COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : LITERATUR 19.30 Titel der Sendung: Vorbeischaukelnd am Weltuntergang - Autoren mit dem Mut zum Idyllischen Autor : Raimund Petschner Redaktion: : Sigried Wesener Sendetermin : 28.02.2012 Besetzung : Sprecher : Zitator 1 : Zitator 2 (Lyrik) : Zitator 3 Regie : Urheberrechtlicher Hinweis: : Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zweckengenutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig "Vorbeischaukelnd am Weltuntergang" Autoren mit dem Mut zum Idyllischen heute Eine Sendung von Raimund Petschner [[Musik: Mozart, Phantasie in d-Moll, Köchel-Verzeichnis 397]] Musik: steht eine Weile frei, unterlegt den Zitator 1 noch eine Weile leise, wird dann ausgeblendet Zitator 1 (Buselmeier): Wenn der Zug langsam fuhr, konnte ich in die Täler, die Straßen der Ortschaften und selbst in einzelne Häuser hineinschauen. Ein weißes Kruzifix, ein Bildstock, flatternde Wäsche. Ein ganz mit Wein überwachsenes Bahnwärterhaus. Ein Sägewerk, ein Kalkwerk in einem versteckten Tal. [...] Der dort Zeitung lesend am Fenster des ratternden Bummelzuges kauert, allein im Abteil, und gelegentlich zerstreut in die Landschaft hinausschaut, von der Scheibe gespiegelt, unbehaglich, mit flauem Magengefühl der Fremde entgegen, bin ich, soll ich sein, Moritz Schoppe, Student. O-Ton (Michael Buselmeier): Gerade jetzt in dem Fall dieses Wunsiedel-Buchs sind 44 Jahre dazwischen. [...] Die Sachen, auf die es eigentlich ankommt, die werden doch mehr oder weniger gefunden oder erfunden oder wiedergefunden, aber nie richtig so wie sie waren, und ich kann mich nach über vierzig Jahren im Grunde an die Einzelheiten nicht mehr erinnern. O-Ton (Thomas Rosenlöcher): Das ist vielleicht das Wichtigste überhaupt: daß man schaut, daß man noch was sieht, und genau da haben wir einen Riesendefekt, also auch viel Lyrik, die es heute so gibt, kommt viel mehr vom Wort her, vom sozusagen sich perpetuierenden Wort, anstatt von einem inneren Bild; und das kann es alles geben, das gibt es immer nebeneinander, aber für mich ist eben das innere Bild wichtig, das ich erst mal irgendwo erlebt habe und dann versuche, festzumachen in mir, damit es erinnerbar wird Musik: tritt kurz wieder hervor Zitator 2 (Rosenlöcher): Wie eine Hundeschnauze, flach in das Kraut gelegt, Schmult mich von unten her, hier, am verlaßnen Ort, wo Aufschwung noch nicht hinkam, ein fremdes Wesen an mit halb zerbrochnen Lichtern; eingesunken das Rad, das Trittbrett durchgerostet - Entgegen starre ich. Die Knie leicht angewinkelt, den Oberkörper weit nach vorn gebeugt, die Brille mit Leukoplast geklebt, dachhaft das Haar gebrettert, die Bartverwilderung abwärts gesträubt in Starrens Richtung. Wen kümmert das? Was aber untergeht, scheint zukunftszugewandt. Sprecher: Ein Gedicht von der Mitte der neunziger Jahre. "Ich sitze in Sachsen und schau in den Schnee" heißt der Band, in dem es erschienen ist. Thomas Rosenlöcher, Jahrgang 1947, lebt in Sachsen und schaut tatsächlich gerne in den Schnee, auch auf die Blüten eines Kirschbaums - O-Ton (Thomas Rosenlöcher): Also es gibt von Adorno dieses, daß er sich mal über die Typen lustig macht, die was mit Kirschbäumen haben und so, und Kirschbäume würden eine Art Verlogenheit sein : die Welt ist nicht mehr so, und wenn ich mich darauf nun stütze, dann lüge ich über die Welt. Ich versteh ihn sehr gut, aber ich denke, er hat den Kirschbaum nie richtig angesehen. Wenn er ihn richtig angesehen hätte, wäre er erschrocken über die Schönheit und daß die Welt nicht so ist und daß das