KULTUR UND GESELLSCHAFT Org.einheit : 46 Reihe : Literatur Kostenträger : P 62 110 Titel : Der wahre Roman der französischen Gesellschaft von heute. "Raconter la vie" - ein kollektives Literaturprojekt AutorIn : Kathrin Hondl Redakteurin : Barbara Wahlster Sendetermin : 27.5.2014 Regie : Klaus-Michael KLingsporn Besetzung :Zitator/Sprecher,Zitatorin/Sprecherin,Autorin/spricht selbst Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Deutschlandradio Kultur Literatur 27.5.14 Redaktion: Barbara Wahlster Autorin: Kathrin Hondl Der wahre Roman der französischen Gesellschaft von heute "Raconter la vie" - ein kollektives Literaturprojekt Atmo1: Métro Darüber /Zitator: Station République. Metallisch scheppernd kommt der weiß-grüne Zug aus dem Tunnel wie ein ausgehungertes Tier. Auf dem Bahnsteig drängt sich eine gefügige und kompakte Menschenmenge. Vor dem Volltanken wirft der Zug den Überschuss an Reisenden ab wie Exkremente. In der Fahrerkabine fixiere ich den Zeiger des Manometers auf dem Amaturenbrett, um für ein paar Sekunden die permanente Aufmerksamkeit auf Leute, Signale, Bahnsteig zu unterbrechen und das Schwindelgefühl zu vertreiben, das die ständig sich bewegende Welt um mich herum auslöst. Die Türen schlagen zu wie scharfe Zähne einer Falle, die zuschnappt. Atmo 1: Métro Autorin: Christophe Petot ist 52, Metrofahrer in Paris und Autor von "Ligne 11" - "Linie 11", wie die Metrolinie, die von der Station "Châtelet" im Pariser Zentrum bis in den Vorort "Les Lilas" im Osten der Stadt führt. Christophe Petots Metro-Novelle ist eine von vielen Geschichten auf dem Internetportal "Raconter la vie", "Das Leben erzählen". O-Ton 1: Christophe Petot Darüber/Sprecher: Ich bin zufällig auf die Website gestoßen. Ich hörte davon im Radio und war sofort begeistert: Ein Internetportal für Leute, die sich schlecht oder gar nicht repräsentiert fühlen, oder die nicht gehört werden. Besonders gefällt mir, dass das nicht einfach irgendein Blog oder Netzforum ist, sondern dass es sich an Leute richtet, die Lust haben über ihr Leben zu schreiben. Atmo 2: Metro Darüber/ Zitator: Ich denke, nur kleine Kinder stellen sich vor, dass die Welt der langen dunklen Tunnel Geheimnisse bergen könnte. Das Gesicht an die Scheibe der Fahrerkabine gedrückt, oder auf dem Arm von Mutter oder Vater, beide Hände als Visier über den Augenbrauen versuchen die Kinder die geheimnisvolle Welt dieser unterirdischen Gänge zu entdecken. Doch es gibt kein weißes Kaninchen mit rosafarbenen Augen im grauen Land der Langeweile, nur riesige Graffiti-Motive eines antiken Frieses in erloschenen Farben. Atmo 2: Metro Atmo 3: "Rauschen der Diskurse" (O-Ton-Collage bzw. - Mix aus Autorenstimmen) Autorin: "Das Parlament der Unsichtbaren", so überschrieb der Historiker Pierre Rosanvallon das Manifest, mit dem er Anfang des Jahres 2014 Französinnen und Franzosen einlud, Geschichten aus ihrem Alltagsleben zu erzählen. Rosanvallon ist Professor am Collège de France in Paris und Autor zahlreicher Studien zu Geschichte und Theorie der Demokratie. (Zuletzt erschien von ihm das auch in Deutschland viel beachtete Buch "Die Gesellschaft der Gleichen".) Mit dem kollektiven Schreibprojekt "Raconter la vie" möchte Pierre Rosanvallon eine "narrative Demokratie" initiieren. O-Ton 2: Pierre Rosanvallon Darüber / Sprecher: Ich möchte an eine Tradition anknüpfen, die Demokratie nicht nur als Zusammenspiel von Verfahren und Institutionen begreift. Demokratie bedeutet, eine gemeinsame Welt zu schaffen. "Demokratie" heißt, Gemeinsamkeit zu produzieren und nicht nur eine repräsentative Regierung zu organisieren. Es ist frappierend zu sehen, was