Deutschlandradio Kultur Sendung: Forschung und Gesellschaft Datum: 08.11.13 Titel: Die stillen Leiden (2/2): Dauerschmerz im Kopf - Migräne Autorin: Lydia Heller Redaktion: Kim Kindermann 1. Geräusch/Musik: entferntes, subtiles Rauschen / rhythmischer, pulsierender Industrielärm / verzerrte, „nervige“ Töne 2. O-Ton, Sessay „Das sind einfach wahnsinnig starke Kopfschmerzen.“ 3. O-Ton, Richter „Wenn ich einen Schmerz überm rechten oder linken Auge hab und das ins Auge zieht. Und ich merke, dass ich irgendwie so leicht kalt werde...“ 4. O-Ton, Sessay „..begleitet mit Übelkeit, Augenflimmern und …bei jedem Kopfdrehen hast Du das Gefühl, Dir haut jemand mit dem Hammer auf den Kopf.“ 5. O-Ton, Richter „..es steigert sich immer weiter und …pocht ins Auge, wie so ein Nadelstich. Als ob man mit einer Nadel gepiekt wird. … Dann weiß ich: Es ist Migräne.“ 6. Geräusch / Musik Sprecherin: Wie einen Überfall – so erleben viele Menschen mit Migräne ihre Schmerzattacken. Ein Überfall, der zwar nie ganz überraschend kommt und in seinem Ablauf immer ähnlich ist, der die Betroffenen aber jedes Mal aufs Neue unerbittlich in die Knie zwingt. 7. O-Ton, Richter „Da brauch ich einfach nur Ruhe und will in meinem Zimmer sein. Ganz für mich sein.“ Sprecherin: Andreas Richter, 39, Geschäftsführer in einem Münchener Unternehmen. 8. O-Ton, Richter „Ich schmeiß alle Klamotten in die Ecke, zieh das Rollo runter und dann lieg ich im Dunkeln und hoffe, dass es bald vorbei ist.“ Sprecherin: Manche Migränepatienten erleben alle sechs bis acht Wochen eine Attacke, drei oder vier – manchmal sechs Stunden lang. Andere verschwinden mehrmals im Monat in abgedunkelte Zimmer und bleiben dort mitunter Tagelang. 9. O-Ton, Sessay „..weil du wirklich nicht mehr nachdenken kannst, dich nicht bewegen kannst.“ Sprecherin: Doreen Sessay, 39, Ethnologin aus Berlin. 10. O-Ton, Sessay „Bei Migräne bist du einfach komplett ausgeknockt. Du kannst gar nichts mehr machen. Nur versuchen, es durchzustehen.“ 11. Musik/Geräusch: Sprecherin: Mehr als 300 Millionen Menschen auf der Welt leiden unter Migräne, schätzt die Weltgesundheitsorganisation. Zehn Millionen davon leben allein in Deutschland. Migräne gehört damit zu den am häufigsten auftretenden Erkrankungen überhaupt. Sprecher: Experten des Migräne- und Kopfschmerzzentrums in Kiel gehen sogar von 18 Millionen Betroffenen aus. 143 Millionen Arbeitstage, so errechneten sie, gehen dadurch jährlich verloren. Der Arbeitsausfall verursacht Kosten in Höhe von etwa 15 Milliarden Euro pro Jahr. Ausgaben für Behandlungen und Medikamente nicht mitgerechnet. –Und trotz dieser Zahlen: Wer Migräne weder selbst kennt, noch betroffene Angehörige, Freunde oder Bekannte hat – für den ist Migräne oft nur ein anderes Wort für Kopfschmerzen. Eine Ausrede, die jemand anführt, um sich vor unangenehmen Aufgaben zu drücken. 12. O-Ton, Förderreuther „Natürlich sind Migränepatienten außerhalb der Attacken funktionsfähig und wirken nicht krank. Dadurch wird das sicherlich unterschätzt. Und wenn man jemanden kennt, der nicht sehr stressfest ist und sich nicht gut distanzieren kann, nicht ‚nein‘ sagen kann und durch so eine vermehrte Belastung sich immer wieder in Schwierigkeiten bringt, dann sagt man: Na ja, das ist so eine Erkrankung von Leuten, die nicht mit ihren Problemen umgehen können.“ Sprecherin: Stefanie Förderreuther, Oberärztin an der Neurologischen Klinik der Universität München, beobachtet bei vielen ihrer Patienten, dass sie nicht gern – und schon gar nicht offen – über ihre Migräne sprechen. 