wenn Personen das Wort "ich" oder "mein" aussprechen. Andere Regionen haben mit Emotionen zu tun: Zum "Ich" gehört, wie jemand sich gerade fühlt. Ganz besonders interessant ist ein Gebiet in der Mitte des Stirnhirns: der so genannte mediale präfrontale Cortex. Studien zeigen, dass er nicht nur dann aktiv ist, wenn Versuchspersonen über sich selbst nachdenken, sondern auch wenn sie sich in eine andere Person hinein versetzen: was fühlt, will, plant derjenige gerade? O-TON 10 (VOGELEY 31.46) Daraus muss man zunächst mal die Schlussfolgerung ziehen, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen unserem Ich-Bewusstsein und dem, was man ein soziales Bewusstsein nennen könnte, nämlich die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen. Und diese enge Verknüpfung wird natürlich intuitiv auch schnell einleuchtend, wenn man sich überlegt, dass man sich selbst natürlich am besten verstehen und abgrenzen kann auch immer, wenn man sich sozusagen durch den anderen spiegeln lässt. SPRECHERIN: Diese Befunde berühren sich frappierend mit philosophischen Konzepten, die das Ich und das Wir, das Selbst und das Soziale eng miteinander verknüpfen. Demnach entwickelt der Mensch seine Ich-Perspektive, indem er sich in anderen spiegelt und von ihnen abgrenzt. Der in Ottawa lehrende Neurowissenschaftler Georg Northoff spricht analog dazu vom "relationalen Gehirn": Das Gehirn arbeitet als Organ des Organismus zwar immer selbstbezogen, das heißt es verarbeitet Reize der Umwelt immer aus der Perspektive des Organismus. Aber dieses "selbstbezogene Verarbeiten" ist eben immer auch schon auf die Anforderungen der Umwelt bezogen. Insofern gibt es für Georg Northoff verschiedene Stufen der selbstbezogenen Verarbeitung von Umweltreizen. O- TON 11 (Northoff) Es gibt zwei Extreme. Das eine Extrem ist das Wir, das andere ist das Ich. Und dazwischen ist das Kontinuum zwischen den beiden. Und der Prozess kann je nach Kontext, je nach Umwelt und nach eigenen Zustand des Gehirns dann entsprechend "entscheiden" - ich sage "entscheiden" metaphorisch betrachtet - wie, zu welchen Grad dort ein Ich-Bezug oder ein Wir-Bezug hergestellt wird. Also ich würde von einem neuronalen Kontinuum zwischen dem Ich und Nicht-Ich, zwischen Ich und Wir sprechen. SPRECHERIN: Schon der französische Sozialwissenschaftler Michel Foucault hat vom "Tod des Subjekt" gesprochen und darauf insistiert, dass es kein universelles Wesen des Subjekts geben kann. Was unter einem Subjekt oder einem Ich verstanden wird, entstehe vielmehr in sozialen Praktiken und historisch bedingten Diskursen. Sie bringen den Einzelnen dazu, sich um sich selbst zu sorgen, sich anderen zu unterwerfen, sich zu kontrollieren oder sich als Individuum von anderen abzugrenzen. O- TON 12 (Northoff 11.20) Was man denke ich von Foucault sehr, sehr lernen kann, ist die Art der Methodik, also die Archäologie und die Genealogie. Ich glaube, da können wir sehr, sehr viel lernen, wie er Begriffe auf seine Ursprünge, Konzepte, Bedeutungen auf ihre Ursprünge zurückgeführt hat und dann deren Verwendung im Lauf der Geschichte, im Laufe der sozialen und kulturellen Strukturen betrachtet. Und ich glaube, eine solche Methodik, wenn wir die auch in Bezug setzen auf diese Beziehung zwischen Gehirn und Umwelt, also auch auf die neurosoziale Beziehung anwenden, ich glaube, dann können wir ganz neue Einsichten gewinnen. SPRECHERIN: Neurowissenschaftler wie Georg Northoff und Kai Vogeley interessieren sich daher für interkulturelle Hirnstudien zum Ich-Erleben. Wie verändern sich die neuronalen Konfigurationen des Ichs unter verschiedenen sozialen Bedingungen? MUSIK 1 chinesische Musik, kurz frei, dann unterlegen und bis Mitte der Passage weg SPRECHERIN: Einer ihrer Kooperationspartner ist der Psychologe Shihui Han von der Universität Peking. Er geht in seinen Forschungen