Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Zeitfragen 24.08.2015 Red.: Martin Hartwig Autor: Adolf Stock Die Provinz lebt Bundesweit suchen Bürger nach neuen Konzepten, um den ländlichen Raum lebenswert zu erhalten Produktion 20.8.2015 18.00 Uhr / DLRK / Studio 3 Regie: Beate Ziegs Besetzung: Sprecher Atmo 1: (Reiner Nagel) ?Jetzt geht?s los. Vielen Dank ? klatschen? Sprecher: April 2015. Rainer Nagel, Vorstand der Stiftung Baukultur, eröffnet die Tagung ?Vitale Gemeinden?. Atmo 1: okay documenta-Halle Sprecher: In der Kasseler documenta-Halle sind ganz unterschiedliche Menschen zusammengekommen. Sie alle vereint der Wille, sich dem drohenden Verfall des ländlichen Raums entgegenzustemmen. Die documenta ist alle fünf Jahre ein weltweit beachtetes Zentrum für Kunst und neue, innovative Ideen. In der documenta-Halle haben schon viele Künstler gesellschaftspolitisch Stellung bezogen. Zum Beispiel hat 2012 Thomas Bayerle seine ?betenden Automotoren? dort ausgestellt. Veränderungen fangen im Kopf an, und die documenta-Halle ist kein schlechter Ort, um über Probleme nachzudenken. Eine Teilnehmerin ist Claudia Busch von der Agrarsozialen Gesellschaft in Göttingen. Die ASG wurde 1947 gegründet, um gleich nach dem Krieg die Verbesserung der Lebensverhältnisse im ländlichen Raum zu fördern. Bis heute kümmert sie sich um strukturpolitische Fragen. Take 1: (Claudia Busch) ?Es gibt wahnsinnig engagierte Dörfer. Es gibt natürlich auch die aussterbenden Dörfer. Menschen, die im Ortskern wohnen, die werden halt älter, dann stirbt ein Ehepartner, dann wohnt einer alleine und stirbt dann auch, und irgendwann ist einfach kein Leben mehr.? Sprecher: In Kassel wurde über Konzepte und neue Wege gesprochen, die aus der Krise führen können. 25 Gemeinden, Vereine und Bürgerinitiativen haben ihre ?Best-Practice-Projekte? vorgestellt. Mutmacher in schlechten Zeiten, denn die Probleme sind wahrlich groß: Witzenhausen, eine Kleinstadt bei Kassel ist ein Beispiel. Vor der Wende gehörte die Stadt zum Zonenrandgebiet, ein eher trauriger Landstrich im Schatten des Eisernen Vorhangs. Und auch jetzt ist die Gegend Provinz pur. ?Strukturschwach? heißt das im Fachjargon. Take 2: (Veronika Kühnapfel) ?Das liegt häufig auch daran: Die Mieten sind relativ niedrig, wobei die Nebenkosten wiederum relativ hoch sind. Das ermöglicht einer gewissen sozialen Schicht, einfach dort einzuziehen, bei uns sind es noch mal die Studenten, die dann in diese Wohnungen ziehen, aber auch zunehmend immer weniger, weil die Nebenkosten immer höher werden, denn der Sanierungsrückstau macht sich einfach bemerkbar in den Nebenkosten.? Sprecher: Veronika Kühnapfel gehört zu einem noch jungen Bürgerverein, der nun gegensteuern will. Take 3: (Veronika Kühnapfel) ?Anlass waren die Leerstände in unserer Innenstadt. Mittlerweile sind wir ein Verein, und unser Anliegen ist, Bürgerinnen und Bürger einzuladen, mit uns zusammen aktiv zu werden. Wir haben uns zusammengesetzt und mal so unsere Ideen zusammengetragen und schauen, ob wir gemeinsam etwas gestalten oder anregen können.? Sprecher: Die leer stehenden Häuser sollen wieder genutzt werden. Um neue Ideen zu entwickeln, gibt es Hof- und Kamingespräche. Dort wird diskutiert, und es kommen Leute vom Fach, die bei Sanierungsfragen mit Rat und Tat zur Seite stehen. In Witzenhausen geht die Spirale vorerst noch nach unten. Die Altstadt hat einen deutlichen