13. O-Ton, Förderreuther „Migräne hat doch für viele noch immer so ein Stigma, man sagt nicht so gern, dass man Migräne gehabt hat und deswegen ausgefallen ist. Dass manche Frauen gar nichts dafür können, weil die Migräne bei ihnen einfach durch hormonelle Schwankungen während des Zyklus ausgelöst wird zum Beispiel, das wird dann auch nicht immer so vorgetragen. Als Frau will man natürlich auch nicht immer sagen: Ich hab im Übrigen meine Tage (lacht)… Und das macht die Migräne zu einer Krankheit, die man lieber mal verschweigt.“ 14. Musik 15. O-Ton, Sessay „Wenn mich jemand gefragt hat, na sicher, hab ich das schon erzählt. Aber.. ich hab das nie groß als, naja gut, Belastung schon, aber nicht, dass es mein Leben bestimmen würde und dass ich darunter leide – so hab ich‘s nicht empfunden. Eher so: ja, ist halt so. ..Man stellt sich drauf ein, man lebt damit und das ist dann auch ganz normal.“ 16. Musik 17. O-Ton, Richter „Wenn ich Migräne habe, dann sieht man sehr deutlich, dass ich gerade echt krank bin, weil ich sehr bleich bin und erbrechen muss. Da zweifelt keiner dran, dass es mir echt dreckig geht.“ 18. Musik Sprecherin: Das öffentliche Bewusstsein dafür, dass Migräne eine ernstzunehmende Erkrankung ist, wächst seit einigen Jahren – zusammen mit dem Wissen über die Krankheit. Aus Hirnscans etwa weiß man, dass schmerzverarbeitende Zentren im Gehirn während einer Migräne besonders aktiv sind. Neurobiologen identifizierten schmerzvermittelnde Botenstoffe, die eine Art Entzündung an den Hirnhäuten auslösen. Man kennt eine ganze Reihe von Faktoren, die dazu beitragen, dass eine Migräne überhaupt beginnt: Sprecher: Stress und Schlafmangel zum Beispiel, Hormonschwankungen, sogar das Wetter. Nur ein einheitliches Bild ergeben die vielen einzelnen Erkenntnisse bisher nicht: Welche Faktoren bei welchem Patienten in welcher Weise zusammenspielen, was genau die Schmerzattacken auslöst und warum sie unterschiedlich häufig und schwer sind – das alles ist unklar. Sprecherin: Sicher ist jedoch, dass Gene bei der Entstehung von Migräne eine Rolle spielen, dass Veränderungen im Erbgut das Risiko erhöhen, immer wieder Migräneanfälle zu erleiden. Sprecher: Die bisher umfangreichste Studie zu den genetischen Wurzeln der Migräne haben Forscher des International Headache Genetics Consortium im Juni dieses Jahres im Fachmagazin Nature Genetics veröffentlicht. Die Wissenschaftler hatten das Erbgut von rund 23tausend Menschen mit Migräne mit dem Erbgut von fast 100tausend Nicht-Betroffenen verglichen. Ergebnis: In zwölf Regionen unterschieden sich bestimmte Genbausteine der Migräne-Patienten deutlich von denen der gesunden Kontrollgruppe. 19. O-Ton, Freilinger „Die Varianten, die wir identifiziert haben, liegen zu einem großen Teil in beziehungsweise in der Nähe von Genen, welche für die Aktivität von Nervenzellen eine Rolle spielen. Für die Aktivität zum Beispiel von Synapsen, …also der Kontaktstellen zwischen Nervenzellen.“ Sprecherin: Tobias Freilinger vom Hertie-Institut für Klinische Hirnforschung am Universitätsklinikum Tübingen und Mitautor der Studie. 20. O-Ton, Freilinger „Es gibt Hinweise, dass die Variante, die bei den Betroffenen häufiger vorkommt, zu einer gesteigerten Funktion im Bereich dieser Gene führen kann, ..unsere Ergebnisse sprechen für eine generell erhöhte Erregbarkeit der Gehirnzellen. Also ..im Moment können wir sagen, die Migräne ist offensichtlich eine Erkrankung des Gehirns, der Nervenzellen, der Neurone.