DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag, 18.08.2009 Redaktion: Karin Beindorff 19.15 - 20.00 Uhr Ortserkundungen Operation Wunder Eine kubanische Augenklinik in Bolivien Von Gaby Weber URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. ? Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - O-Ton: "Los registra aqui ...? 2. Sprecherin: Ein Krankenpfleger notiert ihren Namen, Adresse, Beruf, und ihre Beschwerden. Er fragt, ob wir den Patienten nach Hause bringen müssen oder ob er in Begleitung gekommen ist. Jeder erhält ein Aktenzeichen. Danach warten sie im Flur, vor den Behandlungsräumen, bis sie aufgerufen werden. O-Ton: "Donde ahi se editan todos los datos ...? Erzählerin: Wenn du am Montag nicht kannst, kommst du eben am Dienstag, erklärt der Pfleger einem jungen Mann. 1. Sprecher: Ich gebe dir unsere Telefonnummer, verlange nach der Ärztin Henríquez. Sie kennt deine Krankengeschichte. Du musst nichts mitbringen, aber komm, wenn möglich, in Begleitung. Vielleicht müssen wir dich operieren. Hast du alles verstanden? Du hast einen festen Termin am nächsten Montag. Ok? Atmo Ansage: Operation Wunder Eine kubanische Augenklinik in Bolivien Ein Feature von Gaby Weber Erzählerin: El Alto bedeutet "die Höhe". Den Namen verdankt die Stadt ihrer Lage auf 4100 Metern Höhe. Auch im Sommer wird es hier auf der Hochebene des Altiplano kaum wärmer als zehn Grad. Ursprünglich war El Alto ein Stadtteil der Hauptstadt La Paz, 1985 wurde er eigenständig. Eine Million Menschen leben in dem Ballungsraum: Hausangestellte, die tagsüber in La Paz, im Talkessel, putzen und kochen, Handwerker, Gelegenheitsarbeiter und Straßenhändler. Fast alle sind indianischer Herkunft. Atmo Erzählerin: Vor einem unscheinbaren, flachen Gebäude warten geduldig etwa 20 Menschen. Gleich nebenan befinden sich die bolivianische Luftwaffe und der Internationale Flughafen: Auf dem Schild über dem Eingang steht: "Operación Milagros", zu Deutsch: Operation Wunder. "Kooperation Kuba und Bolivien". Kubanische Augenärzte arbeiten hier, finanziert mit Geldern der venezolanischen Regierung. El Alto ist das größte Krankenhaus der "Operación Milagros". Weltweit wurden bisher 1,5 Millionen Patienten behandelt. Kostenlos. Atmo Erzählerin: Draußen am Eingangstor bieten Frauen Süßigkeiten, Zigaretten und Coca-Cola feil, ausgebreitet auf dem Straßenpflaster. Sie tragen traditionelle Kleidung: mehrere Röcke übereinander, Ballerinas an den Füßen und einen kleinen Filzhut auf dem Kopf. Janet Valdéz sitzt in einem Büro in Obrajes, einem wohlhabenden Stadtteil von La Paz und koordiniert die "Operation Wunder" in Bolivien. Den kleinen Raum teilt sie mit einer Kollegin. Die Klinik, erzählt sie mir, wird nicht nur von Bolivianern aufgesucht: O-Ton: "Tenemos varios centros ... " 1. Sprecherin: Es kommen auch Kranke aus anderen Ländern nach El Alto. In unseren Kliniken in Villazón und Yacuiba, beide an der Grenze zu Argentinien, behandeln wir Argentinier, in Copacabana, am Titicacasee, Peruaner. Erzählerin: Seit Juli 2004 schickt die Regierung in Havanna Augenärzte nach Pakistan, Portugal, Haiti, Venezuela, Argentinien, Paraguay und Bolivien. O-Ton : "No solo por ser medico ... 1. Sprecherin: Wir sind "Internacionalistas", nicht nur Ärzte. In Bolivien hat unser Che Guevara gekämpft, hier ist er gefallen. Wir tragen ihn in unserem Herzen. Erzählerin: Die Internationalisten halten das, was die reichen Länder als "Entwicklungshilfe" in die Dritte Welt schicken, für nicht geeignet, die Armut zu überwinden. O-Ton Guevara: ""Las lacras coloniales ...? 1. Sprecher: Es sind die kolonialen Nachwehen, die die Entwicklung der Völker verhindern. Dies drückt sich nicht nur auf der politischen sondern vor allem auf der wirtschaftlichen Ebene aus. Der Weltmarkt ist ein Handel zwischen Ungleichen, zwischen Ländern, die Rohstoffe exportieren, und Industriestaaten, die die Märkte beherrschen. Um sich aus ihrer ökonomischen Abhängigkeit zu befreien, müssen die Völker der Dritten Welt in Absprache mit den sozialistischen Staaten den kapitalistischen Märkten eine Alternative entgegensetzen. Die Ausgebeuteten müssen den Ausbeutern anders gegenüber treten. Sonst wird es keine wirtschaftliche Entwicklung geben, und die schwachen Länder werden wieder unter die Herrschaft der Imperialisten und Kolonialisten geraten. Erzählerin: Ernesto Guevaras Worte liegen lange zurück. Washington schickt schon längst keine Heerscharen von Entwicklungshelfern mehr in den "Hinterhof" zu den "armen Vettern im Süden". Diese erhalten heute Hilfe aus einem Land, das selbst arm ist: Kubaner lehren nicht nur Lesen und Schreiben, sondern Havanna schickt auch Ärzte - vor allem nach Bolivien, ins Herz Südamerikas. O-Ton: "La operación milagros en ..." 