Manuskript Kultur und Gesellschaft Kostenträger : P 62120 Organisationseinheit: 46 Reihe : Zeitreisen Titel : "Verliebt in seine Apparate". Zum 100. Geburtstag des Medienträumers Marshall McLuhan Autor : Ronald Düker Redakteur : René Aguigah Sendung : 20.07.2011 / 19:30 Uhr Regie : Stefanie Lazai Besetzung : Sprecherin 1 (Autor-Text); Sprecher 2 (Zitate); Sprecher 3 (McLuhan) Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Musik Afrikanische Trommeln darüber Sprecher 3 (Trommeln gelegentlich hochziehen): Das Alphabet (und seine Erweiterung zum Buchdruck) ermöglichte es, die Macht, die ja Wissen ist, auszubreiten und sprengte die Fesseln des stammesgebundenen Menschen und machte ihn durch eine Explosion zum Splitter eines Konglomerats von Individuen. Die elektrische Schrift und Geschwindigkeit überfluten ihn in jedem Augenblick und andauernd mit den Belangen aller anderen Menschen. Er wird wieder stammesgebunden. Die Familie der Menschheit wird wieder zu einem großen Stamm. Musik hoch Afrikanische Trommeln Sprecher 3 Sie tanzten hypnotisiert zur Stammestrommel des Radios, das ihr Zentralnervensystem ausweitete, um die Voraussetzung für die Gesamtbeteiligung aller zu schaffen. Musik hoch - darüber: O-Ton 1 (Siegert) Marshall McLuhan gilt als der Begründer der Medientheorie. Sprecher 2 Der Medienwissenschaftler Bernhard Siegert. O-Ton 2 (Siegert) E hat etwas verändert im Nachdenken über Medien, er hat vielleicht sogar überhaupt als erster das Bewusstsein darauf gelenkt, dass Medien, dass die elektronische Revolution unsere Welt massiv beginnen zu verändern. Musik aus O-Ton Sprecherin 1 Der Vater: Immobilienhändler. Die Mutter: Lehrerin an einer baptistischen Schule, später Schauspielerin. Herbert Marshall McLuhan kommt am 21. Juli 1911 zur Welt, im kanadischen Edmonton. Der zweite Vorname klingt seltsam: Marshall? Es ist der Familienname der Großmutter. McLuhan studiert in Manitoba, im Osten Kanadas, dann im englischen Cambrigde. Seinen Abschluss in "Englischer Literaturwissenschaft" macht er 1934. Die großen Bücher aber kommen viel später. 1951: "Die mechanische Braut". 1964: "Die magischen Kanäle". 1967: "Das Medium ist die Massage", ein Kassenschlager. In den sechziger Jahren ist Marshall McLuhan eine echte Berühmtheit. Seltsam klang nicht nur McLuhans Vorname. Seltsam, höchst seltsam sogar, war auch die Art und Weise, in der der Kanadier seine Wissenschaft betrieb. Solche Bücher hatte zuvor noch kein Professor geschrieben. Und man fragte sich, ob so etwas überhaupt in die Universität passte - oder ob man es nicht vielmehr mit einem Kunst-Happening zu tun hatte. O-Ton 3 (03:41) Die Bücher sind nicht einfach geschrieben. Die Bücher sind selbst Aktionen, Ereignisse. Und treten auch als solche auf. Das hat viele seiner Literaturwissenschaftler-Kollegen enorm gegen ihn aufgebracht, einmal der extrem bedenkenlose Stil, in dem das geschrieben worden ist. Ein Stil, der kaum auf wissenschaftliche Standards Rücksicht nimmt. Sprecher 2 Sagt der Medienwissenschaftler Bernhard Siegert, Direktor des "Internationalen Kollegs für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie" an der Bauhaus- Universität Weimar: O-Ton - darüber: O-Ton 4 (Siegert): Das andere ist, dass in der Zeit, in der angefangen hat, seine medientheoretischen Bücher zu schreiben, es in der Zunft der Literaturwissenschaft, überhaupt in den humanities noch eine sehr konservative und strikte Trennung zwischen Hochkultur und Popkultur gegeben hat. Was wir