im 19. Jahrhundert zum Aufbau der Demokratie führte. Zum einen war das überall in Europa die Einführung des allgemeinen Wahlrechts. Aber besonders in Frankreich spielten auch Romane, Poesie und die Geschichtsschreibung eine wichtige Rolle für den sozialen Zusammenhalt. Wer von der Geschichte der Demokratie in Frankreich redet, muss auch von Michelet, Victor Hugo oder Balzac reden. Und von all jenen, die man in den 1840er Jahren die Arbeiterdichter nannte. Musik 1: Pierre Dupont, Le Chant des ouvriers 1846 Darüber / Autorin: Mit ihren Chansons, Gedichten und Geschichten gaben die ,poètes ouvriers', die Arbeiterdichter im 19. Jahrhundert den Proletariern eine Stimme - lange bevor sie ein Stimmrecht hatten. Pierre Rosanvallon erinnert daran in seinem Manifest mit einem Zitat von Eugène Sue, dem Autor des Fortsetzungsromans "Die Geheimnisse von Paris": "Mangels politischer Repräsentation schufen die Arbeiter eine Art poetische Repräsentation." "Das Parlament der Unsichtbaren" von Pierre Rosanvallon versteht sich als Fortsetzung dieses Gedankens im Frankreich des 21. Jahrhhunderts. Denn trotz repräsentativer Demokratie fühlen sich heute viele Menschen nicht oder nur schlecht repräsentiert. Die Gesellschaft ist unlesbar geworden, sagt Rosanvallon. O-Ton 3: Pierre Rosanvallon Darüber / Sprecher: Eine rein soziale Definition der Unsichtbarkeit ist das "ganz Unten" der Gesellschaft. In diesem Sinn sprach zum Beispiel Victor Hugo von der Welt der Nacht, den Welten im Untergrund, vom Proletariat, das sich im Innersten der Fabriken und den ärmsten Vorstädten versteckt. Aber die Unsichtbaren sind auch ganz einfach die, von denen man nichts weiss. Gleich für eines der ersten Bücher lag uns deshalb an einem Bericht von einem Arbeiterdasein, das als solches heute nicht anerkannt ist. Da geht es um diese neue, zersplitterte Arbeiterklasse in den Dienstleistungsbetrieben der Logistikbranche, die mit der Arbeiterklasse von gestern nichts mehr zu tun hat. Ev. Musik 2: Heavy Metal? Zitator: Die Hölle war es, wenn ich ganz allein amerikanische Kühlschränke ausladen musste. Und davon gab's viele. Die wogen mindestens um die 40 Kilo. Sehr hart war es auch, wenn wir zu zweit ran mussten, um ein ganzes Lager auch sehr schwere Waschmaschinen übereinander zu stapeln. Das war wirklich höllisch. Mein Rücken war wie Mus. Abends war es, als hätte ich den ganzen Tag trainiert. Ich hatte Muskelkater in den Armen und Beinen. Das war kaum zu ertragen. Gleich am zweiten Tag ging ich in die Apotheke, wo sie mir Voltaren-Creme gaben. Die ermöglichte es mir gerade so, am nächsten Morgen wieder anzutreten. Nach zwei Wochen hielt ich das nicht mehr aus. Ich bin zum Chef gegangen und habe ihm einfach gesagt: "Ich bin ein Mensch, kein Sklave, ich gehe." Er hat nicht einmal geantwortet. Autorin: Der Bericht des Lagerarbeiters macht deutlich, was Pierre Rosanvallon meint, wenn er in seinem Manifest feststellt: "Das Land fühlt sich nicht gehört." "Ich, Anthony, Arbeiter von heute" - unter diesem Titel ist der Bericht aus den Lagerhallen der Logistikbranche in der Taschenbuchreihe des "Raconter la vie"-Projekts erschienen. Eine Stimme im "Parlament der Unsichtbaren", deren Autor unsichtbar und anonym bleibt: "Anthony", der 27-jährige Schulabbrecher aus der Banlieue von Lyon möchte keine Interviews geben, erklärt Pauline Peretz, die zusammen mit Pierre Rosanvallon für die Buchreihe verantwortlich ist. O-Ton 4: Pauline Peretz Darüber / Sprecherin: Er macht eine schwere Zeit durch. Er sucht immer noch Arbeit in einem Bereich, wo es gerade immer schwieriger wird. Und in dem Buch sagt er eben schon Dinge über