Deutschlandradio Kultur Forschung und Gesellschaft, 22.8.2013 Ewiges Eis? Was passiert, wenn Gletscher schmelzen. von Sonja Bettel Seit dem Jahr 1850, dem Ende der sogenannten Kleinen Eiszeit, gehen die Gletscher weltweit zurück. Wie stark die Gletscher in der Zukunft abschmelzen werden, hängt lokal von der Lufttemperatur und dem Niederschlag ab und ist schwer vorherzusagen. Klar ist jedoch, dass die Veränderung der Eismasse im Gebirge zahlreiche, teils gefährliche Veränderungen für Berg und Tal haben wird: für den Tourismus, die Landwirtschaft, die Wasserführung der Flüsse und die Siedlungen. Für die Forschung sind noch weitere Aspekte interessant: Wie verändert sich die Globalstrahlung, wenn weniger Eis die Sonnenstrahlen reflektiert? Wohin fließt das Wasser der Gletscher? Was bedeutet das Schmelzen des Eises für die Lebewesen der Gletscherbäche? Was erzählen uns die Holz- und Torffunde, die aus dem Gletscher ausapern? Und wie werden Flora und Fauna den neuen Lebensraum erobern? Interviewpartner: Florian Jurgeit, Nationalpark Hohe Tauern, Abteilung "Naturraum und Öffentlichkeitsarbeit" Andrea Fischer, Institut für Interdisziplinäre Gebirgsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Innsbruck Andreas Kellerer-Pirklbauer, Institut für Geografie, Universität Graz Katharina Aichhorn, Biologin, Nationalpark Hohe Tauern Wolfgang Urban, Direktor Nationalpark Hohe Tauern Salzburg Vlado Vancura, Conservation Manager PAN Parks Foundation Regie: ATMO 1 innergschloess_bach01 [kurz frei, unter Text] Sprecherin: Das Innergschlöss in Osttirol in Österreich, Anfang Juli. Eine kleine Gruppe von Journalistinnen und Journalisten schultert am Ende des Tals mit den historischen Almhütten die Rucksäcke für den Aufstieg zum Schlatenkees, dem Gletscher an der Ostseite des 3.666 Meter hohen Großvenedigers. Ringsum blühen die Almwiesen, darüber flattern Schmetterlinge, in den Lärchen zwitschern Vögel. Es ist schwer vorstellbar, dass hier, auf 1.765 Metern Seehöhe, vor 150 Jahren noch meterdickes Eis herrschte. Warum es um 500 Höhenmeter zurückgewichen ist und was passiert, wenn das Eis schmilzt, werden wir in den kommenden drei Tagen bei einer Exkursion erfahren, zu der der Nationalpark Hohe Tauern eingeladen hat. Regie: ATMO 1 kurz hoch, blenden auf ATMO 2 Innergschloess_wiese Sprecherin: Am Rand der Almwiese fallen langgezogene Wälle auf, die aussehen wie auseinanderfallende Steinmauern. O-Ton 1 (Jurgeit) Das sind uralte Gletscherstände, also Moränen von früher, und die Moräne, die wir da im Vordergrund sehen, also den Wall hinauf, die ist vom Anfang vom 17. Jahrhundert. Sprecherin: Florian Jurgeit ist Geograph und Mitarbeiter der Nationalparkverwaltung. O-Ton 2 (Jurgeit) Geht man ein bisschen weiter zurück, müsste man da im Gegenhang herumspionieren. Dann ist es so gewesen, dass zu der Zeit der Gletscher da heruntergekommen ist und auf den Gegenhang da drüben hinauf. Und da reden wir nicht von einer sehr langen Periode, also von 250, 300 Jahren. Es gibt historische Zeichnungen und Fotos, wie das Ganze früher ausgeschaut hat. Das älteste, das ich jetzt mithabe, ist aus dem Jahr 1860. Da oben ist der Abbruch, den wir jetzt sehen, und da ist der Talboden, da war der Bach natürlich noch nicht begradigt, sondern ist noch frei mäandriert. Und da sehen Sie, 1860 ist der Gletscher noch bis zum Bach runter gegangen. Atmo Musik, bitte von Regie besorgen hoch und unter den Text legen Sprecherin: Das Jahr 1850 gilt als das Ende der sogenannten ?Kleinen Eiszeit?. Die ?Kleine Eiszeit? war eine Periode relativ kühlen Klimas und begann Anfang des 15. Jahrhunderts. Während dieser Zeit gab es weltweit häufig kalte lange Winter und niederschlagsreiche kühle Sommer. In den Alpen drangen die Gletscher während dieser Zeit zwei Mal so weit vor, dass sie Bauernhöfe und Dörfer zerstörten. Nach aktuellen Untersuchungen des Instituts für Klimafolgenforschung in Potsdam wurde die ?Kleine Eiszeit? durch eine Reihe von starken Vulkanausbrüchen ausgelöst, bei denen Asche und Gase hoch in die Atmosphäre geschleudert wurden, wodurch sich die untere Atmosphäre abkühlte. