Deutschlandradio Kultur - Zeitreisen - 23. April 2014 O-Ton 1 (ca. 10 Sek.) Barack Obama, Pressekonferenz Uhm...thank you so much. I wanted to get everyone together on the first day to welcome you to the White House... Regie: Blende, Ton unter Text weiter Sprecherin Washington D.C., 21. Januar 2009. An seinem ersten Tag im Amt hält Barack Obama eine Pressekonferenz. Vor den versammelten Pressevertreter kündigt der frisch gewählte Präsident an, was er eine "Neue Ära der Offenheit" nennt. (15 Sek.) O-Ton 2 (10 Sek.) Barack Obama, Pressekonferenz The way to make Government repsonsible is to hold it accountable. And the way make Government accountable is to hold it transparent... Regie: Blende, Ton unter Text weiter Sprecher Wer eine Regierung zur Verantwortung ziehen wolle, der müsse sie transparent machen. Es habe in der Vergangenheit zu viel Geheimnistuerei gegeben in Washington. Das sei nun vorbei, so Obama, der unter anderem neue Regeln für den Umgang mit Lobbyismus ankündigt. Ab jetzt sei Offenheit der neue Standard. Und neben der Befolgung der Gesetze sei solle Transparenz der Prüfstein seiner Präsidentschaft sein. (30 Sek.) O-Ton 3 (10 Sek.) Barack Obama, Pressekonferenz Let me say it as simply as I can: Transparency and the rule of law will be the touchstones of this presidency. (1:15) Regie: Musik, Glasharfe, evtl. schon unter O-Ton aufblenden, kurz freistehen lassen, dann leise unter Text Sprecherin Transparenz - ein Schlagwort, ohne das seit einigen Jahren kaum eine politische oder gesellschaftliche Debatte mehr auskommt. Ob im Weißen Haus oder im Deutschen Bundestag...(15 Sek.) O-Ton 4 (10 Sek.) Lars Klingbeil (SPD), Bundestagsdebatte (Applaus)...Wir haben damals die Türen des Staates aufgestoßen. Wir haben gesagt, wir brauchen mehr Transparenz, wir brauchen mehr Offenheit in diesem Land... Regie: Blende, dann unter Text weg Sprecher ...ob in Werbebroschüren großer Wirtschaftskonzerne oder auf Flugblättern von Bürgerinitiativen. Transparenz wird gewünscht, Transparenz wird gefordert, Transparenz wird versprochen. (15 Sek.) (1:55) Sprecherin Es sind die technischen Möglichkeiten des Internets, die der Debatte um Transparenz in letzter Zeit besonderen Nachdruck verleihen. Im Guten wie im Schlechten. Das globale Netz erlaubt es, Daten, Dokumente und Kommunikation von prinzipiell jedem auszuforschen. Und es erlaubt, sie für die ganze Welt öffentlich zu machen. (20 Sek.) Sprecher Ob Whistleblower-Plattformen wie WikiLeaks oder Geheimdienste wie die NSA. Beide setzen auf ihre Art auf Transparenz. Das macht das Thema gerade jetzt so drängend. Doch so aktuell der Begriff auch sein mag - die Geschichte der Transparenz ist überaus lang. (20 Sek.) Regie: Musik Glasharfe, etwas länger als vorher frei stehen lassen, dann unter Text stehen lassen (02:35) Zitator Zeus, Prometheus und Athene schufen etwas: Zeus einen Stier, Prometheus einen Menschen und Athene ein Haus. (10 Sek.) Sprecherin So erzählt vor 2700 Jahren der griechische Dichter Äsop in einer seiner Fabeln von einer Art Kreativitätswettbewerb auf dem Olymp. (10 Sek.) Zitator Sie wählten Momos als Schiedsrichter aus. (5 Sek.) (3:00) Sprecher Momos - der Gott des Spottes und des Tadels. Er kritisiert die drei anderen. Zeus hätte dem Stier besser die Augen auf die Hörner gesetzt, damit der sehen könne, wohin er stoße. Athene hätte ihr Haus mit Rädern versehen sollen, um vor unliebsamen Nachbarn fliehen zu können. Und Prometheus...