1. Sprecherin: Hier startete unsere Mission im August 2005. Während der ersten Etappe flogen wir Kranke nach Kuba, um sie dort zu operieren. Erzählerin: Dreitausend Bolivianer wurden im Jahr 2005 auf die "rote Insel" geflogen. Doch das war auf Dauer zu kostspielig. Man suchte für die kubanischen Ärzte einen Platz vor Ort. O-Ton: "Meses mas tarde ..." 1. Sprecherin: Ab November begannen wir, in der Nationalen Augenklinik in La Paz zu operieren. Wir hatten von Anfang an den Plan, die Leute nicht nach Kuba zu fliegen, sondern dort, wo Bedarf besteht, zu heilen. So konnten wir viel mehr Patienten behandeln. Erzählerin: Im Dezember 2005 gewann Evo Morales mit seiner "Bewegung für den Sozialismus" die Wahlen und wurde der erste indigene Präsident Boliviens. Nun konnte das kubanische "Wunder" Fahrt aufnehmen. O-Ton: "Hoy contamos con 18 ..." 1. Sprecherin: Heute verfügen wir über 18 Augenkliniken mit zwanzig Operationstischen. Erzählerin: Im Landesinneren sind drei "mobile Operationseinheiten" im Einsatz, eine von ihnen, im Tiefland, nennt sich nach einer Mitstreiterin Che Guevaras: O-Ton: "Por lo que significa Tania ...? 1. Sprecherin: Sie heißt Tania. Ihre Person und ihr Engagement bedeutet den Kubanern viel. Erzählerin: Tania hieß mit bürgerlichem Namen Tamara Bunke. Ihre Eltern, deutsche Kommunisten, waren 1935 vor dem heraufziehenden Faschismus nach Argentinien geflüchtet. Im August 1967 starb die junge Frau - ebenso wie Guevara zwei Monate später - durch die Kugeln des bolivianischen Militärs. Atmo Musik und Fidel-Castro-Rede Erzählerin: Heute wird in El Alto, in der Augenklinik, der Jahrestag der Gründung des Kommunistischen Jugendverbandes gefeiert. Aus Kuba hat sich hoher Besuch angekündigt. Die Eingangshalle ist geschmückt mit Blumen und Transparenten, aus Lautsprechern scheppert eine Rede Fidel Castros: 2. Sprecher: Während die USA Marines abkommandieren, um die Völker zu vernichten, schickt Kuba Heere von Weiß-Kitteln in 28 Entwicklungsländer, um Blinden das Augenlicht zu schenken. Erzählerin: "Es lebe die Revolution", ruft Fidel Castro von der Leinwand herab. Atmo Erzählerin: Das Publikum nimmt langsam auf den Klappstühlen, vor dem Rednerpult, Platz. Geduldig wartet Benancio, ein 19-Jähriger mit Strohhut und Sonnenbrille. Er soll den Versammelten über seine Erfahrungen erzählen, von denen er mir schon zuvor erzählt hatte. Atmo 1. Sprecher: Mir geht es sehr gut. Ich bin vor wenigen Tagen operiert worden. Vorher habe ich alles dunkel gesehen. Ich kann wieder weit gucken. Das erste Auge ist im Januar operiert worden, jetzt war das andere an der Reihe. Und ich musste nichts bezahlen. Erzählerin: Neben ihm sitzt Evangelio, trotz seines hohen Alters hat er volles graumeliertes Haar. Atmo 2.Sprecher: Mich haben sie vor zwei Wochen operiert. Ich litt am grauen Star. Sie haben das ausgezeichnet gemacht, ich habe einen Herzschrittmacher. Ich bin den Ärzten sehr dankbar. Woher ich von der Klinik erfahren habe? Von meinen Nachbarn, und aus dem Radio. Ich kann seit zwei Jahren fast nichts mehr sehen, aber ich hatte Angst vor dem Eingriff. Jetzt drohte ich, völlig zu erblinden und entschied mich, hierher zu kommen. Ich bin 81 Jahre alt und völlig mittellos. Warum ich nicht in ein öffentliches Hospital gegangen bin? Dort muss man etwas zahlen, hier nicht. Atmo 2. Sprecherin: Wir feiern heute den 40. Jahrestag des kubanischen Jugendverbandes und erhalten die Auszeichnung "Das herausragende Hospital". Erzählerin: Odalys Rodríguez Cruz trägt einen weißen Kittel, eine Brille, Schuhe mit hohen Absätzen, und ihre langen braunen Haare offen. Eine resolute Frau, die das Zepter in der Klinik führt. Sie begrüßt die Anwesenden: den kubanischen Botschafter, die Botschaftsrätin, den Vertreter des Ministerrats, sowie den Vizeminister für Erziehung und Forschung. Nach jedem Namen wird artig applaudiert. Auch einige bolivianische Militärs und Stadträte, zuständig für das Gesundheitswesen, sind gekommen. Odalys trägt unter ihrem Arm eine Urkunde, die heute überreicht werden soll: Atmo Erzählerin: Die Ärztebrigade in El Alto besteht aus dem Pflegepersonal, Verwaltungsangestellten, drei Augenchirurgen, einer Herzspezialistin und einer Fachärztin für Notfälle, alle sind Kubaner, erzählt mir Odalys. Wie in Kuba üblich, nennen sich hier alle beim Vornamen und duzen sich. Auch ich bin gleich mit einem Wangenküßchen begrüßt worden. Atmo 2. Sprecherin: Wir haben eine Fachkraft für Optometrie, einen Optiker, einen Techniker im klinischen Laborbereich, eine Pharmazeutikerin, einen speziell auf Augenkrankheiten ausgebildeten Krankenpfleger, Laborkräfte, einen Ingenieur, sechs