Sanierungsrückstau. Im benachbarten Fritzlar soll es erst gar nicht so weit kommen. Architekt Christian Gerlach führt im Auftrag der Stadt Mehrgenerationengespräche, um über die Zukunft einer sanierungsbedürftigen Immobilie möglichst früh beraten zu können und nicht erst dann, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist. Auf dem kürzlich sanierten Marktplatz ist alles neu und barrierefrei. Hier steht Berthold Menge vom Bauamt der Stadt. Die Mehrgenerationengespräche gehören zum Vitalisierungsprogramm der Stadt. Take 4: (Berthold Menge) ?Das Programm nennt sich also Vitalisierungsprogramm, mal kurz ausgedrückt, das hat also einen wesentlich längeren Namen, da geht es also darum auch, kleinere Maßnahmen zu fördern, um einfach Impulse zu geben für die Stadtentwicklung.? Atmo 3: ?Die Leute, die dort leben, leben da gerne. Sind da stolz drauf . Ist einfach ein schöner Ort. Man guckt da drauf und denkt: Ich wäre auch gern Fritzlarer ? Lachen.? Sprecher: Die Dom- und Kaiserstadt liegt knapp 30 Kilometer südwestlich von Kassel. Bonifatius hat sie im 8. Jahrhundert gegründet. Seit dem 11. Jahrhunderts ist Fritzlar eine Enklave des Bistums Mainz, katholisch in einem protestantischen Umfeld. Auf Schritt und Tritt begegnet man Mittelalter: eine gut erhaltene Stadtmauer mit 10 stattlichen Wehrtürmen, ein imposantes Rathaus, gotische Steinhäuser und viele repräsentative Fachwerkbauten. Das ist die Schokoladenseite, aber es gibt auch zweite und dritte Gassen, wo es nicht ganz so proper aussieht. In der Grebengasse ist zwar nichts zerfallen, aber die Wohnstraße besteht vor allem aus Garagentoren. Relikt einer Zeit, als das Auto immer und überall Vorrang hatte. Atmo 4: Grebengasse Sprecher: Christian Gerlach zeigt in einem Gartengrundstück auf eine altes Fachwerkhaus mit noch unverputzten Anbauten. Take 5: (Christian Gerlach) ?Das Objekt ist für eine junge Familie, die gesagt haben: Wir wollen hier nicht irgendwo in der Peripherie oder im Wohngebiet wohnen, sondern wir möchten gerne in der Stadt wohnen, gehen zu Fuß zum Markplatz oder einkaufen, und haben ein altes Haus gekauft. Wir haben sie beraten, und haben eine Hilfestellung gegeben am Anfang, und im Folgenden wurde es dann umgesetzt mit einem Architekten in der Beratung. Und wie man vom aktuellen Zustand sieht, ist es noch nicht fertig. Aber es ist begonnen, der Rohbau ist da, man kann drin wohnen, der Außenputz fehlt. Die Nachbarn könnten sagen jetzt: Wann wird?s denn mal fertig? Da muss man Geduld haben, aber es ist eine Investition in der Stadt.? Sprecher: Das Dach ist jetzt neu und gedämmt. Die Giebelwände wurden saniert, und der flache Anbau wurde aufgestockt. Hier gibt es jetzt eine großzügige Dachterrasse. Musikakzent Sprecher: Für sanierungsbedürftige Häuser wird in Fritzlar eine Hauskarte erstellt. Das klingt nach Verwaltungskram. Doch die Hauskarte, sagt Bau-Dezernent Berthold Menge, hat sich bestens bewährt. Sie ist eine Art Anamnese-Bogen, der den akuten Gesundheitszustand jeder einzelnen Immobilie beschreibt. Take 6: (Berthold Menge) ?Die Stadt geht hier in die Vorleistung. Zu dem Team gehört die Denkmalpflege. Diese Fürsorge kommt, um es auszusprechen, von oben, vom Rathaus, vom Bauamt oder von den beauftragten Büros zu den Menschen. Wenn wir aber etwas übersehen haben, wenn man sagt: Wir sind jetzt etwas außerhalb dieses Bereiches, wir sind aber daran interessiert, dann