(20 Sek.) (03:20) Zitator ...Prometheus habe ebenfalls etwas falsch gemacht. Weil er das Gehirn des Menschen nicht außen an den Körper gehängt habe, damit die Übeltäter nicht verborgen blieben - sondern alles, was jeder einzelne im Sinn habe, sichtbar sei. (20 Sek.) Sprecherin In einer späteren Fassung wird die Fabel leicht variiert. In ihr beschwert sich Momos bei Prometheus...(10 Sek.) Zitator ...dass er den Menschen nicht ein Fenster in die Brust gebaut hat, so dass man überprüfen könne, ob er die Wahrheit sagt. (10 Sek.) (4:00) O-Ton 5 (10 Sek.) Manfred Schneider Also, im Grunde genommen eine Wahrheitsmaschine, noch auf Basis der antiken Technologie. Nämlich dass man halt das Herzinnere beobachtet. Sprecher Manfred Schneider, emeritierter Professor für Literaturwissenschaft an der Universität Bochum. In seinem Buch "Transparenztraum" hat er sich mit der Geschichte der Idee der Transparenz auseinandergesetzt. (15 Sek.) (04:25) O-Ton 6 (15 Sek.) Manfred Schneider Wir sind ja heute weiter und glauben nicht mehr, dass der Ort der Wahrheit das Herz ist, sondern woanders. Aber das ist die erste Erzählung, die im Laufe der Geschichte immer wieder zitiert wird. Regie: Musik Glasharfe, unter Ton wieder einblenden, kurz frei, dann unter Text langsam weg Sprecherin Momos wird für seine Frechheit gegenüber den Göttern vom Olymp verbannt und hinunter auf die Erde gestürzt. Und hat dadurch, so könnte man schließen, die Idee der totalen Transparenz unter die Menschen gebracht. Ihre erste großangelegte Umsetzung erfuhr diese Idee im Hochmittelalter. (20 Sek.) (5:00) O-Ton 7 (50 Sek.) Manfred Schneider 1215 ist ja in ganz Europa flächendeckend die Institution der Beichte eingeführt worden und das war ein (...) für die abendländische Kultur folgenreiches Instrument, das dazu dienen sollte eben die Grundfrage von Wahrheit und Lüge gleichsam vor den Ohren Gottes zu regeln. Der Beichtende ist also (...) gehalten, eben die Wahrheit seines Herzens, seiner Seele, seiner Vergehen zu offenbaren und interessanterweise ist ja diese Form der Beichte, die lateinisch ,confessio' heißt, auch das Modell der Verhörpraktiken im späteren Inquisitionsprozess geworden. Also wir haben da eine Linie (...) der institutionellen Beobachtung und Überwachung, die halt für die begrenzten Zwecke des Seelenheils bzw. der Rechtsprechung schon so etwas wie ein Momos-Fenster installiert hat. Sprecherin Die Forderung nach Transparenz, der Anspruch, restlos die Wahrheit zu erfahren, steht immer im Dienste einer höheren Idee. Das ist eine Struktur, die sich durch die ganze Geschichte des Transparenzdenkens zieht. Von der Institution der Beichte bis zu den Spähprogrammen heutiger Geheimdienste.(20 Sek.) O-Ton 8 (35 Sek.) Manfred Schneider Wenn wir heute blicken eben in diese Überwachungstechnologie und vor allen Dingen auch in die Überwachungsüberzeugungen - man muss ja sehen, dass die Leute der NSA von ihrem Tun restlos überzeugt sind oder von der Notwendigkeit ihres Tuns, dass das nicht nur dem Heil ihres Landes, sondern dem Heil der gesamten Welt dient -, so liegt darin eben auch noch so ein bestimmter religiöser Zug, das kann man nicht anders sagen, wie halt auch überhaupt die amerikanische Politik diesen Zug nie ganz abgelegt hat. (6:45) Sprecherin In der frühen