COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Länderreport vom 19.02.2010 Es geschah...in Erfurt - Helmut Kohl und die Allianz für Deutschland starten in den Wahlkampf 1990 - Autorin Ulrike Greim Redaktion Julius Stucke Sendung 19.02.2010 - 13.07 Uhr Länge Beitrag 19.26 Minuten Länge Sendung 20.36 Minuten -folgt Manuskript Beitrag- Manuskript Beitrag ATMO/OT 01 (Moderator) "Meine lieben Freunde, jetzt ist die Stunde der Wahrheit da" (Sprechchöre) "Helmut, Helmut" AUTORIN Der Domplatz in Erfurt, es ist ein milder Wintertag - und es ist Wahlkampf. Der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland wirbt hier, in der DDR für die "Allianz für Deutschland" eine Kooperation der ostdeutschen CDU mit neu gegründeten Gruppen, wie dem Demokratischen Aufbruch und der Deutschen Sozialen Union. ATMO/OT 02 (Moderator) "Wir bitten, dass das Wort nimmt: Der Vorsitzende der CDU Deutschlands und der Kanzler unseres deutschen Vaterlandes, (Johlen) Dr. Helmut Kohl." (Sprechchöre) "Helmut, Helmut" (Kohl) "Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Freunde der Allianz, liebe Erfurter Bürgerinnen und Bürger, liebe Mitbürgerinnen aus dem Thüringer Land." AUTORIN Es ist die vermutlich größte politische Demonstration, die Erfurt gesehen hat. Bis heute. Rund 100.000 Menschen sind gekommen - ganz Erfurt hatte zu diesem Zeitpunkt 220.000 Einwohner. Viele haben Transparente dabei. Pro deutsche Einheit, pro D-Mark, pro Kanzler. Einige Wenige demonstrieren gegen Kohl, gegen die CDU und für einen eigenständigen Weg der DDR. Der Redner lobt die gastgebende Stadt. ATMO/OT 03 (Kohl) "Hier in Erfurt, wo die Begegnung Napoleons mit Goethe statt fand, und ich könnte viele Beispiele historischer Begebenheiten erzählen, hier muss man nicht begründen, dass wir Deutsche ein Volk sind. Wir wollen ein Deutschland und wir sind ein Deutschland." (Sprechchöre) "Deutschland einig Vaterland, Deutschland einig Vaterland" AUTORIN Es ist die Zeit vor den ersten freien Volkskammerwahlen in der DDR. Eine Zeit, in der alles im Fluss scheint, auch wenn sich die Richtung, anders, als in den Wochen vorher, nun schon sichtbar abzeichnet. Es geht nicht mehr um Reformen, nicht mehr um mehr Details. Es geht um das große Ganze, das Ende des so genannten real existierenden Sozialismus, um die Systemfrage. OT 04 (Kohl) "Wir wollen gemeinsam auch dieses Land Thüringen und Sachsen und Sachsen-Anhalt und Vorpommern und Mecklenburg, die Städte, Dörfer und Gemeinden in der DDR aufbauen. Die Menschen haben hier ebenfalls über 40 Jahre hart gearbeitet. Sie sind nicht schuld an dieser Misere. Es war ein wahnwitziges Regime, das sie um die Früchte ihrer Arbeit betrogen hat." AUTORIN Noch ist die Wende in vollem Gange, Prozesse sind chaotisch, Verantwortlichkeiten ungeklärt. An Runden Tischen wird heiß diskutiert, was zu tun ist, und in bunt zusammen gewürfelten Arbeitskreisen werden Konzepte geschmiedet. Und nun steht da dieser Mann aus dem Westen und scheint einen Fahrplan in der Tasche zu haben. OT 05 (Kohl) "Und ich sage ihnen als der Verantwortliche für die Politik der Bundesrepublik Deutschland, dass diese soziale Marktwirtschaft auch für die Menschen hier in der DDR die Chancen für Wohlstand und soziale Gerechtigkeit verheißt. Deswegen möglichst schnell nach dem 18. März die notwendigen Entscheidungen. Und dazu brauchen wir ihre Stimmen, damit ein Parlament zustande kommt, das diese Entscheidungen herbei führt." AUTORIN 20 Jahre später, im kalten Februar dieses Jahres, treffen sich vier Männer, die damals mit dabei waren. Einer hat ein Video aufgetrieben, das ein Amateurfilmer gemacht hat. ATMO/OT 06 (Musik, Gebrabbel, zwei Männer) "Was hier auch interessant ist, man sieht noch mal richtig... wie es ausgesehen hat...wie es damals war. So Grau." AUTORIN Kurz bevor die ersten Bilder der Demo kommen, schwenkt der Filmer einmal über die Häuser der Erfurter Innenstadt. Ein Jammer. Eingefallene Dächer, marode Mauern, morbider Charme. Grau. ATMO/OT 07 "Jetzt zeigen die das bis zum Dach hoch, da regnet es bei dir da drüben rein. Hier in der Ecke war alles kaputt." AUTORIN Als die Kamera über die Menschenmenge auf dem Domplatz schwenkt: allseits Erheiterung. 