angelernte Hilfskräfte und vier lokale Arbeiter: einen Fahrer, seinen Beifahrer und zwei Männer im Wachschutz. Erzählerin: Die bolivianische Regierung hat keinen hochrangigen Politiker geschickt, und aus Venezuela, mit dessen Geldern "Operación Milagros" finanziert wird, ist niemand erschienen. Das Verhältnis soll schon einmal besser gewesen sein, munkelt man. Der Ölpreis ist gefallen, und Präsident Chávez kann für die kontinentale Verbreitung seines "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" nicht mehr in volle Kassen greifen. Die Kubaner geben Durchhalteparolen aus: Atmo 1. Sprecherin: "Es lebe Fidel". "Es lebe Raúl". "Es lebe die Völkerfreundschaft zwischen Kuba und Bolivien". "Es lebe auf ewig der Kommunistische Jugendverband". "Vaterland oder Tod! Venceremos. Wir werden siegen. Atmo Erzählerin: Am nächsten Tag herrscht in der Klinik reger Betrieb. Kein "Venceremos" und keine roten Fahnen - ab acht Uhr treffen die Patienten ein. Die Wände sind weiß getüncht, es riecht nach Krankenhaus. Langsam füllt sich der Wartesaal. Ich bin mit der Leiterin der Klinik verabredet. Odalys ist 44 Jahre alt und gelernte Krankenpflegerin. Es ist ihr erster Auslandsaufenthalt, von dem sie immer geträumt hatte. Im hinteren Teil hat sie ein eigenes Büro. Heute geht sie mit mir durch die Klinik, will mir alle Stationen zeigen. O-Ton: "De todo una vida ..." 2. Sprecherin: Ich war mein ganzes Leben Internationalistin, bin aber noch nicht lange draußen. Ich musste meinen Sohn großziehen. Aber mir war immer klar, dass ich ins Ausland gehe, sobald ich weg kann. Jetzt bin ich geschieden, mein Sohn ist 17 und ich konnte gehen - wohin, das wurde in Havanna entschieden. Erzählerin: Zwei Jahre wird sie in Bolivien bleiben. Sie fühle sich hier wohl, sagt sie, spanisch ist Landessprache. Ob sie auch einem Ruf nach Pakistan gefolgt wäre, will ich wissen? Sie guckt erschrocken, "das wäre schwieriger, nicht nur wegen der Sprache", antwortet sie vorsichtig. Die Gleichberechtigung der Frau war und ist eines der wichtigsten Ziele der kubanischen Revolution. Ob sie als berufstätige und dazu geschiedene Frau mit ihren roten Fingernägeln in Pakistan wohl respektiert würde? "Aber", sagt sie fest, "wenn man mich geschickt hätte, wäre ich gegangen. Wir Kubaner passen uns an. Wir haben schon so viel durchgemacht". O-Ton: "Hay pacientes que vienen de Perú ... " 2. Sprecherin: Es gibt hier Patienten, die reisen aus Peru an. Wir behandeln sie genauso wie die Bolivianer, wir machen nur einen Unterschied: Die Peruaner dürfen hier, in der Kaserne der Luftwaffe nebenan, übernachten. So können wir sie uns am Tag nach der Operation noch einmal anschauen. Deshalb sind uns die Peruaner sehr dankbar. Sie werden von einem unserer Ärzte entweder hierher gebracht oder in unserer kleineren Klinik, in Copacabana, am Titicacasee, operiert. O-Ton: " Vienen hasta ciento ... " 2. Sprecherin: Täglich kommen zwischen hundert und zweihundert Patienten. Wir öffnen um acht Uhr morgens und operieren solange, bis alle dran waren. Manchmal bis spät in die Nacht hinein. Wer herkommt, kann sicher sein, behandelt zu werden. Erzählerin: Die Luftwaffe habe ihnen dieses Gebäude zur Verfügung gestellt, erzählt Odalys. Wir sind an einem winzigen Raum angelangt, hier ist die "Abteilung Statistik" untergebracht. O-Ton: "Aqui es el departamento ... ? Atmo 2. Sprecherin: Alle Informationen werden hier gespeichert, die persönlichen Daten und ihre Krankengeschichte. Manchmal erstreckt sich die Behandlung über mehrere Jahre. Und oft erinnern sich die Patienten nicht daran, wann und aufgrund welcher Diagnose sie behandelt worden sind. Da hilft der Blick in unsere Datenbank. Erzählerin: Eine junge Frau arbeitet am Computer, neben ihr steht ein Heizgerät. Es ist kalt in El Alto, und die Eingangspforte steht meist sperrangelweit offen. O-Ton: "Eso no mas del frio ...? 1. Sprecherin: Wir ziehen uns alles Mögliche an, um nicht zu erfrieren. Man gewöhnt sich nur langsam an das Klima. Erzählerin: Behandelt wird alles, was mit dem Auge zu tun hat, erklärt mir Odalys. O-Ton: "Atendemos pterigium ..." 2. Sprecherin: Pterygium, ein bösartiges Wachstum der Bindehaut, sowie Fleischwucherungen am Auge, Fehlsichtigkeit, Katarakt - also den grauen Star, Glaukom - den grünen Star, Linsentrübung, Gerstenkorn, Sehnerv-Schädigung, Farbenblindheit und Veränderungen am Augapfel. Wir behandeln chirurgisch oder medikamentös. Oft entfernen wir Gegenstände, gerade war ein Zimmermann hier, dem beim Hobeln einen Holzsplitter ins Auge geraten war. Erzählerin: In der Abteilung Optometrie sitzt ein Patient auf einem Stuhl. Er presst seine Stirn gegen eine Metallschiene, das Kinn muss er auflegen. Hier wird der Augendruck gemessen und in den Augenhintergrund geschaut. Die Geräte stammen aus Deutschland und Italien. Der Patient wirkt ängstlich, manche werden von ihren Kindern an die Apparate geführt. Auch wenn die Ärzte es ihnen erklären, sie scheinen nicht zu verstehen, was ihnen hier passiert. Sie fürchten sich vor dem Licht, dass zur Untersuchung ins Auge gestrahlt wird. O-Ton: "Algunos dicen que no ven ...? 