KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : Literatur Titel der Sendung : Annäherungen aus der Ferne. Neue Erzählweisen von Herkunft und Heimat Autor/in : Claudia Kramatschek Redakteurin : Barbara Wahlster Sendetermin : 21.02.2012 Besetzung : Erzählerin (Kommentar) Zitatorin 1 (Overvoice, Zitate) Zitator 1 (Overvoice, Zitate) Regie : Beatrix Ackers Produktion : 17.2.2012 Annäherungen aus der Ferne. Neue Erzählweisen von Herkunft und Heimat Von Claudia Kramatschek Deutschlandradio Kultur: 21.02.2012 Redaktion: Barbara Wahlster Erzählerin: 1968 prägt Marshall McLuhan den Begriff vom ,globalen Dorf'. Nur sieben Jahre zuvor, 1961, war die Bibel der postkolonialen Bewegung erschienen: Frantz Fanons "Die Verdammten dieser Erde". Heute, ein halbes Jahrhundert später, ist aus dem globalen Dorf eine Welt der Vermischung geworden. Das postkoloniale binäre Denken von Zentrum und Peripherie ist, so scheint es, dem Modus der Vernetzung gewichen. Regie: O-Ton 1/Thien 1 I never was sure what a postcolonial writer is. In a sense we were all post- colonial writers because who wouldn't be at this point? I think what I am always interested in, is this crossing of borders: How people do it, what they bring with them, what they don't bring with them, what serves them, what they think is new when they take the two countries that are very different from each other. Zitatorin 1: OV 1/Thien Ich wusste eigentlich nie genau, was ein postkolonialer Autor ist. Sind wir inzwischen nicht alle postkoloniale Autoren? Mich persönlich interessiert eher das Überschreiten von Grenzen - wie Menschen das machen, was sie mit sich bringen, was nicht, was sie für nützlich halten, wenn sie von einem Land in ein völlig anderes Land gehen. Erzählerin: Madeleine Thien kommt 1974 in Vancouver zur Welt. Die Mutter stammt aus China, der Vater aus Malaysia. Kurz vor Thiens Geburt emigrieren die Eltern nach Kanada. Kanada wird Thiens Heimat, Englisch ihre Muttersprache. 2006 erscheint ihr Debütroman "Jene Sehnsucht nach Gewissheit". Der Roman ist aufgespannt zwischen Kontinenten und Kulturen; zwischen Malaysia und Indonesien, Australien und Kanada. Die Geschichte beginnt in Vancouver Anfang des 21. Jahrhunderts: Ansel, ein Tuberkulose-Spezialist, beklagt den plötzlichen und viel zu frühen Tod seiner Frau Gail, einer Rundfunkjournalistin, die mit 39 Jahren an einer Lungenentzündung gestorben ist. Zitatorin 1: Ihre letzte Unterhaltung haben sie am Telefon geführt, ein Ferngespräch. Seine Erinnerungen halten sich nur mühsam am Leben, die Zeit schreitet voran und Ansel spürt die Spaltung in seinem Körper. Ein Teil von ihm macht weiter, lebt von einem Augenblick zum nächsten, der andere Teil ist ihm am Tag ihres Todes verloren gegangen. ((Madeleine Thien: Jene Sehnsucht nach Gewissheit. Luchterhand Verlag 2007, S. 14f. Übersetzung: Almuth Carstens)) Erzählerin: Eingebettet in diesen Liebesverlust, erzählt Thien jedoch von einem zweiten Verlust, und der spielt sich ab vor dem Hintergrund der politischen Neuordnung Indonesiens im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg. Gail war die Tochter zweier Immigranten: Ihr Vater Matthew stammt aus dem einstigen British-Borneo, die Mutter Clara wächst in Hongkong auf. Beide lernen sich am Ende des Krieges in Australien kennen und siedeln gemeinsam nach Kanada. Doch Matthew, mittlerweile 68 Jahre alt, hat den Verlust seiner früheren Heimat nie verwunden. Zitator 1: Zitat 1/Thien Wenn er sich umschaut, ist ihm nichts, was er sieht, vertraut. Er hat hier den größten Teil seines Lebens verbracht, doch wenn er einen Stift nähme, könnte er aus den Inseln der Erinnerung nur die Straßen seiner Kindheit zeichnen, die Stadt Sandakan, die Leila Road, die sich in die Hügel empor schlängelt. ((Madeleine Thien: Jene Sehnsucht nach Gewissheit. Luchterhand Verlag 2007, S. 26. Übersetzung: Almuth Carstens)) Regie: O-Ton 2/Thien Actually one of the defining things of my work is my parent's immigration, because it manifested itself in both of them in such different ways. My father