Neuzeit wird die Idee der Transparenz säkularisiert. Das 17. Jahrhundert war die Zeit der Neubegründung der Wissenschaften im Geiste des Humanismus. Für die Philosophie nimmt sich der junge Franzose René Descartes die Aufgabe vor, das Denken auf eine neue Grundlage zu stellen. (15 Sek.) O-Ton 9 (1 Min. 30 Sek.) Manfred Schneider Sein Gedanke ist, dass die Philosophie ganz von vorne beginnen müsse und diese Notwendigkeit völlig von vorne anzufangen hat dann dazu geführt, dass er einen Traum geträumt hat, der in seiner eigenen intellektuellen Biografie eine ganz große bedeutende Rolle gespielt hat und den er selber aufgezeichnet hat (...) und in dem die Vorstellung, das nächtliche Dunkel mit der Kraft der eigenen Augen zu durchdringen, also so eine Art von Sprühleuchten der eigenen Augen, eine große Rolle spielt. Man kann das freudianisch deuten als Wunschtraum. Man kann es aber eben auch in den Kontext seiner Biografie setzen, dass derjenige, der nun neu beginnt eben, die Nacht des Unwissens zu durchdringen versucht und neu anzusetzen bemüht ist. Und dieser berühmte Neuanfang der Geschichte ist dann auch, man könnte sagen: eine Art von In-Bewegung-Setzen einer sprachlichen Maschinerie, in der es eben unablässig um Licht, um Durchleuchtung, Durchleuchtung des eigenen Bewusstseins, Durchleuchtung der Begriffe, Durchleuchtung des Denkens geht. (...) Und so ist an dieser Stelle zum ersten Mal, in ganz folgenreicher Weise, das Denken selbst als eine Tätigkeit des Transparent-Machens, des Denkens selber, aber eben in der Folge auch der Welt postuliert worden. (8:30) Sprecherin Doch schon früher war die Durchsichtigkeit nicht nur mit Hoffnungen verbunden, sondern auch mit Angst. Der Transparenzwahn ging um. Und zwar, wenn man den Zeitgenossen Glauben schenken darf, vor allem unter Melancholikern. Immer wieder finden sich Berichte von Menschen, die unter der Wahnvorstellung leiden, ihr Körper wäre ganz aus Glas. (20 Sek.) Sprecher Neben der Zerbrechlichkeit war es auch die Durchsichtigkeit ihrer gläsernen Körper, die die Melancholiker schreckte. In einer Komödie lässt der englische Autor Thomas Tomkins 1606 eine Figur mit solchen Wahnvorstellungen auftreten. (15 Sek.) Regie: Musik Glasharfe, unter Sprecherin hochziehen, dann unter Zitator stehen lassen Zitator Kaum war ich zur Türe herausgetreten, da hielt ich meine Hände vors Gesicht, um meine Augen vor den eindringenden Lichtstrahlen abzuschirmen. Aber als ich mich schützte, da sah ich die Sonne dennoch ganz klar, in freier Sicht durch diese Handflächen hindurch. Kein Wunder, denn als ich meine Finger anschaute, sah ich, dass sich meine Finger in Glas verwandelt hatten. Und als ich meine Brust freimachte, war meine Brust wie ein Fenster, durch das ich ganz klar mein Herz erblickte, wo ich in zwei Höhlen meine Gedanken erkennen konnte, die dort wild durcheinander in großen Massen wohnten. (40 Sek.) (09:25) Regie: Musik Glasharfe, wieder hoch, einen Moment stehen lassen, dann Blende und unter folgendem Text weg Sprecherin Den Philosophen Jean-Jacques Rousseau hätte diese Vorstellung nicht erschrecken können. Das helle Tageslicht, vor dem Tomkins Melancholiker sich schützen will, ist zu seiner Zeit bereits zur Zentral-Metapher der Aufklärung und ihres Drangs nach Wissen und Wahrheit geworden. Und Rousseau macht das Momos-Fenster in seiner Brust ganz weit