eine Herausforderung ist für uns, ein Infragestellen unserer selbst - Musik: tritt kurz hervor O-Ton (Thomas Rosenlöcher, Fortsetzung): - weil ich plötzlich spüre, was wir aus dieser Welt machen. Der erzählt mir, was wir anrichten. Und deswegen ist das Idyll oder die Schönheit eine Art Bedrohung für mich fast. Das ist schwer zu erklären. Das ist sozusagen wie ein Engel, der plötzlich auftritt und mir eine Reinheit vorführt, wo ich ... tja ... nur denken kann: Du bist klein. Du bist nichts. Was du hinterläßt, ist nichts. O-Ton (Michael Buselmeier): Und das ist doch die Utopie: das Goldene Zeitalter, wo die Tiere beieinanderliegen und die Äpfel von den Bäumen fallen und Milch und Honig aus den Brunnen fließt und ... Sprecher: Michael Buselmeier, geboren 1938, ist in Heidelberg aufgewachsen und lebt auch dort. "Wunsiedel", von ihm selbst Theaterroman genannt, erschien 2011. Erzählt wird die Suche des nun vierundvierzig Jahre älteren Moritz Schoppe nach dem, der er 1964 war, als er zehn leidvolle Wochen in einem Theaterengagement in Wunsiedel verbrachte - dem Geburtsort Jean Pauls und bis Juli 2011 Ort der Grabstätte von Rudolf Heß und dadurch viele Jahre Sammelpunkt von Neonazis. Die Provinzstadt ist dem jungen Schoppe ein "Unheilsort", die "kerkerhafte Enge des Fichtelgebirges" quält ihn, und am Theater wird eigenes Denken nicht geschätzt. Idyllisches findet Schoppe in den Romanen von Jean Paul, in den Feldern, im Wald, und dann wieder nachts allein mit dem schwierigen und doch sehr geliebten Jean Paul. O-Ton (Michael Buselmeier): Ich hab ihn ja gar nicht richtig verstanden, aber ich denke, diese Nähe von ... ja, der Idylle, die in gewissen Jean-Paul-Büchern ... nehmen wir doch mal dies kleine von dem Schulmeisterlein, vergnügten Schulmeisterlein Wutz. Das spielt ja in Joditz, wo Jean Paul seine Kindheit verbracht hat, und das ist über große Strecken erstaunlich harmlos und idyllisch, und das Männlein ist auch in gewisser Weise harmlos und idyllisch, aber irgendwann greift der Tod zu und gräbt, so heißt es dann, die ganze Seele aus dem Humus heraus, er reißt sie quasi wie man so ne Pflanze ... wie man mit der Hand in so'n Blumenkasten geht, ich gärtnere auch viel ... und reißt das dann so heraus. Zitator 3 (Jean Paul): ... und als ich das Leichenläuten seinetwegen hörte und daran dachte, wie die Witwe im stummen Kirchturm mit rinnenden Augen das Seil unten reiße: - Sprecher: - läßt Jean Paul seinen Erzähler sagen - Zitator 3 (Jean Paul): - so fühlt' ich unser aller Nichts und schwur, ein so unbedeutendes Leben zu verachten, zu verdienen und zu genießen. Sprecher: Mehr als hundertfünfzig Jahre später notiert Gottfried Benn: "und dann ist es vorbei, das ganze Leben ist vorübergegangen wie ein Nachmittag". Idylle macht, so Hermann Glaser, ein Stück Welt am Abgrund bewohnbar. Musik: kurz zäsurierend Sprecher: Was ist Idylle? Ein Schüler steht im Raum der Wannsee-Konferenz, wo 1942 die Ausrottung der Juden beschlossen wurde; der Schüler sieht hinaus und sagt: Der Blick aus dem Fenster ... Er ist ausgesprochen idyllisch. Idylle wird ersehnt; zugleich steht sie im Verdacht, ein Ablenkungsmanöver, eine Fassade oder doch das Kraftlos-Gefällige zu sein. Die Banalität des Heilen, untergründig - wer weiß - mit der Banalität des Bösen verknüpft. O-Ton (Thomas Rosenlöcher): Ich meine, daß das Idyll ... das wird sozusagen immer pejorativ verwendet, also, jemand ist ein Idylliker: na ja, der ist nicht ganz von heute, der ist nicht ganz von hier, der weiß nicht, was los ist; und es wird dabei verkannt, daß die Suche