in some ways never recovered from leaving home and he always had this yearning to go back. And he always felt that the life he should have lived was not possible for him in Canada - that the life he meant to live, should have happened in Malaysia. For my mother it was a completely different situation. My parents separated about 16 years after they arrived in Canada. My mother had opportunities in Canada that she probably would not have had in Malaysia or in Hong Kong at that time. She really made a new identity for herself and a new life for herself and she was very independent and very strong. She had that idea that she wanted to earn her place in Canada. Zitatorin 1: OV 2/Thien Meine Eltern sind beide Einwanderer - aber beide sind damit völlig unterschiedlich umgegangen. Das hat mein Schreiben entscheidend geprägt. Mein Vater hat sich letztlich nie wirklich vom Verlust seines Zuhauses erholt. Er träumte immer davon, zurück zu gehen. Er hatte das Gefühl, sein eigentliches Leben wartet auf ihn in Malaysia. Meine Mutter dagegen - sie war sehr stark und unabhängig - hatte in Kanada Chancen, die sie in Malaysia oder Hongkong sicher nicht gehabt hätte. Sie schuf sich wirklich eine neue Identität und wollte sich ihre Existenz in Kanada verdienen. Erzählerin: Von Anfang an greift Thien auf Versatzstücke der eigenen Familienbiographie zurück: Wie Matthews Vater in "Jene Sehnsucht nach Gewissheit", wurde auch Thiens Großvater gegen Ende des Krieges als Kollaborateur erschossen - von den Japanern, die das heutige Malaysia im Zweiten Weltkrieg okkupiert hatten. Regie: O-Ton 3/Thien It is this attempt of the characters to reinvent themselves in some way to not be the person who is shaped by that past and this sort of constant struggle to redefine what they might be, who they are, but also who they still have the potential to becoming. And that that self is not corrupted by what happened. Zitatorin 1: OV 3/Thien Alle meine Figuren versuchen, sich quasi neu zu erfinden. Sie ringen darum, jemand zu sein, der nicht allein von der Vergangenheit geprägt ist - jemand, der nicht verdorben ist durch das, was er erlebt hat. Erzählerin: Für Matthew, Gails Vater, kommt die Welt mit der erzwungenen Flucht zum Stillstand. Seine eigene Kindheit, seine eigene Geschichte zerbricht ihm in Fragmente, die er nicht mehr zu einem Ganzen zusammen fügen kann. Frantz Fanon erfasste diese psychische Spaltung bereits 1952 in dem Bild "Schwarze Haut, weiße Masken", so der Titel seiner ersten anti-kolonialen Streitschrift. Auch Thien erzählt von Menschen, deren Existenz zwischen Identitäten und Kulturen hin und her gerissen ist. Doch Thien schildert sie gerade nicht aus der Perspektive der Betroffenen. Weder schreibt sie von einem Ort der Peripherie her. Noch geht es ihr - im Spiegel ihrer Eltern - um die Selbstvergewisserung der eigenen Identität. Regie: O-Ton 4/Thien When I first started to write I thought I would particular write about my father's history, which was very tragic. But fiction doesn't always go where you think it is goings to go. Stories tend open up in ways I don't expect and can't always control. On one hand I would like to carry these stories forward. But I think because of the way I have been shaped and I have been brought up and because I live a very Canadian life, even with immigrant parents, it is that tension between the different identities that is the theme that keeps resurfacing. And so there is this story carried from the past, but there is always this constant shifting of how a person reads the past. And it is different at different points in their life. And it depends on what they need from that past that given moment. That sort of turning over the past in different ways at different times is what I am interested in. Zitatorin 1: OV 4/Thien Als ich anfing, zu schreiben, wollte ich tatsächlich die Geschichten meiner Familie weiter reichen. Aber man kann nicht kontrollieren, was man erzählt. Die Literatur nimmt eigene Wege. Meine Eltern sind zwar beide Immigranten. Aber ich bin