auf. Die ,confessio', die die Kirche noch mit der Drohung vom Fegefeuer erwirken musste, leistet er freiwillig. (35 Sek.) Zitator Ich will vor meinesgleichen einen Menschen in aller Wahrheit der Natur zeigen, und dieser Mensch werde ich sein. (10 Sek.) Sprecherin Mit diesen Worten beginnt seine als "Confessions" betitelte Autobiografie, 1769 vollendet, allerdings erst 1782, vier Jahre nach seinem Tod veröffentlicht. (10 Sek.) Zitator (...) ich werde vor den höchsten Richter treten, das Buch in der Hand und laut werde ich sprechen: "Hier ist, was ich geschaffen, was ich gedacht, was ich gewesen. Mit gleichem Freimut habe ich das Gute und das Böse gesagt. Vom Bösen habe ich nichts verschwiegen, dem Guten nichts hinzugefügt. (20 Sek.) (10:30) Sprecher Rousseau verordnet sich radikale Transparenz. Und er überträgt die Forderung nach Durchsichtigkeit auch auf die Sprache. Mit der Sprache, so befand der Philosoph, komme die Täuschung, die Falschheit, die Lüge in die Welt. Und deshalb...(15 Sek.) O-Ton 10 (55 Sek.) Manfred Schneider ...überlegt sich Rousseau wie durch eine geschickte Spracherziehung dieses Übel, wenn nicht abgewendet, so doch reduziert werden kann. Und der Gedanke ist einfach der (...) dass Kinder nicht mit dem gesamten Lexikon einer Sprache zu versehen, sondern eben ausgewählten Zeichen, die sich ausschließlich auf konkrete, reale Dinge selber beziehen zu versehen. Und dafür zu sorgen, dass sie eben nicht Wörter erlernen, die sie dann mit ihrer eigenen Vorstellung erfüllen müssen. Und das ist ja der Gedanke (...) die Wörter durchsichtig zu machen auf die Dinge, das Wort ist nur das Wort, Erde, Sonne, Wasser, ist jeweils durchsichtig auf die Dinge, die diese Worte bezeichnen und bleiben da auf diese Weise in einem metaphorischen Sinne transparent. (11:25) Sprecher Jean-Jacques Rousseau ist vielleicht bis heute der einflussreichste Denker der Transparenz. Mit seinen Ideen wurde er zum Vordenker der französischen Revolution, auch was ihre unrühmlichen, blutigen Auswüchse in den Jahren 1792 bis 1794 betrifft. (15 Sek.) Sprecherin Die Jakobiner, die in dieser Zeit regierten, waren gleichsam in seine Schule gegangen. Sie teilten Rousseaus Kritik an allem Unechten, Maskenhaften, Theaterhaften der Gesellschaft und seine Forderung nach radikaler Offenheit. Die Demaskierung wurde zur Leitmetapher ihrer Herrschaft. (20 Sek.) Regie: Im Zitat die einzelnen Formulierungen dicht überlappend aneinander schneiden, eventuell Hall Zitator Die Maske lüften! Die Maske herunterreißen! Die Maske zerstören! Die Maske zerschmettern! (5 Sek.) (12:10) Sprecherin ...so lauteten die Phrasen, die man damals im neugebildeten Parlament ständig hören konnte. Eine legitime Forderung angesichts der gerade erst beendeten Feudalherrschaft mit ihren erstarrten Konventionen und Ritualen. Dieses Schauspiel sollte nun endlich vorbei sein! (20 Sek.) Sprecher Allerdings zeigt sich hier auch schon, wie schnell der Anspruch auf totalen Durchblick in Terror umkippen kann. Aus Furcht vor Konterrevolution herrschte unter den Jakobinern ein Klima des permanenten Verdachts. (15 Sek.) O-Ton 11 (25 Sek.) Manfred Schneider Und in einer Lage in der das Politische im Wesentlichen von dem Verdacht, dass der Andere Interessen verfolgt, die der politischen Linie nicht entsprechen, wird eben jedes mögliche noch so zufällige Zeichen zu einer Bestätigung