von der Erfahrung aus, dass sich Menschen aus dem westlichen Kulturkreis eher als autonome Individuen fühlen, während Chinesen stark gruppenbezogen denken. In einem viel beachteten Experiment forderte Han dreizehn "ich-bezogene" Westler und dreizehn "wir-orientierte" Chinesen auf, sich selbst und ihre Mutter mit bestimmten Eigenschaftswörtern zu beschreiben: Bin ich oder ist sie klug, freundlich, ehrgeizig usw.? Währenddessen beobachtete er die Hirnaktivität der Versuchspersonen mit Hilfe der Kernspintomographie. ATMO 2 : Kernspingeräusche am Ende der letzten Passage unterlegen , jetzt kurz hoch, dann unterlegen und allmählich weg SPRECHERIN: Das Ergebnis war verblüffend: O- TON 13 (HAN) We did find a brain area in the medial prefrontal cortex, that brain area is ... both the self and the mother in the Chinese subjects. VOICE-OVER Wir stellten fest: ein Hirnareal in der unteren Mitte des Stirnhirns, das gewöhnlich an der Repräsentation des Ichs beteiligt ist, war bei den westlichen Versuchspersonen tatsächlich nur dann aktiv, wenn sie ihr eigenes Ich bewerteten. Bei den chinesischen Versuchspersonen jedoch war es sowohl aktiv, wenn sie sie selbst beschrieben, als auch, wenn sie ihre Mutter bewerteten MUSIK 1 chinesische Musik unterlegen SPRECHERIN: Die Beziehung von Chinesen zu ihrer Mutter ist sehr eng, noch enger als zum Vater. Diese kulturelle Tatsache hat sich dem Gehirn offenbar so stark eingeprägt, dass bei Chinesen das eigene Ich und die Mutter das gleiche Hirnareal aktivieren. Das passt gut zu der differenzierten Auslegung des Ich-Begriffs von Georg Northoff in Bezug auf das Gehirn. Es gibt grundlegende selbstbezogene Verarbeitungsprozesse des Gehirns, die immer schon interaktiv geformt sind und sich über das vielschichtige Ich-Netzwerk des Gehirns realisieren. Sie markieren, wie nahe Andere dem eigenen Organismus sind: körperlich, emotional oder sozial. Das westliche, autonome Ich, das sich selbst am nächsten ist, ist damit keineswegs allgemeingültig, sondern nur eine bestimmte kulturelle Ausformung dieser selbstbezogenen Hirnsysteme. MUSIK 1 chinesische Musik SPRECHERIN: Um die kulturellen Prägungen dieses Netzwerks im Gehirn noch genauer zu studieren, bat Shihui Han in einem weiteren Experiment Anhänger verschiedener Religionen in sein Labor. Zunächst verglich sein Team vierzehn Chinesen, die gläubige Christen waren, mit vierzehn ungläubigen Chinesen. Die Versuchspersonen sollten sich erneut selbst mit Eigenschaftswörtern beschreiben: bin ich freundlich, gut oder aggressiv? Wieder lagen sie dabei in einem Hirnscanner, der ihre neuronalen Aktivitäten aufzeichnete. Das Ergebnis: bei den Nichtgläubigen war erneut das Gebiet in der unteren Mitte des Stirnhirns aktiv, wenn sie sich selbst beurteilten, der Bereich also, der für die Ich-Z uschreibung zuständig ist. Bei den Gläubigen jedoch war es vor allem ein weiter oben liegender Teil des mittleren Stirnhirns. O- TON 14 (HAN) For the dorsal medial prefrontal cortex people found that this area is involved ... ... .because they belief thats much more important. VOICE-OVER: Aus früheren Studien ist bekannt, dass der obere Teil des mittleren Stirnhirns mitbeteiligt ist, wenn wir uns in andere Menschen hineinversetzen. Unsere Studie zeigt also, dass chinesische Christen offenbar stärker als andere über sich nachdenken, wenn sie sich selbst beurteilen, fast so wie über eine andere Person. Sie scheinen in gewisser Weise die Perspektive von Jesus einzunehmen, wenn sie sich selbst bewerten, weil sie glauben, dass diese viel wichtiger ist als sie selbst. SPRECHERIN: Nichtgläubigen dagegen reicht normalerweise die reine Ich-Perspektive. Als Han schließlich noch chinesische Buddhisten in den Scanner legte, differenzierte sich das Bild ein weiteres Mal. MUSIK 2: buddhistische Musik kurz hoch, dann unterlegen und allmählich weg O- TON 15 ( HAN 27. 