“ Sprecherin: Auf welche Weise diese veränderten Gene zu einer Übererregbarkeit von Nervenzellen führen, ist damit noch nicht entschlüsselt. Wahrscheinlich beeinflussen die Genvarianten bei Menschen mit Migräne wesentlich, dass Neurone unter bestimmten Umständen besonders reizbar sind und auf bestimmte Reize mit gesteigerter Aktivität reagieren. Sprecher: Dass Menschen mit Migräne Reize anders verarbeiten – darauf haben psychologische Studien bereits hingewiesen. Messungen von Hirnströmen zeigten etwa, dass das Gehirn von Migräne-Patienten sich weniger stark an Reiz-Situationen gewöhnt, als das bei Gesunden der Fall ist. Wartet man zum Beispiel darauf, dass ein Ereignis eintritt, etwa, dass eine Ampel umschaltet, wird das Gehirn in Erregung versetzt – es arbeitet auf einem bestimmen Bereitschaftspotenzial. Hat dieses Ereignis keine große Bedeutung und erlebt man es immer wieder, dann nimmt dieses Erregungsniveau normalerweise ab, das Gehirn gewöhnt sich an den Reiz. Bei Menschen mit Migräne allerdings bleibt es „in Bereitschaft“. 21. O-Ton, Kropp „Wir nennen das dann, dass Migräne-Patienten nicht so schnell habituieren als Gesunde. Das heißt, das Gehirn kümmert sich intensiver um die Aufgaben, die ihm gestellt werden.“ Sprecherin: In einem Experiment am Institut für medizinische Psychologie und Soziologie der Universitätsmedizin Rostock hat Professor Peter Kropp die Hirnströme von Migräne-Patienten und gesunden Probanden gemessen. Sprecher: Beide Gruppen sollten auf bestimmte Tonsignale achten und diese nach einer Weile abschalten. Allerdings wurde der Schalter in der zweiten Hälfte der Versuchsreihe ohne das Wissen der Versuchsteilnehmer blockiert. 22. O-Ton, Kropp „Dann konnte man mit diesem Schalter diese Töne nicht mehr abschalten. Während Gesunde dann relativ schnell sich damit zufriedengegeben haben, haben Migräne-Patienten plötzlich noch schneller reagiert und noch höhere Kurven in ihrem EEG aufgewiesen. Was für uns ein sicheres Zeichen dafür ist, dass die Konzentration, die Aufmerksamkeit noch gesteigert wurde. Das heißt, Migräne-Patienten haben sich nicht zufriedengegeben, dass es nicht mehr abschaltbar ist, sondern haben versucht, noch eine spezielle Lösung zu finden, indem sie noch schneller reagieren und damit diese Töne vielleicht doch noch abschalten.“ 23. Musik 24. O-Ton, Richter „..also ungeduldig bin ich.“ 25. O-Ton, Sessay „…kann ich schon bestätigen, dass ich, glaub ich, was Problemlösung angeht, dass ich da vielleicht hartnäckiger bin. Oder organisiert schon auch, aber …“ 26. O-Ton, Richter „…ob das auf die Migräne zurückzuführen ist, das weiß ich nicht.“ 27. Musik Sprecherin: Professor Karl Messlinger vom Institut für Physiologie und Pathophysiologie der Universität Erlangen vermutet, dass die entdeckten Genvarianten bei Migränepatienten den Stoffwechsel bestimmter Hirn-Botenstoffe beeinflussen könnten. So dass die Kommunikation zwischen Nervenzellen lebhafter abläuft – und Teile des Gehirns leichter erregbar sind. 28. O-Ton, Messlinger „Unser Nervensystem arbeitet mit sogenannten Transmittern – chemische Botenstoffe, die die Aktivität der einzelnen Nervenzellen miteinander verknüpfen. Das ist normalerweise sehr gut ausbalanciert. Wenn nun in irgendeiner Weise so eine Übertragung gestört ist, durch zum Beispiel zu viel an solchen Botenstoffen oder vielleicht auch zu wenig an solchen Botenstoffen – dann müssten wir mit einer solchen Störung rechnen.