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ziehen sich die Gletscher wieder zurück. hier Atmo ev. noch mal hoch, dann weg Sprecherin: Über Aussagen wie "in 30 Jahren sind alle Alpengletscher verschwunden" kann die Glaziologin Andrea Fischer vom Institut für Interdisziplinäre Gebirgsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften jedoch nur lächeln. Dafür seien die Gletscher viel zu vielfältig und ihr Werden und Vergehen viel zu komplex. Regie: ATMO 3 fischer_raschelt [gleich unter Text] Sprecherin: Als Beweis zieht sie eine Übersicht über die langjährigen Messungen aus der Tasche. O-Ton 3 (Fischer) Wir haben den Längenmessdienst des Österreichischen Alpenvereins seit 1891 in Betrieb. Seitdem gibt es jährliche Längenmessungen in ganz vielen Gebieten. In Österreich da in der Venedigergruppe hat es um 1920 begonnen und wenn man sich die ganze lange Zeitreihe anschaut, dann sehen wir zu den meisten Zeiten Rückzüge und einige Vorstoße. In den 1920er Jahren hat es Jahre gegeben, die waren sehr schneereich, da haben wir da in der Venedigergruppe 1927 einen relativ deutlichen Vorstoß gehabt von 15 Metern. Damals war die Zunge noch über dieser Kante herunter. Dann haben wir starke Rückzüge, man sieht da das Maximum, und aber immer wieder Jahre mit großen Rückzügen und kleinen Rückzügen. Das entsteht daraus, dass die Gletscherzunge wird sehr dünn an manchen Stellen, und dann gibt es ein Jahr, da reisst sie ab. Regie: ATMO 4 innergschloess_gehen Sprecherin: Etwa zweieinhalb Stunden müssen wir steil hinauf durch den Wald und dann durch eine immer spärlicher werdende Vegetation, bis wir auf 2.140 Metern Seehöhe am heutigen Ende des Gletschers ankommen. Regie: ATMO 4 blenden auf ATMO 5 schlatenkeestor_wasser Sprecherin: Das Gletschertor des Schlatenkees ist eine beeindruckende Höhle in kräftigem Türkis ? der typischen Farbe von komprimiertem Eis. Es ist kurz nach 12 Uhr, die Sonne brennt vom Himmel und unter dem Eis plätschert eine Menge Schmelzwasser heraus. Auf der linken Seite ist der Gletscher kaum zu erkennen, so dick ist er mit Schutt bedeckt, der aus den angrenzenden Felsen bröckelt. Die rechte Seite besteht aus fast blankem Eis, das vom Großvenediger herunterfließt und in einer flachen Zungenspitze endet. Vom Gletscher kommt ein kühler Wind. Es riecht eigenartig. Verursacht wird dieser Geruch von Mikroorganismen, die als dunkelgrauer Film auf dem Gletscher leben. Regie: ATMO 5 schlatenkeestor_wasser noch mal hoch, dann O-Ton O-Ton 4 (Fischer) Um den Wasserhaushalt zu erfassen, das heißt, wie viel Wasser spendet dieser Gletscher und wie viel Wasser wird am Gletscher gespeichert, braucht man sogenannte Massenhaushalts-untersuchungen. Für diese Massenhaushaltsuntersuchungen muss man richtig auf den Gletscher gehen und messen, wie viel Eis schmilzt dort ab und wie viel Eis bleibt oben, im Akkumulationsgebiet, an Rücklage liegen. Dazu muss man Ablationspegel einbohren auf die Zunge, das sind Stangen, die ins Eis gebohrt werden, die man am Anfang tief reinbohrt, und jedes Mal, wenn man hingeht und sie abliest, schauen die weiter raus. Das wird je nach Gletschergröße an verschiedenen Stellen gemacht. An österreichischen