Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 13. August 2012, 19 Uhr 30 Gute Migranten, schlechte Migranten? Vom Kampf um Anerkennung in der Gesellschaft. Von Johannes Nichelmann 01. O-Ton: (Baydar) Wo ist das Problem? - Teasing (0,08) Was ist eigentlich am türkisch sein so scheiße, dass man das permanent negativ konnotieren muss? 01. Musik: Apparat, Not A Number (4,00) - darüber: Sprecherin Ein großer Teil der deutschen Bevölkerung steht skeptisch bis ablehnend den in Deutschland lebenden Muslimen gegenüber ... 02. O-Ton: (Chahrour) der nette Ausländer - Teasing (0,10) Egal wie gut Du bist, wie viel Du machst, bist und bleibst Du der Ausländer von nebenan, der etwas besser Deutsch spricht, als die anderen Ausländer. Sprecherin ?und ein geringer, aber nicht zu vernachlässigender Teil assoziiert (...) die Muslime generell mit dem islamistischen Terrorismus. 03. O-Ton: (Balci) Phasen - Teasing (0,13) Wenn gerade NSU-Morde die Runde machen, dann macht man lieber kein migrationskritisches Stück. Sowie das ein bisschen versackt ist, ist dann wieder das nächste Türkenbashing dran. Und das ist dann eben so ein Auf und Ab. Sprecher vom Dienst ?Gute Migranten, schlechte Migranten?? Vom Kampf um Anerkennung in der Gesellschaft. Ein Feature von Johannes Nichelmann 01. Musik: Ende/Blende 04. O-Ton: Ausschnitt I ?Jilet Ayse, Ich bin voooll sauer!!!? (0,17) Isch schwöre Dir, ey! Er will auch nicht, dass ich was mache mit ihm. Ich bin Jungfrau und so. Er will erst, dass wir heiraten und so. Nicht so, wie die deutschen Schlampen. Die deutschen Schlampen, die machen mit jedem! Da kommt einer und sagt ?Guten Tag! Hallo!?. Verstehst Du? So sind die drauf ... 01. Atmo: Video (2,44) - darüber: Sprecher Sozialsatire auf YouTube. ?Jilet Ayse? ist das Klischee der prolligen Migrantin aus der Großstadt. Sie sitzt im schwarzen Trainingsanzug auf dem Sofa, ist überschminkt und brüllt in eines ihrer fünf Handys. Auf einem Marmortisch liegen die anderen vier, dazu der große Aschenbecher und ein Teller voller Chips. Fast 800.000 Menschen haben diesen Clip im Internet gesehen. 01. Atmo: Ende/Blende 02. Atmo: Kottbusser Tor, Außen (1,59) - darüber: Sprecher Die Figur ?Jilet Ayse? kommt an. Dahinter steckt die Schauspielerin Idil Baydar. 05. O-Ton: (Baydar)Hauptthema (0,07) Mein Hauptthema sind die Kulturen und die Konflikte, die diese Kulturen so mit sich bringen. Sprecher Die 37-Jährige trifft, mitten in der heftigen Integrationsdebatte, die nach dem provokanten Buch von Thilo Sarrazin entbrannt ist, mit ihren Videos einen Nerv. Die Menschen in Deutschland mit Migrationshintergrund wollen nicht auf Herkunft, Kopftücher und Gemüsestände reduziert werden. Die Schauspielerin liefert mit ihrem ?Über-Klischee? das, was viele der sogenannten Mehrheitsgesellschaft in der türkischen Community sehen wollen. 06. O-Ton: (Baydar) Rolle spielen (0,29) Na komplett! Deshalb ja! Deswegen ist es ja umso absurder für mich, immer wieder diese türkische Rolle zu spielen. Weil für mich ist es mittlerweile eine Identitätsrolle. Eine Alltagsrolle, weil sie hat mit mir und mit meiner Geschichte und mit dem, wie ich groß geworden bin oder aufgewachsen bin oder was ich für Sozialisationserfahrungen gemacht habe, überhaupt gar nichts zu tun. Ihr wolltet nicht die Waldorfschülerin, Ihr wolltet unbedingt den Kanaken. Und das ist eigentlich auch so mein persönlicher Konflikt dahinter. Dass ich eben merke, so okay, ich muss die Türkennummer spielen. So, jetzt bekommst Du Deine Türkennummer. Aber jetzt will ich sie auch bezahlt haben. Sprecher Idil Baydars Eltern gehen 1972 nach Deutschland. Sie selbst wird im niedersächsischen Celle geboren, besucht später ein Waldorfinternat und ist Scheidungskind. Ihr Berufswunsch: irgendwas mit Kunst. Baydar sagt: ?Ich bin der Inbegriff einer typisch