53) We found a similar dorsal MPFC-activity in Chinese Buddhists ... .between the belief and the task. VOICE-OVER: Wir fanden bei den Buddhisten eine ähnliche Aktivität des oberen Gebiets im mittleren Stirnhirn wie bei den Christen. Zusätzlich wiesen die Buddhisten aber noch eine weitere Aktivierung auf. Diese lag in einem Hirnareal, das für Konfliktbearbeitung zuständig ist. Wir erklären dieses Ergebnis so: Für Buddhisten besitzt das Ich eigentlich keine Realität, es ist eine Illusion, die letztlich überwunden werden soll. Wenn man Buddhisten nun die Aufgabe stellt, ihr Ich zu bewerten, geraten sie in einen inneren Konflikt, weil es für sie ja gar keinen großen Wert hat, über ihr Ich nachzudenken. Also hatten sie auch neuronal gesehen mit einem Konflikt zwischen dieser Aufgabe und ihrem Glauben zu kämpfen. SPRECHERIN: Diese Ergebnisse einer kulturell aufgeklärten Neurowissenschaft zeigen, wie stark Ich-Funktionen im Gehirn sozial gestaltet sind. Je nach Gesellschaft oder Religion organisiert sich das Ich-Netzwerk eher als selbst- oder auf andere bezogen, als sich selbst beobachtend, kontrollierend oder relativierend. Diese Forschungsresultate markieren einen Neuanfang: die Neurowissenschaft ist fähig, Konzepte vom Ich als multiple, differenzierte Größen zu betrachten. Und das ist anschlussfähig an sozialwissenschaftliche Konzepte, die das Ich als Produkt von Techniken der Selbstbewertung, Selbstbeobachtung, Selbstkontrolle oder Selbsterweiterung verstehen. ATMO 4:"Gehirn-Musik" kurz frei, dann unterlegen und allmählich weg SPRECHERIN: Auch die Mechanismen, die den Menschen überhaupt zu einem sozialen und intersubjektiven Wesen machen, werden zunehmend von Neurowissenschaftlern untersucht. Wie gelingt es einem Menschen, andere Menschen zu verstehen? Vor mehreren Jahren schien hier mit der Entdeckung so genannter "Spiegelneurone" ein Durchbruch gelungen zu sein. Dabei handelt es sich um Nervenzellen, die im Gehirn nicht nur aktiv sind, wenn man sich zum Beispiel bewegt, sondern auch wenn man die gleiche Bewegung bei anderen Menschen sieht. Zunächst wurden diese Spiegelneuronen bei Affen entdeckt. Es gibt aber auch Studie, die nahelegen, dass im menschlichen Gehirn automatisch mitgespiegelt wird, wenn nahe stehende Menschen Schmerz erleiden oder sich ekeln. Spiegelneuronentheoretiker sagen daher: Der Mensch verstehe andere Menschen automatisch, weil sein Gehirn sozusagen innerlich mit simuliert, was andere Menschen tun und erfahren. O- TON 16 : (VOGELEY 43. 07) Also ich persönlich habe Schwierigkeiten, die exklusive Gültigkeit der Spiegel - Neuronentheorie für sämtliche kognitiven Leistungen zu akzeptieren und zwar insbesondere bei Situationen, bei denen wir zweifeln, bei denen unsere ad-hoc-Interpretation möglicherweise nicht adäquat ist, wo ich etwa nicht weiß, ob ich Ironie adäquat verstehe, Metaphern adäquat verstehe usw. Und in dieser Situation werde ich sicherlich immer Rückgriffe machen müssen, immer Anleihen machen müssen bei unseren Erfahrungstatbeständen. Das heißt ich muss überlegen, muss versuchen, mich zu erinnern um diesen aktuellen Sachverhalt und diese Interaktion mit der anderen Person adäquat verstehen zu können. SPRECHERIN: Das Verhalten anderer Personen kann taktisch bedingt sein und wird von sozialen Rollen und Normen geprägt. Diese sind können jedoch kaum automatisch im Gehirn verankert sein. Vielmehr müssen sie im Rückgriff auf Gedächtnis- und höhere Bewusstseinsleistungen gelernt und interpretiert werden. Eine Forschungslinie in den Neurowissenschaften hat inzwischen ein Hirnnetzwerk ausfindig gemacht, das für solche Interpretationsleistungen zuständig ist. Die Wissenschaftler fassen sie mit dem Kunstwort "Theory of mind" zusammen: welche Theorien, Kenntnisse und Annahmen besitzt jemand, um den Geist anderer Menschen zu deuten? O- TON 17 ( Vogeley 48. 