nach einem heilen Weltmoment ja eigentlich so eine Art Menschenrecht ist. Das macht nämlich jeder, jeder, also schon jemand, der sich einen kleinen Blumentopf auf sein Fensterbrett stellt und versucht, ein bißchen heile Welt zu gewinnen, und das ist was ganz Normales, und das ist ein Recht, und insofern ist es auch eine Art vorauseilender Gehorsam gegenüber den Zerstörungen, wenn man das Idyll von vornherein verneint. Sprecher: Idylle: abgegriffenes Wort, das man mit zu vielen teilt, die nur das Scheinheile damit meinen, den ausgeklammerten Widerspruch und süßliche Romantik. Idylle: auch ein Trompetenwort, das Membranen und Kokons, zarte Gebilde, durch die Schönheit dringen mag oder in denen sie sich womöglich verborgen hält, zerplatzen läßt. O-Ton (Thomas Rosenlöcher): Aber ich hab immer das Gefühl: Wenn es mir gelänge, in einem Vers etwas sichtbar zu machen ... Bleiben wir bei dem Kirschbaum: diesen Kirschbaum sichtbar zu machen, so, daß es mir wehtut, daß ich also spüre, auch im Vers, daß es schmerzt - Den O-Ton, von dem nach dem Gedicht eine Passage wiederholt wird, ab "daß ich also spüre" herunterziehen Zitator 2 (Rosenlöcher): ... So schritt ich tapfer über eine Halde aus toten Stiefeln, Büchsen, Regenschirmen, und ab und an ein Kinderwagenwrack, und hätte nie, daß je so viele Menschen gelebt haben, geglaubt, für so viel Müll. ... Und doch nahm ich im Gehn mein Weiterschreiten als kleines Beispiel, daß sich alles fände, über die Kippe kommend, und ich stand. Denn vor mir stieg, mein rundes Staunen füllend, ein Chaos auf, ein wildgehäuftes Duften, gleichviel vom Sog des aufgeschmolznen Himmels und Erdfeld angezogen: Schwerelos. Und sonder Zwischenraum, obwohl doch Bienen ins schneebedeckte Innere einflogen, bis weiter oben aus dem Blütengletscher wo sich das Weiß ins Weiß hob ohne Laut, ein Zweig aufragte, seltsam bittend, daß ich, nicht wissend wie und was nun werden soll, einwärtslief, beständig hinter mir das Schreckensbild des Kirschbaums, der noch blüht O-Ton (Thomas Rosenlöcher): - daß ich also spüre, auch im Vers, daß es schmerzt, die Schönheit - und das kennen wir aus der Musik ja immer wieder, wenn man Händel hört oder so; dann sitzt man da nach drei Stunden und denkt: Ist das so schön! Und man will da hin und weiß genau: Man kann da nicht hin, das ist eine andere Welt, und die fängt man dann an zu suchen, und das ist so eine Art Schmerz, den ich - wenn ich Glück hab! - beim Schreiben spüren kann, klar! Dann stimmt der Vers auch. Musik: kurz zäsurierend Zitator 1 (Buselmeier): Ich streife im Vorbeigehen das Getreide mit der Hand, das frisch gemähte Gras mit den Füßen. Du bist ja noch da, sage ich laut zu mir selbst. Meine Gedanken, Gefühle, die Kopfbilder begleiten mich, meine wirre Jugendgeschichte, die ich mir immer wieder neu und anders erzähle, Lebenszeit, deren Gewicht mir heute so leicht erscheint. Das Licht mal grell, mal gedämpft durch das Blattwerk der Bäume. Eine Märchenwiese aus Mohn, Margeriten, Kornblumen, Klee. Ach, zieh mich raus, rief das Brot, sonst verbrenn ich. Sprecher: Was ist Idylle? Dieser Schmerz: "Man will da hin und weiß genau: Man kann da nicht hin", das ruhige Gehen im Gras eines, der sich sagen kann "Du bist ja noch da", oder gar das Goldene Zeitalter, von dem Michael Buselmeier sprach, wo "alle Menschen Brüder" werden, wie es bei Schiller heißt und wo, biblisch gesprochen, "der Löwe Gras frißt"? Der helle Moment kurz vor dem Tod, auch wenn dieser noch dreißig, vierzig, fünfzig Jahre auf sich warten läßt? O-Ton (Michael Buselmeier): Selbst die Biedermeierzeit