2. Sprecherin: Sie wissen nicht, welche Krankheit sie haben. Sie sagen: ich kann nicht mehr sehen oder sehe verschwommen. Andere kommen mit einer Verletzung oder einer entzündeten Bindehaut. Wir operieren auch Warzen. Bei einem Pterigyum ist die Bindehaut überwuchert, dies kann auf die Kornea übergreifen, die Sicht beeinträchtigen und die Pupille trüben. Wir kennen unterschiedliche Grade des Pterigyium, eins bis vier. Bei Grad eins hilft ein entzündungshemmendes Medikament. Ab Grad Nummer Zwei muss operiert werden. Erzählerin: Wir verlassen die Optometrie und gehen auf eine Terrasse. Sie grenzt an den Kasernenhof der Luftwaffe, durch eine hohe Mauer und ein vergittertes Tor getrennt. O-Ton: "Aqui hay tres ... ? 2. Sprecherin: Unserer Klinik sind drei Ärztebrigaden angeschlossen. Jede Brigade besteht aus sechzehn bis zwanzig Ärzten und verfügt über eine komplette Ausrüstung. Sie behandeln vor Ort, in den Gemeinden. Patienten mit Augenleiden schicken sie zu uns. Erzählerin: Hat es wegen dieser Praxen nicht Ärger mit der bolivianischen Ärztekammer gegeben, frage ich? Odalys runzelt die Stirn. Das Thema ist ihr offenkundig unangenehm. "Anfangs gab es Probleme", sagt sie knapp. Atmo Erzählerin: Ein junger Mann, im weißen Kittel, gesellt sich zu uns. Leonardo heißt er, wie ich später erfahre. Er ist 28 Jahre alt. Argwöhnisch blickt er auf mein Mikrophon - ein Instrument des Klassenfeindes? Atmo 1. Sprecher Ich habe strikte Anweisungen, keine Interviews zu geben. Erzählerin: Odalys beruhigt ihn. Seine Ablehnung sei ja im Prinzip korrekt, aber mein Besuch sei von der Botschaft in La Paz genehmigt worden. 1. Sprecher: Bist du sicher? 2. Sprecherin: Ja, doch! Ich bin schließlich die Direktorin. Erzählerin: Leonardo bleibt misstrauisch. "Wirklich?" Ja, antwortet Odalys. O-Ton: "Seis anos..." 1. Sprecher: Ich habe sechs Jahre lang in Kuba studiert. Man war dort sehr streng. Wer bei einer Prüfung durchfällt, kann das Jahr nicht wiederholen, sondern fliegt automatisch raus. Ich bin Allgemeinmediziner und kann später meine Facharztausbildung zum Gynäkologen oder Herzspezialisten beginnen. Atmo 2. Sprecherin: Leonardo hat seine Patienten zu uns begleitet. Die meisten Ärzte der Brigade sind Allgemeinmediziner, aber wir haben sie ausgebildet, damit sie Augenkrankheiten diagnostizieren und überweisen können. Sie können einen Grauen Star von einer Fehlsichtigkeit unterscheiden. Die Entscheidung, was am Ende operiert wird, fällen unsere Fachleute hier nach einer umfassenden Untersuchung. O-Ton: "Nosotros lo atendemos ...? 1. Sprecher: Auf dem Land kommen die Leute zu uns wegen ihres hohen Blutdrucks oder wegen Diabetes. Nach der Untersuchung geben wir ihnen Medikamente. Bezahlen müssen sie nichts. Wir arbeiten mit den Autoritäten der Gemeinde zusammen, etwa mit den Vorsitzenden der Nachbarschaftskomitees. Mit ihnen treffen wir uns einmal im Monat. Sie sind es, die ihren Mitbürgern erzählen, dass wir umsonst behandeln. Erzählerin: Auch Leonardo stelle ich die heikle Frage nach dem Verhältnis zur hiesigen Ärztekammer. O-Ton: "Con los medicos bolivianos ... " 1. Sprecher: Wie das Verhältnis zu den bolivianischen Kollegen ist? Gut! In unserer Praxis arbeiten auch bolivianische Ärzte. Hand in Hand mit uns. Wir haben keine Angst vor den Kollegen! Angst muss die Ärztekammer haben. Wir behandeln umsonst, und verteilen Medikamente gratis. Wir kümmern uns auch um Leute, die kein Geld haben. Für uns ist Gesundheit keine Ware. Erzählerin: Was macht der junge Mann in seiner Freizeit auf dem kargen Altiplano, in der dünnen Luft? Leonardo seufzt ein wenig und antwortet betont höflich. O-Ton: "En Bolivia aprendi ...? 