59): Und interessant war zu sehen, dass es offensichtlich kontinuierliche Zusammenhänge zwischen dem Spiegelneuronensystem und man könnte sagen dem Theory-of-Mind-System andererseits zu geben scheint. Und das zeigt, dass wir offensichtlich so eine Art Kontinuum vor uns haben: an dem einen Pol sind solche simulationstheorieassoziierten Leistungen verortet. Und an dem anderen Pol würde ich dann vermuten diese eher theoretisch ausgerichteten Theory-of-mind-artigen Aktivierungsverteilungen, die sich dann im Gehirn auch ganz anders darstellen als dieses klassische Spiegelneuronensystem. SPRECHERIN: Es gibt offenbar mit den Spiegelneuronen einen Mechanismus im Gehirn, der Menschen dazu befähigt, einfache Vorgänge innerlich zu spiegeln. Dieses System überschneidet sich jedoch und wird ergänzt durch ein zweites System, das für komplexere soziale Beziehungen zuständig ist: handelt eine andere Person ironisch, versucht sie mich zu täuschen, geht sie taktisch vor, spielt sie ein soziale Rolle oder folgt sie bestimmten kulturellen Normen? Insofern bewegt sich die Hirnforschung auch hier auf ein differenziertes Verständnis intersubjektiven Verhaltens zu. ATMO 3: Kernspingeräusche kurz frei, dann unterlegen und allmählich weg. SPRECHERIN: Wenn das Gehirn aber als komplexes, offenes, sozial und kulturell bedingtes Organ verstanden wird, lässt sich dann überhaupt noch ein fixes Bild seiner Anatomie entwerfen? Karl Zilles, Direktor des Instituts für Neurowissenschaften am Forschungszentrum Jülich. O- TON 18 (Zilles II 20.56) Meiner Meinung nach kann es keine dogmatische Hirnkarte mehr geben, das ist nicht mehr state of the art! SPRECHERIN: Die Jülicher Forscher geben nur noch Wahrscheinlichkeiten dafür an, wo ein bestimmtes Areal in welcher Größe im Gehirn gefunden werden kann. Seit mehreren Jahren vergleichen sie die Gehirne unterschiedlicher Menschen miteinander und schauen, wie sich deren Nervennetze voneinander unterscheiden. Ihre Gehirnkarte legt den Möglichkeitsraum fest, in dem die Netzwerke des Gehirns existieren können. Sie steht der internationalen Forschergemeinde als Grundlageninstrument frei zur Verfügung. In ihr wird das Gehirn als flexibles Organ kartographiert, das sich auch verändern kann. Solche dynamischen Hirnkarten sind im Prinzip auch für soziale und kulturelle Einflüsse offen. ATMO 2 Entladungsgeräusch Nervenzellen, kurz hoch, dann unterlegen SPRECHERIN: Es gibt keinen Grund, von den Neurowissenschaften Wunderdinge zu erwarten. Natürlich stoßen ihre Labormethoden trotz aller Fortschritte an Grenzen. Hoch komplexe soziale, kulturelle oder gar politische Prozesse können letztlich nur die Kultur- und Sozialwissenschaftler analysieren und die Hirnforscher sollten das anerkennen. Trotzdem können sie Bausteine für ein Grundlagenverständnis von Geist und Psyche liefern. Natürlich wird es auch in Zukunft Neurowissenschaftler geben, die alles allein aus dem Gehirn ableiten wollen. Aber je stärker sich die Neurowissenschaftler komplexen Gegenständen nähern, desto differenzierter und aufgeklärter scheinen sie das Gehirn zu betrachten. Jedenfalls mehren sich die Hirnforscher, die die Grenzen ihres Faches akzeptieren, gerade weil sie an der interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Psychologen, Kulturwissenschaftlern oder Philosophen interessiert sind. Und damit steigen die Chancen für eine aufgeklärte Neurowissenschaft der multiplen Perspektiven auf ein offenes Gehirn. Karl Zilles. O- TON 19 (ZILLES 43.10) Ich glaube aber, dass wir auf der Ebene von Hirnfunktion und komplexen mentalen Leistungen Stück für Stück weiterkommen und die biologischen Grundlagen besser verstehen können. Ich möchte das eigentlich vergleichen mit einer Annäherung, die ständig in neue Erkenntnishorizonte hineinführt mit neuen Problemen, die gelöst werden müssen. Ende 14