einige seiner Arbeitgeber die ihm schaden könnten, wenn er sich outen würde. Wir fanden sein Leben exemplarisch für das Leben vieler junger Schulabbrecher, die meinen, sie könnten es schon schaffen und die sich dann letztlich von Job zu Job hangeln müssen. Deshalb haben wir ihn überzeugt, das Buch zu machen. Autorin: Die prekären Arbeitsverhältnisse in den Lager- und Vertriebszentren von Amazon und Co sind nur eines von vielen Themen, die in den Büchern und Online-Texten zur Sprache kommen. Der Physiker Sébastian Balibar erzählt vom Forscheralltag im Labor. Ein Buch mit dem Titel "Die Katzenfrau" porträtiert Karine, eine von ihrer Arbeit gelangweilte Finanzbeamtin, die in ihrer Freizeit Katzen der Rasse "Heilige Birma" züchtet. Ein muslimischer Mann erzählt von einer folgenreichen Bartrasur und seinem Verhältnis zur Religion. Eine Gemüsebäuerin in Zentralfrankreich beschreibt sich als "Teil des Ökosystems", und ein Tätowierer berichtet von den Licht- und Schattenseiten seines Berufs. Sie alle bilden also das "Parlament der Unsichtbaren". Aber sind diese Menschen tatsächlich so unsichtbar, wie Pierre Rosanvallon sagt? Kann sich heute nicht jeder und jede im Internet sichtbar machen in den sozialen Netzwerken von Facebook über Twitter bis Instagram? O-Ton 5: Pierre Rosanvallon Darüber / Sprecher: Das stimmt. In der heutigen Gesellschaft gibt es ein Paradox: Sie ist gleichzeitig hypersichtbar und undurchsichtig. Über die sozialen Netzwerke erfährt jeder die Befindlichkeiten und schnell geposteten Meinungen von Tausenden. Aber diese Hyper-Sichtbarkeit produziert etwas, das ich "Pailletten-Realität" nenne: eine völlig oberflächliche Hyper-Realität. Die Realität der sozialen Netzwerke ist eine Wirklichkeit, die die Spannungen und die Widersprüche in der Welt nicht verständlich macht. Auch das Leiden an der Welt wird nicht wirklich verständlich gemacht. Es ist immer nur die Banalität des Alltags, die sich da ausdrückt. Wenn man uns mit den sozialen Netzwerken vergleichen will, könnte man sagen: Wir sind ein "gesellschaftliches Facebook". Autorin: Auf der Website von "Raconter la vie" sind die Erzählungen und Erfahrungsberichte Themen zugeordnet: "Verkannte Berufe" zum Beispiel, "Leidenschaft" oder "Low-Cost Leben". Unter den Stichworten "Mangel an Respekt" und "Zwischen zwei Welten" findet sich der Bericht der 20-jährigen Diouma Magassa, geboren und aufgewachsen in der Banlieue von Paris. Unter der Überschrift "Ich war das Hindernis für meinen Erfolg" erzählt Diouma Magassa von ihrem Scheitern als Schülerin eines Pariser Elitegymnasiums. Sie besuchte dort eine sogenannte "prépa", eine "classe préparatoire" zur Vorbereitung auf Frankreichs Elitehochschulen, die "Grandes Écoles". Schon in die "prépa"-Klassen werden nach dem Abitur nur die Besten aufgenommen. "Man hatte mir einen Traum verkauft", schreibt Diouma Magassa. Zitatorin: Ich erfuhr keinerlei Unterstützung von meinen Lehrern. Ich werfe ihnen vor, sich nicht genug dafür zu interessieren, wie sich manche Schüler aus der Banlieue oder aus einfachen Verhältnissen fühlen bei dieser besonderen Erfahrung. Ich bin mir bewusst, dass sie dazu da sind, uns auf die Prüfungen vorzubereiten, die nur die Besten bestehen und dass das keinen Raum lässt, uns zu umsorgen, keinen Raum für Gefühle, keine Zeit, sich um jeden Schüler einzeln zu kümmern ... Aber Menschlichkeit? Ist das ein Konzept von gestern? Autorin: ((Durch ihre Herkunft aus der Banlieue war Diouma Magassa auf dem Pariser Elitegymnasium stigmatisiert.)) Während sie jeden Tag an die zwei Stunden in der S-Bahn verbrachte, um zur Schule zu kommen, seien ihre Klassenkameraden