“ Sprecherin: Botenstoffe, die die Wahrnehmung und Übertragung von Schmerzreizen fördern und Botenstoffe, die die Schmerzwahrnehmung und -übertragung hemmen, geraten bei einer Migräne-Attacke aus dem Gleichgewicht. Sprecher: Glutamat, Dopamin und Serotonin etwa scheinen die Entstehung von Migräne zu beeinflussen – ebenso wie Stickstoffmonoxid und das Neuropeptid CGRP. 29. O-Ton, Messlinger „Diese beiden scheinen tatsächlich im zentralen Nervensystem zusammenzuspielen, um Überträgereigenschaften, die schließlich zur Schmerzentstehung führen, zu fördern oder zu hemmen. Die Experimente dazu sind vielfältig, man kann zum Beispiel an Geweben tatsächlich zeigen, dass die Aktivität von solchen Neuronen ansteigt, wenn man dieses CGRP auf die Zelle gibt. Wir wissen, dass CGRP in der Lage ist, Gefäße aufzudehnen, so dass die Durchblutung des Gewebes verstärkt wird.“ Sprecherin: Weiten sich die Gefäße in der Hirnhaut und schwillt das Gewebe um die Blutgefäße herum an, können Eiweißstoffe aus dem Blut ins Gewebe austreten. Sprecher: Es kommt zu einer Art Entzündung der Hirnhäute – die von den Patienten als starker, pulsierend-pochender Schmerz empfunden wird. Sprecherin: Allerdings: Die vererbten Genvarianten, ein veränderter Stoffwechsel von Hirnbotenstoffen und eine andere Reizverarbeitung erhöhen lediglich das Risiko, einen Migräne-Anfall zu erleiden. Sie selbst verursachen keine Schmerzen. Erst zusammen mit bestimmten Auslösern kann es tatsächlich zu einer Kopfschmerz-Attacke kommen. 30. O-Ton, Sessay „Das geht meistens einher mit der Regel, also einmal im Monat, wahrscheinlich durch diese Hormonumstellungen. Später hab ich gemerkt, wenn ich Rotwein trinke, das löst auch oft Migräne aus, kombiniert am besten noch mit Schlafmangel oder Stress.“ 31. O-Ton, Richter „Was ich eher so bei mir festgestellt hab, wenn ich beruflich sehr angespannt war und dann die Entspannung kommt. Gar nicht so in Stressphasen aber in der Entspannungsphase. Das ist der Moment, wo dann bei mir Migräne kommt. Am Wochenende oder so.“ 32. Musik 33. O-Ton, Sessay „Was sich oft auch daran äußert, dass die Wahrnehmung ein bisschen anders wird. Dass ich merke, ich sehe nicht so ganz scharf, ich muss blinzeln. Also unscharf sehen, Lichtempfindlichkeit, dass das unangenehm ist, laute Geräusche, Geräuschempfindlichkeit. Das ist auch eins der Anzeichen..“ 34. O-Ton, Richter „Hunger ist so was, was ich dann habe. Dann esse ich was und denke, dass es vielleicht besser wird. Und sollte eigentlich nach 30 Jahren Migräne wissen, dass es nicht besser wird. Irgendwie weiß ich zu dem Zeitpunkt schon, ich sollte jetzt nicht essen. Das erbreche ich danach alles wieder. Aber dann esse ich trotzdem was und – dann kommt halt der Anfall.“ 35. Musik Sprecherin: Welche sogenannten „Trigger“ bei wem in einer Kopfschmerz-Attacke münden, ist individuell verschieden. Alkohol, Stress, unregelmäßiger Schlaf und unregelmäßige Mahlzeiten gehören zu den Auslösern, die Betroffene am häufigsten nennen. Aber auch Wetterumschwünge und grelles Licht, Schokolade und sogar Gummibärchen werden für Anfälle verantwortlich gemacht. Anfang des Jahres jedoch widerlegte Jes Olesen von der Universität Kopenhagen gemeinsam mit dänischen Forschern die Annahme vieler Migränepatienten, dass ihre Attacken