Deutschlandrundfahrt Buddeln fürs Weltkulturerbe Eine Deutschlandrundfahrt durch die Oberharzer Wasserwirtschaft Von Petra Marchewka Sendung: 26. Juni 2016, 11:05h Ton: Inge Görgner Regie: Roswitha Graf Redaktion: Renate Schönfelder Produktion: Deutschlandradio Kultur 2016 Musik 1: Titel: Basse dance – Marchez là dureau Interpret: The Newberry Consort Komponist: Anonym Label: Harmonia Mundi, LC-Nr. 00761 Atmo 1: Illgen: Atmo, Schritte auf Waldweg, entfernt rauscht Wasser 1. O-Ton: Illgen: "So möchte ich den Harz haben. (lacht) Steil und mit Tannen bestanden und hier kommen überall kleine Tannen hoch, gucken Sie mal, das sind die nächsten Anwärter." Text: Der niedersächsische Oberharz ist seit dem Mittelalter ein ganz besonderer Ort. Nicht nur wegen seiner herrlichen Natur. In Norddeutschlands höchstem Gebirge schlummert eines der bedeutendsten Industriedenkmäler der Welt. 2. O-Ton: Illgen: "Es grüne die Tanne, es wachse das Erz, Gott schenke uns allen ein fröhliches Herz. Das ist der alte Spruch der Harzer." Schritte Text: Die "Oberharzer Wasserwirtschaft", 2010 von der UNESCO zum Weltkulturerbe geadelt, ist ein weitläufiges System aus Stauteichen, unterirdischen Bächen, Gräben und Höhlen. Die einstige Energiezentrale des Bergbaus kann man sich heute erwandern. Über Tage und unter Tage. Atmo 1 endet hier 3. O-Ton: Grube Roter Bär: Aufschließen P.M.: "Stehen kann man hier ja nicht." - "Hinten ja. Das ist hier der Eingangsbereich." - Im Schacht P.M.: "Das ist aber gewöhnungsbedürftig, muss ich sagen. Rutschig ist es." - "Ja, ist halt feucht." - P.M.: "Ja, ja.", Atmo Bergwerk Text: Touristisch dämmerte die Region lange im Dornröschenschlaf, aber jetzt herrscht bei einigen emsigen Harzern Goldgräberstimmung. Kennung: Musik Ansage: Buddeln fürs Weltkulturerbe. Eine Deutschlandrundfahrt durch die Oberharzer Wasserwirtschaft. Von Petra Marchewka. Kennung: Musik Atmo 2: Wald 4. O-Ton: Niebaum: „Das ist hier nur Wildwuchs und den schneide ich weg.“ Rascheln, Arbeitsgeräusche Text: Gestrüpp und Erde fliegen in hohem Bogen. Joachim Niebaum – zünftig in Jeans, kariertem Hemd, Fleecejacke – steht bis zur Hüfte in einem Graben, die Gartenschere im Einsatz, Schaufel und Säge griffbereit. Jeder Handgriff sitzt. weiter O-Ton: Säge, Laub raschelt, „Weg damit. Sie glauben gar nicht, was Wurzeln alles bewegen können, die drücken die Wände total rein. Da wird manche Grabenböschung durch die Wurzeln reingedrückt und dadurch fällt eben der Graben zusammen und das ist nicht so schön.“ Atmo 3: Arbeitsgeräusche Niebaum Text: Joachim Niebaum ist pensioniert. Seit zehn Jahren schon. Aber der 69-jährige gebürtige Harzer will die verbleibende Zeit sinnvoll gestalten. 5. O-Ton: Niebaum: „Da ich ja gerade jetzt die Hälfte meines Lebens rum habe (lacht) und bei 500 Kilometer Gräben muss ich noch ein bisschen was schaffen.“ Arbeitsgeräusche, Schippen, Laub raschelt, Niebaum murmelt. Text: Schön, dass ihm heute mal jemand dabei über die Schulter schaue, freut sich der aktive Pensionär und lacht jungenhaft verschmitzt. Manchmal, da sei es nämlich ganz schön einsam in den Gräben des Harzes. Dieser hier, im niedersächsischen Harzstädtchen Clausthal-Zellerfeld, gehört zur "Oberharzer Wasserwirtschaft", und die ist – als eines der weltweit größten vorindustriellen Energieversorgungssysteme – seit 2010 Unesco Weltkulturerbe. Aber die Natur will sich mit aller Macht dieses bedeutende Denkmal zurückholen, und deshalb schuftet Niebaum gegen das destruktive Gewucher und Gewurzel in jeder freien Minute. 6. O-Ton: Niebaum: „Ich hab schon als Kind so ein bisschen was in die Wiege gelegt bekommen, mein Großvater, der war früher Grabengänger. Er war bei der KraWa, also Kraft- und Wasserwirtschaft angestellt und die Grabengänger hatten die Aufgabe, die Gräben zu kontrollieren, aufzupassen, dass sie nicht verstopften, Schäden zu melden, und das hat mein Großvater getan damals und der hat mich dann manches Mal mitgenommen.“ Atmo 4: Autofahren, darauf: Text: Um mir die Sache mit dem niedersächsischen Welterbe und den Gräben verständlicher zu machen, will Joachim Niebaum jetzt ans andere Ende von Clausthal-Zellerfeld fahren. Auf dem Weg vom Zellerfelder Berg runter ins Tal und wieder rauf in den Ortsteil Clausthal erzählt Niebaum, dass Clausthal und Zellerfeld bis 1923 zwei getrennte Bergstädte gewesen seien, die miteinander konkurrierten. Als Zeichen ihres ehemaligen Wohlstands haben beide eine eigene, imposante Kirche: die Salvatoris-Kirche aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts im Ortsteil Zellerfeld, aus Harzer Grauwackebruchsteinen erbaut und mit kupfernem Walmdach. Und die Marktkirche in Clausthal, Deutschlands größte Holzkirche, ganz in blau, weil diese Farbe zur Bauzeit 1639 als Symbol „göttlicher Weisheit“ galt. Nichts hat die Geschichte der beiden Städte so sehr bestimmt wie der Bergbau: Er war im gesamten Harz der wesentliche Wirtschaftsmotor, angefangen im Mittelalter bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Atmo „Autofahren“ endet Text: Auf einem Parkplatz zwischen Clausthal-Zellerfeld und Sankt Andreasberg stellt Joachim Niebaum sein Auto ab. Atmo 5: Wald 7. O-Ton: Niebaum: „Den Graben, den ich Ihnen jetzt hier einmal zeigen werde, das ist der sogenannte Kehrzug-Graben und dieser Graben hatte das Wasser von diesem gesamten Berghang hier gesammelt und in den Hirschler-Teich gebracht. Und der Hirschler-Teich wiederum war