Gletschern, da gibt es neun, die gemessen werden, stehen zwischen zehn Pegeln und 50 Pegeln. Regie: ATMO 6 dampfbohren Sprecherin: Gemeinsam mit ihrem Kollegen Martin Stocker-Waldhuber zeigt Andrea Fischer nun, wie man ein zehn Meter tiefes Loch für eine Pegelstange ins Eis bohrt. Dafür wird im mitgebrachten Dampfbohrer mit einer Gaskartusche Wasser erhitzt und der Dampf über einen Schlauch aufs Eis geblasen. Das dauert pro Pegel etwa 15 Minuten. Anschließend messen die beiden Gletscherforscher den ausgeschmolzenen Teil einer Pegelstange ab, die vor 16 Monaten im Schlatenkees versenkt wurde. O-Ton 5 (Stocker und Fischer) Jetzt sind, also vom 28.September 2011 bis heute, sind 808 Zentimeter Eis an dieser Stelle abgeschmolzen. Das ist in dieser Höhenlage normal. Spannend ist die Frage, wie viel fließt von oben durch diesen Bruch nach. Wird das alles ersetzt oder nicht? Und da braucht man dazu diese Oberflächenhöhenmessung, weil wenn dieser Gletscher im Gleichgewicht wäre und alles, was hier abschmilzt, ersetzt wird, dann ändert sich ja die Oberflächenhöhe nicht. Dann wäre die Zungenposition auch stationär. Der Gletscher würde nicht zurückgehen und nicht vorstoßen. Also dass er schmilzt ist normal, die Frage ist immer, wie viel kommt im Vergleich dazu oben drauf. Regie: ATMO 6 dampfbohren bis O-Ton Sprecherin: Man schaut also, wie viel Schnee fällt in der Höhe auf den Gletscher, bleibt liegen und wird im Laufe der Jahre zu Eis zusammengedrückt, das dann langsam Richtung Tal fließt. O-Ton 6 (Fischer) Und da haben wir eben momentan in Österreich negative Massenbilanzen, dass die Gletscher im Mittel über die gesamte Gletscheroberfläche zwischen ein und zwei Meter Wasser verlieren. ? Pro Jahr? ? Pro Jahr, ja. Regie: ATMO 6 dampfbohren einblenden, unter Text ausblenden Sprecherin: Das Schlatenkees ist seit Beginn der Vermessung seiner Länge in den 1920er Jahren um 750 Meter zurückgegangen. Es ist aber immer noch fünfeinhalb Kilometer lang und jedes Jahr kommt oben, unter dem Gipfel des Großvenedigers, neuer Schnee dazu. Trotzdem wird das Schlatenkees vermutlich weiter zurückgehen, aber nicht komplett verschwinden. Zumindest nicht so schnell. Regie: MUSIK Sprecherin: Anders ist das beim Vernagtferner in den Ötztaler Alpen in Tirol, der seit 40 Jahren von der Kommission für Glaziologie der Bayerischen Akademie der Wissenschaften untersucht wird. Bis ins 19. Jahrhundert ist der Vernagtferner in Zyklen von etwa 80 Jahren immer wieder rasch ins Tal vorgestoßen und hat katastrophale Gletschersee-Ausbrüche verursacht. O-Ton 7 (Braun) Man hat eigentlich nicht genau gewusst, was es ist, aber wir wissen jetzt, dass der Vernagtferner ein sogenannter galoppierender Gletscher ist. Sprecherin: Ludwig Braun, Hydrologe und wissenschaftlicher Leiter der Kommission für Glaziologie. O-Ton 8 (Braun) Das heißt, wenn sich viel Masse aufstaut im Akkumulationsgebiet, also dort wo das Nährgebiet des Gletschers ist, dann gibt es plötzlich einen Ausgleich dieser Eismassen, das wird dann schnell ins Tal verschoben, und da gibt es ganz seltsames dynamisches Verhalten, das man immer noch studiert und immer noch nicht ganz genau weiß, wie es geht. Aber man hat so Hinweise. Und heute wissen wir, dass diese Zunahme in den Akkumulationsgebieten immer geringer ausfällt. Es ist immer weniger Rücklage da, welche das Jahr überdauert. Und so wird eigentlich dem Gletscher die Nahrung entzogen. Und wir wissen beim Vernagtferner, dass wir seit über 35 Jahre praktisch dauernd negative Massenbilanzen haben. Es ist also wirklich ein ganz frappanter Massenverlust, und der geht eben einher mit einer Temperaturerhöhung. Sprecherin: Die Messungen der Massenbilanz haben gezeigt, dass am Rückgang des Vernagtferners vor allem die Sommerhalbjahre schuld sind, denn die Niederschläge im Winter sind in etwa gleich geblieben. O-Ton 9 (Braun) Man hat immer so um die zweieinhalb Meter Schnee über unserem Gletscher, der im Jahr fällt, aber die Sommer sind dann stark unterschiedlich warm und vor allem auch stark unterschiedlich lang. Also es gibt kurze Sommer, kühle, feuchte Sommer, und dann legt der Gletscher Masse zu über dieses Jahr. Aber jetzt in den letzten eben 30 Jahren sind die Sommer eigentlich immer länger geworden und mehr warme Tage, längere Schmelze und deshalb auch größere Massenverluste. Sprecherin: Das bedeutet natürlich auch, dass wesentlich mehr Wasser in die Gletscherbäche abfließt, wie die Gletscherforscher an ihren Messstationen für den Niederschlag und den Abfluss sehen können. O-Ton 10 (Braun) Es hat sich gezeigt, dass auf unserer Pegelstation in 2.600 Meter die Abflüsse sich von der Menge her seit den 80er Jahren, 70er Jahren verdoppelt haben. Also wir haben jetzt nicht mehr im Schnitt, sage ich jetzt mal, 1,20 Meter Wassersäule, die davonfließt im Mittel über das gesamte Einzugsgebiet von 11 Quadratkilometern, sondern es sind über 2 Meter, 2,20 Meter, 2,30. Und das ist eben nicht nur in der Menge übers Jahr verdoppelt, sondern auch die Spitzen. Sprecherin: Und zwar deshalb, weil große Flächen des Gletschers heute nicht mehr von Firn, also von zwei, drei Jahre altem Schnee bedeckt sind. Der Firn ist weiß und reflektiert deshalb das Sonnenlicht. Liegt auf dem ungeschützten Eis dann auch noch eine dünne Schicht aus dunklem Schutt, die die Wärme aufnimmt, wird das Abschmelzen weiter verstärkt. O-Ton 11 (Braun) Damit haben wir eine viel stärkere Tagesschwankung im Abfluss. In der Nacht fast nichts mehr, am frühen Morgen kommt fast kein Wasser, aber gegen späteren Nachmittag donnern dann plötzlich 13, 14 Kubikmeter pro Sekunde runter. Und wenn es dann noch dazu regnet mit einem Gewitterregen, dann kann es sei, dass man einmal Spitzen von über 20 Kubikmeter pro Sekunde an dieser Stelle beobachtet. Und das ist natürlich die Situation, wo dann Brücken weggeschwemmt werden und unten dann Schäden auftreten, aber das sind meistens eben lokalisierte Hochwasser. Es ist nicht, dass ein ganzer Ostalpenraum damit erfasst würde. Regie: ATMO 7 Wasserfall zu O-Ton hin ausblenden Sprecherin: Wenn das starke Abschmelzen eines Gletschers jedoch mit tagelangen heftigen Regenfällen zusammenkommt, besteht die Gefahr, dass Hochwässer entstehen, die ganze Talschaften erfassen können, wie Ludwig Braun aus dem Ötztal weiß. O-Ton 12 (Braun) Das schlimmste Ereignis war 1987, da sind mehrere Leute umgekommen da hinten im Ötztal. Man hat dann daraus gelernt, man hat große Gebiete wieder quasi dem Fluss zurückgegeben. Man hat gesagt, hier wird nicht mehr gebaut und hier wollen wir die Brücken verstärken und so. Und seitdem hat man große Fortschritte gemacht in der Sicherheit. Aber eben solche lokale Gewitter, überlagert mit diesen starken Schmelzwässern können immer noch sehr gefährlich werden. Bis eben dann die Gletscherflächen so stark zurückgegangen sind, dass die mengenmäßige Produktion so gering wird, dass es nicht mehr gefährlich ist. Sprecherin: Die Veränderung der Abflussmengen wirkt sich auch auf Wasserkraftwerke aus, die Wasser von Gletscherbächen nützen. Einerseits müssen sie mit den extremen Spitzen der Wasserführung zurechtkommen, was für Laufkraftwerke problematisch werden kann. Andererseits kommt mit dem vermehrt abfließenden Schmelzwasser auch mehr Sediment mit, das Turbinen beschädigt und Stauseen