durch solche Reize ausgelöst werden. Sprecher: Die Wissenschaftler hatten versucht, bei Patienten einen Migräne-Anfall mit jenen Mitteln auszulösen, die zuvor als Trigger genannt wurden. Nur in wenigen Fällen kam es dabei wirklich zu einer Attacke. Möglicherweise, so das Fazit, sind bestimmte Verhaltensweisen, etwa Heißhunger auf Schokolade, keine Auslöser für Migräne – sondern vielmehr Indikatoren dafür, dass man sich bereits in einer frühen Phase des Migräneanfalls befindet. Sprecherin: Dr. Stefanie Förderreuther von Neurologischen Klinik der Universität München: 36. O-Ton, Förderreuther „Man muss bei der Migräne unterscheiden zwischen Prodromalsymptomen, der Auraphase und der Kopfschmerzphase. Prodromalsymptome sind Veränderungen, wo sich die Migräne ankündigt. Manche Leute werden da gereizter, kriegen Heißhungerattacken oder so etwas. Wenn die dem nachgeben, meinen sie, dass ich das gegessen hab, hat bei mir die Migräne ausgelöst. Das ist sicherlich nicht der Fall. Von der Aura spricht man, wenn neurologische Symptome auftreten, Sehstörungen und Gefühlsstörungen oder Sprachstörungen, dass man das Gefühl hat, man kann sich nicht so artikulieren, wie man das gewöhnt ist.“ Sprecherin: Eine Migräne mit Aura tritt nur etwa bei jedem zehnten Migränepatienten auf – häufig berichten die Betroffenen von: Sprecher: Gezackten Linien, von Schlieren oder Schleiern, die etwa eine Viertelstunde lang in ihrem Blickfeld erscheinen. Die meisten aber beobachten vor einer Migräne bei sich Müdigkeit, Reizbarkeit oder Unruhe, Heißhunger, Konzentrationsstörungen, Licht- oder Lärmempfindlichkeit. Sprecherin: Wie so eine Aura oder solche Prodromalsymptome – die jeweils meist nicht schmerzhaft sind – an die folgende Kopfschmerzphase gekoppelt sind – auch das ist für Migräneforscher noch ein Rätsel. Sprecher: Eine Aura beispielsweise entsteht in der Hirnrinde, durch Neurone, die abwechselnd sehr stark oder sehr wenig erregt sind und deren Umgebung entsprechend stark oder weniger stark durchblutet wird. Die Kopfschmerzphase dagegen beginnt im Hirnstamm. 37. O-Ton „Und wie kommen die zusammen? Wie sagt diese Ecke vom Hirn der anderen Ecke: ‚Du bist jetzt dran mit der nächsten Phase – das wissen wir nicht so genau.“ Sprecherin: Vor etwa zehn Jahren identifizierten Forscher um Professor Arne May, Neurowissenschaftler am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Areale im Hirnstamm, die wie eine Art Motor für die Migräne wirken. 38. O-Ton, May „Was wir damit nicht verstehen, bislang, ist, warum die Migräne regelmäßig kommt. Wer sagt diesem Motor, dass er angehen soll?“ Sprecherin: Um das herauszufinden, setzte Arne May Migränepatienten einem kurzen Schmerzreiz aus und beobachtete dabei die Hirnaktivitäten im Hirnscanner. Sprecher: Er stellte fest, dass Neurone in den sogenannten trigeminalen Kernen – also im Ursprung des Nerven, über den unter anderem Schmerzen im Gesicht wahrgenommen werden – umso aktiver sind, je näher eine Migräne bevorsteht. 39. O-Ton „Das heißt, wenn jemand erst in 16 Tagen die Attacke hat, feuert dieses Gebiet kaum, auf den Schmerzreiz. Wenn er die Attacke in zwei Tagen hat, feuert es enorm. In der Attacke fällt es dann wieder runter. Ein mögliches Bild ist das einer Welle, die in die Nähe des Strandes kommt, dann umfällt. Das ist die Attacke. Dann sieht man kaum noch Bewegung, dann kommt die nächste Welle. Das Spannende ist, wenn die Welle sich aufbaut, kommt es irgendwann an den Punkt, wo die Welle brechen könnte, es aber noch nicht tut. Die braucht noch ein paar Meter. Wenn jetzt von außen Stress kommt oder hormonelle Veränderungen oder Weintrinken – dann kann die Welle früher brechen.