einer der wichtigsten Teiche hier im Oberharz, der hatte nämlich auch gleichzeitig die Wasser für die beiden ertragreichsten Gruben, nämlich die Caroline und die Dorothee, die befinden sich hier auf der höchsten Ebene, bereit gestellt..." Text: Das System aus Gräben, Stollen und Teichen, das hier zwischen 1536 und 1866 entstanden war und das man heute unter dem Begriff „Oberharzer Wasserwirtschaft“ zusammenfasst, war die Energiezentrale des Bergbaus, lange vor der Erfindung der Elektrizität. Die Kraft des Wassers brauchten die Bergleute zur Erzförderung, zum Antrieb von Wasserrädern und Pumpen, für die Aufbereitung der Erze und den Betrieb der Schmelzhütten. Heute führen viele Wanderwege an den Gräben, Wasserläufen und Teichen entlang. Am berühmten Rehberger Graben zum Beispiel, am Oderteich oder am Dammgraben, den der knapp 100 Kilometer lange Wanderweg "Harzer Hexenstieg" streift. Bei vielen dieser Wasser-Wander-Wege ahnen die Spaziergänger gar nicht, an welch besonderem Ort sie sich befinden und welche Geschichte sich dahinter verbirgt. 8. O-Ton: Niebaum: „Ja und ich hab mir dann mal die Aufgabe gestellt, das Nicht-Mehr-Sichtbare wieder sichtbar zu machen. Ich habe Ihnen mal ein paar Fotos mitgebracht, damit Sie sich mal den Urzustand dieses Grabens anschauen können, wie der vorher ausgesehen hat...“ blättert Waldatmo Text: 2012, sagt Niebaum und schaut keck über den Rand seiner Brille, da war der Kehrzug-Graben für ungeübte Augen kaum mehr zu erkennen. Auch viele Steine, allesamt Teile der historischen Trockenmauer und Begrenzung des Grabens nach außen, haben verstreut herumgelegen. Niebaum blättert um: Das Foto auf der nächsten Seite zeigt den Graben wieder schick, mit akkurat angelegten Mauern, die Sohle exakt abgestochen. Das will er jetzt auch in Natura zeigen. 9. O-Ton: Niebaum: „Gehen wir hier lang... Hier waren es die Wildschweine, die da ein bisschen gewühlt haben...“ - P.M.: „Das war aber nicht eingeplant, dass die Wildschweine sich hier einmischen, oder?“ - Niebaum: „Nee, nee, aber das lässt sich leider nicht ändern. Sehen Sie, hier ist der Graben und den Graben hätten Sie im alten Zustand nicht mehr gesehen, der war total zu. Und so ist dieser Graben für mich ein Zeugnis alter Bergbautradition.“ Text: Die Bergbautradition. Es schwingt Ehrfurcht in seiner Erzählung mit, vor den Leistungen seiner Vorfahren. Ungefähr 500 Kilometer Gräben anzulegen, alles ohne Maschinen, nur ausgerüstet mit Hacke und Schaufel, dazu mehr als 140 Teiche und rund 70 Kilometer Stollen unter Tage: Da weiß man, was man geschafft hat, sagt er voller Respekt. 10. O-Ton: Niebaum: „Der Harz hat ja damals nicht so ausgesehen, wie es heute ist. Dass man ganz bequem von A nach B fahren konnte oder dass man ganz bequem durch die Wälder wandern konnte, die Bergleute mussten ja erstmal sehen: Wo kriegen wir Wasser her? Wie kriegen wir das Wasser auf unsere Hochebene? Das finde ich allein schon atemberaubend, überhaupt erstmal diesen Mut zu haben, einen Graben anzulegen, der jetzt zehn, zwölf, 15 Kilometer lang ist.“ „Und dann stelle man sich vor, man vertüddelt sich und macht vielleicht im Beginn seines Grabens eins, zwei Zentimeter Fehler und es kommt ganz woanders raus.“ - Niebaum: „Das kann auch passieren. Ich meine, über Tage lässt sich das ja noch leicht korrigieren. Man hat ja einen Blickkontakt, zumindest. Aber stellen Sie sich das mal unter Tage vor. Man hat ja immer von zwei Seiten aufeinander zu gearbeitet. Jetzt treiben Sie mal einen Stollen durch einen Berg.“ Waldatmo Text: Beim Erzählen spielt Niebaum mit dem Reißverschluss seiner Fleecejacke. Das wirkt fast ein bisschen verlegen. Sich selbst zu loben, das liegt dem freundlichen Mann mit dem grauen Wuschelkopf wohl nicht. 11. O-Ton: Niebaum: „Ich bin Einzelkämpfer auf dieser Anlage, aber die Resonanz, die ich jetzt inzwischen erfahren habe, ist eine überaus positive, und das ist auch für mich ein Ansporn, weiterzumachen. Und ich mach das einfach weiter.“ - P.M.: „Sie werden ja nie fertig, ne.“ - Niebaum: (lacht) „Ich werde nie fertig, nee.“ - P.M.: „Denn das sind ja noch viele Kilometer, die Ihnen da noch bevorstehen, oder?“ - Niebaum: (lacht) „Ich sag's einfach mal so: Ich nehme mir einen Graben vor und wenn ich den fertig habe, freue ich mich, es muss Spaß machen, und den Spaß habe ich.“ 2. Musik: Titel: Viel Wollust mit sich bringt Interpret: RIAS Big Band Komponist: Anonym Label: Mons Records, LC-Nr. 06458 Text: Die Sache mit dem Welterbe im Harz ist ganz schön verzwickt. Es ist eben kein Kölner Dom, keine Pyramide von Gizeh, auch keine Akropolis, zu der man hinfahren und staunen kann. Die "Oberharzer Wasserwirtschaft" ist ein Industriedenkmal. Es versteckt sich zum Teil in der Natur und gibt seine Genialität erst im Gesamtzusammenhang preis. Dieses Welterbe muss man erstmal suchen und finden und verstehen. 12. O-Ton: Reiff: „Wir sind die 'Stiftung Welterbe Bergwerk Rammelsberg, Altstadt von Goslar und Oberharzer Wasserwirtschaft', das Welterbe mit dem langen Namen...…" Text: Ulli Reiff will helfen, beim Suchen und Finden und Verstehen. 13. O-Ton: Reiff: „...und wir haben uns jetzt den Namen 'UNESCO Welterbe im Harz' gegeben, einfach weil es leichter zu handeln ist." Text: Der Kulturwissenschaftler sitzt im obersten Stockwerk des Bergwerksmuseums in Clausthal-Zellerfeld, auf der Zellerfelder Seite. Das historische, grau-geschindelte Gebäude ist von pastellfarben gestrichenen, schlichten Harzer Holzhäusern umgeben, in denen früher die Bergleute lebten. Uli Reiff steht vor der kniffligen Aufgabe, das Welterbe zu verwalten und seine Reize bekannt zu machen. Aber schon bei der Aufzählung dessen, was die "Oberharzer Wasserwirtschaft" alles umfasst, wird einem schwindelig. 