COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : LITERATUR 19.30 Kostenträger : P.6.2.30 Titel der Sendung: Wasguckstdu - Migranten in der deutschen Literatur Autor : : Detlef Grumbach Redaktion: : Sigried Wesener Sendetermin : 15.01.2013 Besetzung : Erzähler :Erzählerin : Zitator : Musik/o-Ton Regie : Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Migranten in der deutschsprachigen Literatur DeutschlandRadio Kultur - Literatur Autor: Detlef Grumbach / Redaktion. Sigried Wesener O-Ton: Benedict Wells Für mich war das schon wichtig, das Fremde ist das Befruchtendste, was es gibt. Einer meiner besten Freunde ist Türke, das ist toll. Gerade das Multikulturelle ist einfach sehr schön, das hat mir auch in Berlin sehr gut gefallen und das gefällt mir auch jetzt in Barcelona. Erzählerin: Benedict Wells ist Ende 20, wurde in München geboren, zog zum Studium nach Berlin, lebt heute in Barcelona und hat bereits drei umfangreiche Romane veröffentlicht: "Becks letzter Sommer", "Spinner" und "Fast genial". Ein Deutschafrikaner und ein Schüler aus Litauen gehören zu seinen Figuren. O-Ton: Benedict Wells Man hat einfach neue Einblicke. Wenn du eine halbe Stunde mit jemanden aus Kolumbien sprichst, der dir etwas ganz anderes erzählt als du es hören bekommen würdest in einer WG in Köln, das kann ja nicht schaden. Und natürlich habe ich das gesucht, und ich suche es gerade als junger Mensch. O-Ton: Frédéric Valin Ich mag Figuren, die einen Teil ihrer Identität nicht mit Sprache auszufüllen imstande sind. Das sind Figuren, die mich interessieren, die eine gewisse Sprachlosigkeit mit sich herumtragen und das ist so ein Bruch. Erzählerin: Auch für den etwa gleichaltrigen Frédéric Valin gehören Begegnungen mit Migranten zu den Selbstverständlichkeiten seines Lebens, er schlägt literarisch Funken daraus. O-Ton: Frédéric Valin Also dieses erstens sich nicht zugehörig fühlen und zweitens nicht unbedingt die Sprache dafür zu haben, wie man das angemessen beschreiben kann, da werden Figuren durchaus sehr dynamisch, sehr interessant. Musik: Türk-Rapp Zitat Peter Schneider: Inzwischen bestreitet niemand mehr, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Aber sind die Eingewanderten auch in der kollektiven Wahrnehmung und Fantasie die Deutschen angekommen? Wie präsent sind die bei uns lebenden Ausländer im Film und in der Literatur? Erzählerin: - schrieb der 1940 geborene Schriftsteller Peter Schneider vor gut fünf Jahren in der Wochenzeitung "Die Zeit". Denn Autoren wie Wells oder Valin sind eine neue Erscheinung in der deutschen Literatur, als Seismograph gesellschaftlicher Entwicklungen schlägt diese nur mit Verzögerungen an. Erzähler: Vor fast sechzig Jahren kamen die ersten Gastarbeiter in die Bundesrepublik. Sie kamen nur auf Zeit, lebten in separaten Wohnheimen. Wie nachhaltig die Einwanderung dieses Land einmal verändern würde, hat damals niemand geahnt. Heute zeigen die Debatten über Integration und Asylpolitik, Parallelgesellschaften und den Bau von Moscheen: Wohin diese Veränderungen führen sollen, ist höchst umstritten. Als Bundespräsident Wulff zum Tag der deutschen Einheit 2010 erklärte, auch der Islam gehöre zu Deutschland, atmeten die einen auf. Andere sahen das christliche Abendland in Gefahr. Dazwischen entwickelt sich der Alltag, aus dem das Fremde längst nicht mehr wegzudenken ist. In der Literatur, stellt Peter Schneider verwundert fest, hinterlässt es jedoch kaum Spuren: Zitat Peter Schneider: Im Personenverzeichnis der neueren deutschen Fernsehserien und Filme ist die Figur des Ausländers prominent vertreten. Serien wie "Café Deutsch", "Türkisch für Anfänger" und andere wetteifern miteinander um die jeweils aktuellste, politisch korrekte Geschichte ... Wie aber steht es mit der erzählenden Literatur? Es ist merkwürdig: Die deutschen Schriftsteller haben in aller Regel engagiert und oft als Erste auf die rassistischen Anschläge der Neonazis reagiert - sie haben in Aufrufen, Kampagnen, Bürgerinitiativen Stellung bezogen und tun es noch. Aber in ihren Werken sind die Menschen, für deren Bürgerrechte sich die Autoren jederzeit einsetzen, nicht eben häufig anzutreffen. Erzählerin: "Was guckst du?" - fragen türkischstämmige Halbstarke auf den Straßen Hamburgs, Berlins oder des Ruhrgebiets, wenn sie neugierige oder verständnislose Blicke abwehren wollen. Der türkischstämmige Comedy- Star Kaya Yanar hat die Frage zum Titel seiner Fernsehserie gemacht. An die Literatur hat diese Frage noch niemand gerichtet. Die Literatur guckt auch gar nicht hin. O-Ton: Susanne Stemmler Ich glaube, das hat auch etwas damit zu