heute in dem Maße nicht mehr kennen. Heute ist es völlig okay für einen Germanisten, auch mal einen Blockbuster-Film zu analysieren. Es wird sehr viel sogar gemacht. In der Zeit von McLuhan war diese Trennung eigentlich noch sehr etabliert. Und nun kam McLuhan und hat nicht nur angefangen sich mit Werbung zu beschäftigen, sich mit Fernsehen zu beschäftigen, sondern er hat selber so geschrieben, wie ein Fernseher plärrt, wie Werbung plärrt - das war der zweite Skandal, könnte man sagen, neben seiner nicht gerade besonders sorgfältigen wissenschaftlichen Arbeitsmethode. O-Ton 5: The Medium is the Massage (Kinderstimme: It's the business of the future to be dangerous..) Sprecherin 1 Die Gefahr ist das Geschäft der Zukunft? Dann ist Marshall McLuhan der Prophet unserer Gegenwart. Zu dessen Lebzeiten gehörte Derrick de Kerckhove zu den engsten Mitarbeitern McLuhans, auch als Ko-Autor. Drei Jahre nach dem Tod des Meisters, also 1983, gründete er in Toronto das "McLuhan Program in Culture and Technology". Kerckhove schreibt: Sprecher 2 Mit dem Internet und seinen Entwicklungsformen wird so manche Vorhersage McLuhans wieder aktuell. Zudem beeinflussen sie die jüngere Generation derart, dass man fast glauben könnte, sie wäre von McLuhan selbst verkabelt worden. McLuhan ist also keineswegs "tot". Er ist vielmehr von einer Kultur absorbiert worden, die gerade erst erkennt, dass sie sich aus einer die ganze Welt umspannenden Teilhabe an elektronischen Technologien konstituiert. Sprecherin 1: Aber was heißt das konkret? Atmo Sprechchöre auf dem Tahrir-Platz in Kairo Sprecherin 1 Werfen wir einen Blick auf die politischen Umwälzungen in der arabischen Welt. Alles begann in Tunesien. Alles begann - so besagt die Legende - mit Mohamed Bouzizi aus Sidi Bouzid. Sprecher 2 Bouzizi war 26 Jahre alt und hatte bereits als Dreijähriger seinen Vater verloren, der als Bauarbeiter in Libyen gearbeitet hatte. Weil er wusste, dass er später einmal die ganze Familie würde ernähren müssen, besuchte er nach der Schule die Universität. In seiner Heimatstadt herrschte aber Korruption, er bekam keine Chance auf dem Arbeitsmarkt. Er verkaufte Obst auf der Straße, wofür er keine Genehmigung hatte. Immer wieder geriet er mit der Polizei aneinander. So auch am 17. Dezember 2010. Wie unzählige Male zuvor beschlagnahmten die Polizisten seine Waren. An diesem Tag übergoss sich Bouzizi mit Benzin und zündete sich an. Man versorgte den Schwerverletzten im örtlichen Krankenhaus, dann in dem der nächsten größeren Stadt, schließlich in einer auf Verbrennungen und Traumata spezialisierten Klinik in Tunis. Hier besuchte ihn auch Ben Ali, der Staatspräsident. Aber zu spät: Am 4. Januar 2011 erlag Bouzizi seinen Verletzungen. Zehn Tage später wurde Ben Ali von der Revolution gestürzt. Sprecherin 1: Wenn man dieser Geschichte glauben darf: Wie konnte das geschehen: der arme Obsthändler und der stolze Staatschef - auf einmal Leidensgenossen auf Augenhöhe? Was war vorgefallen, dass die Tat eines einzelnen Verzweifelten zur folgenschweren Staatsaffäre wurde? Sprecher 2: Ein Cousin Bouzizis hatte eine kleine und friedliche Protestkundgebung, die sich im Anschluss an die Selbstentzündung zusammenfand, mit der Videokamera festgehalten. Er postete dieses Video auf "Youtube". Dort verbreitete es sich wie ein Virus, in Windeseile. Schließlich strahlte der Fernsehsender "Al-Dschasira" den Film aus. Nur kurze Zeit später versammelten sich Menschenmassen auf dem Tahrir-Platz von Kario, um