des Verdachts und diese fürchterliche "Loi des Suspects" die Robespierre in Kraft gesetzt hat... (13:10) Sprecherin ...das "Gesetz über den Verdacht", das genau regelte, was in welcher Situation als verdächtig zu gelten hat, das mehrere zehntausend Exekutionen zur Folge hatte. Alle natürlich im Namen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Wie in der Geschichte des Transparenzdenkens überhaupt einiges aus heutiger Sicht Zweifelhafte mit wohlmeinenden Ideen gerechtfertigt wurde. (25 Sek.) Sprecher So zum Beispiel bei dem britischen Philosophen Jeremy Bentham und seinem Panoptikum. Dieses von ihm konzipierte Modell-Gefängnis gruppiert die Zellen so, dass von einem zentral gelegenen Überwachungsturm aus jeder Insasse prinzipiell ständig beobachtet werden kann. Dahinter steckt die Idee...(20 Sek.) O-Ton 12 (25 Sek.) Manfred Schneider ...dass Subjekte, die unter Beobachtung stehen (...) ihre moralischen Kräfte mobilisieren. Wenn ich nicht gesehen werde, dann bin ich halt dieses halbe Tier, das der Mensch ist und verhalte mich nicht den gesellschaftlichen Regeln entsprechend. Wenn ich aber gesehen werde und unter dem Risiko der Beschämung stehe, dann verhalte ich mich adäquat. (14:20) Sprecherin Durch die ständige Androhung der möglichen Bestrafung unter totaler Transparenz verhalten sich die Insassen von vornherein regelkonform. Heute erfüllt etwa die ständige und bewusst nicht verborgene Präsenz von Überwachungskameras im öffentlichen Raum die gleiche Funktion. Big brother is watching you. (25 Sek.) (14:45) Regie: Musik Glasharfe Sprecherin Doch bleiben wir vorerst im 19. Jahrhundert, wo die Idee der Transparenz ihren sozialutopischen Reiz längst nicht eingebüßt hat. Beispielsweise im Bereich der Architektur. 1851, zur Weltausstellung in London, wurde im dortigen Hyde Park ein Gebäude errichtet, das sofort zur Sensation wurde. Der Crystal Palace. (25 Sek.) Sprecher 563 Meter lang, 117 Meter breit, am höchsten Punkt 40 Meter hoch - und statt aus Stein komplett aus Stahl und Glas gebaut. Der Crystal Palace markiert eine Epochenwende in der Architektur. Konstruiert hatte ihn ein Mann namens Joseph Paxton, ein Landschaftsgärtner und Gartenhausarchitekt. (25 Sek.) (15:45) O-Ton 13 (1 Min. 05 Sek.) Manfred Schneider Und man könnte vielleicht ironisch sagen, dass diese Gartenbautechnik, die mit Stahl- und Glaselementen operierte, die dann eben auch so hervorragende Zuchtergebnisse gebracht haben, dass also Paxton eben auch bestimmte seltene Seerosen züchten konnte, dass man sich vorgestellt hat (...) dass also ein solches Milieu aus Glas und Stahl auch ein optimales Biotop für die Gesellschaft sein könnte. Und natürlich gibt es auch starke Motive, die einfach nur getragen waren von dem Ehrgeiz und dem ästhetischen Willen der Architekten, dass nun eben Glas und Stahl zu den beliebten und meist genutzten Baumaterialien avancierte, für die fortschrittlichen Architekten. Aber wenn man in den Schriften dieser Leute liest, von Bruno Taut, Mies van der Rohe, Walter Gropius, dann sieht man, dass eben nicht nur eine reine architektonische, ästhetische Fantasie ist, sondern dass sie immer verbunden ist mit der Vorstellung des guten Lebens. (16:50) Sprecherin Doch nicht alle teilen diese Vorstellung. Während zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Kaufhäusern, Arkaden, Bahnhöfen und Bädern