14. O-Ton: Reiff: „Wir haben allein in der 'Oberharzer Wasserwirtschaft' 725 Denkmale, die in diesem großen Welterbe sich befinden, von diesen vielen Denkmalen sind vier museale Stätten, Schachtanlage Knesebeck in Bad Grund, der 19-Lachter-Stollen in Wildemann, das Oberharzer Bergwerksmuseum mit wiederum verschiedenen Einzeldenkmalen und die Grube Samson in Sankt Andreasberg. Das sind die musealen Stätten. Und wir haben dann noch sehr viele Denkmale, die sich im Wald, in den Wiesen, in der Landschaft befinden, und das ist eben dieses unsichtbare, verborgene Welterbe… Empfehlungen auszusprechen.“ Text: Nicht zu vergessen, dass die "Oberharzer-Wasserwirtschaft" nur ein Teil eines insgesamt dreiteiligen Ganzen ist. Sie wurde 2010 als Ergänzung zum Bergwerk Rammelsberg und der Altstadt von Goslar in die Welterbeliste aufgenommen. 15. O-Ton: Reiff: "Auch damit ist es ein wenig schwierig, das zu vermarkten. Goslar, die Altstadt, das Rammelsberg-Bergwerk und die Oberharzer Wasserwirtschaft sind nicht drei Welterbestätten, sondern eine." Text: Diverse Museumsvereine, zahllose Fremdenführer und touristische Einrichtungen will Uli Reiff nun unter einen Hut bringen und zwischen ihnen, den Vertretern der Tourismusbranche und der Wissenschaft moderieren. Es sollen Info-Zentren entstehen und ein einheitliches Corporate Design für alle Welterbestätten. Wann das alles umgesetzt sein wird? Keine Ahnung, eben Schritt für Schritt. Die Mühlen im Harz mahlen langsam, trotz des vielen Wassers. Atmo 6: Reiff: Atmo im Treppenhaus. Schritte die Holztreppe runter. Text: Schade, denn die Ferienregion, die in den 70er Jahren als "Sankt Moritz des Nordens" galt und sich vor Besuchern kaum retten konnte, befindet sich seit den 80ern in einer touristischen Flaute. Atmo Treppenhaus endet hier. Text: Nach der Öffnung der deutsch-deutschen Grenze musste der Westharz viele Gäste an den Ostharz abtreten, der nach dem Mauerfall plötzlich zu entdecken war, mit dem Brocken, der Harzquerbahn, dem Weltkulturerbe Stadt Quedlinburg. Mitte der 90er, mit der ersten und zweiten Phase der Gesundheitsreform, gingen die Zahlen weiter in den Keller, da nun auch noch die großen Kurkliniken weniger Zulauf hatten. Der Investitionsstau ist bis heute spürbar, leer stehende Immobilien erinnern mancherorts daran, dass es viel aufzuholen gibt. Ein touristisches Highlight wie die "Oberharzer Wasserwirtschaft" müsste ein starker Motor sein im touristischen Getriebe. Den kann der Oberharz gut gebrauchen. 3. Musik: Titel: Sortie Es-Dur Interpret: Wolfram Syré Komponist: Louis-James-Alfred Lefébure-Wély Privataufnahme Atmo 7: Illgen: Atmo im Haus, Uhr tickt 16. O-Ton: Illgen: "Draußen hellte es sich auf, so dass wir die Türen wieder aufmachen konnten. (...) Während wir auf das dampfende Innerstetal sahen und den wildbewegten Himmel darüber bewunderten, sagte Ratte: 'Wir können doch mal eine kleine Fahrt in 'nem Berg machen. Ich habe ein Schlauchboot.' - 'Ich auch.' Mike hob ihren Zeigefinger.' - 'Leute! Ihr redet vom Weltkulturerbe. Das ganze Oberharzer Wassersystem ist hochgradig denkmalgeschützt.'" Text: Andrea Illgen klappt ihr Buch zu, "Stollenfahrt", ihr allererster Krimi. Ihre Geschichten rund um die Protagonistin Friederike Wolkenreich, die immer wieder in mysteriöse Kriminalfälle verwickelt wird, spielen allesamt in Illgens Wahlheimat, der Region der "Oberharzer Wasserwirtschaft". Dieser Tage erscheint ihr dritter Krimi, bis zum Ende des Jahres noch zwei weitere. 17. O-Ton: Illgen: "Es war absolut unheimlich. Über uns die halbrunde Stollendecke, grob in den Felsen gesprengt, triefte vor Nässe. Und der Gedanke, dass 200 Meter Fels zwischen mir und der freien Luft waren, beruhigte mich in keiner Weise." Text: Zusammen mit ihrem Mann, dem Organisten Wolfram Syré, den wir eben hörten, hat die gelernte Musiklehrerin und ausgebildete Sängerin einige Jahre in Norwegen gelebt, wo sich die beiden eine Kirchenmusikerstelle geteilt haben. Heute, sagt die 66-Jährige ohne eine Spur von Bitterkeit, könne sie mit ihrer Stimme kein Geld mehr verdienen, deshalb schreibe nun Bücher. Punkt. Ob sie mir mal zeigen soll, wofür sie den Harz, die Kulisse ihrer Geschichten, so sehr liebt, will die gebürtige Braunschweigerin unvermittelt wissen. Wir verlassen das alte Zechenhaus, in dem sie lebt, für einen Spaziergang. 18. O-Ton: Illgen: "So, wir gehen links rum raus. Ja, das sind die Tannen, die ich so liebe. Es gibt drei verschiedene Sorten. Das sind diese schlappen, da hängen praktisch die Zweige ganz senkrecht, dann gibt es die, die stehen, und dann diese ganz kurzen Nadeln dazwischen. Ich sage immer Tannen, das ist aber vollständig unwissenschaftlich." - P.M.: "Sie sagen es aber trotzdem immer weiter." - Illgen "Ja. (lacht) Es grüne die Tanne, es wachse das Erz, Gott schenke uns allen ein fröhliches Herz. Das ist der alte Spruch der Harzer." Schritte. Atmo 8: Illgen: Atmo, Schritte auf Waldweg, entfernt rauscht Wasser Text: Ihr historisches Zechenhaus, ein Stück südlich von Clausthal-Zellerfeld gelegen, hat eine dunkle Holzfassade, die typisch ist für die Harzer Bauweise. Mit Holzlatten, quer vernagelt, sind die meisten Gebäude hier verschalt. 