einer ganz und gar anonymen Autorität zu huldigen: "Lang lebe Facebook!" stand auf ihren Transparenten. Wael Gnomin, ein 31- jähriger Internetaktivist und zugleich Marketing-Manager beim Suchmaschinen- Anbieter "Google", wurde von der Polizei verhaftet - und nach seiner Freilassung als Held der Revolution bejubelt. O-Ton Sprecherin 1 Die Massen formulierten kein politisches Programm, sie kürten keine neuen Anführer, die an die Stelle der überkommenen Machtelite treten sollten. Sondern sie feierten jene Technologien, von denen sie glaubten, dass sie ihnen die Freiheit bringen würden. Sprecher 3 Das Medium ist die Botschaft. Sprecherin 1 Es scheint, als hätten social media tatsächlich die Macht, in die Gesellschaft einzugreifen und politische Strukturen zu verändern. O-Ton 6 (Siegert): Auf der politischen Ebene findet man McLuhan, glaube ich, auch darin bestätigt, dass die Möglichkeit, über diese Kanäle zu kommunizieren, Bewegungen und Organisationsformen schaffen, die spontan emergieren können, wie wir in den arabischen Ländern erfahren haben: in Tunesien, in Ägypten, bis hin zum Jemen und Syrien. Dass diese spontan emergenten Bewegungen eine enorme Wirkung entfalten können, aber dass diese Wirkung auch ebenso schnell wieder in sich zusammenbrechen kann. Sprecherin 1 Dann wären die neuen Medien also in der Lage, politische Strukturen aufzubrechen - aber nicht, auch eine neue Gesellschaft zu schaffen. O-Ton 7 (Siegert): Was diese emergenten Medien schwer zustande bringen, sind dauerhafte Strukturen. Das ist es sozusagen, was hier nicht passiert, dass nämlich diese mobilen, netzwerkförmigen Medien es schaffen, anzudocken an die nach wie vor auf traditionellen Medien beruhenden politischen Institutionen. Da tut sich immer wieder ein Riss auf, da kann sozusagen auch mal eine Regierung gestürzt werden. Aber danach werden diejenigen, die es vollbracht haben, die sich auf den Plätzen versammelt haben, die die Transparente getragen und die zum Teil eben auch gestorben sind, die werden hinterher zu ihrer Enttäuschung feststellen, dass sich die Strukturen eben nicht in ihrem Sinne geändert haben. Ägypten ist nicht facebookförmig geworden durch die Facebook-Revolution. Sprecherin 1 Und wenn schon. Es mag sein, dass das Internet nicht an die Stelle von gewählten Regierungen getreten ist, in anderer Hinsicht aber regiert es das soziale Zusammenleben eben doch. Und zwar auf eine fundamental neue Art und Weise. O-Ton: It is a busines... Sprecher 3 Wie viel verdienst du? Hast du schon mal an Selbstmord gedacht? Bist du oder warst du jemals (das und das)? Bist du dir der Tatsache bewusst (, dass ...)? (...) Elektronische Kommunikationsapparate für eine allumfassende tyrannische Überwachung von der Empfängnis bis ins Grab führen zu einem schwerwiegenden Konflikt zwischen unserem Anspruch auf Privatsphäre und dem Bedürfnis der Gemeinschaft, sich Wissen über uns zu verschaffen. Sprecherin 1 Auf der Online-Enzyklopädie Wikipedia findet sich auch ein Eintrag zu Facebook, dem derzeit wichtigsten sozialen Netzwerk im World Wide Web. Sprecher 2 Facebook war im Februar 2004 erstmals zugänglich und erreichte im Januar 2011 nach eigenen Angaben 600 Millionen aktive Nutzer weltweit. Anfang Juni 2011 betrug der Mitgliederbestand 689,3 Millionen. In Deutschland sind mittlerweile 18,6 Millionen Menschen bzw. 22,8 Prozent der Gesamtbevölkerung auf Facebook aktiv. Nachdem Deutschland im April 2011 Kanada in der Weltrangliste überholte und damit erstmals