KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : Literatur Titel der Sendung : In einem anderen Land. Die DDR in neuen deutschen Romanen AutorIn : Maike Albath Sendetermin : 18.10.2011 Besetzung : Autorin, Zitator, Zitatorin Regie : NN Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503- DeutschlandRadio Kultur Literatur: 18.10.2011, 19.30 Uhr In einem anderen Land. Die DDR in neuen deutschen Romanen Von Maike Albath Red.: Barbara Wahlster Regie: Musik, Günther Fischer, "Solo Sunny", Pianoversion, CD Whiskey mit Soda, Track 16 Zitatcollage Zitatoren rechts, links legen, Musik ev. collagieren Zitator: Im Sicherheitssekretariat schrillte das Telefon. "Genosse, wir haben an der Chausseestraße ein Problem." "Genosse, geht's ein bisschen genauer." "Genosse, wir bauen über den Friedhof." "Genosse, ja und?" "Genosse, die Toten!" "Genosse, was für Tote? Wird geschossen? Dreht nicht durch!" "Genosse, wir lassen und nicht provozieren. Nein, es geht um die toten Toten." Zitatorin: Akkurat rasierte Herren. Elegante Anzüge. Nicht so ein Perlonzeug. Die saßen erst ganz brav da. Kaffee und Kuchen. Und dann wollten sie nicht mehr gehen. Sie brauchte sich nichts vorzuwerfen. Andere hatten auch unterschrieben. Und geschadet hatten die paar Berichte niemandem. Zitator: Es klingelte, draußen stand der Pionierchor. Die Pionierleiterin sagte: Drei, vier und der Chor sang das Lied vom kleinen Trompeter. Zitatorin: Als sie ins Kinderheim zurückkommt, steht ihr Name auf der Liste der negativen Kinder. Am ersten Tag nach den Ferien nimmt sich Herr Nissen Zeit, sie vorzuführen, schildert beim Appell ausführlich ihre Vergehen. Regie: Musik, wie oben, ab 1'29 Autorin (auf Musik): Realitätspartikel. Ausschnitte aus Lebenswelten. In der Literatur taucht die ostdeutsche Republik mit zeitlicher Verzögerung wieder auf - im Herbst 2011 besonders geballt. Marc Schweska, Judith Schalansky, Eugen Ruge, Barbara Honigmann, Angelika Klüssendorf, Antje Rávic Strubel, Peggy Mädler, Larissa Boehning und Simon Urban betreiben Vergangenheitsrecherchen, und zwar jeder auf seine Weise. Mit der epischen Breite im Thomas-Mann-Format, wie sie für Uwe Tellkamps Dresden-Gemälde Der Turm von 2006 typisch war, haben die neuen Bücher nichts zu tun. Regie: Musik weg Autorin: Angelika Klüssendorf, 1958 in Ahrensburg bei Hamburg geboren, als Dreijährige mit ihrer Familie nach Ostdeutschland übergesiedelt und bis zur ihrer Ausreise 1985 in Leipzig zu Hause, schildert in Das Mädchen die Geschichte einer Kindheit und Jugend, die von Gewalt, Vernachlässigung und Willkür geprägt ist. Zitatorin: Als sie aus der Schule kommt, sitzen die Mutter und der Vater fröhlich vor dem Fernseher. Sie muss in die Kneipe laufen, hin und her, und so viele Bierflaschen schleppen, wie sie tragen kann. Doch gegen Mitternacht spürt sie den aufsteigenden Groll im Zimmer. Die Stimmen der Eltern werden mit jedem Wort gereizter, der Atem der Mutter klingt wild, du Versager, schreit sie, Bankrotteur, mieser, dreckiger Wurm, und ihre Tochter kneift schnell das linke Auge zusammen, dann das rechte, und schon liegt die Mutter auf dem Boden, der Vater kniet über ihr und würgt sie, würgt die Mutter so sehr, bis ihre Augen hervortreten. Sie selbst kann sich nicht von der Stelle bewegen, betrachtet alles ganz genau; auch als die Mutter wieder Luft bekommt und um Hilfe ruft, kann sie sich nicht