19. O-Ton: Illgen: "Ein Zechenhaus gehörte zu jedem Schacht, zu jeder Bergbauanlage und war zum einen das Verwaltungsgebäude, zum anderen aber auch, so wie in diesem Fall hier, eine Art Kindertagesstätte. Es mussten ja früher die Kinder schon mitarbeiten, jedenfalls fünf Tage in der Woche, am sechsten Tag, am Samstag, war Schule, und die Kinder haben aber nicht die volle Zeit gearbeitet, sondern wurden vor und nach ihrer Schicht im Zechenhaus betreut. In unserem Zechenhaus." - P.M.: "Und bis wann war dieses Zechenhaus, das Sie jetzt bewohnen, in dieser Funktion?" - Illgen: "Es ist gebaut worden 1670 ungefähr, und der Bergbau, der ist hier zum Erliegen gekommen in den 40er Jahren, 1940 rum. Also, ich habe eine Karte, eine alte Karte mit den Pochwerken hier im Innerstetal, die ist so von 1920 etwa, da sind die ganzen Pochwerke noch drin. Das heißt, da hat mit Sicherheit dieses Haus noch seine Funktion gehabt." Text: In so einem Pochwerk haben die Bergleute das Erz mit massiven, riesigen Eichenstempeln zerkleinert, die mit Wasserkraft hochgezogen und auf die Erzbrocken fallengelassen wurden. So sollte das wertvolle Erz von "taubem", also wertlosem Gestein getrennt werden. Andrea Illgen, mit einem langen Rock in Rot und einem violetten Oberteil bekleidet, deutet auf die bewaldeten Hänge, von denen ihr Haus umgeben ist. 20. O-Ton: Illgen: "Und alles, was Sie jetzt sehen, diese schroffen Aufhäufungen, das sind alles Schlacken und Abraum, da zum Beispiel war ein Stolleneingang, mit Sicherheit." - P.M.: "Eine Mulde im Hang." - Illgen: "Ja, das war ein Stolleneingang. Und hier... läuft ein Pochgraben lang. Ein Pochgraben ist ein Wasserlauf, zum Teil oberirdisch, zum Teil unterirdisch..." Text: Die Frau mit dem hellen Lockenkopf stapft weiter den Graben entlang, der ihr Grundstück quert. Die Landschaft ist Teil ihrer Biographie. Klassenfahrten, Hochzeitsreise, Betriebsausflüge, Urlaubsreisen: Alle führten immer in den Harz. 21. O-Ton: Illgen: "Wir gehen jetzt mal hier links ein kleines Stück rein, Sie haben gute Stiefel an, ne?" - P.M.: "Ja, ja, das ist gut." - "Ist ein bisschen nass eventuell... Aber hier kann man alles sehen, was ich am Harz schön finde. Am besten gehen Sie voran." Schritte Atmo 9: Illgen: Atmo, Wasser rauscht und plätschert Text: Vor uns ein krummer, wurzeliger Waldweg, sattgrün, vielversprechend und unbefestigt. Links und rechts am Wegrand feuchtes Moos, Farne und die harztypischen Fichten, die Andrea Illgen beharrlich "Tannen" nennt. 22. O-Ton: Illgen: "So. Und so möchte ich den Harz haben. (lacht) Steil und mit Tannen bestanden und hier kommen überall kleine Tannen hoch, gucken Sie mal, das sind die nächsten Anwärter." - P.M.: "Die nächste Generation." - "Und die werden bis zu 40 Meter hoch." - P.M.: "Also, man sieht: Es ist schmal, verwunschen, aber auch ein bisschen dunkel, ein bisschen finster..." - Illgen: "Ja, ja, es ist dunkel. Der Harz ist dunkel. Und gegen Abend fallen dann die Sonnenstrahlen ganz schräg durch. Wir gehen noch ‚mal zwei Meter nach vorne." Text: Diese Landschaft sei es, die sie zum Schreiben inspiriere, sagt Andrea Illgen. Mehr als dieser raue Charme, das endlose, satte Grün und die von Lichtstrahlen scharf durchbrochene Dunkelheit seien gar nicht nötig. 23. O-Ton: Illgen: "Es ist so absolut meine Landschaft. Und die Atmosphäre, die ich schön finde. Es ist wahrscheinlich für jemanden von außen unter Umständen etwas bedrückend, aber ich empfinde es als heimatlich und vertraut. Und ich glaube, das Vertraute ist es, was uns dazu bringt, etwas Schönes zu machen. Ich fühle mich hier ruhig genug, um mir Geschichten ausdenken zu können. Und es ist ganz verlässlich, weil es immer so war und immer so sein wird. Ich bin Teil dieses Kreislaufes." Atmo endet hier. 4. Musik: Titel: My, my Interpret: The Newberry Consort Komponist: Anonym Label: Harmonia Mundi, LC-Nr. 00761 Text: Eine gute halbe Stunde von Clausthal-Zellerfeld entfernt liegt Sankt Andreasberg. Den Luftkurort haben ganze Generationen niedersächsischer Schüler bei Klassenfahrten, Jugendfreizeiten und Familienurlauben bereist. Atmo 10: Außenatmo, Schritte auf Asphalt. Text: Sankt Andreasberg, mit 900 Metern höchstes Harzer Bergstädtchen, liegt mitten im Weltkulturerbe auf einem offenen Hochplateau mit phantastischer Aussicht auf den Nationalpark Harz. Das Städtchen mit rund 1700 Einwohnern ist Paradebeispiel für den morbiden Charme der Region. Denn im Kontrast zur grandiosen Natur wirkt der Ort seltsam kränklich: In der zentralen Willi-Bergmann-Straße stehen Konditorei und Eiscafé leer und ein Souvenirladen zeigt staubige Brockenhexen als Dekoration. Gleichzeitig trumpft Sankt Andreasberg touristisch auf, mit dem historischen Museumsbergwerk "Grube Samson", dem Hochseilgarten und einem Downhill-Park, in dem man mit Spezialrädern die Hänge herunterrasen kann. 24. O-Ton: Ließmann: "Ich kann tagelang hier durch die Wälder laufen ohne einen Menschen zu treffen..." Text: Man nimmt Wilfried Ließmann ab, dass er das auch wirklich tut. Laufen. Durch endlose Wälder. Tagelang. 