1. Sprecher: Die Bolivianer reden leise und entschuldigen sich immerzu. Inzwischen entschuldige ich mich ebenfalls ständig, dann verstehen sie mich. Atmo Erzählerin: Im engen Flur warten die Patienten auf Holzbänken, bis sie in das nächste Behandlungszimmer gerufen werden. Auf dem Boden krabbeln Kinder, Frauen tragen ihre Babys in bunten Tüchern auf dem Rücken. O-Ton: in aymara Erzählerin: Sie verstehe kein Spanisch, sagt eine alte Frau, sie spreche nur Aymara. Der junge Mann neben ihr springt ein und übersetzt: 2. Sprecher: Sie ist sehr zufrieden, sie wurde schon operiert. Jetzt kann sie wieder sehen. Alles war umsonst. Nicht mal die Medikamente musste sie bezahlen. Sie wartet jetzt auf die Nachbehandlung. Erzählerin: Woran sie operiert worden ist, will ich von ihr wissen? Sie zuckt mit den Achseln. Sie ist geheilt, das ist das Wichtigste. Atmo Erzählerin: Lumei arbeitet seit zwei Monaten in El Alto. Die Ärztin untersucht gerade einen Patienten, der am Grauen Star operiert worden ist. Ist die Wunde gut verheilt? Oder entzündet? Sie leuchtet in beide Augen und zeigt auf die Wand. Dort hängt ein Schild mit Buchstaben, oben die großen, und nach unten werden sie immer kleiner. Kann er alles entziffern? Offensichtlich. Dieser Patient kann lesen. Manche sind Analphabeten, sagt Lumei, sie schämen sich, wenn sie trotz besten Willens und guten Augenlichts nicht buchstabieren können. Die klärt die Ärztin dann über die Möglichkeiten der Alphabetisierung auf. Atmo 1. Sprecherin: Die erste Nachuntersuchung findet 24 Stunden später statt, die zweite nach einer Woche, die dritte nach zwei Wochen und die letzte nach einem bis drei Monaten. Dieser Patient hat alles gut überstanden. Ich werde ihn mir in einem Monat wieder ansehen. Und in einem Vierteljahr entscheiden wir, ob wir das andere Auge operieren. Erzählerin: Die Ärztin winkt einen Patienten zu sich heran, einen Aymara. Er trägt eine zerschlissene dunkle Hose und einen verfilzten Pullover. Auf ihr Zeichen springt er sofort auf. O-Ton 1. Sprecher: Ich habe einen Unfall gehabt und bin vor zwei Monaten erblindet. Ich konnte nicht mehr auf die Straße. Ich bin vor kurzem operiert worden und kann wieder sehen und mich frei bewegen. Ich muss noch mal herkommen. Ich bin sehr dankbar. Erzählerin: Paulina, eine junge Indianerin in westlicher Kleidung, "arbeitet auf der Straße", sagt sie. Womit sie ihr Geld verdient? Ist sie eine fliegende Händlerin? Verkehrspolizistin? Oder Prostituierte? Sie mag es mir nicht verraten. O-Ton: "Si yo estaba metida ..." 1. Sprecherin: Ich wurde operiert, weil ich nur Schatten sah. Meine Nachbarn hatten mir von den Kubanern erzählt. Heute bekomme ich eine Brille. Atmo O-Ton: "Aqui es la parte ... " 2. Sprecherin: Hier untersuchen wir, mit allen notwendigen Geräten, Blut und Gewebe. Atmo Erzählerin: Mittlerweile sind die Klinik-Leiterin und ich auf unserem Rundgang vor dem Labor angekommen. Die Tür öffnet sich, heraus kommt ein Patient mit einem Pflaster in der Armbeuge. Conchita, die Laborassistentin, nimmt Blut ab. El Alto ist nicht ihre erste Station, die Fünfzigjährige war zuvor für die Operación Milagros in Honduras. O-Ton: "Esto es para ...? 1. Sprecherin: Von den Ergebnissen der Untersuchungen hängt ab, ob wir den Patienten operieren können. Wenn er zuwenig rote Blutkörperchen oder Blutzucker hat, muss er warten. Erzählerin: Nicht nur bei Diabetes oder Anämie wird auf den chirurgischen Eingriff verzichtet. O-Ton: "En dependencia de los valores ... ? 2. Sprecherin: Entscheidend sind der gesamte Gesundheitszustand sowie das EKG. Dieser Patient zum Beispiel hat keine Probleme. Er ist 25 Jahre alt, kein Diabetiker und leidet nicht unter Mangel an roten Blutkörperchen. Er wird die Operation gut überstehen, wir betäuben ja nur lokal. Er kam heute Morgen und wird gleich in die Chirurgie geschickt. Manchmal kommen Leute her, die wissen gar nicht, dass sie ein Magengeschwür haben. Die schicken wir nach der Diagnose nach Hause. Sie sollen wieder kommen, wenn sie ihr Geschwür kuriert haben. Erzählerin: Odalys öffnet die Tür zur Herzabteilung. Sie wird von einer Ärztin geleitet, die auf Intensivmedizin spezialisiert ist. O-Ton: "Esto es el departamento ...? 2. Sprecherin: Vor einer Staroperation erstellen wir ein Elektrokardiogramm. So erfahren wir, ob der Patient Herz- oder Atembeschwerden hat. Die Ärztin wertet die Ergebnisse der Blutuntersuchungen aus, die das Labor geschickt hat. Atmo Erzählerin: Odalys Handy klingelt, sie muss jederzeit erreichbar sein. Atmo Erzählerin: Kein Notfall, unser Rundgang kann weitergehen. O-Ton: "Los lentes ..." 2. Sprecherin: In der Abteilung Optik stellen wir Linsen und Brillen her. Auch für Kurz- und Weitsichtige. Kuba schickt uns Gläser und Gestelle. Wir messen die Werte und fertigen die Brillen nach Maß an. Erzählerin: Die Laborassistentin freut sich offensichtlich über die Unterbrechung. Wie es ihr in Bolivien gefällt, frage ich sie. Sie lacht. Viel Kontakt zu Einheimischen habe man nicht, aber ... O-Ton: "No, son buenas ..." 1. Sprecherin: Die Bolivianer sind gute Menschen, aber ein wenig verschlossen und misstrauisch. O-Ton: "Y es el pre operatorio ...? 1. Sprecher: Nach dem Labor kommt der Patient zu mir. Erzählerin: Daniel arbeitet hier seit sechs Monaten als Krankenpfleger. 