rühren. Autorin: In einer präzisen, schlackenlosen Sprache vermittelt Klüssendorf den inneren Zustand ihrer Heldin. Ihre Rettung sind Bücher. Die Märchen der Brüder Grimm oder Der Graf von Monte Christo bieten dem Mädchen Zuflucht - und in Brehms Tierleben findet sie sogar ein Erklärungsmodell für das unberechenbare Verhalten der Mutter. Diese ähnelt nämlich einem Zitterwels. Bei jeder Berührung bekommt man einen elektrischen Schlag. Das Mädchen läuft schließlich weg, wohnt eine Weile beim Vater, der ebenfalls an der Flasche hängt, bis sie im Kinderheim landet. Eines Tages greift man sie nach einem Besuch bei ihrem jüngsten Bruder auf der Straße auf. Zitatorin: Sie wird mit dem Auto in die Nebelgasse gebracht, in ein Durchgangsheim für jugendliche Straftäter. Eine dicke Frau nimmt sie in Empfang, gibt dem Polizisten eine Unterschrift, als wäre sie ein Paket, das abgeliefert wird. Die Frau sitzt ihr gegenüber, starrt sie stirnrunzelnd an, ihre Fragen wirken gelangweilt, und sie weiß nichts darauf zu antworten. Sie weiß nicht, was sie verbrochen haben soll, versteht ihre Schuld nicht, ist unfähig, etwas Böses in ihrem Handeln zu entdecken. Abermals versucht sie sich zu erklären, obwohl es ihr peinlich ist von ihrer Sehnsucht zu sprechen. Autorin: Aber es ist merkwürdig - so düster Angelika Klüssendorf die Welt der Erziehungsanstalt auch zeichnet, so hoffnungsvoll ist das Buch. Denn ihre Heldin beißt sich durch. Das andere Ende der gesellschaftlichen Skala beleuchtet Eugen Ruge. Sein Roman-Erstling In Zeiten des abnehmenden Lichts dreht sich um eine Familie der Nomenklatura. Alexanders Großmutter und ihr Mann Wilhelm sind Kommunisten der ersten Stunde, die während des Krieges von Moskau nach Mexiko beordert wurden und 1952 aus dem Exil zurückkehrten. Ein Sohn fiel stalinistischen Säuberungen zum Opfer, der andere, Alexanders Vater Kurt, überstand den Gulag, kam mit einer russischen Frau in die DDR und wurde Professor für Geschichte. Zitator: Papa war kein Doktor. Kein richtiger Doktor, sondern Doktor im Schreibmaschineschreiben. Papa war groß und sehr stark und wusste alles. Mama wusste nicht alles. Mama konnte noch nicht einmal richtig Deutsch. - Na, was heißt denn auf Deutsch "Kryssa"? Schon war Mama außer Gefecht gesetzt. Andererseits hatte Mama im Krieg gekämpft: gegen die Deutschen. Regie: Musik, Oktoberclub, "Sag mir, wo du stehst", CD Unser Zeichen ist die Sonne, Track 11 Autorin: Eugen Ruge, 1954 im Ural geboren, verarbeitet in seinem späten Debüt das wechselvolle Schicksal seiner Familie und legt eine Vier-Generationen-Saga vor. Sein Vater Wolfgang Ruge war tatsächlich Historiker und ein Spezialist für die Arbeiterbewegung. Aus der Perspektive von Eugen Ruges alter ego Alexander nimmt sich die DDR eher putzig aus: Zitator: Wilhelm schmierte sich eine dicke Schicht Leberwurst auf das Brot. - Die Indianer, sagte Wilhelm, sind die Ureinwohner des amerikanischen Kontinents. Ihnen gehört Amerika. Aber stattdessen ... Er legte sich noch eine saure Gurke aufs Brot, genauer, er warf sie auf Brot, aber die Gurke fiel wieder herunter und rollte auf die Tischdecke. - Stattdessen, sagte er, sind sie heute die Ärmsten der Armen. Enteignet, ausgebeutet, unterdrückt. Dann zerteilte er die Gurke, drückte die Gurkenhälften tief in die Leberwurst und begann, geräuschvoll zu kauen. - Das, sagte Wilhelm, ist Kapitalismus. Autorin: Die Wahrnehmung des Kindes wirkt wie ein Weichzeichner - Ruge steuert in den nächsten Kapiteln dagegen, verfährt nach dem Prinzip des Kaleidoskops, bricht die Chronologie auf und schildert die Verhältnisse aus verschiedenen Blickwinkeln. Dadurch vermittelt er die vielen Schattierungen, die der Konformismus der DDR-Elite besaß. Kurts Mutter Charlotte ist allerdings eine unverbesserliche Parteisoldatin und verdammt in Zeitungsartikeln Bücher, die Ansätze eines kritischen Bewusstseins zeigen. Zitator: - Ich verstehe dich nicht, sagte Kurt. Wieso du dich an so was beteiligst. - Wieso denn beteiligst? An was denn? Kurt schaute sie an. Auf einmal sah sie, dass er sie nur mit einem Auge ansah, und für einen Moment empfand sie so etwas wie Schuld - als sei sie, als Mutter, verantwortlich dafür. - Mutti, hier geht es doch um eine politische Kampagne, sagte Kurt. Hier versuchen Leute, einen härteren Kurs durchzusetzen. - Aber das Buch ist schlecht, wandte Charlotte ein. - Dann lies es nicht. Kurt war plötzlich ungewohnt schroff. - Nein, Kurt, so geht das nicht, sagte Charlotte. Auch ich habe das Recht, meine Meinung zu schreiben. Auch ich habe das Recht, ein Buch schlecht und schädlich zu finden, und ich finde es schlecht und schädlich, dabei bleibe ich. - Es geht nicht um dieses Buch. - Mir geht es um dieses Buch. - Nein, sagte Kurt. Es geht hier um Richtungskämpfe. Es geht hier um Reform oder Stillstand. Demokratisierung oder Rückkehr zum Stalinismus. Charlotte griff sich entnervt an die Schläfen. - Stalinismus ... Auf einmal reden alle vom Stalinismus! - Ich verstehe dich nicht, sagte Kurt, und obwohl er gedämpft sprach, klang seine Stimme scharf, er betonte jedes Wort, als er sagte: Dein Sohn ist in Workuta ermordet worden. Musik: "Lied der Partei", CD Die Partei hat immer recht, Track 4, nur Akzent, dann weg Autorin: Ruges Stoff hat es zweifellos in sich, es gibt markante Schauplatzwechsel und geschickte perspektivische Brechungen. Genau wie bei Klüssendorf spürt man, dass hier Lebenserfahrung im Spiel ist, eine intime Kennerschaft der DDR. Dennoch schlägt bei Ruge mitunter etwas Grundbiederes durch, da wirkt der Osten dann eigentlich ganz gemütlich. Davon kann bei Barbara Honigmann, Jahrgang 1949, keine Rede sein. Regie: Musik langsam einblenden, Hanns Eisler Autorin (auf Musik): Als Tochter jüdischer Exilanten, die aus England in die DDR zurückkehrten, gehörte sie zu einem Milieu, das sich weniger vereinnahmen ließ. In ihrem neuen, autobiographisch inspirierten Buch erzählt sie von der Liebe zu einem Theaterregisseur, dessen Namen sie mit dem Buchstaben A. abkürzt. Zitatorin: Damals, in Berlin, im Osten, fuhr A. immer mit dem Fahrrad durch die Stadt, zum Theater und vom Theater und alle sonstigen Wege hin und her. Manchmal brachte er mich mit dem Fahrrad nach Hause, dann setzte ich mich vorne quer auf die Fahrradstange, und A. lenkte sozusagen an mir vorbei durch die Straßen. Das war aber verboten, in der DDR war ja fast alles verboten, und einmal hielt uns ein Volkspolizist an. "Absteigen!" "Ja, warum denn?" "Das ist verboten." Was denn nun schon wieder verboten sei? "Einen Fahrgast auf der Fahrradstange zu transportieren!" Aber warum denn um Himmels willen? "Wegen der Gefährlichkeit!" "Wegen der Gefährlichkeit!" A. und ich kriegten einen hysterischen Lachanfall, und der Volkspolizist nahm Reißaus, er bekam wohl Angst, wir