25. O-Ton: Ließmann: "... es sind bestimmte Punkte, Brocken, klar, da wollen alle hin, aber in anderen Teilen vom Harz treffen Sie keinen Menschen mehr." Schritte Text: Der grauhaarige Mann mit dem schmalen, kantigen Gesicht trägt Jeans, Pullover mit V-Ausschnitt, Hemd und festes Schuhwerk. Er ist ein Harzer Urgestein und Gesteine sind sein Element. Wilfried Ließmann hat an der Technischen Universität von Clausthal-Zellerfeld studiert und arbeitet dort heute als Dozent für Lagerstättenkunde und Mineralogie. Hier in Sankt Andreasberg lebt er nun seit 30 Jahren und unten im Siebertal, acht Kilometer von hier, hat er seine Kindheit verbracht. 26. O-Ton: Ließmann: "Hier hat man die Zeit dann eben verschlafen, nech. Man hat gesagt, och, die Leute kommen sowieso, wir müssen ja nicht viel was machen, und dann ist es auf dem Stand der 60er, 70er Jahre geblieben. Muss man so sehen, ja. Meine Eltern, wir haben auch vermietet, ich bin damit aufgewachsen, im kleinen Dorf, 20.000 Übernachtungen war normal für die Sommersaison, ne, und nun ist nichts mehr, ne. Die kommen nicht mehr." Schritte Text: Mit schnellen Schritten läuft Wilfried Ließmann voran, den steilen Weg hinab vom Sankt Andreasberger Ortsmittelpunkt runter ins Bärener Tal. Für Ließmann ist die Struktur der Landschaft wie ein offenes Buch. Ein Blick sagt ihm, wie die Flächen, Erhebungen und Mulden, die man überall sieht, zueinander gehören, welchen Sinn sie zusammen ergeben und – vor allem – was sich darunter befindet. Der Bergbau ist das zweite Standbein des 58-Jährigen. Zusammen mit einer mittlerweile 18-Mann-starken Bergbaugruppe, die zum Sankt Andreasberger Verein für Geschichte und Altertumskunde gehört, hat Ließmann 1988 ein stillgelegtes und in Teilen zusammengebrochenes Bergwerk gepachtet, die Grube Roter Bär. Dann haben die Männer die alten Schächte an den Wochenenden wieder flott gemacht. Jetzt kann man die Grube Roter Bär wieder betreten und viel über die Geschichte des Bergbaus lernen. 27. O-Ton: Ließmann: "Die Grube Roter Bär ist relativ jung, die hat man erst um 1800 begonnen. Und auch nicht auf Silber-, sondern auf Eisenerz. Und dieses Eisenerz sieht rotbraun aus. Und deswegen hatte man die Assoziation, ist sowieso das Bärental, also machen wir den roten Bären." Atmo 11: Ließmann: Außenatmo, ruhig, gelegentlich Schritte Text: Auf dem Gelände der Grube angekommen, muss Wilfried Ließmann schon wieder zurück. Er leitet oben im Vereinshaus heute ein Seminar über Gesteinskunde. Aber etwas Wichtiges will er noch loswerden: Hier im Harz, sagt er, da gab es Anfang des 18. Jahrhunderts schon Gruben, die mehr als 500 Meter tief waren, damals die tiefsten der Welt. Atmo 12: Grube Roter Bär: als Atmo zu verwenden, Liebermann, in der Hütte, Radio dudelt im Hintergrund. Die Bergleute fachsimpeln und reden miteinander, dazu verschiedene Geräusche der Vorbereitung. Text: Während Wilfried Ließmann den Berg wieder hinauf stapft, bereiten sich in einem Holzgebäude auf dem Grubengelände drei Männer auf einen Samstag im Gestein vor. In Regalen lagern Werkzeuge, Stiefel, Schutzhelme und ein Bollerofen hält bei kalten Temperaturen die Kleidungsstücke warm und trocken, die die Männer mit einer Eisenkette nach oben unter die Decke ziehen, so dass die Sachen über unseren Köpfen baumeln. 28. O-Ton: Gruber Roter Bär: in der Hütte, Geräusch der Kette. Text: Die Hobby-Bergleute statten sich mit Helmen und Grubenlampen aus und schnallen sich Gürtel mit Seilsicherungen um. Kann losgehen, sagt Markus Liebermann, der Chef der Truppe. Er erklärt kurz, was wir jetzt vorhaben. 29. O-Ton: Grube Roter Bär, Liebermann: "Wir haben in dem Stollen eine Wassergewinnungsanlage und da fehlen mir jetzt noch ein, zwei Daten, da muss ich ganz einfach noch mal messen." - P.M.: "Gut, dann gehen wir." - "Das machen wir. Ich hol mir jetzt den Schlüssel... und dann geht's los." Atmo 13: Grube Roter Bär: Atmo, vor der Hütte, Wind rauscht, Vögel zwitschern. Text: Markus Liebermann, zünftig mit weißer Arbeitsjacke, weißer Hose und weißem Helm bekleidet, erzählt auf dem Weg rüber zum Grubeneingang, woher seine Faszination für den Bergbau rührt. 30. O-Ton: Liebermann: "Mein Urgroßvater war Steiger auf 'ner Kohlenzeche im Ruhrgebiet, mein Großvater war bis zum Krieg Schmied auf der Zeche, mein Vater hat dann nach dem Krieg auf der Zeche gelernt, mein Onkel auch, so dass wir alle ein paar Berührungspunkte haben. Und mein Elternhaus steht in Sichtweite zum Schacht." Text: Am Grubeneingang angekommen öffnet Markus Liebermann den Bretterverschlag vor einem knapp mannshohen Loch im Hang, knipst das Licht am Helm an und verschwindet im Dunkel. 31. O-Ton: Grube Roter Bär: Aufschließgeräusche, P.M.: "Stehen kann man hier ja nicht." – Liebermann: "Hinten ja. Das ist hier der Eingangsbereich." P.M.: "Das ist aber gewöhnungsbedürftig, muss ich sagen. Rutschig ist es." - "Ja, ist halt feucht." - P.M.: "Ja, ja." - "Wir haben eine Strategie an der Stelle." - "Eine Strategie?" - "Ja, oder eine Idee. Wir sagen, dass sich der Gast bitte an uns anpassen mag." Atmo 14: Grube Roter Bär: Atmo, Schritte im Schacht, anfangs durch Wasser. Text: Soll heißen: Die Hobby-Bergleute haben hier, anders als in anderen Schaubergwerken, keine Beleuchtung und keine befestigten Wege angelegt, sondern die Grube authentisch gelassen, authentisch eng, nass und finster. Sich zu orientieren fällt schwer, denn der Schein der Kopflampe leuchtet immer nur in Blickrichtung: Leuchtet sie nach unten vor die Füße, verpasst man hervorstehendes Gestein in Kopfhöhe, leuchtet sie in Kopfhöhe, sieht man nicht, wohin man tritt. Unvorstellbar, wie die Menschen hier früher arbeiten konnten, ohne Licht, ohne Strom. Ein bis zwei Zentimeter Vortrieb schaffte damals ein Bergmann in einer Schicht von zwölf Stunden. 