durch und durch als Kanadierin groß geworden, ich führe ein sehr kanadisches Leben. Das ist sicher ein Grund, warum die Spannungen zwischen unterschiedlichen Identitäten immer wieder Thema sind in meinen Büchern. Vor allem sehen Menschen ihre Vergangenheit zu verschiedenen Zeiten ihres Lebens auf unterschiedliche Weise - je nachdem, was sie von der Vergangenheit gerade benötigen. Und dieser Prozess, das Vergangene immer wieder neu zu wenden - der fasziniert mich. Erzählerin: Thien verankert alle ihre Figuren deshalb bewusst in der Gegenwart. Immer kehrt die Rahmenhandlung zurück in das Hier und Heute, als wollte die Autorin sagen: Dies ist der einzige Ort, von dem aus es möglich ist, die Vergangenes zu erinnern - und es zur gleichen Zeit zu überschreiten. Zitatorin 1: Die Abenddämmerung bricht herein, es ist Mitte Februar. Sonntag. Der nächtliche Eisregen hat kristallene Äste hinterlassen. Unsere Wohnung liegt im zweiten Stock, Richtung Westen, man erreicht sie über eine gewundene Treppe, die weiße Farbe blättert ab, Rost färbt die Kanten braun. Durch das Fenster kann ich meinen Sohn sehen.... Kiri ist in der zweiten Klasse. Er hat das dunkelbraune Haar seines Vaters, er hat auffallende, schöne Augen, in derselben Farbe wie meine. Ich möchte die Treppe hoch rennen und den Schlüssel in der Tür umdrehen, die Tür zu meinem Zuhause aufschwingen. ((Madeleine Thien: Dogs at the Perimeter. McClelland & Stewart 2011, p. 5. Übersetzung: Claudia Kramatschek)) Erzählerin: Montréal, Februar 2006: Janie, eine Neurowissenschaftlerin und die Hauptfigur in Thiens Roman "Dogs at the Perimeter", hat plötzlich Mann und Kind verlassen. Seit kurzem lebt Janie im Apartment ihres Freundes und Mentors Hirochi. Drei Monate zuvor ist Hirochi spurlos verschwunden. Janie ahnt, dass Hirochi erneut seinen Bruder James sucht. James ist verschollen, seit er in Kambodscha zur Zeit der Roten Khmer als Rote-Kreuz-Arzt tätig war. Janie stammt selbst aus Kambodscha. Als 1975 die Schreckensherrschaft der Roten Khmer beginnt, ist sie noch ein Kind. Und als Einzige aus ihrer Familie überlebt sie den Terror Pol Pots: Der Vater, ein Intellektueller, wird erschossen; die Mutter stirbt vor Erschöpfung; Janie und ihrem Bruder gelingt zwar die Flucht, doch kurz vor den rettenden Ufern Malaysias werden sie auf dem Boot überfallen, ausgeraubt, ins Wasser gestoßen. Regie: O-Ton 5/Thien She fully understands that she is the only one who now carries the memory of her parents and her brother. And so she feels this responsibility to the past as well. But she is given the opportunity to survive and to live. So I think for her it is the challenge to learn how to move forward and carry that weight yet, without breaking her. In Janies case, the way, that she does, is through storytelling. She tells the story of what happened to James and she tells the story of what happened to Hirochi. So she can tell a story and exist and yet disappear, because the story is about someone else. So this is the way that she tries to be what her personal history has made her to be, but also transcend it in some way. Zitatorin 1: OV 5/Thien Janie weiß genau, sie ist jetzt die einzige Person, die sich an ihre Eltern und ihren Bruder erinnern kann. Deshalb fühlt sie sich der Vergangenheit gegenüber verantwortlich. Aber sie bekam ja auch die Chance, zu leben. Sie muss also lernen, nach vorne zu blicken, ohne von der Last, die sie mit sich trägt, erdrückt zu werden. In Janies Fall gelingt das, indem sie Geschichten erzählt - und zwar die Geschichten anderer. Auf diese Weise kann sie existieren - und zugleich unsichtbar sein. Das ist ihre Art, die eigene Geschichte anzuerkennen, sie zugleich aber auch ein Stück weit zu überschreiten. Erzählerin: Beide Romane scheinen dabei nur vordergründig einem postmodernen Formenspiel zu gehorchen: Sie sind multi-perspektivisch gebrochen. Und wie eine Spurensammlerin fügt Thien Details, Fragmente und Bruchstücke zusammen - aus der Gewissheit heraus, dass die Wahrheit immer nur eine in sich gebrochene sein kann. Ausgepolsterte