bereits Glasdächer von einer hoffnungsvollen, lichtdurchfluteten Zukunft künden, macht manchem der Gedanke an die Duchsichtigkeit Angst. (20 Sek.) Sprecher In der Sowjetunion schreibt der Autor Jewgenij Samjatin 1920 einen Roman namens "Wir" - ein Buch, das später George Orwell bei seinem Roman "1984" beeinflussen sollte. Samjatin beschreibt darin eine Welt, in der alles aus Glas ist. (15 Sek.) O-Ton 14 (35 Sek.) Manfred Schneider Also Häuser, Wände, Straßen, alle technischen Geräte, alles ist aus Glas. (...) Und in dieser Glaswelt bewegen sich nun Menschen, die vollständig unter Beobachtung stehen (...) und die aber (...) eben eine dystopische Welt ist, in der sie zwar beobachtet werden, aber selber nicht teilhaben an dem politischen Prozess, in dem Macht ausgeübt wird, und die Gesellschaft organisiert wird. (...) Und damit hat Samjatin ziemlich früh, Anfang der 20er Jahre bereits, diese Transparenzidee der neuen sowjetischen Gesellschaft in Frage gestellt. (18:00) Regie: Musik Glasharfe Sprecherin Das Glas der Transparenz bekommt Risse. Nicht nur in Russland, sondern auch im Deutschland der Weimarer Republik. Philosophen und Kulturtheoretiker wie Theodor W. Adorno, Walter Benjamin oder Siegfried Kracauer beginnen über die Widersprüche der Transparenz nachzudenken. (20 Sek.) O-Ton 15 (15 Sek.) Eric Jarosinski Das heißt vor allem, dieser Anspruch von dem Unvermittelten oder Unmittelbarkeit von Transparenz, als hätte man sehr leichten Zugang. Aber zugleich ist da immer eine Grenze. Sprecher ...erklärt der amerikanische Germanist Eric Jarosinski von der University of Pennsylvania. Er beschäftigt sich in seiner Forschung mit den Metaphern der Transparenz in der deutschen Kultur. Zum Beispiel der des Schaufensters. Der Schriftsteller Joseph Roth hat ihm 1923 eine Glosse gewidmet. "Die Philosophie des Schaufensters". (25 Sek.) (19:00) Zitator Hinter dem edlen, sacht gewölbten Scheibenglas breitete die verständige Hand des Händlers die köstlichen Dinge aus, die in irdischen Paradiesen leben und wachsen: die zart-rosa getönten Schinken, gebettet in breite Rahmen aus weißlichem Speck, die prallen Würste, den leuchtenden Lachs, die fetten Käse in kostbaren silberpapierenen Gewändern...(25 Sek.) Regie: Blende, läuft dann unter Text weiter, vollst. Text s. Anhang O-Ton 16 (30 Sek.) Eric Jarosinski Also, ein Versprechen, das heißt, von den Waren, die man so leicht besitzen könnte. Vielleicht auch worauf man ein gutes Recht hat. (...) Andererseits ist es ja auch deutlich, dass man ausgeschlossen wird, wenn man das nötige Kleingeld nicht hat. Und dass diese unsichtbare Grenze eine ganz krasse harte Grenze ist. Und eine Grenze, die vor allem von der Gesellschaft selber unterstützt wird oder verteidigt wird. Zitator Dünn und spröde ist eine gläserne Scheibe und ein Faustschlag könnte sie zerschmettern. Dennoch lähmt sie täglich zehntausend gierige Fäuste und verwahrt die Güter, die man ihr anvertraut, besser als eine Mauer. (...) Denn zu den Materien, die diese Welt beherrschen, gehört das Glas, das die Menschen scheidet als solche, die vor und andere, die hinter den Fenstern leben. (25 Sek.) (20:20) Regie: Musik Glasharfe, kurz frei, dann Blende O-Ton 17 (10 Sek.) Audioguide Reichstagskuppel Herzlich willkommen im Reichstagsgebäude, das seit dem 19. April 1999 Sitz des deutschen Bundestages ist. Bitte gehen Sie jetzt