könnten Verrückte sein, und dafür war er nicht zuständig. Autorin: Der im ganzen Land gefeierte A. führt mit seinen Schauspielern Kleists Prinz von Homburg und Der zerbrochene Krug auf. Furiose Gegenentwürfe. Zitatorin: Einige seiner Inszenierungen am Berliner Theater waren legendär geworden, damals in den 70ern, ich hatte sie viele Male gesehen, kannte sie auswendig. Die Vorstellungen waren fast immer ausverkauft, viele Zuschauer kamen für einen Abend extra aus Westberlin in den Osten angereist, um die auch, oder besser gesagt, gerade im Westen gerühmten Inszenierungen nicht zu verpassen. Dass sie weiter am Berliner Theater gespielt werden durften, verdankte sich oberflächlichen Änderungen, Arrangements mit den Zensurbehörden und der Fürsprache einiger Prominenter, aber auch dem immer vollen Haus und begeisterten Publikum, mit dem die zuständigen Parteistellen oder gar ZK und Politbüro sich nicht zu konfrontieren wagten, um keine Explosionen zu riskieren, denn von der Sprengkraft, die Theateraufführungen zu öffentlichen Manifestationen, wenn nicht Revolutionen umschlagen lassen können, hatten sie auch schon gehört. Autorin: Doch Freiräumen drohte Beschneidung. Barbara Honigmann vermittelt, wie das starre Regime die künstlerische Ausdruckskraft einerseits befeuerte, ihr nach und nach aber die Grundlage entzog. Etwas Erstickendes breitete sich aus. Regie: Musik, City, "Am Fenster", Intro, CD Ost-Rock, Track 7 Autorin (auf Musik): Auch die viel jüngere Antje Rávic Strubel, die 1974 geboren wurde, kreist immer wieder um ein spezifisches Ost-Lebensgefühl. Ihr Roman Sturz der Tage in die Nacht ist auf einer schwedischen Vogelschutzinsel in der Gegenwart angesiedelt, aber die Vergangenheit vergiftet sämtliche Beziehungen. Rainer Feldberg, mittlerweile Betreiber einer privaten Detektei, setzt der Ornithologin Inez Rauter mit bewährten Stasi-Methoden zu. Eindringlich lässt Strubel die DDR in Rückblenden aufleben. Anfang der achtziger Jahre war die sechzehnjährige Inez auf den smarten Felix Ton herein gefallen, einen Gewinnertypen, Student der Wirtschaftswissenschaften mit Schwerpunkt Außenhandel, der, wie ihre Eltern gleich durchschauten, zur "Firma" gehörte. Inez wird schwanger, aber Ton lässt sie hängen. Felix bester Freund Rainer Feldberg veranstaltet eine Fete auf seiner Datsche, bei der Inez schwant, in welcher Lage sie ist. Zitatorin: Es war kalt gewesen, es hatte nach verbranntem Fett gerochen, später waren die besoffenen Spiele drangekommen, die dreckigen Titulierungen, die Rülpser, mit denen die Kampflieder begleitet wurden, na sdrowje, towarisch, Felix Ton hatte sich eine der Frauen geschnappt und war ihr hinter der Bungalowtür an die Wäsche gegangen. Fummel-Felix rief einer der Typen hinter ihm her. Feldberg hatte ein sibirisches Saiteninstrument geholt, Balalaika oder Ukulele, damit kannte sie sich nicht aus, und immer wieder dieselben drei Lieder geschrummelt, die ihm ein Nowosibirsker Polizist bei irgendeiner Schulung beigebracht hatte, und die ganze Zeit hatten Inez und der Hund im Dunkel gestanden, und der Hund hatte seinen Arsch an ihren Schienbeinen gerieben und manchmal seinen Kopf zu ihr herumgedreht, und sie hatte nur ahnen können, wie sich Felix Ton hinter der Tür an dieser Frau zu schaffen macht. Regie: Musik, Puhdys, "Geh zu ihr", CD1, Track 1 Autorin: Überfordert von der Situation gibt Inez