ist keineswegs auf der Idyllenebene harmlos, selbst da hat die Idylle einen Riß; und wenn sie keinen Riß hat, dann ist doch außen herum das Dunkle, und das wird einfach weggeblendet. Das wären die beiden Varianten. Sprecher: Jean Paul hat den Segen idyllischen Daseins, doch auch das Bedenkliche daran in ein Bild gefaßt: Zitator 3 (Jean Paul): Ich konnte nie mehr als drei Wege, glücklicher (nicht glücklich) zu werden, auskundschaften. Der erste, der in die Höhe geht, ist: so weit über das Gewölke des Lebens hinauszudringen, daß man die ganze äußere Welt mit ihren Wolfsgruben, Beinhäusern und Gewitterableitern von weitem unter seinen Füßen nur wie ein eingeschrumpftes Kindergärtchen liegen sieht. - Der zweite ist: gerade herabzufallen ins Gärtchen und da sich so einheimisch in eine Furche einzunisten, daß, wenn man aus seinem warmen Lerchenneste heraussieht, man ebenfalls keine Wolfsgruben, Beinhäuser und Stangen, sondern nur Ähren erblickt, deren jede für den Nestvogel ein Baum und ein Sonnen- und Regenschirm ist. Der dritte endlich, - den ich für den schwersten und klügsten halte - ist der: mit den beiden anderen zu wechseln. Sprecher: Furchenglück in der Zeit eines rasenden Sozial- und Bewußtseinswandels, einer permanenten Revolution, als deren aktive Revolutionäre sich wohl die wenigsten fühlen? Furchenglück innerhalb der Geschäftigkeitsgesellschaft, von der Günter Anders sagt: "Jede Muße hat heute heimliche Familienähnlichkeit mit Arbeitslosigkeit."? Sphärenflug einer schönen Seele, völlig unbeeindruckt von Millionen von prasselnden Informationen? O-Ton (Michael Buselmeier): Also ich bin ja eher anachronistisch. Und die Schriftsteller sind sowieso anachronistisch, und was wir machen, ist auch anachronistisch. Ich find das ganz o.k., also ich finde auch die Idylle, je älter ich werde zumal, hab ich die ganz gern. Musik: etwas längere Zäsur Sprecher: Was macht den engagierten Anachronisten aus? Er klebt nicht am Vergangenen, sondern weigert sich ganz einfach - was allerdings schwierig ist -, sich mit der Gegenwart derart verkleben zu lassen, daß eine Nur-Gegenwart entsteht, eine power of now, die nicht mehr erlaubt, Zeitfremdes wahrzunehmen. Der engagierte Anachronist: er steht dafür, daß der "nivellierende Gleichschritt einer Globalkultur" (ein Ausdruck von Klaus Modick) sich nicht völlig widerstandslos überall durchzusetzen vermag. Er trägt dazu bei, die Vielfalt der Arten zu erhalten - der Arten, die grundlegenden Dinge der menschlichen Existenz zu sehen und darin Präferenzen zu setzen. Der engagierte Anachronist kann Michael Buselmeier oder Thomas Rosenlöcher heißen. Der letztere lebt in Dresden, inmitten der Tatsachen: O-Ton (Thomas Rosenlöcher): Aber es gibt zwei Möglichkeiten: in diesen Tatsachen sich einrichten oder gegen die Tatsachen rebellieren, auch die, die ich nicht ändern kann. Das meiste können wir nicht ändern, aber wir können immer noch dagegen rehabillieren! [lacht] Sie verstehen schon [lacht sehr herzlich] rebellieren! Sprecher: Rehabilitiert werden in dem Gedicht von Thomas Rosenlöcher mit dem Titel "Hosterwitz" die Schwalben: Zitator 2 (Rosenlöcher): Pfingstsonntag. In der weißgoldenen Kirche Maria am Wasser. Die Christengemeinde tut ihren Mund auf und singt. Und draußen im Licht die Blumen schwanken flirrend auf und nieder. Aber durchs Fenster, zerbrochen, o Kummer, flattert ein Schwälblein herein, - O-Ton (Thomas Rosenlöcher): Ich hab so ein Gedicht geschrieben, das ich offen gesagt für eines meiner besseren halte, das handelt von so einer kleinen Kirche gegenüber von