die 230 Meter lange Rampe hinauf... Regie: Blende, unter Text leise weiter Sprecherin Durchsichtigkeit ist nicht automatisch schon Zugänglichkeit. Auch wenn die Glasarchitektur genau das suggerieren soll - in Kaufhäusern, Bankentürmen und in Regierungsgebäuden wie dem Berliner Reichstag mit seiner gläsernen Kuppel. (15 Sek.) (20:55) O-Ton 18 (10 Sek.) Audioguide Reichstagskuppel Die Transparenz der Glaskonstruktion soll zugleich auf die Transparenz unseres demokratischen Staatswesens hinweisen. Regie: Blende, unter Text leise weiter O-Ton 19 (5 Sek.) Eric Jarosinski Ich habe fast das Gefühl, dass Transparenz eine Art Gründungsmythos geworden ist von der Berliner Republik. Sprecherin Die Kuppel auf dem alten Reichstagsgebäude steht für einen Neubeginn, jenseits der Monumentalität der wilhelminischen Architektur. Und sie steht für direkte Partizipation der Bürger an der Politik. (15 Sek.) O-Ton 20 (30 Sek.) Eric Jarosinski Aber wie jeder weiß, wenn man in der Reichstagskuppel steht, versteht man kein Wort mehr von der neuen Gesetzgebung, die gerade debattiert wird unten. (...) Was man hat, ist aber das Gefühl, dass man irgendwie der Politik etwas näher gekommen ist. Eine Atmosphäre wird geschaffen, aber ich habe das Gefühl, dass das eher mit Glauben als mit Wissen zu tun hat. Mit Mythos und nicht mit Rationalität an sich. (21:55) Sprecherin Transparenz als rhetorischer Trick, als PR-Masche. ,Sieh nur, wir zeigen dir alles! Uns kannst Du wirklich vertrauen, wir haben nichts zu verbergen! Würden wir dir sonst etwa erlauben, so genau hinzuschauen?' (15 Sek.) O-Ton 21 (25 Sek.) Eric Jarosinski Also, in den letzten 20, 30 Jahren, in denen es immer wieder die Rede ist in der Politik, also von dem transparenten Staat, also von den transparenten Abgeordneten. Jetzt wissen wir mehr als je, wie transparent wir als Bürger geworden sind. Wir haben ständig das Gefühl gehabt, wir bekommen jetzt mehr von der Regierung mit, aber in der Tat ist es doch genau umgekehrt. Sprecher Gläserne Bürger statt gläsernem Staat. Vor allem der Skandal um die millionenfache Ausspähung von Bürgern durch Geheimdienste hat das gezeigt. Obamas Versprechen, die Transparenz ins Zentrum seiner Präsidentschaft zu stellen, hat sich auf andere Art erfüllt als gedacht. (20 Sek.) (22:55) O-Ton 22 (15 Sek.) Christian Heller Naja, ich glaube, eine bestimmte Art von Privatsphäre, die informationelle Privatsphäre, das, was andere Leute über Kernbereiche meines Lebens wissen können, die ist zumindest auf dem absteigenden Ast. Sprecherin ...sagt Christian Heller: Blogger, Internetaktivist und Autor eines Buches zum Thema "Post Privacy". Der Begriff steht für die Auffassung, dass man sich mit dem Verlust der Privatsphäre im Internetzeitalter arrangieren müsse statt dagegen zu kämpfen. Statt für besseren Datenschutz zu kämpfen, diskutieren die Vertreter der Post-Privacy, die oft der Piratenpartei nahestehen, darüber, wie man mit der Transparenz leben kann. Denn die Chancen, die sie ihrer Ansicht nach immer noch bietet, wollen sie nicht einfach aufgeben. O-Ton 23 Christian Heller Ich glaube, überall, wo es Machtverhältnisse gibt, die mit Geheimhaltungen verbunden sind, kann Transparenz ganz nützlich sein. Ein Beispiel (...) sind Löhne und Honorare. Da lässt sich viel Ungleichheit in der Verteilung dadurch durchsetzen, dass die Leute, die diese Löhne