“ 40. Musik Sprecherin: Wie die verschiedenen Migränephasen zusammenhängen – wie das Gehirn bei Migräne funktioniert und wie äußere Einflüsse und Hirnaktivitäten genau zusammenspielen – das will Arne May jetzt in einer weiteren Studie untersuchen. 41. O-Ton, May „Wenn wir nur die Migräneattacke untersuchen, werden wir nie verstehen, wie Migräne funktioniert. Viel spannender sind all die Dinge, die vorher passieren: die Konzentrationsstörungen, die Merkfähigkeitsstörungen, viele gähnen vorher. Viele kriegen vorher ein sogenanntes Craving, einen Heißhunger auf Schokolade. Das ist das Entscheidende, dass ich dasselbe Gehirn mehrfach über die Tage untersuche und sehe, wie es raufschwingt, wie die Welle sich entwickelt,. Und dann kann ich sagen, wie das Orchester im Gehirn funktioniert, wie die Attacke da ist.“ Sprecherin: In etwa drei Jahren will Arne May die ersten Ergebnisse vorlegen. 42. O-Ton, May „Wenn ich all diese Symptome zusammenfasse: Gähnen, schlecht Laune, Müdigkeit – dann gibt es ein Areal, das dafür zuständig wäre. Das sogenannte Limbische System. Eine sehr alte, tief im Gehirn liegende Struktur, die versteht, wann ich Stress habe, ob gerade Tag oder Nacht ist, und in diesem Areal gibt es den Hypothalamus. Ich würde wetten, dass dort die Migräne startet.“ Sprecherin: Kennt man den Ursprung eines Migräneanfalls, ist es vielleicht in Zukunft möglich, bereits zu diesem Zeitpunkt zu intervenieren und ihn gar nicht erst entstehen zu lassen. Derzeit geht es im Umgang mit Migräne noch vor allem darum, den Abstand zwischen den Attacken zu verlängern, die Dauer der Kopfschmerzphase zu verkürzen und die Schmerzen zu mildern. 43. O-Ton, Richter „Wenn ich rechtzeitig das merke und Medikamente zur Hand hab, dann wird das auch gar nicht zu einer richtigen Migräneattacke. Das nimmt dem Ganzen ein bisschen die Spitze, dass es nicht mehr so unerträglich wird.“ 44. O-Ton, Sessay „Möglichst schnell starke Ibuprofen, ich hab eigentlich nie diese starken Migränetabletten genommen, sondern nur auf Schmerzmittel zurückgegriffen, normale. Und dann hab ich meistens schlimmeres abwenden können. Dass es gar nicht so stark ausgebrochen ist.“ 45. O-Ton, Richter „Was ein Hausarzt von mir mal gesagt hat, dass Ausdauersport gut ist. Und da hab ich mit Laufen angefangen. Und seitdem ich das mache, hab ich das Gefühl, es ist besser oder weniger geworden.“ 46. Musik Sprecherin: Bei akuten Migräneanfällen mit leichten oder mittelstarken Schmerzen greifen viele Patienten auf normale Schmerzmittel wie Aspirin, Paracetamol oder Ibuprofen zurück. Bei starken Schmerzen helfen diese Mittel jedoch nicht. Etwa zwei Drittel der Migränepatienten behandelt die Attacken dann mit sogenannten Triptanen. Sprecher: Das sind Medikamente, die verhindern, dass Botenstoffe in den Hirnhäuten freigesetzt werden, die Gefäße erweitern und Entzündungen auslösen. Triptane tragen zudem dazu bei, dass die Übertragung von Schmerzsignalen aus der Hirnhaut ins Gehirn blockiert wird. Sprecherin: Ziel ist jedoch, möglichst wenig Schmerzmittel einzunehmen. Wer an mehr als zehn Tagen im Monat Tabletten schluckt, dem drohen Kopfschmerzen, die durch die Medikamente selbst erzeugt werden. Neben der Behandlung akuter Attacken mit Tabletten werden daher nicht-medikamentöse Methoden zur Vorbeugung immer wichtiger: Ein regelmäßiger Tagesablauf, Ausdauersport, Übungen zur Muskelentspannung, Akupunktur. Der Psychologe Peter Kropp empfiehlt Migränepatienten zudem, Biofeedback-Techniken zu erlernen. 