Kleinzschachwitz, in Hosterwitz, so heißen die Orte da, und, ja, da war jahrelang eine Fensterscheibe in der Kirche kaputt, und da kamen immer die Schwalben rein, und wenn der Pfarrer predigte, dann schwirrten die dort rum und ... da wurde mir plötzlich klar: Das ist ja die eigentliche Botschaft! So eine Art [lacht] Chaos! Die benehmen sich sehr unordentlich, die Schwalben, jedenfalls, daß dieses Fenster kaputt ist, dieses kleine Moment hat ein Gedicht geschaffen, eine Fehlstelle sozusagen. Zitator 2 (Rosenlöcher): Aber durchs Fenster, zerbrochen, o Kummer flattert ein Schwälblein herein, daß sich die Gesichter, noch singt man, geh aus, mein Herz, ungläubig aufheben, denn das ist ja, ein zweites, ein drittes, die Höhe, spitzig geflügelt, ein ganzes Geschwader im Rund- und im Sturzflug, Gekreisch, und hockt sich in Reihe auf frommste Gerätschaft ... Ton herunterziehen, so, daß deutlich wird, daß das Gedicht hier nicht endet [falls noch Material gebraucht wird, hier noch einige Zeilen des Gedichts: und schnäbelt, und putzt sich, Flämmlein an Flämmlein / der Predigt zu lauschen, freut euch im Herrn, / spricht der Herr Pfarrer und ist doch verunziert / von weißlichem Abwurf, fürchtet euch nicht, / schreien die Schwalben und stieben erneut auf [...]] Sprecher: Der Idyllenstandort Deutschland verliert, wo es zu perfekt, zu geschniegelt und lackiert ist, und obwohl sich Thomas Rosenlöcher die DDR nicht zurückwünscht, muß er doch sagen: O-Ton (Thomas Rosenlöcher): So zerstört der Osten war, kurioserweise gab es dort sozusagen größere Refugien, die auch wiederum chaotischer waren und [lacht] mir irgendwie eher entsprochen haben. Sprecher: Der Wille zur Begradigung, zur Versiegelung, Optimierung, das Verschwinden der Refugien, all dessen, was struppig ist, Ungleichzeitigkeit erlaubt und zur Idylle einlädt, ist auch ein großes Thema für Michael Buselmeier. Sprecher: In seiner Stadt, in Heidelberg, trieb sich der Junge herum - Zitator 1 (Buselmeier): Auf der Mauer im Schatten liegend, wartete ich eine Kindheit lang auf irgend etwas Besonderes und kratzte meine Initialen in den Stein - Sprecher: - und der Schriftsteller Buselmeier, mehr als sechs Jahrzehnte später, geht immer noch durch diese Stadt - auch auf literarischen Führungen durch Heidelberg und Umgebung, die er seit 1988 anbietet. Die Furie des Verschwindens ist eines seiner Themen. Die Gerinnung der historischen Stadt zu einem Klischee für Touristen und Immobilieninvestoren. Und welches ist die Antwort auf das Wüten der Furie? Ein Furchenglück? Ein Sphärenflug hoch im blauen Äther? O-Ton (Michael Buselmeier): Also die Idylle des Schulmeisterleins Wutz, die kann ich mir eigentlich nicht zuschreiben, das würde nicht hinhauen, das Schulmeisterlein Wutz ist ganz lieb und naiv und verläßt den Ort nie, verläßt die Erde nie, es rebelliert nie, gegen seine Armut nicht, gegen seine Lehrerei nicht, es hat Joditz, was ein erbärmliches Nest ist, wirklich nie verlassen, und ich würd auch am liebsten in Heidelberg bleiben, ich wollte nie weg hier, aber Heidelberg ist doch nicht Joditz, und gewisse Ansprüche hat man ja auch ... Dazwischen, würd ich denken, wo das bürgerliche Individuum sich aufhält, das reflektierte bürgerliche Individuum befindet sich ja zwischen den beiden Positionen, nicht? Oder? Wo ist das bürgerliche Individuum? Ja - ja, ich bins noch, ich dazwischen bin es noch. Ich hab so viel studiert ... Nein, ich bin noch das reflektierte bürgerliche Individuum, das gibts noch. Musik: kurz zäsurierend Sprecher: Jemand geht durch Heidelberg und versucht