'Mann, wie wir ausgesehen haben.' Windjacken statt Mäntel, billige Jeans, viele Frauen etwas zu grell geschminkt, Kaltwelle im Haar. Männer mit Bärten. 'Und wir haben so gläubig geguckt', sagen sie. Dann hält der Kameramann einmal auf die Tribüne. Da stehen Männer, die die meisten nur aus dem Fernsehen kennen. Aus dem Westfernsehen. ATMO/OT 08 "Ach, de Maiziere hier, Volker Rühe, Schorlemmer ist das, oder? - ne, da hatte nicht so ne Glatze" AUTORIN ,Das ist schon so lange her. Wie jung die alle aussahen - wundern sich die vier Männer. Und wir erst!' Einmal kurz im Bild: Michael Panse, der junge Kfz-Elektriker, dunkle glatte Haare, eine Brille, verheiratet, ein Kind. OT 09 (Panse) "Damals hab ich das als Chance gesehen. Das ist eine Chance, dass sich komplett alles ändert. Ich durfte zu DDR nicht studieren, ich wollte gern studieren. Und ich damals gesagt: jetzt tun sich Türen auf." AUTORIN In der Nähe eines Lautsprechers hat sich Manfred Boettger postiert. Ein Hobbychronist, der bereits 1990 eine stattliche Kassettensammlung besitzt. Mitschnitte fast aller Demos und Veranstaltungen der Wendezeit. Er war immer dabei, den West-Recorder mit einer Einkaufstasche getarnt. Das eingebaute Mikrofon liefert gute Aufnahmen. Rundfunkarchive greifen auf sie zurück. Nun steht Boettger auch hier, auf dem Domplatz, so nah am Geschehen, wie möglich. OT 10 (Boettger) "Da brauchte ich nicht mehr den Kassettenrecorder in der Einkaufstasche zu tragen, das war schon eine entschärfte Situation. Das war nur im Oktober/November auf dem Domplatz..." AUTORIN Anders war das noch wenige Wochen zuvor, als es bei den Demonstrationen vor Stasi-Leuten nur so wimmelte. Hier nun scheint die Stasi keine Macht mehr zu haben. Bitterer Beigeschmack: wenig später wurden der Moderator dieser Veranstaltung, nämlich der Generalsekretär der Ost-CDU, Martin Kirchner, und der Spitzenkandidat des Demokratischen Aufbruchs, Wolfgang Schnur, der ebenfalls vor Kohl redete, als Stasi-Zuträger enttarnt. Doch für Manfred Boettger beginnt im Februar schon das Aufatmen. Er arbeitet zu jener Zeit als Mechaniker in einer Messtechnik-Firma. Er erzählt, er habe sich dahin zurückgezogen, nachdem er vorher als Bereichsleiter in einem größeren Werk Probleme bekommen habe. Er sei halt kein sozialistischer Leiter gewesen. In dem etwas kleineren Betrieb habe er mehr Bewegungsfreiheit gehabt. OT 11 (Boettger) "Ich hatte auch die ganze Technik, die dazu war, habe dann nach den Demos zuhause das bearbeitet, geschnitten und am nächsten Tag hab ich dann früh morgens nach dem Frühstück, wenn sie alle da waren, hab ich dann die zwei, drei Stunden was ich da aufgenommen hatte, über den Betriebsfunk abgespielt." "Wo war das?" "In der Rathenaustraße, Messgerätewerk Beierfeld. Die gibt es auch nicht mehr, sind aufgelöst worden." AUTORIN Deutsche Geschichte zum Frühstück. Auf der anderen Seite des Domplatzes steht an jenem 20. Februar Michael Siegel. Bis vor kurzem Abteilungsleiter in einem großen Betrieb, IFA, Fahrzeugzubehör. Nun frisch eingestiegen als Hauptamtlicher des Demokratischen Aufbruchs. Er steht vor einem VW-Bus und verteilt Wahlwerbung. Das heißt: genaugenommen verteilt er sie nicht, sie wird ihm aus den Händen