nie auf die Idee gekommen, sie in Le Blancmesnil zu besuchen. Der Ort im Département Seine-Saint Denis hat einen schlechten Ruf. Extrem hohe Jugendarbeitslosigkeit, Drogenkriminalität, Straßenschlachten, das berichten die Medien über die Banlieue. O-Ton 6: Diouma Magassa Darüber / Sprecherin: Die Leute sind von den Medienbildern geprägt und halten daran fest. Sie versuchen nicht zu verstehen oder zu überprüfen, ob das überhaupt wahr ist, was ihnen ständig im Fernsehen erzählt wird. Das ist leider das Problem. Die Leute verlieren sich, sie ertränken sich in ihren Vorurteilen. Es stimmt, dass es Gewalt gibt in der Banlieue. Aber es gibt nicht nur das. Man kann doch nicht sagen, dass in der Banlieue nur Gesindel und Diebe wohnen. Wir leben auch nicht im Irak. Autorin: "Raconter la vie" ist nicht der erste Versuch, ein anderes und genaueres Bild der französischen Gesellschaft zu zeichnen als in den Fernsehnachrichten. Zu den Vorläufern gehört ein Projekt des Philosophen und Historikers Michel Foucault in den 1970er Jahren: "Das Leben der infamen Menschen", eine von Foucault so genannte "Anthologie von Existenzen" bestehend aus schriftlichen Zeugnissen vom Leben infamer, also wörtlich: "absolut ruhmloser" Menschen in der Geschichte. Auch "Das Elend der Welt", die berühmte Studie des Soziologen Pierre Bourdieu aus dem Jahr 1993, sammelte in Interviews Erfahrungsberichte vom "alltäglichen Leiden an der Gesellschaft". Und 2006 veröffentlichte eine Gruppe von Sozialwissenschaftlern und Journalisten das viel beachtete Buch "La France invisible", "Das unsichtbare Frankreich" mit Analysen, Interviews und Reportagen zur sozialen Realität des Landes. "Raconter la vie" beruft sich auf diese Vorläufer und geht gleichzeitig noch einen Schritt weiter. Die individuellen Situationsbeschreibungen, Berichte und Geschichten im Internet und den Taschenbüchern sollen nämlich zusammen den "wahren Roman der französischen Gesellschaft" bilden. So haben es der Demokratietheoretiker Pierre Rosanvallon und seine Mitstreiterinnen programmatisch auf die Website von "Raconter la vie" geschrieben. O-Ton 7: Pierre Rosanvallon Darüber / Sprecher: Der "wahre Roman" ist ein Begriff aus dem 19. Jahrhundert. Auf dem Internetportal bezeichnen wir damit unser vielleicht etwas ehrgeiziges Ziel, das alte Programm von Balzac fortzuführen. Anfang der 1830er Jahre wollte er eine Physiologie der nachrevolutionären französischen Gesellschaft schreiben. Na, und das wollen wir jetzt auch: Eine Physiologie der französischen Gesellschaft vom Beginn des 21. Jahrhunderts. Ev. Musik 3? Musikakzent? Zitator: "Die Unermesslichkeit eines Planes, der zugleich die Geschichte und die Kritik der Gesellschaft, die Analyse ihrer Übel und die Erörterung ihrer Prinzipien umfasst, berechtigt mich, so scheint es mir, meinem Werk den Titel zu geben, unter dem es heute erscheint: ,Die menschliche Komödie'." Autorin: ... schrieb Honoré de Balzac 1842 im Vorwort zur "menschlichen Komödie", seinem unvollendeten Großprojekt, das auf weit über hundert Romane und Erzählungen angelegt war und schließlich 96 Texte umfasste. Der Verweis auf diesen prominenten Vorläufer in der realistischen Literatur des 19. Jahrhunderts kommt nicht von ungefähr. "Raconter la vie" will weder Kummerkasten der Nation noch ein simples Internetforum sein. Es geht um Literatur. Der "wahre Roman der französischen Gesellschaft von heute" hat Regeln. "SMS- und Telegrammstil müssen weitestgehend vermieden werden", steht warnend auf der Website, die von Pauline Miel betreut wird. O-Ton 8: Pauline Miel Darüber / Sprecherin: Wir erklären, dass wir alles publizieren