1. Sprecher weiter: Ich schreibe seine Krankengeschichte und die Laborwerte auf seine Karteikarte. Wenn alles Ok ist, wird er gleich in den Operationsraum geschickt. Atmo Erzählerin: Das Herzstück der Klinik ist der Operationssaal. Eintreten darf ich natürlich nicht, aber vom Flur aus sehe ich durch große Fenster die Operationstische. Zwei Patienten werden gerade operiert, abgedeckt mit grünen Tüchern liegen sie flach gebettet, nur die Augenpartie ist frei. Zwei Ärzte und vier Schwestern beugen sich über sie, ein eingespieltes Team. Jeder Handgriff sitzt. Da soll ich nicht stören. Außerdem müsste meine Kleidung erst sterilisiert werden. Atmo Erzählerin: In einem Nebenraum werden die Patienten vorbereitet. 2. Sprecherin: Die Krankenschwester sterilisiert alle Instrumente und Geräte. Alle, die in der Chirurgie benötigt werden. Sie legt das Material zurecht. Nach der Operation reinigt sie die Instrumente erst mechanisch und legt sie dann in den Sterilisator. Erzählerin: Die Krankenschwester, die hier arbeitet, hat dunkle Haut und ziemlich krause Haare. O-Ton: "Me preguntan ..." 1. Sprecherin: Die Frauen fragen mich, wie ich das mit meinen Haaren mache. Oft werde ich auf der Straße angesprochen, ob ich Brasilianerin bin. Oder Kubanerin. Ich sage ihnen: Kubanerin. Das gefällt den Leuten. Atmo Erzählerin: Ich bekomme von den "Internacionalistas" nur Gutes über ihre Gastgeber zu hören. Nur in einem einzigen Punkt lassen sie vorsichtiges Befremden durchblicken. O-Ton: "Si, nosotros si ... ? 2. Sprecherin: Die Bolivianer haben eine völlig andere Vorstellung von Körperpflege. In Kuba duschen wir jeden Tag, manchmal mehrfach, und selbst wenn es spät ist. Das ist uns sehr wichtig. Hier herrscht eine andere Kultur. Sie waschen sich einfach nicht. Und dann kommen sie her und müssen sich vor der Operation bis auf ihre Unterwäsche ausziehen. Eine Operation soll ja unter möglichst keimfreien Bedingungen stattfinden. Das Mindeste, was wir ihnen sagen, dass sie ihr Gesicht mit abgekochtem Wasser gründlich waschen müssen. Sie dürfen ihre Augen nicht mit den Fingern oder einem schmutzigen Taschentuch berühren. Das Hauptproblem entsteht nach der Operation, wenn sie wieder zu Hause sind. Wir erklären ihnen genau, wie wichtig Hygiene ist. Sie müssen täglich das Verbandszeug wechseln, und schmutzige Hände können eine Infektion nach sich ziehen. Da kann die Operation noch so gut verlaufen sein! Besonders bei sehr armen Leuten vom Land ist das ein Problem. Unsere Patienten in Obrajes, einem wohlhabenden Stadtviertel von La Paz, haben andere Vorstellungen von Hygiene. Atmo Erzählerin: Die Tür zur Apotheke knarrt. Drinnen in den Regalen stapeln sich Medikamente, Brillengestelle und Gläser. Hier ist Eva-Marias Reich, sie ist die Pharmazeutin der Klinik. O-Ton: "Primeramente el lente ...? 1. Sprecherin: Ich verteile Augentropfen oder was sonst immer verschrieben wird. Ich gebe dem Patienten mit, was er zu Hause braucht. Kaufen muss er nichts. Er erhält Antibiotika und Schmerzmittel, falls ihm etwas weh tut. Atmo Erzählerin: Die Medikamente liefert Kuba, so Eva Maria. Selbst entwickelte Medikamente, Generika oder die Ware der Pharmaindustrie? Sie übergeht meine Frage. O-Ton: "Al principio nos costó ...? 1. Sprecherin: Anfangs hatten wir mit den Bolivianern Verständnisschwierigkeiten, viele sprechen kein spanisch sondern nur Aymara. So heißt doch ihre Sprache, oder? Wir verstehen diese indigene Sprache nicht. Aber irgendwie klappt es schon. Wenn das Klima nur nicht so kalt wäre. Auch die Höhe ist schwierig. Was wir in unserer Freizeit machen? (Sie lacht) Naja, wir sind zum arbeiten hier. Erzählerin: Viele Möglichkeiten gibt es hier ohnehin nicht. Für Sport ist die Luft zu dünn, in den Bergen liegt zwar Schnee, aber es fehlen Skipisten und Wälder, und die Kubaner kennen keinen Wintersport. Das Wasser des Titicacasees ist eisig, der Pazifik weit und der Atlantik noch weiter. Einmal im Jahr hat jeder Internationalist vier Wochen Urlaub - den verbringt er bei seiner Familie zuhause. Kontakte zu Einheimischen sind selten, man bleibt am Wochenende unter Kollegen. Sind Beziehungen zu Bolivianern unerwünscht oder gar verboten? O-Ton: "Se autoriza ..." 2. Sprecherin: Das ist erlaubt, hat aber einen Preis. Niemand verbietet uns Beziehungen mit Bolivianern. Erlaubt ist das. Erzählerin: Die Apothekerin hat ihre eigene Ansicht zum Thema. 1. Sprecherin: Erlaubt schon, aber schwierig. Denn deine Familie ist in Kuba. Erzählerin: Odalys mag es nicht aussprechen. Es geht um das, was in der DDR "Republikflucht" genannt wurde. Eine Ausreise aus Kuba ist mit ermüdenden Behördengängen verbunden, und das Flugticket muss jemand aus dem Ausland bezahlen. Zwar ist die Ausreise möglich und in der Praxis unkomplizierter als seinerzeit in der DDR. Aber die Regierung in Havanna will ihre Leute halten, in deren Ausbildung sie viel investiert hat. O-Ton: "Generalmente solo viaja solo una persona ...? 