gerissen. Die Allianz für Deutschland hat eindeutig Oberwasser. Aber es gibt auch andere Wellen. OT 12 (Siegel) "Ich hab von den Reden kaum was mitbekommen, weil von hinten dieser autonome Block langsam vorrückte. Vorhin hat man das gehört ,Linke raus' - die dann Krawall machten und warfen mit faulen Eiern. Und dann hab mich in meinem VW-Bus eingeschlossen, da klatschten Eier aufs Dach. Und die standen dann hinten noch auf der Stoßstange und haben da immer geschaukelt. Da hatte ich schon Dampf gehabt." AUTORIN Linke und alte SEDler demonstrieren hier scheinbar geschlossen gegen den Bundeskanzler. ,Helmut Kohl, geh wieder heim, seif deine eignen Leute ein'. Doch die Kohl-Gegner sind in der Minderheit, werden niedergeschrien. ATMO/OT 13 (Panse) "Hörst Du, was sie singen?" (Video-Ton, Sprechgesang) "Nieder mit dem roten Pack, nieder mit dem roten Pack" (Panse) "'Nieder mit dem roten Pack'. Also: die Stimmung war schon sehr geladen da." AUTORIN Michael Siegel erinnert sich noch an eine Gruppe von Bauern aus dem Eichsfeld: wie eine Wand standen sie da, in den Händen die schwarz-rot- goldnen Fahnen. Kein Durchkommen für den autonomen Block. Irgendwo in der Menge steht auch Wolfgang Musigmann. Mitarbeiter der Erfurter Evangelischen Kirche. Langer Bart, lange Haare, Kutte. Im Prinzip hat er sich bis heute kaum verändert. OT 14 (Musigmann) "Ich war zuallererst Diakon der Evangelischen Kirche, zu zweit war ich Bürgerbewegter und ein Mensch, der das Land, in dem ich gelebt habe, verändern wollte. Das gehörte mit zum Kirchenauftrag, das Land zu verändern. Zumindest bei den aufrechten Kirchen-Mitarbeitern." AUTORIN Er habe kein Transparent dabei gehabt, auf dem Domplatz. Er habe auch nicht gegrölt, sagt er. Eine Parole aber hatte er: ,Lieber rote Rüben, als Kohl von drüben.' OT 15 (Musigmann) "Helmut Kohl war Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, (lacht) nicht der Regierungschef des Landes, in dem ich gelebt habe (lacht wieder). Es war für mich schon ein bisschen befremdlich, dass er ganz normal kam, dass es so war, als ob er der Bestimmer auch über die DDR gewesen wäre. Und da war es eine große Erkenntnis, dass es ganz viele Menschen auf Domplatz gut fanden, was er gesagt hat." AUTORIN Wolfgang Musigmann erzählt, wie er mit vielen anderen fest davon ausging, dass die DDR zu reformieren sein müsste. Dass es möglich wäre, aus eigener Kraft und mit Unterstützung aus dem Westen das Land zum Guten zu verändern. Die Einheit Deutschlands war für ihn keine nachdenkenswerte Perspektive. OT 16 (Musigmann) "Ich hab an diese Sachen nicht so gedacht zu der Zeit. Ich war mehr damit beschäftigt, in der Andreasstraße die Staatssicherheit aufzulösen, und andere Sachen. Aber auf diesem Domplatz war für mich zu merken: es gibt ganz andere Fragen in diesem Land." OT 17 (Siegel) "Ich denke viele haben es auch gewusst, oder haben es zumindest gespürt, dass die DDR wirtschaftlich am Ende war. Da ging nichts mehr. Dass wir das aus eigener Kraft geschafft hätten, war unmöglich. Man hat es ja an der Entwicklung gesehen: hätten wir die Bundesrepublik nicht gehabt, hätten wir polnische oder rumänische Verhältnisse bekommen." AUTORIN Wolfgang Musigmann, Michael Siegel, Manfred Boettger und Michael Panse erinnern sich gern zurück. Diese Tage im Februar 1990 waren so bewegend, so angefüllt mit Ereignissen, dass es geradezu ein Bedürfnis scheint, die Bilder zu sehen, die Töne zu hören, sich noch einmal in die Zeit zurückzuversetzen in der sich so vieles verändert hat. ATMO/OT 18 (Kohl) "Jetzt drängt die Zeit. Die Menschen gehen zu Zehntausenden aus der DDR weg. Und wir wollen, dass sie hier bleiben, in ihrer Heimat, und gemeinsam mit uns dieses Land wieder