versanden lässt. Ein weiteres Problem sind die natürlichen Seen am Tor eines Gletschers, die durch Sediment aufgefüllt werden und eines Tages das Wasser nicht mehr zurückhalten können. Ein großer Gletschersee kann dann plötzlich ausbrechen und eine Flutwelle erzeugen. Wolfgang Schöner von der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik: O-Ton 13 (Schöner) Das ist eine sehr große Bedrohung, auch in der Schweiz, in Frankreich, aber auch in anderen Hochgebirgsregionen in Asien und in Südamerika. Und das ist eben etwas, das auch mit dem starken Rückgang der Gletscher zusammenhängt, weil eben sehr viel Wasserbildung stattfindet und diese Seen besonders entstehen können. Da ist es eben wichtig, das zu untersuchen, zu verstehen, wie dieser Mechanismus funktioniert, und eben Warnsysteme zu entwickeln. Regie: ATMO 8 innergschloess_bach02 Sprecherin: Ausbrüche von Gletscherseen und extreme Hochwasser durch die Kombination von Gletscherschmelze und Starkniederschlägen können auch Fischpopulationen bedrohen. Im Zuge eines Projekts zur Wiederansiedlung der heimischen Bachforelle in Österreich und Südtirol haben Wissenschaftler der Universität Innsbruck in den vergangenen Jahren bei mehreren Gebirgsbächen Anzahl und Größe der Fische erhoben und Daten über die Menge und Zusammensetzung des Wassers gesammelt. Obwohl die autochthonen Forellen sehr gut an das Hochgebirge angepasst sind, kam es vergangenes Jahr am Anlaufbach in Salzburg durch ein Hochwasser zu einer Katastrophe, erzählt der Fischbiologe Nikolaus Medgyesy [me:djeschi]: O-Ton 14 (Medgyesy) Letztes Jahr hat es ein außerordentliches Hochwasser im Sommer gegeben mit noch nie dagewesenem Geschiebetransport und vor allem Feinsedimentfracht, so dass es vorerst ausschaute, dass der komplette Bachforellenbestand zugrunde gegangen ist. Wir haben dann im Herbst eine Kontrollbefischung durchgeführt, konnten feststellen, dass zirka 85 bis 90 Prozent des Bestandes verloren ging. Im Bach weiter unten konnten wir Fische wiederfangen, und unser Bestreben ist jetzt, diese Fische wieder in das ursprüngliche Gewässer zurückzusetzen, so dass wir wieder den Bestand aufbauen können. Aber es scheint so zu sein, dass diese Hochwasserereignisse viel heftiger und in kürzeren Abständen stattfinden, so dass die eine oder andere Population höchstwahrscheinlich verschwinden wird. Sprecherin: Und was ist, wenn die Gletscher eines Tages abgeschmolzen sind und das Gletscherwasser in den Bächen fehlt? Gibt es dann Probleme für die Landwirtschaft und die Trinkwasserversorgung? In den Alpenregionen nicht, dort gibt es genug Niederschläge, sagt Ludwig Braun. Er ist Hydrologe und arbeitet für die Bayerische Akademie der Wissenschaften. O-Ton 15 (Braun) Aber wenn wir das dann wieder studieren in Zentralasien wo dann diese Gebirgsflüsse durch Wüsten fließen und wo kein neuer Regen dann die Abflüsse erhöht, dort sind natürlich diese Schmelzwässer vom Gletscher und vom Schnee ganz entscheidend für die Unterlieger, wo dann zum Beispiel Baumwolle angepflanzt wird oder anderweitig die Landwirtschaft viel Wasser verbraucht. Dort haben wir dann eine direkte Abhängigkeit von diesem Gletscherwasser, und deshalb studieren wir diese Thematik nicht nur in den Alpen, sondern in anderen Klimaregionen. Bei uns, wenn sie einmal verschwinden, ist vor allem ein Schmuckstück natürlich weg, aber es ist jetzt nicht so, dass bei uns dann die riesige Trockenheit ausbrechen würde, weil unsere Niederschläge vielleicht im Sommer zurückgehen werden, aber dafür im Winter sehr wahrscheinlich zunehmen werden. Sprecherin: Aber sind die Gletscher in Zentralasien denn überhaupt von der