außer Meinungsäußerungen, Pamphleten und Autobiographien, die wirklich ein ganzes Leben erzählen. Uns interessieren zum Beispiel Wendepunkte oder ein Lebensabschnitt. Bei puren Meinungsäußerungen ist die Antwort ein kategorisches Nein. Manchmal sage ich aber auch: Ihre Gedanken sind ja interessant - Können Sie da vielleicht auch eine erlebte Geschichte darüber schreiben? Gelegentlich kommen schöne Erzählungen oder Berichte dabei heraus. Anfangs hatte ich ein bisschen Angst, dass die Leute sich beleidigt fühlen. Aber das ist überhaupt nicht so. Sie hören mir zu und konzentrieren sich dann auf das, was uns am meisten interessiert. Atmo 4: Métro Darüber /Zitator: Mein Arbeitstag teilt sich ein in die Zahl der Rundfahrten, die ich mitzähle. Eine konkrete, minuziöse, überall sichtbare Zeit, der ich mich nicht entziehen kann, zeigt sich ohne Scham auch im professionellen Jargon: Ausgleichszeit, Überstunden, Zeittafel, Fahrplan-Scheitelwert. Überall erinnern mich Uhren an die Pünktlichkeit, an die vergehende Zeit, die fruchtlosen und langweiligen Jahre am Steuer dieser alten Metrozüge. Bald sind es 20 Jahre, in denen die Zeit, ein methodischer und präziser Vollstrecker, mir das Leben nimmt. Atmo 4: Métro Autorin: Die Erzählung des Pariser Metrofahrers Christophe Petot war einer der ersten Texte, die auf dem Internetportal erschienen sind. "Linie 11" gehört auch zu den meistgelesenen und meistkommentierten Beiträgen im Online- Mosaik von "Raconter la vie". Die Szenen aus dem Pariser Untergrund hatte Christophe Petot allerdings schon längst geschrieben, als er das erste Mal von dem kollektiven Literaturprojekt hörte. "Linie 11" entstand im Rahmen eines Kurzgeschichtenwettbewerbs der Universität Sorbonne Nouvelle. Mit Ende 40 hatte Christophe Petot dort neben seinem Job bei der Pariser Metro Literaturwissenschaft studiert. O-Ton 9: Christophe Petot Darüber/ Sprecher: Für mich war das eine Stilübung. Ich hatte nicht die Absicht, Informationen über meinen Beruf als Metrofahrer zu geben. Es ging überhaupt nicht darum zu sagen: Schaut her, was der Metrofahrer so alles macht an einem Tag. Die Erzählung war vielmehr stark beeinflusst von den Texten, die ich damals las. Von Literatur. Ich beziehe mich da ja auch darauf, mal mehr mal weniger explizit. Ich war vor allem total beeinflusst von Claude Simon, den ich sehr verehre. Also mein Ziel war es, etwas zu schreiben, das angenehm zu lesen ist, was eine gewisse Form hat. Autorin: So literarisch ambitioniert und stilistisch durchdacht wie Christophe Petots Metro-Novelle sind längst nicht alle Texte des "Raconter la vie"-Projekts. Doch das "Parlament der Unsichtbaren" erweist sich auch als willkommenes Forum für bislang unsichtbare Autoren, weiss Pauline Peretz, die Co- Direktorin des Projekts. O-Ton 10: Pauline Peretz Darüber/Sprecherin: Wir sind schon sehr überrascht von der literarischen Qualität der eing ereichten Texte. Einige Leute schreiben offensichtlich ziemlich regelmäßig, aber eben oft im Verborgenen. Oder nur für sich selbst, ohne das Geschriebene jemand anderem zu zeigen. Bei uns haben diese Leute auf einmal Leser. Die Texte werden auf der Website von der Community kommentiert und diskutiert. Die Autoren kommen aus ihrem stillen Kämmerlein heraus. Sie trauen sich dann auch, ihren Freunden oder der Familie gegenüber zu sagen, dass sie schreiben. Weil ihre Texte auf der Website anerkannt sind, erkennen sie sich selbst gewissermaßen als Schreibende an. Vielleicht nicht unbedingt als Schriftsteller, nicht alle jedenfalls. Aber wir haben vor, aus einigen online- Texten auch Bücher zu machen und ihre Autoren also zu Schriftstellern. Die