den kleinen Sohn, der bald darauf zur Welt kommt, zur Adoption frei. Fünfundzwanzig Jahre später holt sie die Vergangenheit ein - auf unerwartete Weise, bei der unkalkulierbare Anziehungskräfte bestimmend wirken. Dass Felix Ton, inzwischen ein ambitionierter Politiker, seine alten Seilschaften aktiviert und ihr Rainer Feldberg auf den Hals hetzt, hätte sie nicht erwartet. Beim Whiskey erstattet er Felix Ton Bericht. Regie: Musik, wie oben, 1'18 - 1'33 Zitatorin: "Ich habe die Adressköpfe geändert. Mehr war nicht nötig. Ihr Kollege ist einer von diesen hundertprozentigen Ökos. Die Leichtgläubigkeit dieser Bande ist frappierend. Vollkommen einseitige Informationsbeschaffung, was zu schwerer Angreifbarkeit durch jede Art von Verschwörungstheorie führt. Der hält das kaum aus." "Das heißt - " "Das heißt, Inez wird innerhalb ihrer Bezugsgruppe nach und nach isoliert. Und sie weiß sehr genau, auf wessen Kappe das geht. - Danke, ich trinke gern etwas." "Sie konnte sich also an dich erinnern." "Keine Angst. Meine Legendierung ist nach wie vor wasserdicht. Ich bin in seinen Augen der oberste Naturfuzzi. Mit Fuchs und Dachs und Vogelwelt steh'n wir auf du und du." Autorin: Felberg beherrscht sein manipulatives Handwerk perfekt. Seine Methoden funktionieren, sogar der Jargon ist noch derselbe. In Antje Rávic Strubels spannungsreichem Roman geht es um die Tiefenschichten, darum, wie sich bestimmte Verhaltensweisen eingraben in die Menschen und das Innere deformieren. Vom Aufbau und der Erzählweise sehr viel konventioneller ist die Familiengeschichte Das Glück der Zikaden von Larissa Boehning. Boehning, Jahrgang 1971, nähert sich der DDR als Außenstehende - für sie ist der ostdeutsche Staat historisches Material. Die Autorin vermittelt Marksteine der deutschen Geschichte über drei Frauenschicksale, Mutter, Tochter und Enkelin. Im Unterschied zu Rávic Strubel durchdringt Boehning die Zeitläufte nicht, sondern schiebt sie wie Kulissen hin und her. Regie: Musik, Hanns Eisler Zitatorin (auf Musik): Die Währung schwoll an zu einem Knäuel nutzloser Scheine, die Schule begann, man schickte sie zum Nachsammeln auf die Äcker. Man holzte im Tiergarten, man tauschte, was ging, man vergrub, was man nie mehr sehen wollte, man grub aus, was man noch irgendwo wähnte, man bewachte das Feuer, klopfte Steine, hungerte und fror, und schlief eng beinander auf schmalen Betten. Die Sowjetunion befahl die Blockade, die Westmächte erfanden die Luftbrücke, die Frankfurter Dokumente machten den Weg frei zur Gründung eines Staates. Man arbeitete das Grundgesetz aus. Die Männer in der Politik trugen wieder Bauch, die Frau von Welt ging eng tailliert und unten weit. Autorin: Größeres Geschick beweist Larissa Boehning im Umgang mit ihren Figuren. Ihre Heldin Nadja fühlt sich eingeschlossen in ihr Leben, erstarrt in ihrer Ehe mit Anton, obwohl sie den Krieg im Westen der Stadt überstanden hat. Der Mauerbau scheint ihr Empfinden auf den Punkt zu bringen. Zitatorin: Er sah nur eine schmale, hochgewachsene Frau in einem Mantel und von hinten. Wie sie in der Nähe eines Hauseingangs stand. Und die Anfahrt des Lasters beobachtete. Hinter dem Stacheldraht, der engreihig bis weiter über die Kopfhöhe die Horizontlinie der Stadt war. Die Ladefläche des Lasters richtete sich auf, Betonsteine rutschten auf die Straße. Ein Generator trieb eine Trommel an, der Zement wurde