deutschen Biographie. Nur mein Aussehen lässt erahnen, wo meine Wurzeln liegen.? Seit langem lebt sie in Berlin Kreuzberg und hat viel Zeit zu beobachten. Unter anderem arbeitet sie in Schulen und sozialen Einrichtungen mit Kindern und Jugendlichen. Auch in der berüchtigt-berühmten Rütli-Schule in Berlin-Neukölln. Inspiration für ihre Sozialsatiren. Nur einmal hat sie Berlin länger verlassen. Für die Liebe, nach Kuba. Für Baydar eine Reise durch das Schubladendenken in dieser Welt. 07. O-Ton: (Baydar) Reise durch die Kulturen (0,19) Und da war ich natürlich todtraurig, weil da war ich ja nun kein Türke mehr. Da war ich nämlich dann Spanierin! Ja, und da ich da Spanierin war und nicht mehr Türke, wurde mir ein bisschen langweilig. Dann sind wir nach England gegangen und in England war ich dann eine Inderin. Da wurde ich immer mit ?Namaste? begrüßt. Und da ist mir dann ein Licht aufgegangen. Bin ich zurückgekommen und hier war ich wieder der Türke. Sprecher Ihre Antwort auf dieses Spiel: die Kunstfigur ?Jilet Ayse?. ?Du sprichst mir aus der Seele? - schreibt jemand unter eines ihrer Videos im Netz. 08. O-Ton: Ausschnitt II ?Jilet Ayse, Ich bin voooll sauer!!!? (0,13) Er ist schlau! Guck mal, wie er rechnet! Er denkt auch an Zukunft und so. Er denkt daran, dass wir später und so Spätkauf aufmachen! Und dann bisschen mit acht, neun Kindern Kindergeld! Er hat voll Plan! 09. O-Ton: Jilet Ayse (0,34) Also sie will definitiv auch hier leben. Also es ist nicht so, dass sie Deutsche nicht mag oder was gegen Deutsch hat, das ist überhaupt nicht der Fall. Aber sie möchte schon sagen, was sie nicht versteht. Und andererseits will sie aber auch das Leben, was sie ist. Und sie sieht auch gar nichts Schlechtes darin. Das ist ja das verschärfte daran. Also alles was sie so darstellt ist ja das totale Türkenklischee. Aber für sie ist das cool! Ist doch gut so, dass sie so ist, wie sie ist. Es müsste eigentlich jeder so sein, wie Jilet. Sie hat ja eine Vorbildfunktion! So sieht Jilet sich. 02. Musik: Diverse, Phantoms and Ghosts (7,44) - darüber: 10. O-Ton: (Baydar) Wo ist das Problem? (0,21) Also, das ist die viel interessantere Frage. Was ist eigentlich am Türkisch sein so scheiße, dass man das permanent negativ konnotieren muss? Das ist meine Frage. Was ist denn da so schwierig dran? So unannehmbar? Also warum muss ich das irgendwie ablegen, um Deutsch zu sein? Das verstehe ich nicht. 02. Atmo: Ende/Blende 11. O-Ton: Vorstellung Professor Herbert, mit Effekt (0,11) Jetzt höre ich mich selbst allerdings auf dem Kopfhörer. Das ist, glaube ich, nicht richtig. So... wir können anfangen. Mein Name ist Ulrich Herbert, ich bin Professor für Neuere und Neuste Geschichte an der Universität in Freiburg. 02. Musik: Ende/Blende Sprecherin Und so erforscht Professor Herbert unter anderem die Geschichte der Integration weltweit. Wie kam es also dazu, dass ?türkisch sein? in Deutschland permanent negativ konnotiert wird? 12. O-Ton: Antwort (Prof. Herbert) (0,21) Nun, wenn man das vergleicht mit anderen Gruppen, ausländischen Gruppen, so wird man feststellen, dass die türkischen Einwohner in der Bundesrepublik besonders stark solchen Vorurteilen und auch Diskriminierungen ausgesetzt sind. Das ist im Grunde ein Prozess, der sich seit den 60ern, frühen 70er Jahren durchzieht. 13. O-Ton: Reportage beginnt (0,13) (0,08 Atmo) (Reporter) Ein großer Bahnhof für einen kleinen Mann in Köln-Deutz. Sprecherin Gastarbeiter Nummer eine Million erreicht mit dem Zug Westdeutschland. Es ist September 1964 als Armando Rodrigues de Sá mit achtzig Minuten Verspätung eintrifft. Er kommt aus Portugal. Im Land seiner Hoffnung läuft ohne sogenannte Gastarbeiter nichts mehr. Der Reporter von damals im Gespräch mit einem Experten. 