Selbstbehauptung als Schreibende gehört bei "Raconter la vie" dazu. Autorin: Der "wahre Roman der französischen Gesellschaft", der durch diese Gemeinschaft der Schreibenden entstehen soll, verlangt detaillierte Beobachtungen aus dem Alltag, Portraits, genaue Situationsbeschreibungen. Zu manchen Themen werden deshalb auch gezielt Aufträge an Schriftsteller vergeben, erklärt Pauline Peretz. O-Ton 11: Pauline Peretz Darüber / Sprecherin: Wir planen zum Beispiel ein Buch über Autobahnraststätten, weil das so exemplarische Orte oder vielmehr Nicht-Orte des sozialen Miteinanders sind. Da ist es besser, einen Schriftsteller zu beauftragen, um diese ganz besondere Atmosphäre einzufangen. Autorin: Die Schriftstellerin Annie Ernaux hat für "Raconter la vie" ein Buch über ihren Supermarkt im Pariser Vorort Cergy-Pontoise geschrieben, einen Riesensupermarkt "Regarde les lumières, mon amour" - "Sieh' die Lichter, meine Liebe" heißt das Buch von Annie Ernaux. Es ist eine Art Tagebuch, in dem sie ihre Einkaufserlebnisse bei Auchan beschreibt und reflektiert. Atmo 5: Hypermaché Darüber / Zitatorin: Donnerstag 7. Februar Die Zeit, in der wir an der Kasse warten, ist die, wo wir uns einander am nächsten sind. Beoachtet und beobachtend, gehört, zuhörend. Oder wir erfassen uns einfach auf intuitive, schwebende Weise. Wir stellen - so sehr wie sonst nirgends - unsere Lebensweise und unser Bankkonto zur Schau. Unsere Essgewohnheiten, unsere intimsten Interessen. Selbst unsere Familienstruktur. Die Waren, die man auf das Laufband legt, sagen ob man alleine lebt, als Paar, mit Baby, kleinen Kindern, Tieren. Den Körper zur Schau stellend, seine Gesten, seine Lebendigkeit oder seine Ungeschicklichkeit - seinen Status als Fremder wenn man die Kassiererin um Hilfe bittet beim Zählen des Kleingeldes. Atmo 5: Hypermarché Autorin: Während die anderen Bücher der "Raconter la vie" - Reihe - mit Ausnahme des Manifests von Pierre Rosanvallon - in den französischen Medien nur sehr summarisch besprochen wurden, gab es auf das kleine Supermarktbuch der in Frankreich ziemlich renommierten Annie Ernaux beachtliche Resonanz. "Vom Rand eines Hypermarchés in der Banlieue aus erleuchtet sie das Herz unserer Leben", schwärmte der Literaturkritiker der Zeitung "Le Monde". Andere allerdings stellten die Frage, ob ein banaler Supermarkt ein würdiges Sujet für die Literatur sein könne. O-Ton 12/Atmo: Débat nouvel obs "Peut-on faire un livre sur ses courses au supermarché? C'est la question dont débattent Jean-Christophe Buisson du Figaro magazine et Grégoire Leménager du Nouvel Observateur ...." Darüber / Autorin: Das Buch sei völlig uninteressant, befand der Kritiker des konservativen "Figaro Magazine". Ein Supermarkt tauge allenfalls als Thema für ein soziologisches Fachbuch, entbehre aber jeglicher "litarischen Würde". Das "Raconter la vie"-Buch von Annie Ernaux mag Schwächen haben. Das Argument aber, dass ein Supermarkt per se nicht von literarischem Interesse sein könne, ist absurd. Nicht zuletzt gibt es in der Literaturgeschichte auch berühmte Vorbilder, insbesondere in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts, der großen Patin des "wahren Romans der Gesellschaft", der Pierre Rosanvallon vorschwebt. Man denke nur an Émile Zola und seinen großen realistischen Romane "Das Paradies der Damen" oder "Der Bauch von Paris". Zola beschrieb die Welt der Kaufhäuser und der Markthallen von Paris und die gesellschaftlichen Veränderungen, die die damals neuen Konsumtempel mit sich brachten. O-Ton 13: Pierre Rosanvallon Darüber / Sprecher: Wenn eine große Schriftstellerin wie Annie Ernaux ein