gibt es eine Einzelfallprüfung, und dann wird dieses Objekt auch noch mit in das Förderprogramm aufgenommen.? Sprecher: Alle wichtigen Daten werden auf der Hauskarte vermerkt: Flurstück, die Grundstücksgröße, Anzahl der Stockwerke. Gibt es einen Keller, einen Garten oder einen Balkon? Ist das Dach in Ordnung? In welchem Zustand ist die Fassade? Und wem gehört das Haus? Alles notwendige Informationen, wenn das Haus eine Zukunft haben soll, denn mit den Daten lässt sich gemeinsam mit den Eigentümern eine Perspektive entwickeln. Die Analyse, sagt Christian Gerlach, führt zu klaren Handlungsempfehlungen. Take 7: (Christian Gerlach) ?Das ist ein ganz entscheidender Punkt, dass man aktiv wird in einem sehr frühen Stadium. Man sollte sehr früh damit beginnen. Also eigentlich die Profilaxe noch als Überschrift nehmen, dann ist auch das Aktivpotential höher. Also, ältere Menschen sagen irgendwann: Ich habe mein Leben gelebt, mein Haus hat das Leben gelebt, und danach mögen meine Kinder entscheiden. Wenn man früher ansetzen kann, kann man mehr bewirken, der Hebel ist größer. Und ein Aspekt ist auch der Wert eines Gebäudes. Das heißt, wir schaffen ja Werte, wir erhalten Werte, und es werden Werte vernichtet. Immobilienpreise gehen in manchen Bereichen gegen null, also man hat das Leben dafür gearbeitet, aber es ist nichts mehr wert. Und wenn wir eine intakte Struktur schaffen, gut ja, das ist auch eine psychologische Komponente. Und die ist nicht zu verachten, dass man also einen Wert auch dem zugesteht und sagt, wir wollen, dass das so weitergeht. Für die nächste Generation oder für andere.? Sprecher: Ob das Bauamt, die Denkmalschutzbehörde oder der Makler, jeder bekommt sofort die notwendigen Informationen, die über das Potential einer Immobilie Auskunft gibt. Für Christian Gerlach ist das Vitalisierungsprogramm ein guter Weg, um notwendige Sanierungsmaßnahmen rechtzeitig zu beginnen. Take 8: (Christian Gerlach) ?Wir nehmen viel mehr Menschen mit, die kleine Schritte gehen und wenn man viele kleine Schritte geht, kann man trotzdem einen langen Weg zurücklegen, einen erfolgreichen Weg, und wenn man eine kleinere Maßnahme abgeschlossen hat, mit gutem Erfolg, mit überschaubaren Kosten, mit einem guten Ergebnis, dann geht man vielleicht die nächste kleine an, oder wagt sich an die größere. Von daher ganz klar das Plädoyer, keine großen Leuchtturmprojekte auszurufen, die manche übergehen, sondern die kleinen, bewusst von Bürger zu Bürger und sagen: Das gehen wir mit euch, auch wenn ihr nur ein Bad umbaut oder die Treppe verändert, dafür sind wir auch da.? Musikakzent Sprecher: Zwei Drittel der bundesdeutschen Bevölkerung lebt im ländlichen Raum. Während die Großstädte boomen und die Mieten dort explodieren, geht es auf dem Land beschaulicher zu. Zu beschaulich, könnte man sagen. Die Probleme sind groß und allgemein bekannt: Durch Landflucht und den demografischen Wandel veröden immer mehr Landstiche ? nicht nur im Osten der Republik, sondern auch im Westen, in der Oberpfalz oder in Südniederachsen. Atmo 5: Foyer documenta-Halle Sprecher: Im Foyer der Kasseler documenta-Halle steht Claudia Busch von der ?Agrarsozialen Gesellschaft?. Ihre Arbeit wird vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft unterstützt. 