aufbauen. Das muss unser Ziel in diesen Monaten sein." AUTORIN Gewerbefreiheit, Eigentumsordnung, Wettbewerbsordnung, freier Außenhandel - Helmut Kohl sagt in dieser Rede im Februar '90 bereits, was aus seiner Sicht die nächsten Schritte sind. Er zeigt sich ungeduldig, will schnelle Entscheidungen. Bürgerrechtler Wolfgang Musigmann: OT 19 (Musigmann) "Im wirtschaftlichen Bereich hat Kohl nur das gesagt, was in Westdeutschland praktiziert worden ist, und hat das auf DDR- Verhältnisse übertragen. Und wenn man da genau hingehört hat, konnte man wissen, dass am Ende die sozialistischen Betriebe nicht überleben werden. Das war eigentlich da schon klar. Es ist auch klar, weil die westdeutsche Wirtschaft, selbst wenn die DDR-Wirtschaft nicht so runter gekommen wäre, trotzdem die stärkere Wirtschaft war." AUTORIN Die Firma, in der Manfred Boettger arbeitete, fand keinen westdeutschen Partner, fand keinen Platz im neuen System. Sie musste aufgeben. Er wurde arbeitslos, bis er in Rente ging. Das Werk, in dem Michael Siegel arbeitete, gibt es nicht mehr. Dass der Umbruch so gravierend sein würde, dass er letztlich alle Lebensbereiche umfasst, das sei zu diesem Zeitpunkt niemandem klar gewesen. Da sind sich die vier Männer einig. Dass aber etwas Großes in der Luft lag, das sei mit Händen zu greifen gewesen. Als das Video zu einer der Stellen kommt, an denen Kohl von blühenden Landschaften spricht, halten die vier kurz an. Wollen noch einmal genau hinhören: ATMO/OT 20 (Kohl) "Sie sind genauso verlässlich, genauso intelligent, genauso einsatzbereit wie die Menschen in der Bundesrepublik. Und ich bin sicher: wenn sie mit einer harten D-Mark eine Ware kaufen können, die sie wollen, wenn sie frei über ihr Leben entscheiden können, wenn sie ihr persönliches Glück finden können, wie sie es wollen, dann wird auch dies Land der DDR, dann wird dieses Thüringen, diese alte Stadt Erfurt, genau wie alle anderen Städte der Bundesrepublik Deutschland ein blühendes Gemeinwesen werden." (Jubel) OT 21 (Siegel) "Die blühenden Landschaften kommen dann irgendwann anders noch einmal." OT 22 (Panse) "Es kommt, glaube ich auch, noch einmal. Wobei: er hat es immer so in dem Duktus gesagt: ,Ihr habt die Chance, es zu gestalten, ihr habt die Chance, dass es blühende Landschaften werden'. Viele haben nur hinter her reingelegt: Du hast uns blühende Landschaften versprochen, und sie sind doch noch nicht, es blüht doch noch nicht. Und so" OT 23 (Siegel) "Er hat das immer zusammen gesehen: nicht nur die Hilfe, sondern auch die eigene Leistung." OT 24 (Musigmann) "Helmut Kohl hat das schon richtig gesagt. Aber viele Menschen haben so gedacht, dass, wenn die D-Mark kommt, dann kriegen wir diese schöne Seite von Westdeutschland. Und haben gedacht, dass sie natürlich in den VEB-Betrieben weiter arbeiten können, um ihre Einkünfte zu beziehen, und dass die Vollbeschäftigung bleibt. Das war - glaube ich - so ein Trugschluss bei vielen DDR- Bürgern." OT 25 (Panse) "Sozialismus mit D-Mark haben die gedacht. Das geht natürlich nicht." (Diskussion durcheinander, ausblendend) AUTORIN Mehrmals benutzt Helmut Kohl an jenem Tag dieses hinterher viel zitierte Bild. Gegen Ende der Rede kommt er noch einmal darauf zurück und wendet sich an die Jugendlichen. ATMO/OT 26 (Kohl) "Sie sind eine glückliche Generation. Denn wer jetzt 18 und 20 ist hier in der DDR, der hat die Chance, dass dieses Land in wenigen Jahren, wie alle anderen Städte und alle anderen Landschaften Deutschlands, ein blühendes Land sein wird. Sie werden einen offenen Horizont vor sich haben, wie ihre Altersgenossen drüben in der Bundesrepublik. Wie meine Kinder." AUTORIN Was ist daraus geworden, aus der Chance, 20 Jahre