2. Sprecherin: Im Allgemeinen reist ein Internationalist alleine. Seine Familie bleibt zurück, Ehemann, Kinder, Eltern. Ich zum Beispiel bin geschieden, aber mein Sohn ist in Kuba. Das sind die Bedingungen, die wir akzeptiert haben. Wir widmen uns ganz der Solidarität, dem Humanismus und dem Internationalismus. Wenn wir uns für diese Laufbahn entscheiden, müssen wir eine "Erklärung der Bedingungslosigkeit" unterschreiben. Wir gehen in jedes Land, in dem wir gebraucht werden, in Kuba oder irgendwo auf der Welt. Das war von Anfang an klar. Wir können auch in Kuba jederzeit an irgendeinen Ort versetzt werden, wo ein Arzt fehlt. Dann gehen wir nach Santa Clara oder nach Havanna, auch wenn unsere Familie in Santiago lebt. Erzählerin: Lebensentwürfe können sich ändern, gibt Odalys zu. Auch Internacionalistas seien nicht dagegen gefeit, sich in Ausländer zu verlieben. Manche ändern auch ihre politische Meinung. O-Ton: "Del centro ...? 2. Sprecherin: Aus unserer Klinik ist niemand desertiert. Ich weiß von anderen Deserteuren. Ich kenne ihre Gründe nicht, vielleicht war es Liebe, oder Politik. Das entscheidet jeder selbst. Erzählerin: Das bitter arme Bolivien bietet kaum Attraktionen, die zum Bleiben animieren würden. Und La Paz erkennt die Abschlüsse der Kubaner nicht an. Man lässt sie in ihren Kliniken und in der Brigade arbeiten, erteilt aber den einzelnen Ärzten keine Zulassung. O-Ton : "No estamos autorizados ...? 2. Sprecherin: Wir dürfen keine medizinischen Atteste oder Gutachten ausstellen. Wir üben zwar unseren Beruf aus, aber wie das im Einzelnen gehandhabt wird, weiß ich nicht. Erzählerin: Vermutlich weiß die Klinikleiterin genau, was ihr Hochschulabschluss in ihrem Gastland gilt. Sie will sich im Gespräch mit einer ausländischen Journalistin wahrscheinlich nicht den Mund verbrennen. Auch über die Finanzen redet sie nicht. Doch auch "Wunder" müssen schließlich finanziert werden. O-Ton: "Yo vivo en una ..." 1. Sprecher: Ich habe mit drei Kubanern ein Haus gemietet. Ob wir Lohn erhalten? Wer erhält keinen Lohn? Erzählerin: Tatsächlich erhalten die kubanischen Ärzte seit Monaten kein Gehalt mehr. In La Paz ist das ein offenes Geheimnis. Als die Regierungen in Caracas und Havanna vor fünf Jahren die Operación Milagros ins Leben gerufen hatten, schickte die Chávez-Regierung Erdöl zu Vorzugspreisen oder sogar umsonst auf die Karibik-Insel. Dafür sollten kubanische Ärzte in den Armenvierteln dieser Welt Kranke heilen. Das war Teil des Konzepts für den "Sozialismus des 21. Jahrhunderts", der so wachsen und gedeihen sollte. Doch im vergangenen Jahr fiel der Ölpreis. Konnte Chávez 2008 noch 79 Milliarden Dollar für seinen Internationalismus ausgeben, stehen ihm für das Jahr 2009 nur sechs Milliarden zur Verfügung, war in der Internationalen Wirtschaftspresse zu lesen. Atmo Erzählerin: Janet Valdéz , die Koordinatorin in Bolivien ist Allgemein-Medizinerin und hat zuvor in Guatemala gearbeitet. Was verdient sie, frage ich, und woher kommt das Geld? O-Ton: "No sé exactamente ...? 1. Sprecherin: Ich weiß nicht genau, aber unser Lohn kommt aus Kuba. Wie das genau läuft und auf welche Konten gezahlt wird, weiß ich nicht. Da müssen Sie mit Leuten reden, die mehr Informationen besitzen. Erzählerin: Sie kann oder will mir auch nicht sagen, ob die Augenklinik in El Alto eine öffentliche oder private, eine bolivianische oder eine kubanische Einrichtung ist. O-Ton: "El Alto es uno de los centros ...? 1. Sprecherin: Meist behandeln wir unter dem Dach einer bolivianischen Klinik, wie im Süden von La Paz, in Obrajes. Das dortige Krankenhaus leiten die Methodisten. Die Klinik in El Alto ist unabhängig. Die kubanischen Ärzte sind nicht Angestellte des bolivianischen Staates, unser Lohn kommt aus Kuba. Erzählerin: Wer aber ist verantwortlich, wenn etwas schief geht und zum Beispiel Regressforderungen gestellt werden? "Wir sind völlig legal", meint Janet. An der "Legalität" hatte ich gar nicht gezweifelt: O-Ton : "Esa parte vamos a dejarla ... " 1. Sprecherin: Diese Frage kann ich nicht jetzt beantworten. Erzählerin: Janet wechselt das Thema. Sie druckt eine Statistik aus: 2. Sprecher: 2006: 51.000 in Bolivien operierte Patienten. 2007: 145.000 Patienten. 2008, trotz monatelanger Unterbrechung: 120.000. Bis April 2009: 60.000. Erzählerin: Einschließlich der ausgeflogenen Patienten ergibt das in weniger als fünf Jahren eine Bilanz von 386.597 Menschen, die ohne die Operation Wunder wohl erblindet wären, rechnet Janet vor. Sie ist offensichtlich sehr stolz auf diese Leistung. Die Internacionalistas ernten aber nicht nur Beifall. 