in den Top 10 der Länder mit den meisten aktiven Nutzern stand, wurde Deutschland im Mai 2011 durch Brasilien verdrängt und befindet sich nun wieder auf dem elften Rang; die Schweiz liegt auf dem 46. Rang (2,6 Millionen Mitglieder) und Österreich auf dem 48. Rang (2,5 Millionen Mitglieder). Musik Sprecher 3 Die älteren, traditionellen Vorstellungen eines privaten, isolierten Denkens und Handelns - die Muster mechanistischer Technologien - werden durch die neuen Methoden der instantanen elektronischen Informationsbereitstellung, der elektronisch computerisierten Datenbank ernsthaft bedroht - von dieser großen Klatschspalte, die nichts vergisst, die keine 'Fehler' in der Vergangenheit löscht und aus der es kein Entrinnen gibt. Sprecherin 1 So schrieb Marshall McLuhan. Präziser kann man kaum beschreiben, welche gesellschaftlichen Umwälzungen unsere freiwillige Hingabe ans neue Medium Internet hervorgerufen hat. Das verleiht McLuhans Texten ihre prophetische Qualität. Denn eigentlich schrieb er ja gar nicht direkt übers Internet. Er schrieb auch nur am Rande über den Computer, obwohl er das in den sechziger Jahren längst hätte tun können. Er hatte vor allem das Fernsehen und das Radio im Blick. Und andere Medien. Wobei sich fragt, was nach Marshall McLuhan überhaupt ein Medium ist. Sprecher 3 Das Rad ist eine Erweiterung des Fußes. Das Buch ist eine Erweiterung des Auges. Kleidung eine Erweiterung der Haut, der elektrische Schaltkreis eine Erweiterung des zentralen Nervensystems. O-Ton 8 (Siegert) Ein Medium nach Marshall McLuhan kann eigentlich fast alles sein. Wenn man sich die "Heiligen Kanäle" anschaut, dann wird man feststellen, dass er an vielen Stellen, Medium eigentlich synonym mit Technik verwendet. Und auch der Technik-Begriff bei ihm schließt ziemlich viel ein. Man findet Stellen, wo das Rad ein Medium ist oder die Straße; man kann sicherlich mit ihm davon sprechen, dass das elektrische Licht, wie es von der Glühbirne ausgestrahlt wird, bereits ein Medium ist. Also alles kann bei McLuhan im Grunde unter den Medienbegriff fallen. Sprecherin 1 "Das Medium ist die Botschaft" - dies ist wohl die berühmteste Parole McLuhans, dessen Bücher nicht arm sind an berühmt gewordenen Slogans. Sprecher 2 Der Medienwissenschaftler Bernhard Siegert: O-Ton 9 (Siegert) Das, was an Medien wichtig ist, nicht die Botschaft ist, die sie übermitteln, nicht die Nachricht, die in der Zeitung steht, nicht der Spielfilm, der im Fernsehen ausgestrahlt wird, sondern das, was das Medium ausmacht, ist die Art und Weise, wie das Medium unsere Wahrnehmung und die Ordnung unserer Kultur bestimmt. Medien, nach McLuhan wirken auf alle Sinne, dann sind es kalte Medien, oder sie wirken ganz speziell auf einen Sinn, den sie aufheizen, verstärken, dann sind es heiße Medien. Auf diese Art und Weise verändern sie die Wahrnehmung, verändern sie die Art und Weise, als was wir die Welt um uns herum wahrnehmen. Zum anderen aber, und das gehört auch dazu, verändern sie sozusagen die Strukturen, in denen wir leben. Sprecher 3 Die Eisenbahn veränderte die Perspektive des Einzelnen und die Strukturen wechselseitiger Abhängigkeit. Sie gebar und nährte den amerikanischen Traum. Sie schuf vollkommen neue Stadt-, Sozial- und Familienwelten. Neue Formen der Arbeit. Neue Formen des Managements. Eine neue Gesetzgebung. Die Eisenbahn-Technologie schuf den Mythos einer grünen Naturlandschaft voller Unschuld. Dieser Mythos befriedigte das Bedürfnis der Menschen, sich aus