und Honorare empfangen und aushandeln, nicht gleichmäßig informiert darüber sind, was denn beispielsweise branchenüblich ist. Sprecher In solchen und ähnlichen Fällen könne Transparenz durchaus hilfreich sein, findet Heller. Allerdings dürfe man sie nicht überbewerten Zum Selbstzweck dürfe sie nicht werden. Eine Haltung, der auch Literaturwissenschaftler Manfred Schneider zustimmen kann, dessen Blick auf die Ideologie der Transparenz insgesamt viel skeptischer ist. O-Ton 23a Christian Heller Also ich glaube insgesamt liegen die Chancen bei einfach größerer Kommunikation untereinander und größerem Daten- und Wissensaustausch untereinander über Sachen, über die man vielleicht vorher auch noch nicht geredet hat. Also etwa tabuisierte Themen (...) wie etwa Sexualität. Sexualität ist ein ganz beliebtes Beispiel, weil es dazu natürlich eine lange Geschichte gibt dessen, dass Leute Emanzipation darin finden, dass sie sich etwa in gewisser Weise outen oder ihr Coming Out haben. Dass sie diese oder jene sexuelle Neigung haben, die allgemein tabuisiert ist. Das wird oft gedacht im Zusammenhang, dass man der Gesellschaft im Grunde eine größere Toleranz abnötigt, wenn sie anerkennen muss, dass nun mal so und so viel Prozent der Bevölkerung auf das und das stehen. Es hat aber auch den sehr konkreten Vorteil, dass die Sichtbarkeit untereinander steigt. Also wenn ich sehe, ganz viele Leute haben die und die Eigenschaft, die man bisher verborgen hat, wie meinetwegen eine bestimmte sexuelle Neigung oder vielleicht auch ein bestimmtes psychisches Problem oder vielleicht irgendein politisches Problem, dann fällt es sehr viel leichter Bündnispartner zu finden, dann fällt es sehr viel leichter sozialen Rückhalt zu finden, dann fühlt man sich nicht mehr ganz so isoliert und allein und dadurch machtlos. Sprecher In solchen und ähnlichen Fällen könne Transparenz durchaus hilfreich sein, findet Heller. Allerdings dürfe man sie nicht überbewerten Zum Selbstzweck dürfe sie nicht werden. Eine Haltung, der auch Literaturwissenschaftler Manfred Schneider zustimmen kann, dessen Blick auf die Ideologie der Transparenz insgesamt viel skeptischer ist. O-Ton 24 Manfred Schneider Also ich bin ja nicht weniger als ein Apokalyptiker oder eben ein Pessimist der Zeitläufe. Wir haben es eben mit vollkommen neuen Phänomenen zu tun, die unablässig auftauchen am Horizont der Medien, des Wissens, der Gesellschaft. Und müssen ganz offenbar die Dinge immer wieder neu justieren. Was uns nichts hilft, sind Ideologeme beider Art, nämlich einmal dass Transparenz und Totalisierung der Transparenz das Heil sind. Ich halte aber eben auch nichts davon sozusagen ein Prinzip, ein Dogma des Geheimnisses oder des Arkanums zu formulieren, weil alles Dogmatische darauf angewiesen ist gesichert, abgesichert durch Gesetze, Regelungen, Verpflichtungen festzuschreiben. Und wir sind eben (...) in der Postmoderne darauf angewiesen, alle diese Dinge kommunikativ auszuhandeln und (...) wir haben in erster Linie sicherzustellen, dass innerhalb des Sozialen und innerhalb der Öffentlichkeit die Verständigung funktioniert, nicht monopolisiert werden kann, weder von der einen noch von der anderen Partei, weder von der Transparenzterroristischen noch von der anderen Seite, die ihr Heil darin sieht eben wieder alle Räume des Politischen und des Ökonomischen zu verschließen. 1