Erklärungen, historisch lineare Chronologien sucht man vergeblich. Denn nicht die Zeit, sondern der Raum - nicht das Benennen, sondern die Evokation bestimmt als maßgebliche Kategorie Thiens Erzählökonomie. Was für die Rundfunkreporterin Gail - man darf sie getrost als Thiens alter ego interpretieren - gilt, gilt auch für Thien: Sie montiert. Sie verknüpft. Sprich: sie vernetzt die Geschichten ihrer Figuren. Nicht die Erinnerung, sondern der Ort, von dem aus Erinnerung stattfindet, ist entscheidend. Immer wieder sinnieren Thiens Figuren deshalb über die Rolle des Gedächtnisses, auch aus naturwissenschaftlicher Sicht. Nicht umsonst, so Thien, arbeiten Janie und Hirochi im Brain Research Centre, im Hirnforschungszentrum in Montréal. Regie: O-Ton 6/Thien: I did a lot of thinking about neurology and neurological science, and I think what I am interested in and what I feel is also true for Hiroshi and Jamie is that they in a sense are still trying to understand how as something as ephemeral as memory can actually be encoded in something as physical as cells. They are trying to understand what is embedded in the mind, what is embedded in the structure of our biology, and whether it is possible to in a sense overwrite what is there. Zitatorin 1: OV 6/Thien Ich habe mich intensiv mit der Neurologie und mit den Neurowissenschaften beschäftigt. Und nicht nur ich, auch Hirochi und Janie versuchen zu verstehen, wie es sein kann, dass etwas so Flüchtiges wie die Erinnerung in etwas so Physischem wie einer Zelle eingebettet ist. Und ob es möglich ist, das, was in unseren Körper eingeschrieben ist, quasi zu überschreiben. Erzählerin: Auch aus diesem Grund widersteht Thien der verführerischen Beschwörung einer geschichtlichen Kontinuität, aus der heraus postkolonial Entwurzelte noch oftmals eine vermeintlich authentische, aber letztlich brüchige Identität beziehen. Für den westlichen Leser sind ihre Romane - wie etwa "Dogs at the Perimeter" mit dem Schauplatz Kambodscha - überdies auch aufschlussreiche Nachhilfestunden in postkolonialer Geschichte: Regie: O-Ton 7/Thien In the sixties and early seventies it was very hard for the Cambodians to stay out of the Vietnam War, it was hard for Cambodia to remain neutral. At that time the Ho Chi Min trail from North Vietnam to South Vietnam was going through Cambodia and so in the 1970ies the American government undertook an illegal bombing campaign in Cambodia. They dropped one and a half million tons of bombs on Cambodia but this was all done undercover. But it meant that a lot of people were forced out of the countryside, they were forced into the city or they were forced into safe areas of the Khmer Rouge. And I think people felt their resistance. They were freedom fighters. They were working against the corruption that was happening in the city in Phnom Penh and our government that was working hand in hand with the American side of the conflict in Vietnam. And people in Cambodia understood that they wanted to have a strong country, that they didn't want to have interference. So for me the war can't be separated from the foreign policy or from the kind of decisions that were being made about cold war politics in that region. Zitatorin 1: OV 7/Thien Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre verlief der Ho-Chi-Minh-Pfad, der Transportweg der Vietcong, durch das östliche Kambodscha. Die amerikanische Regierung begann deshalb mit zunächst geheimen Flächenbombardements. Rund 2,8 Millionen Tonnen Bomben gingen auf Kambodscha nieder. Die Bevölkerung war gezwungen, ländliche Gebiete zu verlassen und in die Städte oder in die relativ sicheren Gebiete der Roten Khmer zu fliehen. Das ist einer der Gründe, warum sie als Freiheitskämpfer galten. Die Menschen sahen, die Roten Khmer wehren sich gegen ihre eigene korrupte Regierung, die sich auf Amerikas Seite gestellt hatte. Sie hatten das Gefühl, die Roten Khmer wollen ein starkes, autarkes Land. Ich kann die Geschichte der Roten Khmer deshalb nicht von den Ereignissen trennen, die