eilig aufgeklatscht, die Steine zusammengesetzt. Hinter den Bauarbeitern standen im Abstand von einigen Metern Volkspolizisten. Anton überquerte die Straße, zwang sich, nicht auf Nadja zuzulaufen. Als sie ihn bemerkte, wich sie zurück in den Hauseingang. Er blieb stehen. Der Laster fuhr ab, der Generator rasselte, die Männer arbeiteten angetrieben. "Ich weiß", sagte sie nur und steckte die Hände, wie vorsorglich, in die Manteltaschen. Er griff nach ihrem Arm. Er spürte ihren Ellenbogen, die kräftigen Muskeln am Unterarm. "Ich werde hier nicht mehr rauskommen." Regie: Musik, wie oben Autorin: Von ideologischen Systemen gezeichnet, überträgt eine Generation ihre Verletzungen auf die nächste. Das durchgeknallte Gegenstück zu Boehnings bravem Familienporträt ist Marc Schweskas schräger DDR-Roman Zur letzten Instanz. Der gelernte Elektroniker, 1967 in Berlin-Mitte geboren, breitet in seinem Debüt die Geschichte einer Gruppe subversiver Computer-Nerds aus. Die Typen sind längst jenseits politischer Fragen. Regie: Musik, langsam unter Zitator einblenden, Puhdys, "Wilder Frieden", Intro, Track 9 Zitator: "Und das hier soll die Tastatur sein?" Lem griff sich ein Brett mit Mikrotastern, groß wie Würfelzucker. Es sah aus wie Modelleisenbahnzubehör. "Die ist schon richtig gut, zuerst hatte ich Radiotasten. Den Code habe ich per Hand eingegeben. Das ist wie Morsen, irgendwann fängst du an hexadezimal zu denken. Die Transis kannst du bei ihrem Klick-Klack fast noch sehen. Die Dinger haben ein Fenster und da guckst du direkt auf den Chip. Die Käfer habe ich bei Djamilas Vater im Werk gebrannt, bloß für's Löschen musste ich mir was einfallen lassen. Da bin ich auf einen Bauhof, bin die Bogenlaterne raufgehangelt und hab' die Quecksilberlampen raus geschraubt, zu Hause dann in ein Handtuch gewickelt und das Glas zerschlagen. Der Lampenkern strahlt ultraviolett und mit dem konnte ich den Speicher löschen." Autorin: Marc Schweska lässt nichts aus: Zeitlöcher, Ping-Pong-Dialoge, verschiedene Textsorten und Typographien, einen sympathisch überdrehten Helden, einen nicht minder überdrehten Erzählstil. So unausgegoren der Roman zum Teil daher kommt - er ist radikal, wild, witzig, aufregend in seiner Gestaltung. Vor allem präsentiert er uns ein völlig unbekanntes Land. Regie: Musikakzent, Puhdys, "Ikarus", Track 2, 0'44 - 0'57 Autorin: Auch Judith Schalansky, dreizehn Jahre jünger als Schweska und 1980 in Greifswald geboren, schlägt Funken aus ihrer Ost-Erfahrung und lässt das Ganze ins Komische kippen. Die Heldin ihres Romans Der Hals der Giraffe heißt Inge Lohmark. Eine beinharte Biologielehrerin, die in Nachwendezeiten einen kruden Darwinismus vertritt. Zitatorin: Es lohnte sich einfach nicht, die Schwachen mitzuschleifen. Sie waren nur Ballast, der das Fortkommen der anderen behinderte. Geborene Wiederholungstäter. Parasiten am gesunden Klassenkörper. Früher oder später würden die Unterbelichteten sowieso auf der Strecke bleiben. Es war empfehlenswert, sie mit der Wahrheit so früh wie möglich zu konfrontieren, anstatt ihnen nach jedem Scheitern eine neue Chance zu geben. Mit der Wahrheit, dass sie die Voraussetzungen dafür, ein vollwertiges, also nützliches Mitglied der Gesellschaft zu werden, einfach nicht mitbrachten. Wozu die Heuchelei? Nicht jeder konnte es schaffen. Warum auch? Blindgänger waren in jedem Jahrgang dabei. Autorin: Judith Schalansky hat ein satirisches Talent. Virtuos schöpft sie aus dem Reservoir der Biologie, nutzt Begriffe wie "Lebensraum", "Einnischung" oder "Domestikation" und spielt mit deren assoziativem Potenzial. Inge Lohmark betrachtet die Welt aus einer eher geologischen als zeitgeschichtlichen Perspektive. Dahinter steckt eine Strategie, denn ihre eigenen Vergehen, wie gelegentliche Berichte für die Stasi, scheinen unerheblich. Zitatorin: Hier war eine größere Kraft am Werk! Niemand konnte sie aufhalten. Irgendwann, schon in ein paar Jahrhunderten, würde hier ein stattlicher Mischwald stehen. Und von allen Gebäuden würde höchstens die Kirche übrig sein, ausgehöhlt, ein Gerippe aus Backstein, eine Ruine im Wald, wie auf einem Gemälde. Herrlich. Man musste größer, weiter denken, über das mickrige menschliche Maß hinaus. Was war schon Zeit? Die Pest, der Dreißigjährige Krieg, die Menschwerdung, das erste Feuer in den Höhlen der Hominiden? All das lag doch nur einen Wimpernschlag zurück. Der Mensch war ein flüchtiges Vorkommnis auf Proteinbasis. Ein zugegeben recht erstaunliches Tier, das diesen Planeten für kurze Zeit befallen hatte und schließlich genau wie ein paar andere wundersame Wesen, wieder verschwinden würde. Von Würmern, Pilzen und Mikroben zersetzt. Oder unter einer dicken Sedimentschicht begraben. Ein lustiges Fossil. Von niemandem ausgegraben. Die Pflanzen aber blieben. Sie waren vor uns da, und sie würden uns überleben. Noch war dieser Ort nur eine schrumpfende Stadt, die Produktion längst eingestellt, aber die wahren Produzenten waren schon am Werk. Regie: Musik, Puhdys, "Wilder Frieden", Track 9 Autorin: Restbestände alter Überzeugungen tauchen in komischer Verzerrung auf, und Frau Lohmark ist der alten DDR stärker verhaftet, als ihr lieb ist. Ging es bei Ruge, Honigmann, Klüssendorf und Schweska um die Fiktionalisierung autobiographischer Erfahrungen, dreht sich bei Schalansky, Rávic Strubel und Peggy Mädler das Verhältnis um. Sie kennen die DDR aus ihrer Kindheit und haben nur eine Ahnung davon, was ihre Eltern umtrieb. In ihrem vielschichtigen Debüt Legende vom Glück des Menschen nimmt Peggy Mädler einen Fotoband als Ausgangspunkt. Das Buch wurde dem Großvater 1968 als Dank "für seine langjährige Mitarbeit im volkseigenen Betrieb" überreicht. Es hieß tatsächlich Vom Glück des Menschen, zusammen gestellt von Karl-Eduard von Schnitzler, dem Chefideologen des DDR-Fernsehens und Moderator der Sendung "Der schwarze Kanal". Der linientreue DDR-Bürger durfte nämlich auf eine ganz eigene Portion von Glück hoffen: auf das Glück der Freiheit, der Arbeit, des Miteinanders, des Lernens. Mädler übernimmt die Kapiteleinteilung und schaltet die Familiengeschichte ihrer Ich-Erzählerin dazwischen. Zitatorin: Ich erinnere ich mich an ein kindliches Einverständnis. Da waren die Geschichten, die ich in der Schule las, das Lied vom kleinen Trompeter, dessen Melodie ich so gern mochte. Mit seinen Freiheitsliedern hat er uns glücklich gemacht. An Häuserwänden, auf Transparenten, im Speisesaal der Schule winkten mir Losungen vom Sieg der Arbeiterklasse zu. Bemerkte ich sie überhaupt, wenn ich in der Schlange vor der Essensausgabe stand und befürchtete, es könnte wieder Flecke geben? Der Nachmittag, an dem die Lehrerin, die gerade Aufsicht hatte, mich zwang, die Fleckensuppe aufzuessen, wie lange saß ich unter dem Bild mit