danach? Die vier Erfurter Männer sitzen plaudernd in einem durch einen westdeutschen Investor aufwendig sanierten Haus, ein Schmuckstück in der Innenstadt, Teil des mittelalterlichen Flächendenkmals. Sie trinken asiatischen Tee und Bio-Limonade, mittags können sie in wenigen hundert Metern Entfernung chinesisch, italienisch, japanisch, Vollwert-Bio oder deftig thüringisch essen gehen. Sie können nebenan am Kiosk unter hundert Zeitungen auswählen, müssen westdeutsche Zeitungen nicht mehr unter der Jacke nach Hause tragen. Die Luft ist vergleichsweise sauber, das Trinkwasser trinkbar, die Wohnung wird nicht abgehört. Gewerkschaften sind frei, der Handel auch, Kinder können zwischen verschiedenen Schulen wählen ... ja, doch, all das ist in ihren Augen blühende Landschaft. Sie ist Realität, da sind sich alle vier einig. OT 27 (Panse) "Das zweite, was für mich auch zu blühenden Landschaften gehört, sind Chancen. Chancen für junge Generationen. Wenn ich heute mit meinem 20jährigen Sohn darüber diskutiere, dass er selbstverständlich meint, er muss jetzt ein Jahr in den USA studieren, sag ich, ich wäre froh, wenn ich überhaupt hätte studieren können. Aber wäre nicht auf die Idee gekommen, zu sagen, ich will in den USA studieren." AUTORIN Dennoch, die Männer wissen, dass die Metapher der blühenden Landschaften zynisch besetzt ist. Im Volksmund ist sie Inbegriff hohler Versprechungen und machtpolitischen Kalküls. Es entspinnt sich ein Gespräch darüber, wie es dazu kommen konnte. Wolfgang Musigmann blättert die Schattenseiten auf: Arbeitslosigkeit, Hartz IV. OT 28 (Musigmann) "Das gehört mit zu den Konsequenzen dieses Weges. Man muss sozusagen in diesem neuen System auch sehr viel Eigeninitiative machen und sich um sich kümmern. Da kommt nicht mehr der VEB, der einem hilft oder einen mitzieht. Es ist eine andere gesellschaftliche Realität. Und es schaffen eben nicht alle, diese Realität zu meistern." AUTORIN Der Niedergang der ostdeutschen Wirtschaft stecke vielen bis heute in den Knochen. Der dramatische Systemwechsel sei für viele Ältere auch nach zwanzig Jahren nicht zu bewältigen. Doch dieser Zug, so sagt es Michael Siegel, sei unumkehrbar gewesen. Damals schon, im Februar 1990. OT 29 (Siegel) "Für mich war wesentlich, dass Demokratie kommt, dass wir uns politisch engagieren können, wo auch immer wir wollen. Wir können uns artikulieren und können uns frei entscheiden in einer Wahl. Das war an sich der entscheidende Anstoß. Und für mich war es persönlich auch ein Wegweiser, ich bin am Ende in der politischen Bildungsarbeit geblieben." AUTORIN Michael Siegel leitete die Landeszentrale für politische Bildung und ist nun Geschäftsführer einer Stiftung zur vergleichenden Erforschung von Diktaturen. Die Arbeitsstelle des Diakons Musigmann gehört zur vermutlich einzigen Institution, die die Wende ohne gravierende Strukturbeben überlebt hat: die Kirche. Und der Handwerker Panse stieg sofort in die Politik ein, baute die Junge Union in Thüringen mit auf und war zehn Jahre lang bis zur jüngsten Wahl Landtagsabgeordneter. OT 30 (Panse) "Wo man auch inzwischen dazu beigetragen hat - wir alle zusammen, das war keiner alleine - dass ein Teil der blühenden Landschaften so entstanden ist, wie Kohl es skizziert hat. Wo Kohl auch damals gesagt hat: ihr habt die Chance dazu. Ich garantiere euch nicht, dass es so wird, weil: es liegt an euch. Ihr habt Eigenverantwortung. Eigenverantwortung müsst ihr wahrnehmen, aber da muss auch jeder seinen Teil mittun können." ATMO/OT 31 (Kohl) "Dass Deutschland unser Vaterland ist und Europa unsere Zukunft, das wollen wir gemeinsam gestalten. Es lebe unser deutsches Vaterland! (Jubel, Sprechchöre) "Helmut, Helmut" -ENDE- 1