Klimaerwärmung betroffen? O-Ton 16 (Braun) In Asien, vor allem eben im Himalaya und im Karakorum und auch in Zentralasien sind sehr große Gebiete noch vergletschert. Da sind zum Beispiel die ganz hohen Bereiche, oberhalb 6.000, 7.000 Meter, diese haben in gewissen Regionen der Erde eher noch Zunahme, aber die Fläche an sich ist ja relativ gering. Aber unterhalb 6.000, vielleicht bis 4.000 Meter runter haben wir sehr große Massenverluste der Gletscher. Und dort wo dann diese Gletscher wieder schuttbedeckt sind, das ist in diesen Talebenen auf 3.500 Meter, 4.000, da kann man beobachten das quasi der Gletscher unter dieser dicken Schuttschicht geschützt ist und nur ganz langsam vor sich hin siecht. Regie: ATMO 9 gletscher_knirschen O-Ton 17 (Braun) Es ist vielleicht ein, zwei Orte auf der Welt wo wir noch Massenzuwächse haben, weil es mehr Schneeniederschlag gibt, aber es ist tatsächlich so dass die Mehrheit der Gletscher eindeutig diesen Trend zu Massenverlusten haben ? weltweit. Regie: ATMO 9 gletscher_knirschen Sprecherin: Wir sind wieder am Gletscher, diesmal auf dem größten Gletscher Österreichs, der Pasterze am Fuß des Großglockners. Das raue Eis knirscht unter den Bergschuhen, die ersten Schritte machen wir recht vorsichtig. Die Gletscherspalten sind deutlich sichtbar und deshalb weniger gefährlich, aber immer noch Respekt einflößend. Wie beeindruckt muss erst Kaiser Franz Josef gewesen sein, als er im Jahre 1856 das erste Mal den mächtigen Gletscher sah - damals noch um drei Kilometer länger und um zirka 250 Meter dicker als heute. Im gesamten Alpenraum hat sich die Gletscherfläche seither mehr als halbiert, die Pasterze ist in dieser Zeit um ein Drittel ihrer Fläche geschrumpft. Vergangenes Jahr hat sie besonders viel Eis verloren. O-Ton 18 (Kellerer-Pirklbauer) Im letzten Jahr ist im Bereich von dieser Seelandlinie das mittlere Einsinken neun Meter gewesen. Sprecherin: Andreas Kellerer-Pirklbauer vom Institut für Geografie der Universität Graz. O-Ton 19 (Kellerer-Pirklbauer) Neun Meter in einem Jahr ist sehr beachtlich. Ist aber dadurch auch zu erklären, wenn Sie hier runterschauen, ganz auffällig sind diese halbkreisförmigen Gletscherspaltensysteme, und das sind schlicht und ergreifend so Einbruchskessel, wo ganze Gletscherbereiche richtig in sich zusammensacken. Man kann hier nicht nur von einem reinen Gletscherrückzug sprechen im Sinne dass der Gletscher sich weiter hinauf ins Gebirge zieht, sondern es ist vor allem ein Dahinschmelzen eines wenig dahinfließenden Eiskörpers. Also das ganze System sackt in sich zusammen und zerfällt. Sprecherin: Für den Tourismus ist das eine negative Entwicklung, denn irgendwann wird man von der verfallenden Hofmannshütte am Gamsgrubenweg aus nur mehr Schutt und Eisreste sehen und die einst beeindruckende Pasterze bloß noch auf alten Zeichnungen und Fotos bewundern können. Auch für Bergsteiger wird es zunehmend schwieriger: O-Ton 20 (Kellerer-Pirklbauer) Damals in den späten 19. Jahrhundert musste man von dieser Hofmannshütte nur wenig weit runtergehen und schon war man am Gletscher, konnte die Gletscherzunge queren und dann eben zum Großglockner aufsteigen. Nur mittlerweile durch diesen Gletscherrückgang sind sehr viele Bereiche bei diesem ursprünglichen Hofmannsweg eben eisfrei geworden, das Gestein ist labil, Steinschlag ist ganz typisch, und insofern wird diese Aufstiegsroute nicht mehr gerne gewählt, weil es a) anstrengend ist, b) umständlich und c) natürlich auch gefährlich. Sprecherin: Dass die Gletscher zurückgehen ist unbestritten, auch dass der Mensch eine Mitschuld trägt. Doch für manche Pflanzen und Tiere ist dieser