400.000 Behandlungen - das sehen die niedergelassenen bolivianischen Ärzte nicht gerne. Sie fürchteten um ihre Pfründe; obwohl zu den Kubanern hauptsächlich die Mittellosen gehen, keine zahlenden Patienten. Aber die Ärztekammer stört sich an Grundsätzlichem. Daran, dass die Operation Wunder allen zeigt, dass Gesundheitsfürsorge ein Menschenrecht ist, das auch für Arme gilt - und das sich umsetzen lässt, wenn man nur will. O-Ton: "Inicialmente, la reacción ...? Erzählerin: Das Verhältnis zur Ärztekammer war nicht das Beste, gibt Janet zu. 1. Sprecherin: Es hat sich etwas gebessert. Die Bolivianer akzeptieren uns, gerade die Ärmsten. Wir werden von den nationalen Behörden unterstützt. Erzählerin: Mit "nationalen Behörden" meint sie die nationale Regierung von Evo Morales, der allerdings die regionalen Behörden des Tieflands feindlich gegenüber stehen, vor allem im Bezirk Santa Cruz. Dort würde man sich gerne von den armen Indios des Hochlandes abspalten. Im Tiefland ist die Situation explosiv. Organisationen, die sich um die indigenen Völker kümmern und die als "regierungsnah" gelten, sind mit Brandanschlägen angegriffen worden. Die Kubaner werden verdächtigt, nicht nur mit Skalpell und Augentropfen, sondern auch mit Waffen zu hantieren. Belege gibt es für diese Behauptungen keine. Trotzdem braucht ihre Klinik in Santa Cruz Schutz: O-Ton: "La situación de Santa Cruz ... ? 1. Sprecherin: Santa Cruz steht in Opposition zur Nationalen Regierung von Evo Morales. Aber wir kümmern uns um unsere Arbeit. Wir sind hier, um Menschen zu helfen. Das erkennen die Leute an. Auch in Santa Cruz. Erzählerin: Janet zeigt mir eine Landkarte an der Wand. Fähnchen und Punkte markieren die Kliniken und mobilen Behandlungseinheiten. Viele Kliniken befinden sich in Grenznähe, wo Menschen aus den Nachbarländern behandelt werden. Erzählerin: Was sie nicht sagt: Die Nachbarn sehen das nicht nur als Hilfe. Die konservative Regierung in Lima, die ohnehin mit Evo Morales verfeindet ist, spricht von "Einmischung in die internen Angelegenheiten Perus" - hinter vorgehaltener Hand, da in den abgelegenen Grenzregionen Ärztemangel herrscht. Auch die argentinische und die brasilianische Regierung betrachten die Kliniken mit gemischten Gefühlen. Denn trotz aller Bekundungen von "regionaler Integration" denken sie immer noch nationalstaatlich. Nur sie sind demnach für die Versorgung ihrer Bürger zuständig. Das medizinische Engagement der Kubaner führt ihnen das eigene Unvermögen vor. Das kubanische Konzept, hieß es, sei nicht weniger paternalistisch als das der USA. Deren "Allianz für den Fortschritt" aus den sechziger Jahren hat den Wettstreit um den besseren Weg bei der Armutsbekämpfung in Südamerika längst verloren. In Paraguay zum Beispiel rief die US-Botschaft vor zwei Jahren das Programm "Lass dich zu Hause sicher operieren" ins Leben. Die US-Firma Alcon spendete dem Ärzte-Verband Linsen und Operationsbestecke im Wert von 10.300 Dollar. Damit konnten 30 Patienten am Star operiert werden. Den Gesamtbetrag der Spenden bezifferte die US-Botschaft auf 53.900 Dollar. Ausreichend für 160 Operationen. So viele finden in El Alto täglich statt, in nur einer der 18 kubanischen Augenkliniken Boliviens. Atmo Erzählerin: Hat die "Operation Wunder" eine Zukunft? Oder muss sie, angesichts leerer Kassen, ihre Zelte abbrechen? Odalys würde gerne in El Alto bleiben, Janet möchte bald nach Kuba zurück, zu ihrem Mann. Sie ist 28 Jahre alt und will ein Baby. Florencia wartet vor der Klinik in El Alto auf den Omnibus. Mit ihren weißblonden Haaren und blauen Augen sieht man der 77jährigen den deutschen Großvater an. Sie arbeitet seit 52 Jahren als Lehrerin und verdient umgerechnet 220 Euro. Sie kann sich nicht pensionieren lassen, denn ihre Rente läge dann unter hundert Euro. Sie hat grünen Star und war vor sechs Jahren am rechten Auge operiert worden. O-Ton: "Ya me operaron un mes ... ? 1. Sprecherin: Der Eingriff war damals sehr teuer, und meine ganze Familie hatte für ihn gespart. An eine zweite Operation war nicht zu denken, und mein linkes Auges drohte zu erblinden. Dann erfuhr ich von diesen Kubanern. Sie haben mich vor einem Monat umsonst operiert. Das war wunderbar. Atmo Absage: Operation Wunder Eine kubanische Augenklinik in Bolivien Ein Feature von Gaby Weber Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2009. Es sprachen: Nina Petri Claude de Demo Anja Niederfahrenforst Christoph Müller und Hüseyin Michael Cirpici Ton und Technik: Hans Martin Renz und Beate Braun Regie: Thomas Wolfertz Redaktion: Karin Beindorff 9