47. O-Ton, Kropp „Etwas, was ich bewusst wahrnehmen kann, kann ich verändern. Bei der Migräne weiß man, dass im akuten Anfall die Gefäße aufgequollen sind. Und man möchte, dass sie sich verengen. Das kann man erreichen, dass man Medikamente nimmt, Triptane zum Beispiel – man kann das aber auch lernen mit Biofeedback-Technik.“ Sprecherin: Mit Hilfe von Sensoren bekommen Patienten dabei zunächst Rückmeldungen über bestimmte Körperzustände – Hauttemperatur oder Blutdruck etwa – und damit auch Informationen über den Grad ihrer Angespanntheit. Im Laufe der Zeit lernen sie so, diese Zustände ohne Rückmelde-Geräte wahrzunehmen und durch Übungen gezielt zu verändern. Fortgeschrittene können dann so sogar den Verlauf einer akuten Attacke beeinflussen. 48. O-Ton, Kropp „Dass man einen Sensor auf die Schläfenarterie klebt und dieser Sensor misst den Gefäßdurchmesser. Jetzt geht‘s darum, auf Geheiß dieses Gefäß verändern zu können. Dazu muss man jetzt verschiedene Denk-Strategien aussuchen. Manche Menschen stellen sich vor, sie würden in Eiswasser baden. Andere stellen sich vor, Zitronensaft zu trinken, ganz konzentrierten. Das kann dazu führen, dass dieses Gefäß wieder verengt wird und dann geht der Kopfschmerz ein Stückweit weg.“ 49. O-Ton, Sessay „Einer der Ratschläge des Arztes, wo ich mal war, war, dass er gesagt hat, bei einigen würde es helfen, wenn sie versuchen, durch die eigene Vorstellungskraft diesen Schmerz wegzudenken. Und das hab ich dann wirklich mal ausprobiert und das hat tatsächlich so ein bisschen diesen Schmerz genommen. ..Ich hab gelernt, damit umzugehen, auch verschiedene Auslöser dann zum Beispiel wegzulassen, einfach mal ein bisschen ruhiger machen, früh schlafen gehen, keinen Wein trinken. So was.“ Sprecherin: Neuere Therapieansätze versuchen, Erkenntnisse aus der kognitiven Verhaltens- und Angst-Therapie auf die Vorbeugung von Migräne zu übertragen – die Betroffenen sollen sich dabei gerade an die Reize gewöhnen, die sie als Auslöser wahrnehmen. Ist jemand etwa überzeugt davon, dass ein bestimmtes Lebensmittel bei ihm Migräne auslöst, kann er versuchen, dieses Lebensmittel in sehr geringen Mengen zu essen und beobachten, ob tatsächlich eine Attacke folgt. Bleibt sie aus, kann er die Dosis nach und nach auf ein normales Niveau steigern. 50. O-Ton, Kropp „Beim Stress ist es so, dass eine Reihe von Migränepatienten berichten, dass sie nach einer starken Anstrengung, wenn sie viel denken mussten, in die Migräne fallen. Jetzt wollen wir nicht verhindern, dass jemand gut denken kann, aber der Übergang zur Entspannung sollte anders gestaltet werden. Zum Beispiel, dass man nach einer Stresssituation versucht, so ein bisschen die Denkvorgänge aufrecht zu erhalten. Und nicht sofort in eine tiefe Entspannung zu fallen. Was wir auch beobachten ist, dass Patienten mit Migräne deutlich weniger Pausen unterm Tag einlegen als Nicht-Migräne-Patienten. So dass allein schon ein anderes Pausen-Management dazu führt, dass Migräne reduziert werden kann.