Tagebuch über ihren Supermarkt schreibt, heißt das nicht, dass sie die Dinge a priori anders sieht als wir. Aber sie lehrt uns, sie anders zu sehen, sie vielleicht mit neuen Augen zu sehen. Was Schriftsteller leisten ist fundamental. Fiktion hat in gewisser Weise das Ziel, Linien zu ziehen, Widersprüche aufzuzeigen und durch die Erforschung von etwas Einzigartigem das Portrait einer Gesellschaft zu skizzieren. Autorin: Zu den Schriftstellern, die Pierre Rosanvallon und sein Team beauftragt haben, gehört auch Francois Bégaudeau. Bégaudeau wurde bekannt durch den Roman "Entre le murs", der auf deutsch unter dem Titel "Die Klasse" erschienen ist und dessen gleichnamige Verfilmung 2008 bei den Filmfestspielen in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde. Für das "Raconter la vie"-Projekt hat er jetzt das Portrait einer Krankenschwester im südfranzösischen Figeac geschrieben. O-Ton 14: Francois Bégaudeau Darüber / Sprecher: Wir sollten den Gedanken aufgeben, dass es Romane oder Literatur nur dann gibt, wenn Fiktion im Spiel ist. Darum geht es, glaube ich, nicht. Ich glaube, Literatur hat mit etwas zu tun, das ich den "Anschlag" nenne. Das heißt, man greift nach der Wirklichkeit in einem Satz. Alles was ich erzähle ist real, so verlangt es ja auch der Auftrag von Rosanvallon und seinem Team: ,Bringen Sie uns Informationen, sagen Sie uns, wie die Leute wirklich leben!' Aber sobald man dann die Dinge in einem Satz erfasst, sind sie auch schon Literatur. Ob das dann gute oder schlechte Literatur ist, das müssen dann andere entscheiden, das ist Sache der Leser, nicht meine. Aber ich weiss, dass Sie in jedem Satz, jedem Abschnitt sofort die Dinge drehen und wenden. Das ist Ihre ganz persönliche Art, und es kommt nur Subjektivität dabei heraus. ev. Atmo 6 : Piepen Intensivstation Zitator oder Zitatorin: Eines Morgens betritt Isabelle nach dem Arzt ein Zimmer, in dem ein lebloser Patient nur noch an einem künstlichen Beatmungsgerät hängt. Würde sie genau diesen Augenblick im Lichte dessen, was folgte, wiederlesen, würde Isabelle sagen, dass ihr Chef einen komischen Gesichtsausdruck hatte, dass sie ahnte, dass er einen schmutzigen Plan hegte. Die Wahrheit ist, dass sie nichts hatte kommen sehen. Die Wahrheit ist, dass es sie sehr überrascht, als er auf "off" drückt und unmittelbar danach wieder rausgeht. Sie holt ihn auf dem Flur ein, wo er seiner Mitarbeiterin aufträgt, ihn in zwanzig Minuten zu rufen, um den Tod festzustellen. Wie angewurzelt wagt Isabelle nicht mehr, ins Zimmer zurückzugehen. Durch die Scheibe sieht sie den Kranken zappeln, um aus eigener Kraft zu atmen, was er nicht mehr kann. Sie ärgert sich, nicht verlangt zu haben, dass man ihm ein Beruhigungsmittel gibt. Damit er sich wenigstens nicht kämpfen spürt. Sie wartet bis er sich nicht mehr bewegt, geht schließlich hinein, seufzt, ruft an, um den Tod feststellen zu lassen. Ein Alter ohne Familie und Freunde. Falls nicht die wenigen Nahestehenden aufgehört haben zu kommen. Isabelles Vater, der sein ganzes Leben sehr gesellig war, bekam in den letzten Monaten wenig Besuch von seinen Freunden. Mit dem Tod fühlen sich wenige Menschen wohl. Autorin: Das Portrait der Krankenschwester Isabelle ist wie alle Beiträge der "Raconter la vie"-Reihe ein relativ kurzer Text. Doch Francois Bégaudeau gelingt es, die angespannte ökonomische und politische Situation der öffentlichen Krankenhäuser in Frankreich zu skizzieren und gleichzeitig große menschliche, man könnte auch sagen "metaphysische" Fragen anzusprechen. Leben und Tod, Familie, Einsamkeit und persönliche Freiheit, Berufsalltag und auch Literatur. Francois