2013 hat das Ministerium erstmals einen bundesweiten Wettbewerb ?Kerniges Dorf? ausgeschrieben. Take 9: (Claudia Busch) ?Atmo Tagung ? ?Da geht es darum, Dörfer auszuzeichnen, die sich dem Wandel anpassen, also die überlegen: Was machen wir, damit kein Leerstand entsteht, oder wie gehen wir vielleicht auch davon weg, immer neue Neubaugebiete am Rand auszuweisen, sondern stärken das Innere, den Kern. Wie gehen wir einfach nachhaltig mit unseren Gebäuden und Flächen um? ? Atmo Tagung? Sprecher: 2013 hat die ?Stiftung Landleben? den Preis ?Kerniges Dorf? gewonnen, weil sie neue Ideen für altersgerechtes Wohnen hatte. 2011 hatten mehrere Bürgermeisteraus Orten rund um rund um Kirchheilingen die Stiftung gegründet. Wer also nach innovativen Konzepten sucht, sollte nach Nordthüringen fahren und sich von Frank Baumgarten erzählen lassen, was man mit Leidenschaft und guten Ideen so alles erreichen kann. Take 10: (Frank Baumgarten) ?Als ich das erste Mal Regionalentwicklung diskutiert habe, habe ich mal in Hessen angerufen in einer Fachschule oder Universität, und dort sagte mir der Professor: Wo sind Sie her, Nordthüringen? Ach, machen sich keine Gedanken, das wird?s in 20 Jahren nicht mehr geben. Die Dörfer werden ausgestorben sein und werden dann Wüstungen werden. Und das war so ein Motivationsschub, wo ich gesagt habe: Na, wir werden es Euch schon noch zeigen, dass wir in 20 Jahren doch noch da sind.? Sprecher: Frank Baumgarten ist Vorsitzender der ?Stiftung Landleben?. Dort arbeitet er ehrenamtlich, im Hauptberuf ist Frank Baumgarten im Vorstand einer Agrargenossenschaft. Take 11: (Frank Baumgarten) ?Mitte der 60er Jahre wurden hier die LPGen gegründet. Zum Schluss gab es hier eine LPG Pflanzenproduktion, eine LPG Tierproduktion. Und aus diesen beiden Unternehmen hat sich dann im Juli 1990 die Agrargenossenschaft als Rechtsnachfolger gegründet. Und wir haben uns halt auch als Ziel gesetzt, nicht nur wirtschaftlicher Nachfolger zu sein, sondern auch eine soziale Nachfolge zu sein. Am Anfang hat es ein bisschen brachgelegen. Und dann sitzt man halt zusammen und diskutiert über Möglichkeiten der Entwicklung, und dort haben wir dann gesagt, wir sollten uns mal Gedanken machen, wie es hier in 20 Jahren aussehen könnte, aussehen sollte. Dann haben wir so eine Entwicklungskonzeption daraus gemacht, aus der dann dieses altersgerechte Wohnen, der Bau dieser Bungalows als Plan hervorgegangen ist.? Sprecher: Rund um den alten Bahnhof von Kirchheilingen geht es lebhaft zu. Züge fahren hier schon lange nicht mehr, aber der Ort ist nicht verwaist, eine Kindergartengruppe ist unterwegs und ein junger Mann schießt Fotos von den alten Bahnanlagen. Es gibt eine Streuobstwiese mit alten Apfelsorten und einem Insektenhotel. Die alten Lagerhallen sind Veranstaltungsräume, und für den Lokschuppen interessiert sich gerade die Denkmalpflege. Auf einem Stück Gleis steht ein alter Wagon, in dem Touristen, die oft mit dem Fahrrad kommen, übernachten können. Und im alten Bahnwärterhäuschen gibt es ein kleines Museum, das über die Vergangenheit der regionalen Eisenbahn informiert. Alles in allem ein kleines Mekka für Eisenbahnfreunde und ein Mittelpunkt für die Dorfgemeinschaft. Musikakzent Sprecher: Kirchheiligen macht einen intakten Eindruck: Die Dorfschule ist frisch renoviert, 2014 wurde sie als kleinste Schule Thüringens wiedereröffnet. Gleich nebenan das öffentliche Freibad und es gibt einen Kindergarten. Im Ortskern, nicht weit von der Kirche und dem Dorfgasthaus stehen die vier kleinen Bungalows, die