den lachenden Pionieren, den Wimpeln im Sommerwind, vor mir der Teller, das Würgen im Hals. Die Küchenfrauen hatten Mitleid, immer wieder steckten sie die Köpfe durch das Viereck in der Wand, schauten auf die Tränen, die auf den Aluminiumlöffel tropften, dieses Besteck, das sich so leicht verbiegen ließ. Ich wollte nicht weinen. Wenn sie die Flecke doch nicht mag, sagten die Küchenfrauen mit ihren verschmutzten Schürzen und den fettigen Locken, in der Ecke stand der eiserne Kübel für die Essensreste. Schulspeisung für alle, meine Mutter war froh darüber. Am Abend nahm sie mich in den Arm und schimpfte auf die Lehrerin. Mir scheint, die Zukunft wohnte damals in meinem Kopf wie ein Märchen, in dem am Ende alles gut ausgehen muss. Autorin: Geschickt arbeitet Peggy Mädler mit Überblendungen und legt dar, dass jede Ideologie, aber auch jede Erinnerung von Fiktionen durchsetzt ist. Als Kulturwissenschaftlerin interessiert sie sich für diese Grauzone. Nicht nur ein Roman wird erfunden, auch vermeintlich objektive Geschichtsschreibung ist nichts anderes als eine Erzählung. Selbst Fotos sind kaum mehr als Splitter der Wirklichkeit. Peggy Mädler, Antje Rávic Strubel und Judith Schalansky waren Kinder oder Jugendliche, als die Mauer fiel. Anders als Ruge, Honigmann und Klüssendorf laborieren sie weniger an Versehrungen durch die DDR. Während die ältere Generation mit der Aufarbeitung beschäftigt ist, zielt die jüngere auf etwas anderes ab. Sie ist dabei keinen Deut naiver oder unpolitischer, im Gegenteil. Die jungen Schriftstellerinnen kommen den vielen Schichten der Wirklichkeit auf die Spur, indem sie sie neu zu erfinden - und entdecken andere Wahrheiten als Romane mit einem authentischen Kern. Es gibt eine neue Schubkraft, ein anderes Erkenntnisinteresse. Regie: Musik, Puhdys, "Ikarus", Intro, Track 2 Autorin (auf Musik): Simon Urban setzt noch eins drauf. In seinem windschnittig erzählten Roman Plan D mit Krimi-Handlung ist die DDR niemals untergegangen. Statt der Wiedervereinigung gab es eine Phase der Wiederbelebung. Inzwischen telefoniert man auch im Osten mit Handys, die Minsk heißen, während auf den Straßen die Nachfolgermodelle der Trabanten, genannt Phobos, die Luft verpesten. Es regiert Egon Krenz, im Westen ist Oskar Lafontaine am Ruder. Delikate Wirtschafsverhandlungen stehen an, und plötzlich gibt es Tote. Martin Wegener von der Volkspolizei und Richard Brendel aus West-Berlin suchen nach dem Täter. Zitator: Wegener räusperte sich. "Ich nehme an, der Fall Hoffmann ist für dich erledigt?" Brendels Blick war so freundlich wie mitleidlos. "Ich weiß, was ich wissen wollte." "Also hast du gewonnen." "Ich habe eher alles verloren, Richard. Aber selbst wenn ich wollte, könnte ich einem Mann wie dir nicht erklären, was das im Einzelnen bedeutet." "Versuch es." "Im Großen und Ganzen bedeutet es: Erkenntnis." "Erkenntnis gewinnt man. Demnach kannst du nicht verloren haben." "Sagen wir es so: ich kenne meine Niederlage." "Und das reicht dir." "Ich habe es so gewollt." Brendel steckt seine Lederhandschuhhand aus. Wegener stand auf und nahm sie. "Wann fährst du wieder rüber?" Autorin: Es gab sie also, die DDR. Zitatorin: Nicht der Verfall würde diesen Ort heimsuchen, sondern die totale Verwilderung. Eine wuchernde Eingemeindung, eine friedliche Revolution. Blühende Landschaften. Regie: Musik, Günther Fischer, "Solo Sunny" 2