14. O-Ton: Schwierigkeiten Italien - Archiv (0,45) (Reporter) Nun hab ich mir aber sagen lassen, dass es Schwierigkeiten gibt, in bestimmten Ländern, die anfänglich sehr stark vertreten waren, noch Arbeitswillige für Deutschland zu finden. Zum Beispiel Italien. (Experte) Ja, das betrifft vor allem Italien. Dort wird es in der Tat schwieriger noch weitere Gastarbeiter für die Bundesrepublik zu gewinnen. Deshalb sind wir in andere Mittelmeerländer ausgewichen. Vor allem nach Griechenland, in die Türkei, nach Spanien und jetzt neuerdings nach Portugal. Aus Portugal sind etwa zehn- bis zwölftausend Männer und Frauen schon hier in der Bundesrepublik und wir denken, dass wir auf eine Zahl von etwa dreißigtausend kommen werden, die alleine aus Portugal noch in die Bundesrepublik kommen. Sprecherin Da sich die wirtschaftlichen Bedingungen in einigen Ländern nach und nach verbessern, gehen viele wieder in die Heimat zurück. Anders verhält es sich mit den türkischen Einwanderern. Sie beginnen, in den frühen 1970er Jahren ihre Familien nachzuholen. Die Regierungen in Bonn und Ankara haben beide ihren Nutzen davon. Die einen sehen wirtschaftliche und außenpolitische Vorteile, die anderen Deviseneinnahmen und sinkende Arbeitslosigkeit. Inzwischen haben sich 2,6 Millionen Arbeitnehmer aus dem Ausland in Westdeutschland niedergelassen. Die Fremdenfeindlichkeit wächst. Und es kommt zum Anwerbestopp. ?Deutschland ist kein Einwanderungsland? propagieren die Regierungen unter Helmut Schmidt, von der SPD und Helmut Kohl, von der CDU. Integration soll nicht stattfinden. 15. O-Ton: (Prof. Herbert) Kein Konzept (0,29) Und aus dieser Situation, einerseits Aufenthaltsverfestigung und andererseits keine Integrationspolitik, ist eine Situation entstanden, dass die Ausländer zwar alle hier waren und immer länger hier waren, insbesondere die Türken. Dass es aber keine Angebote, insbesondere der westdeutschen Gesellschaft gab, sie auch länger zu integrieren. Und aus dieser Situation, die sich seit Anfang der 80er Jahre verfestigt hat, rührt ein Großteil der Probleme, die wir bis heute haben. Sprecherin Es gibt Pläne, in den Schulen Klassen nur für ausländische Kinder zu schaffen. Bloß nicht die die Muttersprache verlernen! ? das sehen alle Beteiligten als Vorraussetzung für eine Rückkehr. Gehen oder bleiben? Viele Familien richten sich in Deutschland ein, verschieben die Rückkehr in eine ferne Zukunft. Und sie geraten zwischen die politischen Fronten. Die Türkei bemüht sich um mehr Einfluss auf ihre Landsleute, die Regierenden in Deutschland um Begrenzung und Rückkehr der türkischen Arbeitskräfte und ihrer Familien. Wenige Experten und Politiker haben damals erkannt, dass hier ein Einwanderungsprozess vonstattengeht. Sie bleiben lange unerhört. 03. Atmo: Interview Chahrour (2,54) - darüber: Sprecher Oder nach Max Frisch: ?Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kamen Menschen.? 2012: Die Auswirkungen jener Politik sind bis heute deutlich spürbar. Mehdi Chahrour ist 24 Jahre alt. Er will gegen die Probleme ankämpfen. Seit Jahren engagiert er sich dafür, dass Kinder von Migranten und Deutschen die gleichen Chancen erhalten. 16. O-Ton: (Chahrour) Kurze Vita (0,24) Also ich komme ursprünglich aus dem Libanon, kam mit zwei Jahren nach Deutschland. Bin hier aufgewachsen, sozialisiert worden, bin Deutscher irgendwo. Nicht alle akzeptieren das. Auch auf Migrantenseite! Aber mehrheitlich auf der Seite der Mehrheitsgesellschaft. Egal wie gut Du bist, wie viel Du machst, bist und bleibst Du der Ausländer von nebenan, der etwas besser Deutsch spricht, als die anderen Ausländer. Sprecher Der Jurastudent ist aktiv im Berliner Verein M.a.H.D.I. (AUSSPRACHE: MACHTI). ?Muslime aller Herkünfte deutscher Identität?. Das arabische Wort ?Mahdi? steht außerdem für den ?Rechtsgeleiteten?. Die meisten der 50 Mitglieder, die zwischen 15 und 25 Jahre alt sind, suchen nach Gerechtigkeit, vermitteln zwischen den Kulturen. 