die Ganzheit, die vertikale Ganzheit seines Lebens zu gewinnen. Oder er reist nach Wunsiedel. Das Vergangene soll nicht etwas sein, das abgeplatzt und für immer abgetan ist, sondern ein Spiegel, in dem Bilder von ehedem und solche von heute, vielleicht auch imaginierte von morgen sich begegnen. Ein Spiegel, der dabei hilft, das eigene Leben zu einer durchhaltbaren : einer eigenen Geschichte zu formen ... Ist es wichtig, solche Spiegel individuell und gesellschaftlich zu haben? Wer entscheidet, was wichtig ist? Oder: auf welche Art wird die anonyme, letztendlich strukturelle Entscheidung getroffen? O-Ton (Thomas Rosenlöcher): Man muß sich fragen: Was brauche ich wirklich. Das ist etwa die Frage, die eigentlich durch alle Poesie auch geht. Was brauche ich wirklich. Was ist das wirklich Wichtige. Und das versucht das Gedicht eigentlich zu klären, ohne es letzten Endes beantworten zu können, aber das, was ins Gedicht wirklich gehoben werden kann als gültig, als Lebensmoment, das ist das, was ich wirklich brauche. O-Ton (Michael Buselmeier): Ich nehm mal wieder den jungen Schoppe, oder auch den alten Schoppe. Wenns denen schlecht geht, dann brauchen sie was, als gegen die Welt Gerichtetes. Ich brauche das. Es ist sozusagen ein Nothelfer, ein Rettungsanker, eine Fluchtebene. Ich bin immer gern gewandert und hab mich in die Natur geflüchtet, wenns mir schlechtging, und ich denke, diese Liebe zur Natur ist notwendig, das braucht man. Zitator 1 (Buselmeier): Das wäre ein Leben, in einer Arche voller Bücher oder in Hieronymus' Klause, mit einem kleinen Löwen zu Füßen, und die Sanduhr nur der Ästhetik wegen, am Weltuntergang vorbeischaukelnd. Musik: zäsurierend Sprecher: Am Weltuntergang vorbei ... Schaukelt hier die gesamte Welt an dieser Möglichkeit vorbei, oder nur der Poet in seinem selbsterzeugten kokonartigen Sehnsuchtsraum? Es scheint, daß Michael Buselmeier die immunisierende und welterschaffende Kraft der Poesie hoch veranschlagt. Die Poesie und die Natur als "gegen die Welt Gerichtetes", das gerade durch den Abstand und durch die Andersheit wieder mit der Welt verbindet. Musik: zäsurierend Zitator 2 (Rosenlöcher): "Die Hoffnungsstufen" [= Titel des Gedichts] Daß ich den Birnbaum vorm Haus wieder sehe. Ich meine den, den ich jeden Tag sehe. Daß mich eine Frau im Dunklen entkleidet und mit silbernen Fingern was Finstres vorfindet. Daß wir, im Schlaf zu Staub entrückt, des Birnbaums Blüten donnern hören. Musik: als längere Zäsur Sprecher: Was brauche ich, was erhoffe ich Statt Tausender Angebote, sich zu vergnügen, zu informieren, zu reisen, zu genießen und dorthin zu gehen, "wo das Geldverdienen Spaß macht", steht da dieser Birnbaum. Die Reduktion scheint zur Idylle zu gehören wie die Fülle. Zitator 3 (Adorno): Vielleicht wird die wahre Gesellschaft der Entfaltung überdrüssig - Sprecher: - Theodor W. Adorno in den "Minima Moralia" - Zitator 3 (Adorno):-und läßt aus Freiheit Möglichkeiten ungenützt, anstatt unter irrem Zwang auf fremde Sterne einzustürmen. Rien faire comme une bête, auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen, "sein, sonst nichts, ohne alle weitere Bestimmung und Erfüllung" könnte an Stelle von Prozeß, Tun, Erfüllen treten ... Sprecher: Reduktion und Fülle ... O-Ton (Thomas Rosenlöcher): Es gibt ja von Rilke [...] so ein Gedicht über einen Rosenstrauß, der irgendwo steht, und am Ende ... am Ende sind die Blätter übermächtig, daß das ganze Zimmer nur noch Rose ist, so diese Art von Fülle, daß das sozusagen in das Ganze geht. Aber das kann sich ja gerade durch Reduktion