der Gesellschaft, wie sie durch die Stadt symbolisiert wurde, zurückzuziehen, um zu seinem natürlichen und körperlichen Selbst zurückzufinden - in ein Schäferidyll, eine Welt im Sinne von Jefferson, eine ländliche Demokratie, die als Modell der Sozialpolitik dienen sollte. Das brachte uns trostlose Vorstädte und deren unverwüstliches Symbol, den Rasenmäher. Musik Sprecherin 1 Von der Eisenbahn zum Rasenmäher also. Und heute? Heute verändern andere Medien ganz grundsätzlich die Art und Weise unseres Zusammenlebens. O-Ton 10 (Siegert) In dem Moment, wo vor Gericht nicht mehr nur mündliche Zeugenaussagen relevant werden für den Richter um sein Urteil zu fällen, sondern wo vor Gericht Videotapes, Bänder von Überwachungskameras oder Computerfestplatten, die beschlagnahmt wurden, relevant werden, ist durch diese Konkurrenz zwischen dem Gericht und den Medien bereits vorentschieden, was der Richter tut, dass sein Urteil auf ganz andere Weise zustande kommt, ganz anders geprägt wird als zu der Zeit, in der allein mündliche Aussagen vor Gericht eine Rolle spielten. O-Ton 11: The Medium is the Massage Hörspiel (track mcluhan1 01:37 - 02:25 ausblenden) Sprecherin 1 Marshall McLuhans Medientheorie enthält eine ganze Geschichtsphilosophie. Sie lässt sich in einem Dreischritt zusammen. Am Anfang stehen die archaischen Stammesgesellschaften. Sie kennen keine Schrift und kein Alphabet, sondern akustische Reize: Sprache, Gesänge, Trommeln. Alles ist auf Vibration und auf Berührung ausgelegt, die Stammesgesellschaft lebt in enger Umklammerung. Der zweite Schritt: Die Gutenberg-Galaxis. Durch die Erfindung des Buchdrucks entstand nach McLuhan überhaupt erst das Individuum. Ein Mensch, der in aller Stille liest und vor allem seinen Augen vertraut. Der fortlaufenden Ordnung des Textes, der alles in geradlinige, lineare und klar proportionierte Strukturen verpackte, entsprach die Mechanisierung der Kultur. Das Rad, die Straße, das Papier brachten die alten, ineinander verschachtelten Siedlungsstrukturen durcheinander und führten zur räumlichen Explosion der Kultur. Diese Medien entsprachen der fortlaufenden Ordnung des Textes. Im dritten - und letzten - Schritt aber besiegeln die neuen Medien das Ende der Gutenberg-Galaxis. Die im elektrischen Zeitalter bis zur Simultangeschwindigkeit beschleunigte Kommunikation schloss die dritte Phase wieder mit der ersten zusammen: Die Menschheit, verstreut über den ganzen Globus, befindet sich wieder in einem unmittelbaren Nachbarschaftsverhältnis. Womit wir beim zweitberühmtesten Slogan Marshall McLuhans wären: Die Welt ist ein globales Dorf. Musik The Beatles: Everybody has something to hide exept me and my monkey (The White Album, Disc 2, 01,14 - 01,54 ausblenden) O-Ton 14 (Siegert) Einer seiner berühmten Sätze in "The Medium is the Massage" lautet mit den Beatles "The Inside is out and the outside is in". Das Zentralnervensystem hat sich um die ganze Welt herumgestülpt, und damit haben wir einen taktilen Kontakt mit allem, was auf der Welt vonstatten geht. In dem Sinn also, in dem sich unser Zentralnervensystem um ganze die Welt herumstülpt, wird die ganze Welt ein Dorf. Sie kontraktiert sich also auf die Dimensionen einer oralen, taktilen Stammeskultur. Dadurch, dass die Effekte, die direkten haptischen Effekte des Fernsehens - Computer war gerade erst im Aufblühen als McLuhan schrieb, Internet kommt bei ihm in der Form noch nicht vor, kann man aber sicherlich auch aufs Internet beziehen - insofern