17. O-Ton: (Chahrour) Was wir machen (0,26) Die Leute wenden sich an uns, wenn in Schulen Mädchen gezwungen werden, das Kopftuch abzulegen. Dann werden wir angerufen. Wenn sie zum Fastenbrechen gezwungen werden, hier Du trinkst jetzt das Glas Wasser und wenn nicht dann passiert was. Dann werden wir angerufen und wir sind sehr gerne bereit uns in den Dienst der Menschen zu stellen. Es rufen auch vereinzelt Lehrer an, die Probleme haben, vielleicht mit Schülern mit Migrationshintergrund. Dann kommen wir hin, versuchen die Eltern zu kontaktieren und eine gesunde und freundschaftliche Ebene zu schaffen. Sprecher Ich selbst, erzählt Chahrour weiter, hätte mir als Schüler solche Helfer gewünscht. Er erinnert sich an den Morgen nach dem 11. September 2001 in seiner Schulklasse. Das erste Erlebnis von offener Intoleranz, das sich in sein Gedächtnis eingebrannt hat. 18. O-Ton: (Chahrour) 11. September (0,26) Im Schulunterricht kommt ein Lehrer rein und sagt zu uns, wir sind in der siebten Klasse, sagt dann in die Runde ?Na, habt Ihr Euch zu Hause gefreut??. Als sei es eine Normalität, dass wir uns über den Mord oder die Tötung anderer freuen. Natürlich nicht! Wir waren doppelt getroffen. Zunächst als Mensch, weil Menschen umgekommen sind und als Muslim, weil die eigene Religion dafür verantwortlich gemacht wird. Sprecher Solcherart Diskriminierung hat er in seiner Schule häufiger erlebt. 19. O-Ton: Chahrour) Falsch auf dem Gymnasium (0,25) In der siebten, achten Klasse, sagte eine Lehrerin zu meinem Vater, es wäre vielleicht sinnvoll diesen Jungen auf eine Gesamtschule zu schicken oder auf eine andere Schule. Auf dem Gymnasium wird es vermutlich nichts. Diese Schule haben wir dann mit einem sehr erfolgreichen Abitur abgeschlossen. Da sieht man, wie ein Teil der Lehrer kein Vertrauen hat in einen jungen Migranten, der vielleicht einige Schwächen hatte vorher. Sprecher Der Verein geht in Schulen und Bibliotheken, bietet Unterstützung an. Das Ziel: Selbstbewusstsein stärken. Die Vereinsmitglieder geben Nachhilfe. Dabei geht es um mehr, als nur um die Hausaufgaben. 20. O-Ton: (Chahrour) Nachhilfe (0,20) Dann rechnen wir nicht nur, sondern versuchen zu motivieren. Zeigen Wege auf. Sagen, in der dritten Klasse oder zweiten Klasse: ?Du rechnest, damit Du in der Sechsten Deine Gymnasialempfehlung bekommst. Und nach der Sechsten gehst Du auf die Oberschule, auf Dein Gymnasium und da machst Du Dein Abitur. Und nach dem Abitur studierst Du.? Das ist der Weg, den wir erstmal vorleben und vorzeigen wollen. Sprecher Für Kinder aus sozialschwachen Familien ist es doppelt schwer sich in der Schule durchzusetzen. Für Kinder aus sozialschwachen Familien ausländischer Herkunft ein Spießrutenlauf, meint Chahrour. Viele der Kinder seien zu sehr sich selbst überlassen. Die Schulen seien nicht in der Lage das zu leisten, was eigentlich von Nöten wäre. Und auch das Elternhaus versagt nicht selten. So hat fast ein Drittel der Jugendlichen mit türkischen Wurzeln in Deutschland keinen Schulabschluss. 21. O-Ton: (Chahrour) Wo bleiben die Eltern? (0,40) Einige Eltern meinen es gar nicht böse. Sie können es einfach nicht, sind selbst bildungsfern, sozial schwach, arbeiten tagtäglich oder haben noch nicht verstanden, dass die Schule allein nicht erziehen kann und dass alle mit anpacken müssen. Was wir versuchen, wir loben sehr stark. Wir fangen immer mit dem Positiven an und sagen: ?Ihr habt hier einen Jungen oder ein Mädchen, die ist super! Die kann das und das. Toll! Da gibt es noch Kleinigkeiten, an denen wir arbeiten müssen.? Und dann haben die Eltern sofort ein super Gefühl, ein gutes Gefühl und sehen, dass ihr Kind doch sehr gut ist. Damit haben wir die Eltern erst mal gewonnen und dann machen wir ?Klarschiff? und sagen: ?Aber Ihr müsst noch ein bisschen mehr machen. Hausaufgabenkontrolle ist wichtig. Jeden Tag mit dem Kind ein bisschen Zeit verbringen Und ja, die Schule alleine reicht nicht.? 