sich im Zuge des Kalten Krieges in dieser Region der Welt abspielten. Erzählerin: Doch Thien verzichtet gänzlich auf den erhobenen Zeigefinger, an keiner Stelle zückt sie die Trumpfkarte der Identitätspolitik. Ihre Geschichten handeln gerade nicht von Kolonisierten und Kolonisatoren - ebenso wenig geht es ihr um die Idee der Differenz. Nein, Thien erzählt vielmehr von Menschen, die nicht mehr und nicht weniger sind als Menschen: Zitatorin: Wir werden nicht als Einzelwesen geboren, sagte meine Mutter. Tief in uns drin, von Anfang an, sind wir mit vielen anderen Leben verknüpft. ((Madeleine Thien: Dogs at the Perimeter, s.o., S. 253. Ü: Claudia Kramatschek Claudia Kramatschek)) Erzählerin: Eine Geschichtslektion - verpackt in ein wildes Formenspiel - bietet auch der Debütroman "Die Erleuchteten" des 1976 in Manila geborenen Autors Miguel Syjuco. Wie Thiens Texte ist auch sein Roman inspiriert von den Themen Heimat und Exil - Mitte der 80er Jahre floh die Familie vor dem Marcos-Regime nach Kanada. Wie Thien schreibt Syjuco auf Englisch. Zwar herrscht auf den Philippinen bis heute ein Streit zwischen dem Englischen und den einheimischen Sprachen. Doch Englisch ist in dem Inselstaat nicht nur die zweite Amtssprache, sondern für rund 50% der Filipiner auch die wichtigste Zweitsprache. Wie Thien führt Syjuco eine globale Existenz, lebt nach langen Jahren in New York derzeit in Montréal, übrigens in nächster Nachbarschaft zu seiner Schriftstellerkollegin. Und wie Thien sieht er sich mitnichten als postkolonialen Schriftsteller. Regie: O-Ton 1/Syjuco Postcolonial literature? Our parents don't even remember anymore being colonized. We live in a globalized society right now. You can get products and ideas and influences from all over the world - not just from the colonizers, but from all over the world in the smallest countries now. And I think writing has to reflect that! Zitator 1: OV 1/Syjuco Postkoloniale Literatur? Unsere Eltern erinnern sich nicht einmal mehr daran, kolonisiert worden zu sein. Inzwischen leben wir doch in einer globalisierten Welt. Waren, Ideen, Einflüsse aus der ganzen Welt - und eben nicht nur aus den einstigen Kolonialmächten - all das erreicht einen doch noch im kleinsten Land. Und das sollte die Literatur auch widerspiegeln! Erzählerin: "Die Erleuchteten", 2010 im englischsprachigen Original erschienen, ist eine generationenübergreifende Saga über Revolutionen, politische Intrigen und Familienpflichten, vor allen aber über das Ringen der philippinischen Nation um die eigene Identität. Alles beginnt mit einem Körper im Hudson River: Dort schwimmt an einem kalten Februarmorgen im Jahr 2002 die Leiche des so angesehenen wie umstrittenen philippinischen Exil-Schriftstellers Crispin Salvador. Zitator 1: Seine zerschlagenen Arme öffneten sich der jungfräulichen Morgenröte wie bei Christus, hatte jemand in der Heimat sarkastisch gebloggt. Ein ausgeleierter Slip und Hosen von Ermenegildo Zegna waren ihm bis auf die Knöchel gerutscht, beide Schuhe verloren gegangen. Eine Krone aus Blut schmückte die hohe Stirn, die ein Brecheisen oder ein Strompfeiler oder eine Eisscholle zertrümmert hatte. ((Miguel Syjuco: Die Erleuchteten. Roman. Aus dem Englischen von Hannes Riffel. Klett-Cotta Verlag 2011. S. 9)) Erzählerin: Als Schriftsteller hatte Crispin Salvador kein Blatt vor den Mund genommen. Zuletzt - so das Gerücht - schrieb er an einem Roman, in dem er die Machenschaften der philippinischen Elite entlarven wollte. Nun aber ist Crispin tot, das Manuskript verschwunden. Crispins einziger Freund, ein talentierter Nachwuchsautor - auch er ein in New York beheimateter Philippiner - reist daher zurück auf die Philippinen. Er hofft, das verschollene Manuskript zu finden - und er möchte das Leben des Toten mit einer Biographie würdigen. Sein Name: Miguel Syjuco. Zitator 1: Die zersplitterten Tatsachen sind hier zu Ihrer Begutachtung zusammengetragen, wie bei einem zerbrochenen Spiegel, dessen letztes Bruchstück gewaltsam an die ursprüngliche Stelle gedrückt wird. Miguel