von der Stiftung Landleben für das altersgerechte Wohnen gebaut worden sind. Atmo 6: ?Schritte ? Dürfen wir Euch mal kurz sprechen, kurz mal stören? ? Schritte? Take 12: (Helga Walter) ?Bella. Es ist eine Dame. Damals da habe ich gesagt: Ich melde mich an. Ich geb mein altes Haus hin, denn ich bin alleine, und ich konnte es nicht mehr erhalten. Und bin dafür hierher gezogen und bin zu diesem kleinen Paradies gekommen.? Sprecher: Helga Walter wohnt in einem der kleinen Bungalows. Sie ist stolz und zufrieden mit ihrer Entscheidung. Take 13: (Helga Walter) ?Nein, ich habe es nicht bereut, nein, überhaupt nicht. Ich wollte nicht aus dem Ort raus. Wo ich hierher gezogen bin, da war es 60 Jahre, dass ich in Kirchheilingen war. Und das bindet dann auch ein bisschen, gell? Naja, und dann wollte ich auch hier bleiben, und in ein Heim wollte ich nicht. Wo sie angefangen haben mit bauen, da bin ich schon immer runter gegangen und habe geguckt, wie weit sie sind. Da habe ich mich schon entschieden, da war das noch ein Rohbau. Da habe ich immer gesagt: Das wird mein Haus. Und es ist auch mein Haus geworden.? Sprecher: Auf dem Grundstück, wo heute die Bungalows stehen, waren früher eine Schulküche und eine alte Bäckerei. Die Gemeinde hat die Grundstücke gekauft, die Gebäude abgerissen und den Bauplatz der Stiftung zur Verfügung gestellt. Take 14: (Frank Baumgarten) ?Von der Straßengrenze bis ins Bett, gibt?s keine Stufen, und sie sind mit ca. 50 Quadratmetern in einer Größe, die ein bis zwei Personen bewohnen können und bewirtschaften können. Kurze Wege und auch so gebaut, dass dann später mal, wer es denn braucht, auch eine ambulante Pflege hier bequem in Empfang nehmen kann.? Sprecher: Bella ist zurück in den Garten gelaufen. Am niedrigen Zaun zum Nachbargrundstück sitzt Inge Galla, auch sie bewohnt einen Bungalow, und auch sie ist mit ihrer Entscheidung zufrieden. Take 15: (Inge Galla) ?Vogelgezwitscher ? Ich habe es mir schön gemacht und fühle mich wohl. Nette Nachbarn, für ältere Menschen sehr praktikabel. Also wir haben auch schon gesprochen, das war ja jetzt ganz neu, und wir als Bewohner haben jetzt geguckt, wie kann man wohnen, was kann man vielleicht noch verbessern, auch mit den Räumlichkeiten und so. Und einiges ist, was vielleicht noch überdenkenswert ist und vielleicht auch zum ändern, aber wunderschön eigentlich.? Sprecher: Learning by doing, die alte Weisheit von Aristoteles, ist in Kirchheilingen Prinzip. Man blickt gemeinsam nach vorn und überlegt, was besser gemacht werden könnte. Take 16: (Inge Galla) ?Zum Beispiel das Schlafzimmer, das hatte der Herr Baumgarten auch aufgenommen für das neue Konzept, dass das Schlafzimmer vielleicht ein paar Quadratmeter größer sein könnte, gell? Aber ansonsten, ja Kritikpunkte gibt es eigentlich keine. Ich hätte mir gewünscht, dass der Abstellraum nicht Fenster hat hier zu meine Terrasse hin, sondern eine Tür. Aber wir haben dann darüber geredet, dass eigentlich das Zusammengehörigkeitsgefühl nach außen hin praktiziert werden sollte, nicht dass sich jeder nach hinten vergräbt, sondern dass man es so macht, wie wir das jetzt machen, wir setzen uns eben hier hin, machen einen kurzen Plausch und ja ?? Take 17: (Frank Baumgarten) ?Was möchte denn wirklich die ältere Generation haben? Wir haben selber Projekte entwickelt, von denen wir im jungen und mittleren Alter denken, dass sie der älteren Generation