03. Atmo: Ende/Blende Sprecherin Warum gehören beispielsweise vietnamesische Schülerinnen und Schüler oft zu den Besten? Warum seltener türkische Kinder? Es sind nicht nur die Unterschiede in den Kulturen, die dafür sorgen, dass sich die Gruppen der Einwanderer auf andere Art und Weise integrieren. Professor Ulrich Herbert. 22. O-Ton: (Prof. Herbert) Ursache (0,35) Die Zahl der türkischen Kinder auf Gymnasien ist nach den neunziger Jahren rückläufig gewesen. Normalerweise war sie bis dahin immer aufgestiegen. Das war eine Reaktion auf die ausländerfeindlichen Pogrome der neunziger Jahre, den insgesamt, wie wir wissen, über hundert Menschen, über hundert Ausländer zum Opfer gefallen sind. Ein Thema, über das man in der Bundesrepublik wenig spricht. Das heißt, hier war eine Reaktion vonseiten der türkischen Gemeinden, sich in dieses Land nicht stärker integrieren zu wollen, feststellbar. Sprecherin So entsteht Frustration und diese hemmt maßgeblich den Integrationsprozess. Die Studie ?Lebenswelten junger Muslime in Deutschland?, die im Frühjahr 2012 im Auftrag des Bundesministerium des Innern veröffentlicht wurde, bringt es auf den Punkt. Autor Ein großer Teil der deutschen Bevölkerung steht skeptisch bis ablehnend den in Deutschland lebenden Muslimen gegenüber und ein geringer, aber nicht zu vernachlässigender Teil assoziiert (...) die Muslime generell mit dem islamistischen Terrorismus. (...) Auf der Seite der Muslime scheint es bei einem nicht geringen Teil eine starke Zurückhaltung zu geben, neben dem eigentlichen Herkunftsland auch Deutschland als Heimat zu betrachten. Sprecherin Als eine Ursache für das Empfinden der Muslime, sehen die Wissenschaftler die wahrgenommenen Ausgrenzungen und Benachteiligungen. Vier von zehn Migranten fühlen sich in der Schule, auf dem Arbeitsmarkt und bei den Behörden benachteiligt, ergab vor kurzem eine umfangreiche Befragung in Deutschland. Fremdenfeindlichkeit hat immer etwas mit der wirtschaftlichen Situation zu tun. Mit der eigenen Lage und mit der im Land. So müsste Integration in den Regionen Deutschlands unterschiedlich besprochen werden. 23. O-Ton: (Prof. Herbert) Konkurrenz (0,11) Je höher und je weiter Sie nach oben in der sozialen Leiter kommen, desto höher ist die Bereitschaft, dem Ausländer positiv gegenüberzustehen. Na ganz einfach, mit denen konkurrieren die ja auch nicht. 24. O-Ton: (Prof. Herbert) Regional (0,19) Also zum Beispiel in Berlin ist die Situation wesentlich stärker aufgeschaukelt, als in den Städten, die die höchsten Ausländeranteile haben. Zum Beispiel Offenbach, Frankfurter oder auch Stuttgarter Regionen. Das hängt nun wieder damit zusammen natürlich, dass es dort bessere Arbeitsbedingungen gibt. Jedenfalls in den meisten Städten. Sprecherin So gebe es in den Fabriken von ?Mercedes Benz? in Stuttgart, ?Audi? in Ingolstadt oder ?BMW? in München ein Miteinander. Vorgesetzte entstammten unterschiedlichen Kulturen und dies sei im Alltag der Menschen nur selten ein Thema. 25. O-Ton: (Prof. Herbert) Minderheit (0,25) Wenn wir von der problematischen Lage der Ausländer, insbesondere der Türken, in der Bundesrepublik sprechen, so sprechen wir immer von einer Minderheit. Die Mehrheit der Türken hat ihr soziales Auskommen, verdient, die Familien funktionieren und die Kinder lernen. Nur der Anteil derer, die das nicht schaffen, ist so deutlich höher als der der einheimischen Bevölkerung, dass es eine auffallende und problematische Entwicklung genommen hat. 04. Atmo: Neukölln, Straße (2,00) - darüber: Sprecher Eine Entwicklung, die besonders spannend für die Medien ist. 05. Atmo: Interview Balci (2,02) - darüber: 28. O-Ton: (Balci)Analyse (0,06) Ich hab das echt lange versucht, auch für mich persönlich als Journalistin, zu analysieren. Sprecherin Güner Yasemin Balci, erfolgreiche Buchautorin und Journalistin. Die 37-Jährige ist ebenfalls in Berlin Neukölln groß geworden. In ihren Beiträgen erzählt sie oft von gescheiterten Biographien junger Migranten - will aufzeigen, wo die Probleme im Miteinander der Kulturen liegen. Es kam zu großen Diskussionen, als sie mit Thilo Sarrazin, für einen Fernsehbericht, einen Spaziergang über einen Markt in Berlin-Kreuzberg wagte. 29. O-Ton: (Balci) Kritik aus der Community (0,16) Ganz viele finden ganz ganz schlimm, was ich mache, weil sie das immer in die Kategorie packen, du unterstützt damit rechtes Gedankengut. Du kritisierst die Einwanderungsgesellschaft zu sehr, du bist zu islamkritisch, migrationskritisch, etc. Sprecherin Kritik, die Balci abwehrt. Ihre Arbeiten würden, bei genauer Betrachtung, einen differenzierteren Blick auf sie zulassen. 30. O-Ton: (Balci) Antwort auf Kritik (0,31) Dann kriegen sie schon mit, dass ich jetzt nicht die Absicht habe, ständig zu sagen: Also Ayse und Ahmed, die sind völlig nullintegriert und haben kein Anrecht darauf, hier zu leben. Sondern, dass eigentlich die Aussage, die ich mache ist, Ayse und Ahmed, auch wenn sie kein Deutsch können und sich überhaupt nicht hier zugehörig fühlen sind sie Teil meiner Gesellschaft und sie gehören hier hin in mein Land und wir müssen überlegen, wie wir miteinander auskommen. Sprecherin Nicht immer könne sie die Beiträge so umsetzen, wie sie sich das vorstellt. Es hänge von der politischen Lage im Land ab. Nicht die Journalisten setzten die Themen. Dies sei Sache der politischen Entwicklung. 31. O-Ton: (Balci) politisch abhängig (0,45) Es ist ja oft so, dass man der Politik hinterher hinkt und dass man guckt, wie gerade die Stimmung ist. Wenn gerade NSU-Morde die Runde machen, dann macht man lieber kein migrationskritisches Stück. Sowie das ein bisschen versackt ist, ist dann wieder das nächste Türkenbashing dran. Und das ist dann eben so ein Auf und Ab. Es ist ganz schwierig dann so ein Mittelding zu finden, weil man das eigentlich auch nicht möchte. Also man will das nicht. Ich bin davon überzeugt, dass man sich sagt: ?Also ja, wir haben Migration und Migration und Integration ist auch immer wieder ein Thema. Besonders dann, wenn es eine Islamkonferenz gibt oder es irgendwie gerade einen politischen Anlass gibt, um dieses Thema zu bearbeiten. Sonst gehört es nicht zum Alltagsgeschäft. Und das ist falsch! Migration und all das, was damit verbunden ist, ist unser Alltag. Sprecherin Eine Zwickmühle für Balci. Sie weiß um die Missstände in der Berichterstattung und ist dennoch Teil des Systems. 32. O-Ton: (Balci) Auftragslage (0,23) Ja. Ja, ganz klar. Also ich meine, man arbeitet als Journalist, also einmal nach Auftragslage. Das ist das eine. Und zum Anderen. Ich versuche in erster Linie immer die Dinge anzubieten und durchzusetzen, für die ich mich interessiere. Aber woran es eigentlich mangelt, ist natürlich, dass diese Menschen, über die berichtet wird, sich gar nicht repräsentiert sehen in dieser ganzen Medienlandschaft. Sprecherin Balci erzählt, dass sie als Journalistin mit Migrationshintergrund auf dieses Thema festgelegt wurde. So gehe es vielen. Wer mit ausländischen Wurzeln in den Beruf einsteigen will, hat kaum eine Chance über ganz andere Themen zu berichten. Der Grund: Sie haben die Kontakte zur Einwanderer-Community. Den gestandenen, deutschstämmigen Kollegen fehlen diese meist. Zuarbeiten ist okay. Eigene Beiträge machen eher nicht. Dafür braucht es Zeit, Glück oder beides. ?Ich hatte Glück? - sagt Journalistin Güner Yasemin Balci. 