Syjuco, auf dem Weg nach Manila, am 1. Dezember 2002 ((Miguel Syjuco: Die Erleuchteten. Roman. Aus dem Englischen von Hannes Riffel. Klett-Cotta Verlag 2011. S. 28)) Erzählerin: Fortan betritt man ein literarisches Spiegel-Land, das Fakt und Fiktion, Phantasie und Wirklichkeit, Historie und Gegenwart in verwirrender Form ineinander blendet. Nicht nur der erfundene Crispin Salvador, auch der echte Autor Syjuco stammt aus einer reichen Familie. Wie sein erfundenes alter ego Miguel sollte auch der echte Miguel eigentlich in die Fußstapfen seines Vaters treten, der ein bekannter Politiker ist. Nicht nur der erfundene, auch der echte Miguel Syjuco wurde entscheidend durch die Erfahrung des Exils geprägt. Regie: O-Ton 2/Sjyuco I was one year when we left. I think it did two things to me: It made my family one of those Philippine families who where constantly going back and forth between this mythical home-place which was Manila, which most of us kids have never really known except for some vacation, and the real home, the present home, that we had in Canada, where I was growing up. I was there from the age of 1 to 10. And yet I never felt and I still don't feel a truly Canadian. Because I grow up in a Philippine household, within a family who also felt they were somehow exiled. And when we came home to the Philippines, that was where I felt truly at home. But at the same time I wasn't accepted as truly Philippine because my language skill was not what it should be, my accent when I speak English was North American, I didn't have the cultural references, I was always something of an outsider, no matter how hard I tried. Zitator 1: OV 2/Syjuco Ich war ein Jahr alt, als meine Familie Manila verließ. Fortan pendelten wir ständig hin und her: Zwischen einem mythischen Zuhause namens Manila, das wir Kinder eigentlich nur von Ferienaufenthalten kannten, und unserem realen Zuhause in Kanada, wo ich bis zu meinem zehnten Lebensjahr lebte. Dennoch empfand ich mich nie als Kanadier - und tue das noch heute nicht. Denn ich bin in einem philippinischen Haushalt groß geworden, unter Menschen, die sich als Exilanten empfanden. Als wir dann auf die Philippinen zurückkehrten, hatte ich das Gefühl, nach Hause zu kommen. Aber dort galt ich nicht wirklich als Philippiner. Ich sprach eine andere Sprache, hatte einen nordamerikanischen Akzent, und ich verstand wenig von der Kultur um mich herum. Ich war also eine Art Außenseiter, egal was ich tat. Erzählerin: Die Auseinandersetzung mit der Identität als Migrant und Schriftsteller bildet im Roman einen von drei thematischen Strängen. Ein zweiter Strang entführt den Leser anhand szenischer Schnappschüsse in das Manila der Gegenwart - ein grelles und paradoxes Flechtwerk, wo der politische Nachwuchs in angesagten Clubs und junge Frauen auf Manolo-Blahnik- Highheels abhängen, während das Land von terroristischen Bombenattentaten erschüttert wird. Zitator 1: Zwei weitere Selbstmordanschläge, erst heute morgen. Diese Mal unten im Süden, auf Mindanao. Sechs tote und zwölf Verletzte bei der ersten Explosion in einer Lottofiliale vor dem Rathaus von General Santos City ... Die zweite Bombe explodierte während eines Kindergeburtstages in einem McDonald's im Cotabatao Plaza Mall von Lupas Landcorp, dabei wurden neun Grundschulkinder getötet und sechs verletzt. Bisher hat sich noch niemand zu den Anschlägen bekannt. ((Miguel Syjuco: Die Erleuchteten. Roman. Aus dem Englischen von Hannes Riffel. Klett-Cotta Verlag 2011. S. 55)) Erzählerin: Handlungsstrang Nummer drei dagegen - er bildet das thematische Kernstück des Romans "Die Erleuchteten" - umfasst Leben und Werk von Crispin Salvador: beides durch und durch erfunden, bis hin zur fingierten Patina von täuschend echt wirkenden Fußnoten sowie einem verwirrenden ,Wikipedia'- Eintrag, den man im Netz tatsächlich googeln kann. Denn Achtung: Was die Form anbelangt, bedient Syjuco sich üppig aus der Fundgrube des postmodernen Erzählens. Statt einer durchgängigen Story hat man eine aus Bruchstücken gewobene Bricollage vor