helfen. Da haben wir also diesen Häusertausch. Der zweite Punkt, dass wir Einkaufsmöglichkeiten, Einkaufstaxis anbieten, Gesundheitstaxis anbieten zu Ärzten und so weiter, aber wir immer noch der Meinung sind, dass viele Wünsche und Ideen, die die älteren Menschen haben, im Verborgenen liegen, dass wir noch gar nicht wissen, was sie denn wollen.? Sprecher: Die Stiftung Landleben will es jetzt genau wissen und demnächst die Dorfbewohner befragen. Jeder soll persönlich angesprochen werden: Was wünschst Du Dir, wenn Du mit 80 Jahren noch in Kirchheilingen bist? Musikakzent: Sprecher: Was Bürger im Alter erwarten, interessiert auch Susanne Hofmann von den Berliner Baupiloten. Sie ist nicht nur Architektin, sondern zugleich Fachfrau für Partizipation. Susanne Hoffmann hat in der Kasseler documenta-Halle vor Fachkollegen einen Vortrag gehalten, und sie hat ein Buch mit dem Titel ?Partizipation, Macht, Architektur? geschrieben, in dem die Konzepte und Ideen der Berliner Baupiloten nachzulesen sind. In ihrem Schöneberger Büro wird nichts geplant, was nicht zuvor mit den Nutzern und Investoren auf Augenhöhe besprochen wurde. Take 18: (Susanne Hofmann) ?Für uns ist gerade das Nutzerwissen unglaublich wertvoll. So können wir bedarfsgerecht planen. Frau Nowotny, Soziologin, hat mal von einem gesellschaftlich robusten Wissen gesprochen, das finde ich großartig, weil ich glaube, dass wir mit dem Nutzerwissen auch die ganzen Entwürfe und Vorstellungen, die wir in der Architektur entwickeln, erden können. Wir sind sehr neugierig, wir sind gespannt, was die Nutzer der zukünftigen Architektur darüber denken, und haben Methoden entwickelt, um an deren Nutzerwissen ranzukommen.? Sprecher: Lange bevor Bauarbeiter und Handwerker auf die Baustelle kommen, werden die künftigen Nutzer nach ihren Wünschen befragt. In Hamburg, Wolfsburg oder Berlin wurden erfolgreich viele Kindergärten und Schulen saniert. In Dötlingen, einer kleinen Gemeinde bei Oldenburg, geht es nun um altersgerechtes Wohnen. Wobei die Erkundung der Bedürfnisse der Nutzer durchaus eine Kunst ist, die Lebenserfahrung und Sensibilität voraussetzt, zumal das jeweilige Fachwissen in der Diskussion seinen legitimen Platz behalten soll. Take 19: (Susanne Hofmann) ?Die Kommunikation über und durch Atmosphären halten wir für sehr wichtig. Gerade unser Hauptwerkzeug, nämlich Pläne, Grundrisse, Schnitte und so weiter, ist für manche Laien völlig ungewohnt und unlesbar, und deswegen sind wir bemüht, Kommunikationsebenen zu schaffen, wo wir auf gleicher Ebene stehen. Ob ein Raum luftig, leicht, mit großer Aussicht, mit haptisch angenehmen Materialien und so weiter ausgestattet ist, darüber können wir gerne reden, wie wir auch übers Wetter reden können und sofort wissen: Aha, so fühlt es sich an.? Sprecher: Dötlingen engagiert sich. Die Gemeinde hat schon mehrfach Preise bei dem Wettbewerb ?Unser Dorf hat Zukunft? gewonnen. Jetzt soll ein 10 Hektar großes Grundstück in unmittelbarer Nähe der Schule und des Kindergartens bebaut werden. Ideale Voraussetzungen für ein nachbarschaftliches Zusammenleben verschiedener Generationen. Take 20: (Susanne Hofmann) ?Man wollte nicht eine anonyme, sterile Architektur, sondern wichtig war dabei ein nachbarschaftliches Zusammenleben, das wussten wir schon vorab, aus einem weiteren Partizipationsprozess eines befreundeten Büros. Und da war ziemlich schnell klar, dass es ein