05. Atmo: Ende/Blende 06. Atmo: Warten im Hörsaal (1,49) - darüber: Sprecher Oktober 2011. Steht hier vielleicht die zukünftige Elite der Bundesrepublik? Einhundertachtzig Abiturienten und Studenten mit Migrationshintergrund werden für ihre Erfolge ausgezeichnet. Dahinter steht der M.a.H.D.I. e.V. um Mehdi Chahrour. Im Sakko, mit seinem Laptop unter dem Arm, dirigiert er die letzten Vorbereitungen. Über eintausend Gäste werden im großen Hörsaal der ?Technischen Universität Berlin? erwartet. 33. O-Ton: (Chahrour) Ziel (0,10) Wir brauchen Vorbilder. Jede Gesellschaft braucht Vorbilder. Migranten oder insbesondere Migranten, die sozial schwach sind und benachteiligt sind, durch Rassismus und Diskriminierung, brauchen Vorbilder, an denen sie sich orientieren können. 34. O-Ton: (Sarah) Klamotten (0,10) Ich hab nur Angst wegen meiner Haare, dass das wegrutscht. (Freundin) Das rutscht nicht. (Sarah) Ich weiß nicht. Bisschen ungewohnt. Ein bisschen sehr weit. Sprecher Die 19jährige Sarah El-Khatib setzt sich einen feierlichen Hut mit Kordel auf, zieht dazu einen schwarzen Talar an. Eine Freundin legt ihr einen dünnen, weinroten Schal um den Hals. Das Outfit erinnert an die Kleidung der Absolventen von US-Universitäten. Und genauso stolz lächelt Sarah. 35. O-Ton: Bildungsstand (0,17) (Sarah) Ich komm jetzt ja auch nicht aus irgendeiner Gegend, wo jetzt vielleicht viele Deutsche sind. Eher so Ausländergegend. Sozialschwache Familien. Aber es hat mich nie daran gehindert, auf das Gymnasium zu gehen, Abitur zu machen, immer zu den Besten zu gehören mit meinen Noten. Es hat immer etwas mit einem selbst zu tun. Wenn man es will, kann man es schaffen, man muss halt dafür arbeiten. Sprecher Vor zwanzig Jahren fliehen ihre Eltern aus dem Libanon nach Deutschland. Geboren und aufgewachsen ist Sarah in Berlin. Abiturnote: 1,4. Seit genau einer Woche studiert sie BWL, um später Wirtschaftsprüferin zu werden. Die Studentin blickt auf ihr Handy, sieht eine SMS ihrer Mutter. Gemeinsam mit der jüngeren Schwester wartet die Mutter im Foyer auf Sarah. 06. Atmo: Ende/Blende 07. Atmo: Foyer (0,59) ? darüber: 36. O-Ton: (Mutter) Begrüßung (0,13) Ah. Ich bin sehr stolz auf Dich. Ich freu mich sehr. (Sarah) Danke! 00. O-Ton: Schwester (0,10) (Schwester) Ja, ich bin sehr stolz auf meine große Schwester. Sie ist wie mein Vorbild geworden. Also sie ist einfach super. Muss man so sagen. 37. O-Ton: (Mutter) Stolz (0,09) Ganze Familie freut sich, wir sind sehr stolz auf sie. Sie hat viel gelernt und sie verdient das und sie ist die Erste. Sprecher Sarah lächelt, die Mama hat Tränen in den Augen. Für sie, wie für die meisten Eltern hier, geht ein Wunsch in Erfüllung. Ihre Kinder sind in der neuen Heimat erfolgreich und schaffen, was sie vielleicht selbst nicht schaffen konnten. 07. Atmo: Ende/Blende 08. Atmo: Einmarsch (3,19) ? darüber: Sprecher: Eine halbe Stunde später. Sarahs Familie hat inzwischen im Audimax Platz genommen. Neben anderen Eltern aus China, der Türkei oder dem Kosovo. Bevor die Auszeichnungen verliehen werden, ein Theaterstück. 08. Atmo: Ende/Blende 38. O-Ton: Wer wird integriert (0,21) (WWM ? Musik) (Junge) Ich begrüße Sie ganz herzlich zu ?Wer wird integriert??. Auch heute spielen wir wieder, um dieses wunderschöne Objekt. Den deutschen Pass. Das Ticket zum Eintritt in unsere Gesellschaft. Zu Reichtum, zu Wohlstand und zur Anerkennung. 09. Atmo: WWI (1,39) ? darüber: Sprecher Neben den Kindern und Jugendlichen im Publikum, die hier ihre Vorbilder für ein erfolgreiches Leben sehen sollen, ist eine Zielgruppe von ?Vorbilder schaffen? nicht anwesend. Die Deutschen nämlich, die sehen sollen, dass auch Migranten für führende Jobs in ihren Unternehmen, Universitäten oder Klinken bereit sind. Nur ein Politiker der Grünen ist im Saal. So wenig Aufmerksamkeit für diese jungen und aufstrebenden Absolventen. 