32. O-Ton: Grube Roter Bär, P.M.: "So, also Herr Liebermann, ich muss Ihnen sagen, Sie bewegen sich hier ja sicherer als draußen über Tage, ne." - Liebermann: "Das ist wie mit Enten oder Pinguinen, die können im Wasser total super agieren und draußen werden sie unbeholfen." P.M.: "Am Ende fühlen Sie sich hier sogar wohler als über Tage." - Liebermann: (lacht) "Manchmal ja. Ich habe jetzt keinen Telefonempfang, es nervt mich sonst keiner, hier ist jetzt Grube. Alles ist gut." Text: Zügig läuft der 47-Jährige voran. Über uns, sagt er, sind ungefähr 80 Meter Berg. Ich finde das viel, Markus Liebermann nicht. Er ist ja auch vom Fach, hat in Clausthal Bergbau studiert und arbeitet für einen deutschen Hersteller von Kalium-, Magnesium- und Salzprodukten als Projektingenieur. Im Salzbergwerk sei es allerdings hell, groß und trocken, ganz anders als hier. 33. O-Ton: Grube Roter Bär: im Schacht, Hall, Wasser plätschert, Schritte, hoher Warnton eines Sauerstoffmessgerätes. P.M.: "Was sagt das Geräusch?" - Liebermann: "Das sagt, dass wir jetzt schon den bequemen Bereich mit Sauerstoff verlassen." Warnton, P.M.: "Das beruhigt mich." Schritte, immer wieder Warnton. Text: Dass der niedrige Sauerstoffgehalt jetzt das kleine Messgerät an Liebermanns Gürtel zum Piepen bringt, belastet den Profi überhaupt nicht, für zwei Leute sei hier allemal Luft genug. Er stellt das Ding einfach hier hin und der Warnton wird mit jedem Schritt, den wir weiter ins Berginnere gehen, leiser und leiser. Mir fallen die vielen Kanarienvögel ein, die den Bergleuten früher mit ihrem Ableben zeigten, dass die Luft knapp wurde. 34. O-Ton: Liebermann: "So, jetzt kommen wir an die Staumauer, wir hören das Plätschern schon, das wird jetzt immer lauter..." Schritte durch Wasser, lautes Plätschern. Text: Liebermann entfaltet den Zollstock, misst die Breite des Rohres, das da aus einer Mauer mitten im Felsen kommt, macht sich Notizen. Das war's. Wir gehen zurück. Im Lampenlicht taucht eine Verzweigung nach rechts auf. Wir biegen ab. Markus Liebermann will mir an einer anderen Stelle im Berg noch etwas Wichtiges zeigen. 35. O-Ton: Liebermann: "Wir haben ja das Gebirge hier, ganz normal, und dann kommen wir hier in eine geologische Störung hinein. Diese geologische Störung, dieser 'Riss', geht einmal quer durchs Gebirge durch. Das heißt hier ist vor Jahrmillionen die Erde einmal aufgebrochen, es konnte Wasser zirkulieren, und dann ist es zukristallisiert. Und man kann sehr schön eben die Bänder sehen. Wiewohl diese Bänder nur Kalkspat und sonstiges Nebengestein enthalten, aber eben kein Silber." Text: Über unseren Köpfen verläuft ein heller Streifen durch den grauen Stein und endet einige Meter weiter hinten, wo auch der Schacht nicht mehr weitergeht. 36. O-Ton: Liebermann: "Und das war für die Alten, wenn die sowas entdeckt haben, war das das große Los. Das fanden die... na ja gottgegeben, ein Gottesgeschenk." - P.M.: "Und vielversprechend." - Liebermann: "Und vielversprechend." "Wenn man wirklich einen erzführenden Gang hat, dann glitzern die Kristalle, das ist ein Farbenspiel, das ist ein völlig anderer Blick. Und ich kann mir, wenn ich das sehe, diese Ehrfurcht der alten Bergleute immer wieder vorstellen, die sich nicht die geologischen Erklärungen, die wir heute haben, zurechtlegen konnten und die immer gesagt haben: Gottes Geschenk." 5. Musik: Titel: "Glück auf, der Steiger kommt" Interpret: RIAS Big Band Berlin Komponist: Anonym Label: Mons Records, LC-Nr.: 06458 37. O-Ton: Kemper 16: Gartenrundgang "Kucken Sie mal, hier blühen 460 Rosen! Das ist so schön! Und zwar sind das alles einfache Sorten, die dann auch schöne Hagebutten machen für die Hagebuttenmarmelade." Atmo 15: Kemper 14: Gartenrundgang, Schritte, Vögel zwitschern Text: Im Garten hinter dem weinroten Holzhaus sprießt und grünt es, wie es verschwenderischer kaum geht. Von schmalen Steinwegen durchzogen und in verschiedenen, terrassenförmigen Ebenen angelegt, wächst hier so gut wie alles, was Dorothee Kemper vorne in ihrer Küche gebrauchen kann. 38. O-Ton: Kemper: "Da oben sind große Salbeibeete, Salbei ist so toll mit Fenchel, ganz wunderbar, und dann hat irgendjemand mal vor 20 Jahren auf dem Friedhof einige Buchsbäume weggeschmissen. Die habe ich angepflanzt und mein Mann hat dann mühsam aus den kleinen Spitzen unseren Kräutergarten angelegt. Da gehen wir jetzt mal hin." Schritte, Text: Dorothee Kemper steigt ein paar Steinstufen hinab und bahnt sich ihren Weg in den hinteren Bereich ihres 10.000-Quadratmeter-Gartens. Ein Labyrinth aus Buchsbaumhecken beschützt hier ganz zarte, kleine Pflänzchen, die später im Sommer die Basis für frische Salate bilden werden. Die 66-Jährige wirkt in ihrem Garten wie das eindrucksvollste aller Gewächse: Ihre Bekleidung in verschiedenen Aubergine-Tönen trägt sie wallend abgestuft übereinander und um ihre Augen schillert ein Lidstrich in Türkisgrün. 