Verlust ein Gewinn. Sie werden die eisfreie Fläche besiedeln beziehungsweise wiederbesiedeln. In der nacheiszeitlichen Wärmephase im Zeitraum von 7.000 bis 3.500 Jahren wuchsen im Bereich der Pasterze Moore und Bäume, wie der Gletscherforscher Heinz Slupetzky 1990 beweisen konnte, als er an der Gletscherzunge zwei Holzstammreste und einen Torfbrocken fand. Die Laboranalyse ergab, dass es sich dabei um Reste einer Zirbe handelt, die vor mehr als 10.000 Jahren gewachsen war. Vergangenes Jahr entdeckte Andreas Kellerer-Pirklbauer im Gletschervorfeld eine Schicht aus zusammengepresstem Torf, die beim Bau eines Wanderweges ausgegraben worden war. Regie: ATMO 10 pasterze_vorfeld_wasser unter Text einblenden, bis O-Ton O-Ton 21 (Kellerer-Pirklbauer) Unabhängig davon war ein Kollege aus Innsbruck auch hier und hat das auch gesehen, und wir haben uns dann zusammengetan und Anfang September haben wir hier auf eine Tiefe von 2,60 Meter runtergegraben und ein Profil genommen. Das Interessante ist hier: bei diesen 2,6 Metern haben wir eine Abfolge von Horizonten, wo mehr organisches Material, sprich Torfe drinnen sind, und Bereiche, wo mehr Sande und Tone drinnen sind. Also auf diesen 2,6 Metern haben wir in Summe 16 Lagen mit organischem Material, und diese Lagen kann man jetzt datieren. Früher hat man zwar auch immer Torfstücke gefunden, nur diese Torfstücke sind immer vom Gletscherbach rausgespült worden. Das heißt, sie waren nicht in situ. Und iinsofern ist dieser Fundort sehr spannend, denn die ersten Datierungen zeigen zumindest, dass einzelne Horizonte hier 4.000 Jahre und wahrscheinlich noch wesentlich älter sind. ATMO 10 unter Text Sprecherin: Die detaillierte Untersuchung dieser 16 Torfschichten verspricht spannend zu werden. In früheren Torffunden wurden Reste von Gräsern und Brennesseln, stark zusammengepresste Ästchen von Zirben, Stücke von Bergblattkäfern und acht verschiedene Moosarten gefunden. O-Ton 22 (Kellerer-Pirklbauer) Die meisten dieser Moosarten gibt es auch noch heute, die findet man aber nicht in dieser Höhe, sondern weit darunter. Ein weiterer Anzeiger dafür, dass es hier wärmer gewesen ist. Ein weiterer Indikator: der Kollege in Innsbruck hat auch die Waldgrenzveränderung über die Zeit rekonstruiert, vor allem auf Basis der Funde im Kaunertal, und da sieht man auch sehr schön, dass eben in diesem Bereich, so vor 3.500 Jahren vor heute, die Waldgrenze deutlich höher war. Unsere Funde zeigen, dass bis vor ungefähr 5.500 Jahre vor heute hier sicher ein Baumbestand war, und danach eigentlich die nächsten 2.000 Jahre in unseren Torffunden die Zirbe gar nicht mehr so nachweisbar ist, vielleicht waren noch vereinzelte Bäume da, aber nicht mehr so weit verbreitet wie früher. Regie: ATMO 10 blenden auf ATMO 11 pasterze_vorfeld Sprecherin: Ein kleines Stück weiter talauswärts bleibt die Biologin Katharina Aichhorn stehen und zeigt auf einen kleinen Flecken Grün zwischen den Steinen. O-Ton 23 (Aichhorn) Hier ist schon ein bisschen länger eisfrei, ungefähr 1980 bis jetzt. Hier finden wir schon in gewissen Bereichen schöne Polster von einigen Steinbrecharten. Die Besiedelung ist sehr stark abhängig von der Höhenlage, vom Untergrund und sehr stark vom Substrat. Ganz auffällig ist der sogenannte Fetthennen- oder Bach- oder Quellsteinbrech. Es sind hier überall größere Polster vorhanden, der blüht ganz schön gelb. Er braucht ein gewisses ruhendes Substrat und eine Feuchtigkeit. Das sind die Pionierpflanzen. Und mit der Zeit siedeln sich auch andere Pflanzen an. Also durch die Stabilisierung kommen Nährstoffe rein, es fängt die Bodenbildung an. Und weiter unten, das ist beim