09. Atmo: Ende/Blende 10. Atmo: Verleihung (1,26) ? darüber: Sprecher Sarah El-Khatib wird auf die Bühne gerufen, bekommt ihre Urkunde überreicht. Sie lächelt stolz. Im nächsten Jahr will ihre Schwester hier stehen. 39. O-Ton: Hut (0,24) (Mann) Und nun: Lasst uns unsere Hüte werfen. Bei drei! Eins, zwei, drei. (Applaus) (Atmoblende: Applaus) 40. O-Ton: (Prof. Herbert) Integration möglich? (0,34) Nein. Integration als Prozess, der eine geht in dem anderen auf, wird es nicht geben. Wir haben das ja in den letzten zwanzig Jahren auch schon gemerkt. Die gesamtdeutsche Gesellschaft hat sich ja auch verändert, in dem Maße, in dem sozusagen die Ausländer, mit einem Anteil von ungefähr zehn Prozent der Bevölkerung, mit Migrationshintergrund wahrscheinlich doppelt soviel, sozusagen unseren Alltag bestimmen. Das hat ja auch die sogenannte Mehrheitsgesellschaft verändert. Das heißt, Integration ist ein wechselseitiger Prozess. Sowohl die Einwanderungsgesellschaft verändert sich als auch die Einwanderer. Sprecherin Sagt der Freiburger Universitätsprofessor Ulrich Herbert. Sprecher Und Idil Baydar? Die Kreuzberger Künstlerin, mit ihren erfolgreichen Videos, hat auch auf diese Entwicklung eine Antwort in Clip-Form. Aus der prolligen Braut ?Jilet Ayse? wird die Küchenschürze tragende ?Gerda Grischke?. 41. O-Ton: (Gerda Grischke) Ausschnitt III ?Absage für Sarrazin? (0,30) Da erzählt der mir: ?Mutter, ick habe mich verliebt.? Ick sage: ?Junge! Ick freue mich! Nun ist er schon 35 Jahre. Jetzt oder nie, hab ick mir jedacht. ?Mensch, Junge! Isset die Sandra? Isset Melanie? Erzähle mal! Wer isset denn? Ick freue mich so sehr!? Und dann sagt er: ?Ja und ick hab die kennen jelernt und aufm Freundschaftsfest und dit is die Ayse Gül Atisch.? Ick sage: ?Wat is dit?? 42. O-Ton: (Prof. Herbert) Fazit, U. Herbert (0,38) Im Übrigen! Das sollte man erwähnen. Das ist kein deutsches Problem alleine. Wir haben dieses Problem mit Migrationsprozessen in der ganzen Welt. Und überall dort kommt es zu ähnlichen Problemen. Die Ausländer, insbesondere die aus Asien, in England, die haben eine Situation, die der der Türken mindestens vergleichbar ist, wenn nicht in vielen Industrieregionen noch deutlich schlechter. Das heißt, da spielt auch noch einfach eine Rolle, dass die Bundesrepublik als Sozialstaat einfach leistungsfähiger ist. Es ist also kein deutsches Phänomen. Es ist ein Problem internationaler Migrationsströme, die genau zu diesen sozialen Verwerfungen führen, über die wir gerade sprechen. Sprecherin Am Ende führt Ulrich Herbert weiter aus, hat Deutschland, mit Blick auf andere Länder, sehr gute Chancen auf ein normales Zusammenleben der Kulturen. Auch wenn vielleicht erst in ein paar Jahrzehnten. Vorraussetzung sei allerdings ein funktionierender Sozialstaat. Integration darf kein Glücksspiel sein. ?Gute Migranten, schlechte Migranten? nicht die Maxime für den Umgang miteinander. 43. O-Ton: (Gerda Grischke) Ausschnitt III ?Absage für Sarrazin? (0,15) ?Junge! Und überhaupt! Du west janz jenau, Du musst beschnitten werden, mein Freund. Du musst beschnitten werden!? Sagt er: ?Ja, Mutti. Dit hab ick letzte Woche jemacht.? Ick sag: ?Wat?! Du hast wat jemacht? Men Jott! Die jute deutsche Vorhaut is dahin.? 03. Musik: The Weeknd, House of Ballons (6:47) - darüber: Sprecher vom Dienst Gute Migranten, schlechte Migranten? Vom Kampf um Anerkennung in der Gesellschaft. Ein Feature von Johannes Nichelmann Es sprachen: Frank Arnold, Nadja Schulz-Berlinghoff und der Autor Ton: Regie: Frank Merfort 03. Musik: Ende/ Blende Redaktion: Constanze Lehmann Produktion: Deutschlandradio Kultur, 2012 © Die Sendung zum Nachhören, Manuskripte und weitere Informationen zu den Zeitfragen finden Sie unter deutschlandradio.de Am kommenden Montag hören Sie: Beschlusssache Kindeswohl Konfliktschlichtung vor Familiengerichten 16/16 15/16