also die elektronischen Netzwerke den Globus überziehen und uns mit allem in Berührung bringen, tauchen wir wieder ein in eine Kultur, die sich jenseits des Buchdrucks und seiner Differenzen und Distanzen befindet. Sprecher 3 Alle Medien krempeln uns völlig um. Sie sind so weitreichend in ihren persönlichen, politischen, wirtschaftlichen, ästhetischen, psychologischen, moralischen, ethischen und sozialen Konsequenzen, dass sie keinen Teil von uns unangetastet, unberührt und unverändert lassen. Das Medium ist die Massage. Sprecherin 1 Marshall McLuhans Situation war paradox. Seine Analysen waren weitgehend frei von Werturteilen und Bekenntnissen. Deshalb missverstanden ihn seine Zeitgenossen: Man kritisierte ihn für seine Bücherfeindlichkeit und Technikfreundlichkeit. Tatsächlich aber verhielt es sich aber genau umgekehrt. In seiner soeben erschienenen McLuhan-Biografie schreibt der Schriftsteller Douglas Coupland: Sprecher 2 McLuhan sehnte sich nach einer vormodernen, noch nicht technologisierten Zeit, in der die Menschen miteinander redeten, statt fernzusehen (was er sich nie angewöhnte), und Bücher von Priestern in der Kirche vorgelesen wurden. Sprecherin 1 In der Kirche? - Nun ja, man darf nicht vergessen, dass Marshall McLuhan schon 1937 zum Katholizismus übergetreten war, und von nun an jeden Sonntag in den Gottesdienst ging. Womöglich war Marshall McLuhan gar kein strenger Medientheoretiker, der sich vor allem mit technischen Fragen auseinandersetzte, sondern eigentlich ein Under-Cover-Theologe. O-Ton O-Ton 15 (Siegert) Er war Literaturwissenschaftler, und er hat sich deswegen, wenn es zum Beispiel um den Buchdruck ging, an Shakespeare gewandt und an sehr viele andere, vor allem englischsprachige Autoren, er hat aber auch, und das ist sehr interessant, eine noch viel obskurere Quelle angezapft, und das ist die Theologie. Er war ein glühender und orthodoxer Katholik, der begeistert die Werke von Teilhard de Chardin las. Teilhard de Chardin, der selbst die Konsequenzen der elektromagnetischen Medien für die Theologie in seinen Arbeiten berücksichtigt hat. Das liest McLuhan. Er findet dort den Begriff der Noosphäre, eine Sphäre des reinen Intellekts, des reinen Verstandes, der reinen Vernunft, die abgelöst vom Körper sich wie eine Engelssphäre um die Welt herumlegt, und da sieht man eigentlich auch schon McLuhans ausgestülptes Zentralnervensystem vorgebildet. Sprecherin 1 Es heißt, Marshall McLuhan habe extreme Angst vor der Berührung durch fremde Menschen gehabt. Und auch kaum laute Stimmen ertragen können. Beinahe scheint es, dass seine Vision vom Globalen Dorf, das von Taktilität und Vibration getragen wurde, dazu diente, die bösen Geister, die er vorhersah, auszutreiben. Er selbst gehörte dieser Sphäre jedenfalls nicht an, und so erscheint es wie eine Logik des Schicksals, dass ihn sein Körper schon ein Jahr vor seinem Tod aus der Sphäre des Sozialen herausriss. Sein Biograf Philip Marchand rekonstruiert die Ereignisse aus dem Jahr 1979. Sprecher 2 McLuhan hatte einen schweren Schlaganfall erlitten. Zehn Tage nach seiner Einlieferung in das St. Michael's Hospital wurde er operiert, um die Blutversorgung seines Gehirns zu verbessern. Zwei Wochen nach dem Eingriff verließ er die Klinik. Langsam erlangte er fast seine gesamte physische Beweglichkeit wieder - aber die Fähigkeit zu lesen und schreiben war für immer verloren. Und das Schlimmste war, dass er mit Ausnahme von ein paar einzelnen Sätzen nicht mehr reden