39. O-Ton: Kemper: "Da drüben, eine 120 Jahre alte Kletterhortensie. Wenn die blüht kriegt man Herzklopfen." Kemper: Gartenrundgang, P.M.: "Ist Ihr Garten Ihr Privatgarten oder dürfen die Gäste..." - Kemper: "Nee, die Gäste sind immer hier und das ist auch wunderschön! Es fällt ja gar nicht auf, wenn hier 30 Leute auf 10.000 Quadrat sind." Atmo 16: Gartenatmo, Text: Dorothee Kemper ist ein Phänomen. Im Harz, der kulinarisch aus der Schnitzel-mit-Pommes-Einfalt erst noch herausfinden muss, ragt sie hervor wie der Leuchtturm aus dem Watt. Seit zwei Jahrzehnten betreibt sie im Clausthal-Zellerfelder Ortsteil Buntenbock das Landhaus Kemper, ein auf Individualität und kulinarische Ursprünglichkeit ausgerichtetes Hotel mit kleinem Restaurant. Sie führt ein gleichermaßen konsequentes wie hingebungsvolles Regiment: Es gibt bei ihr grundsätzlich keine Fernseher, dafür aber viele Bücher. Und dem Gast serviert sie abends das, was die Küche gerade hergibt, nicht mehr, aber auch nicht weniger. 40. O-Ton: Kemper: "Es gibt nur ein Essen! Aber ich versuche ja, dem Gast das zu erklären. Und wenn man es lustvoll, genussvoll erklärt, und es auch selber lebt, dann ist es Überzeugungskraft und was ich ganz wichtig finde: Es muss lecker sein!" Text: Das Stichwort, unter dem sie ihre Sicht der zeitgemäßen Gastronomie und Lebensphilosophie subsumiert, heißt "Slow Food". Die in den 80er Jahren von Carlo Petrini in Italien gegründete Bewegung versteht sich als Gegenpol zum globalisierten Einheitsessen der Schnellrestaurants, stellt stattdessen regionale, ökologisch produzierte und sorgsam verarbeitete Produkte in den Vordergrund. Deshalb verarbeitet Dorothee Kemper zum Beispiel "Harzer Rotes Höhenvieh", Obst und Gemüse vom Hof "Rote Rübe, schwarzer Rettich" aus der Gemeinde Gleichen und Salz aus der Luisenhaller Saline bei Göttingen. 41. O-Ton: Kemper: "Ich hab ja hier vor 21 Jahren angefangen. Und dann habe ich von Slow Food gelesen und hab eben versucht, Slow Food in den Harz zu bringen. Ich habe in zehn Jahren 80 Mitglieder geworben, wovon einige auch unsere Gäste sind, und drei Restaurants inzwischen, die es wirklich umsetzen." Text: Sie findet, dass auch die kulinarischen Produkte zum Welterbe gehören, schließlich seien sie ja hier gewachsen und Bestandteil der kulturellen Tradition. Aber mit ihrer Sicht der Dinge hat Dorothee Kemper es schwer gehabt am Anfang. Die Leute im Ort haben die gebürtige Schleswig-Holsteinerin wegen ihrer neuen Ideen angefeindet. Später dann machte ihr Erfolg viele neidisch. Denn im Gegensatz zu vielen anderen Häusern im Harz ist das Landhaus Kemper dauernd ausgebucht. Es kommt eben nur derjenige vorwärts, der sich bewegt und Überholtes zurücklässt, findet Dorothee Kemper und erinnert sich daran, wie sie dieses Haus am Waldrand vor fast 40 Jahren entdeckt hat. Gartenatmo 42. O-Ton: Kemper: "Es waren drei Frauen hier, die das auch sehr eigensinnig geführt haben. Eine war Gärtnerin, eine war Köchin und eine hat die Buchführung gemacht. Es war immer schon sehr speziell. Ich kann mich an eine Sache erinnern. Das war wunderbar. Man saß vorne im kleinen Restaurant und wie auch jetzt hört man, was in der kleinen Küche vorgeht. Und dann weiß ich, Ilse hat immer gesagt: Die Soße kommt erst an Salat, wenn der Gast am Tisch sitzt! (lacht) Sie war ein bisschen eigenwillig und ich hab immer gedacht, Mensch, so ein Haus möchtest Du auch mal führen." Text: Dorothee Kemper lebte damals in Bayern, hatte auf einem alten Hof eine Firma für Direktvermarktung von landwirtschaftlichen Produkten betrieben. Den Harz kannte sie bis dahin als Ferienziel. 43. O-Ton: Kemper: "Wir mussten ja alle in den Harz. Ich weiß nicht, wo Sie wohnen, aber egal wo man ist, zum Schulausflug muss man in den Harz. Ich musste auch mit meinen Eltern früher nach Sankt Andreasberg und ich muss Ihnen auch noch was Witziges sagen: Ich hab auch vor 40 Jahren das erste Mal im Harz in Hahnenklee geheiratet." Text: Dorothee Kemper hat sich mittlerweile an einem der kleinen Holztischchen im Innenhof niedergelassen. Bunte, unterschiedlich bepflanzte Töpfe in allen Größen und Formen und wie zufällig arrangiert, bunte Kissen und Decken griffbereit für kühle Abende, ein paar Skulpturen aus Metall oder Stein: Dieser Hof ist eine ruhige Oase, um entspannt die Seele baumeln zu lassen. 44. O-Ton: Kemper: "Und dann habe ich mit Anfang 40 gedacht: So, also eigentlich möchte ich auch nochmal ausprobieren, ob ich auch was anderes kann. Und dann habe ich eben hier mit 43, weil hier alle starben, die Besitzer, und mich einer anrief und sagte, Du musst das Haus kaufen, es wird abgerissen und die letzte kommt ins Heim." Text: So, genug erzählt, jetzt müsse sie aber in die Küche, sagt Dorothee Kemper. Sie zupft im Weggehen noch ein paar verwelkte Blätter aus einer Geranie und zeigt vor dem Eingang zum Haus auf ein zwei-mal-zwei-Meter großes Becken, in das unaufhörlich Wasser plätschert. 45. O-Ton: Kemper: (Plätschern im Hintergrund) "Das ist das Wasser, das aus der 'tauben Frau' kommt, das heißt 'taube Frau', weil da hat man nach Erdschätzen gebuddelt und weil man nichts gefunden hat, heißt es die 'taube Frau', aber man hat viel Wasser gefunden." - P.M.: "Also das hängt dann alles mit dem Wasserwirtschafts-Konstrukt zusammen." - Kemper: "Ja, wir sind auch ein Teil der Oberharzer Wasserwirtschaft. Haben Sie Recht. Wobei Sie ja auch wissen: Das Wasser hängt alles zusammen auf der Welt. Es ist ja nicht so, dass es irgendwo abgetrennt ist." - P.M.: "Ja, da haben Sie auch wieder Recht." Gartenatmo verschwindet unter folgender Musik: 6. Musik: Titel: J’aimeray mon amy Interpret: The Newberry Consort Komponist: Anonym Label: Harmonia Mundi, LC-Nr. 00761 Text: Wie wird es wohl weitergehen mit dem Harz? In jedem Fall aufwärts, sagt der Harzer Tourismusverband. In den vergangenen fünf, sechs Jahren haben verschiedene Investoren Geld in die niedersächsische