Margritzenspeicher, das ist seit 1850 eisfrei, das ist das späte Sukzessionsstadium, da haben wir jetzt schon einige Meter hohe Lärchen drinnen. Regie: ATMO 12 kuersingerhuette_aussen Sprecherin: Insofern bietet der Rückzug der Gletscher auch die Möglichkeit, bei der Entstehung neuen Lebens zuzusehen. Das begeistert zunehmend auch Naturschützer. Und so ist die Idee entstanden, in Österreich eine Fläche von fast 10.000 Hektar an der Nordabdachung der Venedigergruppe zum Wildnis-Gebiet zu erklären, in dem die Natur sich selbst überlassen bleibt. Wolfgang Urban, Direktor des Nationalpark Hohe Tauern, in dessen Kerngebiet die Venedigergruppe liegt, sieht darin eine einmalige Chance: O-Ton 24 (Urban) Wir diskutieren ja in Mitteleuropa über viele Wildnis-Gebiete, meistens diskutieren wir über sekundäre Wildnis. Das heißt, da hat es eine anthropogene Überprägung gegeben. Wenn wir die Waldwildnis hernehmen, es gibt ja kaum noch Wälder in Europa, die nicht irgendwann einmal genutzt wurden. Wenn man sich so eine Umtriebszeit der Bäume ansieht, die mehrere hundert Jahre alt werden, kann man sich vorstellen, wie lange das dauert, bis man einen sozusagen anthropogen überformten Waldbestand wieder in einen natürlichen Prozess umwandeln kann. Hier im Hochgebirge haben wir die große Chance, primäre Wildnis für die kommenden Generationen zu sichern und daraus auch wieder Botschaften hinauszutragen, wie sensibel und wie wertvoll unsere Natur hier ist, die da in Mitteleuropa, mitten in Mitteleuropa noch Natur sein darf. Regie: ATMO 12 kuersingerhuette_aussen Sprecherin: Die Wandergruppe steht auf der Terrasse der Kürsingerhütte im Salzburger Teil des Nationalparks und schaut auf das Obersulzbachkees, hinter dem der Großvenediger sich in Wolken hüllt. Ein beeindruckender Ausblick, findet auch Vlado Vancura [wlado wantschura] von der PAN Parks Foundation, einer Organisation, die in ganz Europa ein Netzwerk aus Wildnis-Gebieten schaffen möchte. Vergangenes Jahr war er zum ersten Mal hier. Von der Idee, einen Gletscher zu einer schützenswerten Wildnis zu erklären, war er anfangs ein wenig überrascht. O-Ton 25 (Vancura) We had a lot of discussion because first of all... ...it is showing the dynamism of wilderness. Übersetzung: Wir hatten lange Diskussionen, denn auf den ersten Blick erscheint es seltsam, dass man ein Gebiet, in dem es aus Sicht der Biodiversität nichts als Eis gibt, schützen soll. Viele Menschen würden sagen, der Gletscher ist tot. Aber er ist überhaupt nicht tot, es ist bloß eine andere Art von Leben. Wir haben dann mehr und mehr darüber nachgedacht und gesagt, das ist eigentlich eine sehr gute Idee. Auch, weil sich der Gletscher zurückzieht und eine neue Landschaft entsteht. Das zeigt die Dynamik der Wildnis. Regie: ATMO 12 kuersingerhuette_aussen Sprecherin: Was heute noch aussieht wie ewiges Eis, könnte sich in einigen Jahrzehnten also ähnlich entwickeln, wie das Obersulzbachtal unter uns. Dort ist der Gletscher bereits verschwunden und Pflanzen und Tiere wandern sukzessive höher. O-Ton 26 (Vancura) vancura08-1 0.35 Very likely, mother nature is goping to occupy this area... ...to the visitors, to the local stakeholders, to the people. Übersetzung: 0.22 Höchstwahrscheinlich wird Mutter Natur dieses Gebiet erobern. Das Interessante für uns wird sein, wie schnell das geht. Es kommt natürlich darauf an, ob es nackter Fels ist oder Erde vorhanden ist. Aber das ist ein offenes Buch. Es wird von uns abhängen, wie wir dieses Buch lesen und wie wir unsere Erkenntnisse an die Besucher, die Interessenvertreter und die Bevölkerung weitergeben. Regie: ATMO 13 kuersingerhuette_aussen ENDE 1