Bégaudeau lernte die Krankenschwester Isabelle auf einer Buchmesse kennen, wo sie ihn bat, ein Buch zu signieren. O-Ton 15: F. Bégaudeau Darüber / Sprecher: Für mich ist sie eine sehr romanhafte Person. Alle Menschen sind romanhaft. Man muss sich nur ein paar Stunden mit jemandem beschäftigen, und plötzlich wird er oder sie eine Romanfigur. Aber man muss sich Zeit nehmen, zuzuhören. Autorin: Und so könnte er also tatsächlich entstehen, der "wahre Roman der französischen Gesellschaft von heute". Ob das ambitionierte Literaturprojekt "Raconter la vie" aber auch dazu beitragen kann, der Demokratie in Frankreich aus der Krise zu helfen, lässt sich kaum absehen. Francois Bégaudeau ist skeptisch. O-Ton 16: F. Bégeaudeau Darüber / Sprecher: Ich weiss nicht, ob ich mir den schönen Optimismus von Pierre Rosanvallon gestatten würde. Ich glaube nicht, dass Schriftsteller dazu da sind, die Demokratie zu retten. Man kann allerdings literarisch an der der Demokratie arbeiten. Alles was ein Schriftsteller tun kann ist: demokratische Bücher schreiben. Nicht Bücher, die nützlich für die Demokratie sind, sondern demokratische Bücher. Das hieße eben zum Beispiel, Leute in die Literatur aufzunehmen, die da kaum vorkommen. Das ist machbar. Ob das sehr nützlich ist, weiss ich nicht, auch nicht, ob es Frankreich retten wird. Da hab' ich so meine Zweifel! Aber ich weiss: Ich kann Stimmen, die nicht gehört werden, hörbar machen. Autorin: Die Stimmen im "Parlament der Unsichtbaren" werden immer mehr. Anfang Mai standen schon mehr als 180 Erzählungen und Berichte auf der Website - Fragmente des "wahren Romans der französischen Gesellschaft", dessen ganzes Potential aber wohl erst in ein paar Jahren beurteilt werden kann. Zwölf Bücher sollen jährlich erscheinen. Im Internet kommen täglich neue Texte dazu. Dass die Community der Schreibenden stetig wächst, dafür sorgt auch der Metrofahrer Christophe Petot. O-Ton 17: Christophe Petot Darüber / Sprecher: Den Leuten, die ich kenne, sage ich: Schreibt! Ihr habt bestimmt etwas zu sagen. Ich erzähle Ihnen von "Raconter la vie" - Euer Leben ist interessant! Ich dränge sie zu schreiben. Fangt damit an, sage ich Ihnen! Man muss schreiben, das ist aufregend. Annie Ernaux sagt etwas sehr sehr Wahres: "Sehen um zu schreiben bedeutet anders zu sehen". Das finde ich genial. Ich bin kein Schriftsteller - ich mache das nur aus Spaß und Zeitvertreib - aber das ist es: Die Menschen sehen, um sie zu beschreiben, bedeutet, sie anders zu sehen. Autorin: Und so produziert das Literaturprojekt "Raconter la vie" ein Wissen über die Menschen in der französischen Gesellschaft, das die Augen öffnet für viele kleine Details des Alltagslebens. Ein Wissen, das dieses Alltagsleben ja vielleicht sogar verändern kann. Wer die sarkastische Geschichte der Angestellten eines Fast Food-Restaurants gelesen hat, wird es sich künftig vielleicht dreimal überlegen, bevor er einen "Cheeseburger ohne Käse" bestellt. Wer die Erzählung der Buchhändlerin gelesen hat, die ihren Laden zumachen musste, wird das nächste Buch vielleicht nicht im Internet kaufen. Und wer sich in Paris ärgert, warum die Metro manchmal kaum Zeit zum Ein- und Aussteigen lässt, weiss jetzt wenigstens warum. Atmo 7: Metro Darüber / Zitator: Die letzte Fahrt im Dienst absolviere ich schneller als die anderen und halte an jeder Station ein paar Sekunden weniger lang, als ob ich so schnell wie möglich an der Endhaltestelle ankommen müsste, meine Arbeitskleidung loswerden und nach Hause gehen, um den intimen Trost der Wohnung wiederzufinden, auch wenn dort niemand auf mich wartet, seit sie gegangen ist. Atmo 7: Metro 1