Urlaubsregion gesteckt, haben in Sankt Andreasberg und Torfhaus Ferienhausdörfer gebaut und dem Skigebiet rund um den Wurmberg bei Braunlage eine moderne Beschneiungsanlage spendiert. Stolz präsentiert der Verband die Besucherzahlen, die in den vergangenen Jahren stetig gestiegen sind und nun bei zehn Millionen Übernachtungen jährlich liegen. Bis sich dieser Erfolg allerdings auch jenseits der großen Tourismusmagneten bemerkbar macht, in den Dörfern und Städtchen mit ihren Leerständen, in den Familienpensionen und Gaststuben mit zum Teil immensem Renovierungsstau, in den abgelegenen Bauernhöfen... Bis dahin wird es wohl noch eine ganze Weile dauern. Atmo 16: Barsch Atmo Führung, Wasser plätschert, entfernte Stimmen 46. O-Ton: Barsch: "Das, was die Bergleute hier vor allen Dingen abbauen wollten, ist dieser Bleiglanz. Und alles das, was wir uns heute ansehen, ist die Frage: Wie kommt man da ran...." Text: Christian Barsch ist umringt von einer Besuchergruppe in Outdoorkleidung und stabilem Schuhwerk. In der Hand hat der zertifizierte Welterbe-Guide ein kleines Stückchen Gestein, und das reicht er jetzt herum. 47. O-Ton: Barsch: "Und wie wird am Ende was daraus? Wofür brauchte man Silber?" - "Schmuck." - Schmuck. Wofür noch? Besteck." - "Münzen." - "Genau. Um das geht's nämlich tatsächlich. Die Münzen." Text: Seit 2010 und als einer der ersten führt Christian Barsch nun schon durch den Oberharz und zeigt, wo man die Genialität der Vorfahren in der Landschaft betrachten kann. Mit der kleinen Gruppe steht er heute an einem Gewässer südöstlich von Clausthal-Zellerfeld, das zur Hutthaler Widerwaage gehört. Das ist ein pfiffiges System aus mehreren Teichen, die miteinander verbunden waren und zwischen denen das Wasser je nach Bedarf in die eine oder die andere Richtung hin- und her transportiert werden konnte. In seiner roten Umhängetasche hat Christian Barsch jede Menge Anschauungsmaterialien dabei, Schautafeln von Grabensystemen, Gesteinsproben und wetterfest laminierte Fotografien. Das wichtigste Werkzeug aber ist sein Enthusiasmus: Der blonde Mann mit dem exakt rasierten Kinnbärtchen hat die Oberharzer Wasserwirtschaft zu seinem Lebensmittelpunkt gemacht. 48. O-Ton: Barsch: "Für mich ist das natürlich auch Teil meiner Geschichte. Ich bin hier geboren und aufgewachsen, ich fühle mich hier zu Hause, es ist ein Teil meiner Identität, und mich hat bei der Arbeit der Bergleute unter Tage immer auch dieses Gesamtkonstrukt sehr interessiert: Wie haben die Bergleute eigentlich mit den Ressourcen, die hier sind, es geschafft, Lösungen zu finden, den Bergbau über Jahrhunderte erfolgreich zu gestalten." "Und wenn wir heute Fragen stellen: Wie wollen wir eigentlich leben? Wie viel Konsum muss eigentlich sein? Wie sind unsere Lebensstile? da gibt es Anregungen von den Bergleuten, zu gucken, wie haben die's denn früher gemacht und können wir davon denn eigentlich lernen?" Text: Die grau glänzende Gesteinsprobe, die jeder Teilnehmer der Führung einmal in der Hand gehabt und hin- und her gewendet hat, ist inzwischen wieder bei Christian Barsch angekommen. Der steckt den kleinen Stein in die rote Tasche, schaut in die Runde und fährt fort. 49. O-Ton: Barsch: "...und dann geht der Bergbau hier los. Zu Anfang ist das Leben ein ganz ungeregeltes. Es ging zu wie im Wilden Westen, Mord und Totschlag waren an der Tagesordnung, bis dann eine Polizeigewalt installiert wird, ein Bergamt sich um den Betrieb der Bergwerke kümmert und der Bergbau hier auch ganz ordentlich Geld auswirft." Text: Ein kleines blondes Mädchen quengelt, es würde jetzt gern weiter. Aber Christian Barsch will erst noch erklären, wer von der ganzen Schufterei im Berg am meisten profitiert hat. 50. O-Ton: Barsch: "Was passiert denn nun wirklich mit dem ganzen Geld? Das fließt nach Hannover, Braunschweig, Wolfenbüttel. Was machen die Landesherren damit? Genau. Schönes Leben führen, mal 'nen Krieg, wenn's sein muss, bauen sich aber auch mal ein Schloss in Herrenhausen, einen Garten in Herrenhausen, in Braunschweig ein Schloss, eine Bibliothek in Wolfenbüttel, 'ne Universität in Helmstedt, 'ne Universität in Göttingen." Atmo Führung Text: Christian Barsch hat für seine Arbeit und sein Engagement rund um das Weltkulturerbe im Harz viele Auszeichnungen bekommen, zum Beispiel vom Rat für Nachhaltige Entwicklungen der Bundesregierung oder von der deutschen Umweltstiftung. Die "Oberharzer Wasserwirtschaft", findet der 49-Jährige, ist Ausdruck von Kultur und Natur, Vergangenheit und Zukunft. Und vor allem anderen eine Riesenchance für den Tourismus im Harz. 51. O-Ton: Barsch: "Wir müssen in jedem Fall gute Geschichten um dieses Welterbe herum erzählen. Und da brauchen wir die Ideen und die Kreativität der Menschen. Deshalb appelliere ich auch immer an alle: Versucht Euch Gedanken zu machen, versucht, Ideen zu entwickeln, was den Harz voranbringt in der Vermarktung dieses Weltkulturerbes Oberharzer Wasserwirtschaft." 52. O-Ton: Barsch: "Okay? Gut. Dann gehen wir mal weiter." Schritte, verschiedene Stimmen Atmo Führung mit Kennmusik verbinden KENNMELODIE SPRECHER: Buddeln fürs Weltkulturerbe – Eine Deutschlandrundfahrt durch die Oberharzer Wasserwirtschaft Von Petra Marchewka Ton: Inge Görgner Regie: Roswitha Graf Redaktion: Renate Schönfelder Eine Produktion von Deutschlandradio Kultur 2016. Manuskript und Audio zur Sendung finden Sie im Internet unter deutschlandradiokultur.de 27