sich, einen wilden Verschnitt höchst unterschiedlicher narrativer Genre: Zitate aus Salvadors Werken reihen sich neben Witze, Zeitungsausschnitte, Passagen aus Salvadors Biographie, Blog-Einträge. Regie: O-Ton 3/Syjuco E-mails, blogs, newspaper articles, excerpts from books, overheard snippets from conversations - if you go through your life everyday, this is what we encounter. And yet, when we go into a novel that is being written today, it is the same sort of novel that we have been reading for the past 200, 300 years. And I thought, well, that doesn't make sense to me. I want to write something that is current. I want to write something that is filled with the stuff of life to create a semblance of contemporary life today. Zitator 1: OV 3/Syjuco E-Mails, Blogs, Zeitungsartikel, Buchzitate, Gesprächsfetzen: All das macht doch unseren Alltag aus. Aber die meisten Romane wirken noch immer, als seien sie vor 200 oder 300 Jahren geschrieben worden. Ich fand das merkwürdig, und deshalb wollte ich einen Roman schreiben, der das zeitgenössische Leben wiedergibt. Erzählerin: Nicht immer ist der Roman dabei frei von der Last seiner Ambition. Doch so global er der Gestalt nach auch anmutet: Syjuco verficht darin eine durch und durch lokale, nämlich nationale Agenda. Mag sein Stil - die bewusste Literalität, das explizite Spiel mit den Zeichen - auch dem entsprechen, was der britische Schriftsteller Tim Parks unlängst als eine zwiespältige ,lingua franca literarischer Spezialeffekte' zur Debatte stellte: Syjuco möchte nicht weniger, als die politischen Verwerfungen der Gegenwart aus der Vergangenheit erklären. Regie: O-Ton 4/Syjuco We are a country very divided by language, we have 80 different languages and dialects. We are a country of 7100 islands. In fact the Spanish, when they were our colonizers for more then 350 years, they didn't have a very big military garrison on the Philippines because ... we were so divided by language and region that the Spanish did not have to rule very heavily. We were not united within ourselves. And in many ways that is still happening now. We are still trying to find that unity. Zitator 1: OV 4/Syjuco Die Philippinen sind schon allein sprachlich ein geteiltes Land. Wir sprechen 80 verschiedene Sprachen und Dialekte. Das Land selbst besteht aus 7100 Inseln. Die Spanier, die rund 350 Jahre lang unsere Kolonialmacht waren, hatten deshalb leichtes Spiel mit uns, denn als Nation bildeten wir keine Einheit. Das ist noch heute der Fall. Und noch heute sind wir auf der Suche danach. Erzählerin: Syjuco nimmt seine Leser daher mit auf eine Zeitreise. Und die umfasst rund 150 Jahre der philippinischen Geschichte, beginnend mit dem Unabhängigkeitskampf im Jahre 1869 zur Zeit der spanischen Besatzung, bis hin zu den heutigen Separationsbewegungen im muslimisch geprägten Süden des Landes. Zitator 1: OV 5/Syjuco Ein philippinischer Witz besagt: Wir lebten 350 Jahre in einem Kloster, 50 Jahre in Hollywood und 4 Jahre in einem japanischen Konzentrationslager. Nicht zuletzt aber führte Amerika auf den Philippinen seinen ersten Befriedungskrieg: den philippinisch- amerikanischen Krieg, der Ende des 19. Jahrhunderts stattfand. Erzählerin: Rund 1 Million Einheimische sterben im Philippinisch- Amerikanischen Krieg, der 1898 beginnt. Die Philippinen hatten sich gerade erst für unabhängig erklärt - gegen den Willen der USA, die das Land kurzerhand angreifen. 1901 wird es amerikanische Kolonie. Doch der vorwiegend von Muslimen bewohnte und renitente Süden des Landes wehrt sich. Um die Region zu ,befrieden', siedeln die USA dort systematisch Christen an. Die Muslime werden zur Minderheit auf eigenem Boden. 