“ 51. Musik Sprecherin: Helfen vorbeugende Maßnahmen nicht und tauchen Schmerzattacken über mehrere Monate hinweg an mindestens 15 Tagen pro Monat auf, sprechen Mediziner seit einiger Zeit von chronischer Migräne. Warum bestimmte Migränepatienten – Epidemiologen zufolge etwa ein Prozent der Bevölkerung – diese chronische Form entwickeln, ist eine der aktuell meistdiskutierten Fragen der Migräneforschung. Eine Antwort gibt es bisher nicht. Behandelt wird chronische Migräne seit 2011 unter anderem mit dem Nervengift Botolinumtoxin A. Sprecher: Botolinumtoxin A auch bekannt als Botox wird den Patienten im Abstand von ein oder zwei Monaten an 31 festgelegten Punkten in Gesicht, Hinterkopf und Nacken injiziert. Bis zu drei Viertel von ihnen berichten, dass sich nach etwa einem Jahr Behandlung ihre Situation deutlich verbessert habe. Sprecherin: Die Forscher vermuten, dass Botolinumtoxin A die Empfindlichkeit schmerzvermittelnder Gesichtsnerven reduziert. Auch Verfahren der Neuromodulation gelten in der Migränebehandlung als vielversprechend: So ist seit 2012 etwa die Occipitalis-Neuromodulation für die Behandlung chronischer Migräne zugelassen – bei der der Occipitalis-Nerv am Hinterkopf über implantierte Elektroden elektrisch stimuliert wird. An der Charité Berlin wird außerdem untersucht, ob eine Stimulation des Ganglion sphenopalatinum – eines Nervengeflechts, das bei der Übertragung von Schmerzinformationen im Gesicht eine Rolle spielt – chronische Migräne beeinflussen kann. Doktor Uwe Reuter leitet die Studie. 52. O-Ton „Die Patienten würden ein kleines Implantat in dieser Höhle unter dem Auge bekommen. Dieses Implantat kann man von außen steuern, mit einer kleinen Handy-Apparatur. Dieses Handy sagt dem Stimulator: ‚Geh an oder geh aus‘. Wenn er angeht, hoffen wir, dass wir die Migräneattacke verhindern oder reduzieren bzw. verbessern können.“ Sprecherin: Ersetzen werden solche Verfahren die Tabletten jedoch nicht. Die Implantation eines Stimulators zur Hinterhauptsnerv-Stimulation beispielsweise kostet rund 30.000 Euro – und Komplikationen sind nicht ausgeschlossen. Die besten Ergebnisse im Umgang mit Migräne erzielen heute die Patienten, die konsequent vorbeugen und Attacken mit einer individuellen Kombination aus Verhaltenstherapie und Medikamenten behandeln. 53. Musik 54. O-Ton, Sessay „Ich bin der festen Überzeugung, dass man selber oft ganz genau weiß, was man braucht. Es ist ganz wichtig, drauf zu hören, was der Körper einem sagt. Ob man das jetzt angenehm findet oder unangenehm und dass man kuckt, die Möglichkeit fände ich für mich gut oder nicht. Das ist dieses Individuelle bei Migräne. Dass man auf seinen Körper hören muss.“ 55. O-Ton, Richter „Das ist für mich so ein Phänomen, was ich einfach habe und habe mit dem gelernt umzugehen. Insofern hab ich damit meinen Frieden geschlossen, dass ich nun mal Migräne hab. Ich will da auch gar nicht so intensiv hinschauen. Und mich damit beschäftigen, warum jetzt gerade ich das alle acht Wochen bekomme und andere nicht.“ 56. Musik O-Ton, Förderreuther „Untersuchungen zeigen tatsächlich, dass man sich nicht nur auf einen Therapieweg verlassen sollte, also zum Beispiel Medikamente, sondern das gerade die Patienten, die nichtmedikamentöses mit medikamentösem kombinieren, offenbar am besten fahren. Mein Eindruck ist manchmal, dass ein Gehirn, das Migränekopfschmerz mal gelernt hat und kann, die dann zu den unmöglichsten Situationen bekommt. Und ich hab das Gefühl – oder hoffe – dass wir tatsächlich schaffen, die Gehirne wieder umzuprogrammieren, weg davon.“ ENDE 1