lockeres Wohnen im Grünen sein sollte. Der nächste Schritt war dann zu überlegen, okay, was würden wir gerne gemeinschaftlich tun, was bleibt lieber bei uns im Privaten? Und das war sehr interessant zu sehen, dass es dann da überraschende Konstellationen gibt, dass man sagt: Okay, ich brauch jetzt im Alter keine große Küche mehr, ich mach sie klein, aber ich koche sehr gerne, dann lass uns doch eine gemeinschaftliche größere Küche machen, in der dann ein größerer Kreis von Nachbarn gemeinsam essen kann.? Sprecher: Es gab viele Vorschläge und Ideen, wie die Häuser aussehen könnten, aber um realistisch zu bleiben, musste bei der Planung auch über die Kosten gesprochen werden. Take 21: (Susanne Hofmann) ?Sobald man gemerkt hat, okay, das Gemeinschaftliche, das kostet ja auch ziemlich viel, weil die Idee war diese großen Gemeinschafträume und so weiter, die sind natürlich dann sehr schnell konzentriert worden auf das Wesentliche. Und damit hatten wir es recht einfach als Architekten, direkt auf deren Bedürfnisse schon einzugehen und realistisch gleichzeitig zu planen, für den richtigen Geldbeutel.? Sprecher: Die Baupiloten planen maßgeschneiderte Wohntypen. Sie heißen: ?Familie Kombi?, ?Mini Familie?, ?Senioren-WG?, ?Allein Kompakt? oder auch ?Paar Kompakt?. Zusätzlich wird es ein Nachbarschaftshaus mit Dorfküche, Gästezimmern, Veranstaltungsräumen, und Pflegeeinrichtung geben. In Dötlingen erlebt das Dorfgemeinschaftshaus eine zeitgemäße Renaissance. Musikakzent Sprecher: Um neue Wege zu gehen, muss altes Denken überwunden werden. Es braucht aktive Menschen, Bürger und Verwaltungen, die klare Ziele entwickeln und Tatkraft beweisen. Wachstum ist für viele ländliche Regionen keine Option mehr: Ein neues Gewerbegebiet, Grundstücke für Einfamilienhäuser, das sind angesichts von Leerstand und Bevölkerungsschwund oft nur noch hilflose Konzepte von gestern, die Probleme nicht lösen, sondern verstärken. Wenn die Ortsmitte verfällt, wenn Läden schließen, die Infrastruktur wegbricht und es keinen Arzt mehr gibt, dann ist Handlungsbedarf. Veronika Kühnapfel aus Witzenhausen fordert, dass sich Politiker und Bürger auf Augenhöhe begegnen. Sie möchte einen öffentlichen Dialog, der nicht nur im Rathaus, sondern auch auf dem Marktplatz stattfindet. Take 22: (Veronika Kühnapfel) ?Wir müssen alle wieder aus unseren Wohnungen und Häusern in die Öffentlichkeit treten. Wir haben uns alle auch zurückgezogen, und die Ideen sind da, und der Dialog ist zu führen auch mit den Politikern, und wir wünschen uns da eine gleichberechtigte Ebene. Wir sind nicht nur Bürger, wir sind auch Fachleute, wir wissen also, wovon wir sprechen, und wir möchten darin auch gewertschätzt und respektiert werden. Nur weil man es ehrenamtlich macht, macht man es nicht unprofessionell.? Sprecher: Die Politik muss immer öfter mit selbstbewussten Bürgern rechnen. In manchen Gemeinden klappt die Zusammenarbeit zwischen Kommunen und Bürgern schon recht gut. An anderen Orten ist der alte Amtsschimmel noch zuhause. Atmo 7: Foyer documenta-Halle Sprecher: In die Kasseler documenta-Halle sind nur wenige Vertreter aus der nordhessischen Region gekommen. Eine Enttäuschung für Reiner Nagel, den Leiter der Stiftung Baukultur, der die Tagung ?Vitale Gemeinden? ja ganz bewusst in die Provinz gebracht hatte, dorthin, wo die Probleme sind. Für Architekt Christian Gerlach war die Tagung ein Gewinn, er hat viele