1946 endet der Status als amerikanische Kolonie - die Konflikte im Süden des Landes sind jedoch bis heute nicht gelöst. Regie: O-Ton 6/Syjuco When I look to what happens in Iraq or Afghanistan, the similarities are extremely striking: Try to import democracy, put leaders in power who are not necessarily the best leaders but were Americas friends, as it happened in the Philippines. Look 100 years later what has happened: You have a country still in bad shape. You still have a democracy that is supposed to work but absolutely doesn't work. Zitator 1: OV 6/Syjuco All das ähnelt auffallend den Ereignissen im Irak oder in Afghanistan: Man versucht, Demokratie zu importieren, indem man nicht den besten Politiker, sondern Amerikas besten Freund an die Macht bringt. Deshalb befindet sich unser Land noch heute, rund 100 Jahre später, in schlechtem Zustand. Noch immer leben wir in einer Demokratie, die in keiner Weise so funktioniert, wie sie sollte. Erzählerin: Schon der Titel des Romans - im Original heißt er ,Illustrado' - ist insofern Programm: Denn als illustrados, als "Erleuchtete", bezeichnet man die einst wohlhabende, im Westen ausgebildete Schicht der philippinischen Intelligenzija, die Ende des 19. Jahrhunderts von Europa aus für die philippinische Unabhängigkeit kämpfte. Der bekannteste illustrado war José Rizal: In seinem berühmten Roman "Noli me tangere" bringt er die Ungerechtigkeiten unter der spanischen Kolonialherrschaft zur Sprache, 1896 wird er in Manila hingerichtet. Noch heute ist Rizal nicht nur ein Nationalheld, sondern auch Vorbild für philippinische Autoren. Auch Miguel Syjuco bezieht sich ausdrücklich auf Rizal - indem er im Echoraum von Rizals literarischem Erbe die für ihn entscheidende Frage auslotet: Wie kann die philippinische Identität im 21.ten Jahrhundert beschaffen sein - und wie kann davon im 21. Jahrhundert erzählt werden? Regie: O-Ton 7/Syjuco What is the role of the writer? How is history presented? Can we bring it to life again? Can we still write books that have the political and social influence that Rizal's books had? Since then, we haven't been able to write a book like that. As the son of a politician I am always grappling with this question as a writer. Zitator 1: OV 7/Syjuco Welche Aufgabe hat der Autor? Wie kann man Geschichte lebendig abbilden? Kann man heute noch solch politisch und gesellschaftlich einflussreiche Romane schreiben, wie einst José Rizal? Das sind Fragen, die mich, den Sohn eines Politikers, auch als Autor beschäftigen. Erzählerin: Doch anders als Rizal, ist für Syjuco klar: Im 21. Jahrhundert kann man das Land nur verändern, indem man verändert, wie es in der Literatur dargestellt wird. Zitator 1: Sei ein internationaler Schriftsteller, der zufällig von den Philippinen stammt und lerne, mit der Kritik zu leben, dass du ein Twinkie bist. ((Miguel Syjuco: Die Erleuchteten. Roman. Aus dem Englischen von Hannes Riffel. Klett-Cotta Verlag 2011. S. 310)) Erzählerin: ... also jemand, der außen gelb, aber innen weiß ist. Anders herum gefragt: Wer oder was definiert im 21. Jahrhundert, wer ein philippinischer Autor ist? Der Pass, den man mit sich trägt? Der Ort, an dem man lebt? Das Publikum, für das man schreibt? Die Themen, die man verhandelt? Für Syjuco jedenfalls ist, was die Debatte rund um postkoloniale Literatur anbelangt, grundsätzliches Umdenken angesagt: Regie: O-Ton 8/Syjuco We need to move beyond postcolonial literature and write what Goethe called "Weltliteratur" hundred of years ago. The local is very important, don't get me wrong! But to deny the influence of the global on the local is artificial. And fiction is the artifice that tries to not be artificial. Let's move on. Zitator 1: OV 8/Syjuco Es ist an der Zeit, die postkoloniale Literatur hinter uns zu lassen. Stattdessen sollten wir das schreiben, was Goethe schon vor knapp zweihundert Jahren Welt-Literatur nannte. Der Aspekt des Lokalen ist wichtig - nicht, dass man mich falsch versteht. Aber den Einfluss des Globalen auf das Lokale zu verleugnen, scheint mir künstlich. Und gerade die Literatur ist eine Kunst, die versuchen sollte, nicht künstlich zu sein. Deshalb: Let's move on! Erzählerin: ,Being defined, but not restricted' - wisse, woher du kommst, aber lass' dich nicht darauf beschränken. So lautet Miguel Syjucos Formel, die er mit Madeleine Thien teilt. Es könnte die Formel einer neuen literarischen Ära sein. 2