herstellen, wissen Sie, und durch Anschauen des einzelnen, diese Fülle. Insofern ist das eine Spannung, denke ich. Und ein bißchen ist das Chaos immer dahinter. Und im Chaos ist es wiederum Fülle. Es ist der Tod ... sozusagen: in jedem Stilleben ist ein bißchen Tod drin. Man weiß auch: das geht zu Ende. Gerade wenn ich so reduziere und gerade wenn es jetzt so schön ist, und ich sehe das jetzt, ich gucke wirklich mal auf einen Lichtfleck im Wald und seh ihn wirklich, bin vielleicht auf ihn zugegangen, das hat gleichzeitig etwas vom Ende, immer. Deswegen meine ich auch, daß Idyllen nicht nur idyllisch sind, sondern sie sind ein Ausschnitt, der mich treffen kann auch in meiner Endlichkeit, aber dann spür ichs wenigstens, das ist auch ein Geschenk. Musik: zäsurierend Zitator 1 (Buselmeier): Ich belausche die Dinge, die vielen Einzelheiten ziehen mich an. Stärkeres Blätterrauschen, den schartigen Herbstgeräuschen entgegen. Die Wolkentiere, die Wiesen, die Stoppelfelder. Hier sitzen bleiben fortan, im grünen Wuchern des Lichts, und mich nicht mehr regen, nur schauen und aufgehen in allem, was da ist Musik: kurz zäsurierend Sprecher: Diese heilen Weltmomente, in die etwas Tod gemischt ist, gehören zur Idylle. Auflösung in Natur, die ihre ekstatische Seite und eine andere hat: jene des sich zersetzenden Organismus. Umschirmtheit und Geborgenheit kann dazugehören. Zeitlosigkeitsempfinden. Erschrecken über das Schöne - wie bei Thomas Rosenlöcher -, das unsere Erbärmlichkeit unschuldig- schlaglichtartig erhellt. Reduktion der Reize, auch der Geschäftigkeit. Und Fülle durch Reduktion. Idylle - auch die literarische, auf die einer sich einläßt - gibt Abstand vom penetranten Tagesgeschäft, ohne einen gleich in die Arme einer Industrie laufen zu lassen, etwa zum Kunden von Wellness- und Sinnfindungsware zu machen. Idylle gibt Abstand vom täglichen Multi-tasking und Simultankonsum. Idylle ist ein Ort in sich, eine stille Zeit; auch das Verlieren von Ort und Zeit. Und dennoch "auf der Höhe" - wie Albert Camus einmal sagte von René Char - "auf der Höhe unserer Zusammenbrüche". Idylle kann bedeuten, das Undenkbare zu tun, nämlich zu preisen, dem Dasein, dem Hiersein und einigen Dingen des Lebens mit Ergriffenheit und Freude, mit Dankbarkeit zu begegnen. O-Ton (Thomas Rosenlöcher): In der Tat. Wir waren da völlig, so viele Jahre völlig auf dieses Kritische abonniert, und das ist zu eng oft. Ich möchte allerdings dieses Aufklärerische deswegen nicht verlieren, diesen Impetus, also mich auch gegen die Welt zu wehren, wie sie ist; aber es ist immer auch in der Welt, wie sie ist, ein Vorschein, wie sie sein könnte oder sein sollte - bis zum Religiösen hin -, wie sie sein sollte, daß das Paradies im Diesseits vorscheint und in einem Idyll das Paradies vorscheint, und daß daher meine Sehnsucht danach kommt, und ... Das hat natürlich auch etwas wie: Augenblick, verweile doch, du bist so schön. Das darf man, glaube ich, das gehört auch dazu. Sprecher: Augenblick öffne dich, du bist so schön ... Zitator 2 (Rosenlöcher): "Das Klackern" [= Titel des Gedichts] Schneeschuhfahren in der Wälder Schatten. In den Stämmen knistert der Tod. Und über dunklen Fichtenzacken knopfgroß ein Sternlein flüstert. Vorgestern ging Alexander ins Nichts. Gestern Rom. Eben der gewisse Wissarionowitsch. Nur ich lauf noch immer umher. Das Sternlein sucht das Dürrholz ab, ob ich im Gehn vergeh. Im Augenblick wird die Ewigkeit knapp. Leis klackern die Schneeschuh im Schnee. Musik: kommt unter dem Gedicht hervor und bleibt für sich noch eine Weile stehen 1