neue Ideen mit nach Fritzlar genommen. Take 23: (Christian Gerlach) ?Die Stiftung Baukultur hat von ihrer Grundausstattung das Potential, sehr viel zu bewegen, also sei es in der Forschung, sei es durch Workshops oder Lehrgänge. Es kann unterschiedliche Motivationen geben, warum man da nicht hingeht, aber ich kann nur sagen, ich habe ja alle Vorträge mitbekommen, ich denke es waren unglaublich gute Ideen dabei, ich habe da sehr viel mitnehmen dürfen, und würde auch als Empfehlung geben, dass die Stiftung Baukultur das noch weiter bewirbt, intensiver.? Sprecher: Wo stehen wir? Ist das Glas halbvoll oder halbleer? Egal, Reiner Nagel blickt nach vorn und zieht mit seinen Baukultur-Werkstätten durchs Land. Im September steht Frankfurt am Main auf seiner Agenda, dann wird noch einmal über innovative Planung gesprochen: Welche Fördermittel brauchen die Gemeinden? Welche personellen und finanziellen Ressourcen sind notwendig? Wie lässt sich Bürgerbeteiligung organisieren? Die Ergebnisse der Baukultur-Werkstätten werden Teil des Baukulturberichts, der im Sommer 2016 dem Bundeskabinett und Parlament vorliegen soll. Die praktische Umsetzung der Vorschläge ist die Aufgabe der Kommunalpolitiker, die mit ihren Bürgern den Dialog suchen und für gute Rahmenbedingungen sorgen müssen, damit der ländliche Raum eine Zukunft hat. Musikakzent: Take 2 4: (Christian Gerlach) ?Was wir in Fritzlar gemacht haben, oder geschafft haben, kann ich nie eins zu eins in eine andere Stadt übertragen. Das ist eine Ansammlung von Zutaten, ich denke von guten Zutaten, und vielleicht gibt es noch ein paar mehr. Das Rezept ist immer ein anderes, wie mache ich das, wie mache ich Bürgerbeteiligung, wie gehe ich vor, also ein Stückchen vor dem Zeitgeist zu sein, bevor wir erkennen, dass in einem Straßenzug durchschnittlich die Menschen 75 sind, und in den nächsten 10 Jahren ein Wechsel stattfindet, dann stirbt jemand in einem Haus, und es bleibt dann leer.? Sprecher: Auch Kirchheilingen kann für andere Kommunen ein Vorbild sein, trotz der regionalen Probleme, die Frank Baumgarten von der Stiftung Landleben sieht. Take 25: (Frank Baumgarten) ?Wir wissen, dass wir 30 Prozent der Bevölkerung verlieren werden, das sagen uns die Demografen, aber wir wollen dann zu denen gehören, die vielleicht nur 10 Prozent verlieren, und versuchen halt zu sagen, wir nehmen auch die kleinen Orte mit, wir versuchen eine Gemeinschaft zu sein, weil es auch in den kleineren Orten sehr lebenswert sein kann, und weil es Menschen gibt, die dort her stammen und das nicht einfach platt machen kann.? Musikakzent: Sprecher: Auf der Tagung ?Vitale Gemeinden? haben 25 Gemeinden ihre Projekte vorgestellt. Jedes Projekt ist auch ein Mutmacher, der zur Nachahmung einlädt. Schon gibt es unzählige Initiativen in ganz Deutschland, die den Status quo nicht akzeptieren wollen. Take 26: (Frank Baumgarten) ?Wichtig ist, dass man das Ausprobiert, dass man sagt: Ich will Veränderungen probieren. Man muss in den Köpfen der Leute ankommen. Vielleicht können wir uns ja auch eine kleine Parallelwelt auf dem Dorf aufbauen, wenn sich schon kaum noch einer um uns kümmert.? Links: www.bundesstiftung-baukultur.de www.stiftung-landleben.de www.baupiloten.com www.gerlach-architekten.com Literatur: Susanne Hofmann: Partizipation Macht Architektur. Die Baupiloten ? Methode und Projekte. Berlin 2014. Jovis Verlag. 256 Seiten. 29.80 Euro 1