konnte. So wiederholte er stundenlang "O boy, oh boy, oh boy." Manchmal schaffte er es, "ja" oder "nein" zu sagen. Wollte er etwas Bestimmtes, brachte er meist nur etwas wie "Wuh, wuh" heraus - wie ein Taubstummer in einem alten Hollywood-Film. (Wie viele Taubstumme konnte er allerdings singen, und in der Kirche erhob er sich und schmetterte laut die Hymnen, die er auswendig kannte.) Sprecher 3 Oh boy, oh boy, oh boy! O-Ton 16 (Siegert): Man kann sicherlich auch von einer Sehnsucht sprechen, die es bei McLuhan gibt. Die ist auf der anderern Seite all seiner fröhlichen apokalyptischen Prophezeihungen, man kann ihn sicherlich als einen fröhlichen Apokalyptiker bezeichen, der ähnlich wie Johannes von Pathmos das Ende der Welt und ein Neues Jerusalem predigt. Aber dieses neue Jerusalem, auf das sich McLuhans, wenn es das gibt, Hoffnung richtet, das ist auch eines, in dem bestimmte Formeln der Kommunikation wieder zu ihrem alten Recht finden. Sprecherin 1 So bleibt, auch bei Marhall McLuhan, der am Silvestertag 1980 stirbt, am Ende das Prinzip Hoffnung. So wie es Philip Marchand formuliert: Sprecher 2 Es war offensichtlich, dass er in eine ganz andere Kategorie gehörte als Timothy Leary, Carlos Castanedea oder Ken Kesey - Männer, deren Anziehung auf die Generation der Sechziger weniger mit ihren intellektuellen Fähigkeiten zu tun hatte. Den berühmten intellektuellen Helden seiner Epoche - Herbert Marcuse, Norman O. Brown, R. D. Laing - war er zumindest ebenbürtig. Mit McLuhans Intelligenz konnte es allerdings keiner dieser Männer aufnehmen, und nicht einer von ihnen besaßt eine so positive Ausstrahlung. Ihre Werke haben allesamt einen düsteren Unterton, einen Hauch - und in manchem Fall auch mehr als einen Hauch - von Verzweiflung. McLuhan hingegen lebte und arbeitete als glaube er wirklich - im strengen, orthodox christlichen Sinn - an das Wort der mittelalterlichen Mystiker, dass alles gut werden würde, und alles, was möglich war, ebenfalls gut werden würde. Sprecher 3 Das nächste Medium, was immer es ist - vielleicht eine Ausweitung unseres Bewusstseins -, wird das Fernsehen als Inhalt mit einbeziehen, nicht als dessen bloßes Umfeld, und es in eine Kunstform verwandeln. Der Computer als Forschungs- und Kommunikationsinstrument könnte die Recherche von Information steigern, die Zentralbibliotheken in ihrer bestehenden Form überflüssig machen, die enzyklopädische Funktion des Individuums wiederherstellen und in einen privaten Anschluss umkehren über den individuell zugeschnittene Informationen sofort und für Geld abgerufen werden können. Sprecherin 1 Oh Boy! Es ist am Ende egal, aus welchem Antrieb McLuhan auf solche Gedanken gekommen ist. Ob er Kulturpessimist, fröhlicher Apokalyptiker oder mittelalterlicher Mystiker war: Man muss Marshall McLuhan hier und jetzt lesen, dann wird man unsere Gegenwart besser verstehen. ENDE Literatur - Marshall McLuhan: Das Medium ist die Massage. Tropen, Stuttgart 2011. 160 S., 12 Euro - Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding Media. Verlag der Kunst, Basel 1995. 544 S., vergriffen - Derrick de Kerckhove, Martina Leeker, Kerstin Schmidt (Hg.): McLuhan neu lesen. Kritische Analysen zu Medien und Kultur im 21. Jahrhundert. transcript, Bielefeld 2008. 508 S., 39,80 Euro - Philip Marchand: Marshall McLuhan. Biographie. Mit einem Vorwort von Neil Postman. DVA, Stuttgart 1999. 29,90 Euro - Douglas Coupland: Marshall McLuhan. Eine Biographie. Tropen, Stuttgart 2011. 220 S., 18,95 Euro 3