tun, dass Deutschland keine Kolonien hatte. Erzählerin: Die Literaturwissenschaftlerin Susanne Stemmler hat lange für das Berliner Haus der Kulturen der Welt gearbeitet. O-Ton: Susanne Stemmler Ich glaube schon, dass es in London etwas anderes ist für einen britisch- stämmigen Autor zu schreiben als für einen deutschsprachigen Autor in Berlin. Weil in London ist einfach das multikulturelle Leben längst Realität und viel dominanter und viel stärker und man hat Leute mit pakistanischem oder indischem Hintergrund in vielen gesellschaftlichen Positionen, so dass man nicht um sie herumkommt, sie selbstverständlich ins Sujet mit einzubauen. Und genauso ist es in Frankreich. Erzähler: In Deutschland wurden die Gastarbeiter erst interessant, als die Studenten Ende der sechziger Jahre gegen den Vietnamkrieg demonstrierten, die Arbeiterbewegung entdeckten und die Diktaturen in Griechenland, Spanien und Portugal ins Wanken gerieten. Peter Schneiders Erzählung "Lenz", erschienen 1973, gilt noch heute als literarisches Dokument dieses Aufbruchs. Erzählerin: Der Held der Erzählung sucht den Kontakt zu Arbeitern und bewirbt sich bei einer Elektrofirma. Er fühlt sich fremd in seiner Haut, und der Fremde, der türkische Arbeiter, der ihm plötzlich gegenübersteht, mit dem er sich unterhält, wirkt auf ihn dagegen authentisch und nah. Zitat: Peter Schneider: Lenz gelang es kaum zuzuhören. Am meisten achtete er auf die Augen des Türken und auf seine kraftvollen, boxerhaften Armbewegungen. Er hatte den heftigen Wunsch, die Welt durch seine Augen zu sehen. Für einen Augenblick war es ihm, als müsste er ihm um den Hals fallen, ihn sich zum Freund machen. Erzähler: Ullrich, der Protagonist in Uwe Timms zeitgleich erschienenen Debüt "Heißer Sommer", arbeitet in den Semesterferien mit einem Kumpel auf dem Bau. Ein Türke ist mit von der Partie. Wofür der das Geld brauche, fragt Ullrich: Zitat: Uwe Timm Zum Leben, sagte der Türke und zog schon wieder das zerkrümelte Tempotaschentuch aus der Hosentasche. Er steckte es wieder umständlich in die Tasche und wischte sich mit dem Hemd übers Gesicht. Ich studiere Medizin, sagte er. Erzählerin: Zum Leben! Die beiden staunen nicht schlecht, denn sie leisten sich damit nur ein kleines Extra. Die drei schachten unter brütender Hitze den Graben für eine Kanalisation aus. Die beiden Deutschen schieben dem "Kümmeltürken", wie sie ihn hinter vorgehaltener Hand nennen, die schwerste Arbeit zu. Bis er umkippt und kotzt, einen Sonnenstich bekommt. "Sonderbar, ist doch ein Türke, nicht?", wundert sich der Chef. Und auch Ullrich ist perplex: Zitat: Uwe Timm Das glaubt uns doch keiner, dass ausgerechnet der Türke einen Hitzschlag bekommen hat. O-Ton: Uwe Timm Gute Literatur sollte immer staunen. Ich denke, das ist einer der Unterschiede in der Perspektive des Schreibens, dass man über andere Menschen, über andere Situationen, Verhältnisse, staunen kann und damit auch sich selbst als jemanden erfährt, der nicht festgelegt ist. Erzähler: Das ist das Credo Uwe Timms: O-Ton: Uwe Timm De facto sind die meisten natürlich festgelegt und das Staunen ist nicht mehr da. Das ist eingerastet. Das ist eine Blickweise, die gar nicht mehr sich in Frage stellt. Und diese Lust, dieses Lustvolle an dem Anderssein, an der anderen Möglichkeit, die es immer gibt, die im Konjunktiv auch steckt, es könnte anders sein, man selbst könnte ein anderer sein und ist auch so angelegt, das ist das, was Literatur leisten sollte, immer wieder aufzubrechen. Erzähler: In den frühen Texten Uwe Timms und Peter Schneiders sorgen die Gastarbeiter, die Migranten, die Fremden nur am Rande für eine kurze Irritation. Ansonsten bleiben solche Figuren und Konstellationen den Autoren der sogenannten "Gastarbeiter-Literatur" vorbehalten. Mittlerweile gehören deren Kinder und Enkel längst zur deutschen Literatur. Selim Özdogan, Hilal Sezgin, Feridun Zaimoglu beispielsweise und auch Sherko Fatah. Die Kehrseite: Solange sie sich mit dem Thema Migration beschäftigen, fällt es kaum auf, wenn sich ihre deutschstämmigen Kollegen nicht darauf einlassen - sei es aus mangelnder Erfahrung, Neugier oder Engagement. O-Ton: Sherko Fatah Es geht ja in der Literatur oft darum Milieus zu beschreiben, die die Leute ganz direkt umgeben oder die sie interessieren als Projektionsflächen. Erzählerin: Sherko Fatah ist der 1964 in Berlin/DDR geborene Sohn eines Kurden und einer Deutschen. O-Ton: Sherko Fatah Und in diese Milieus gehören die Ausländer eben nicht hinein. Sie sind weder dicht bei ihnen noch sind sie Projektionsfläche für das, was sie interessiert oder was sie sagen möchten in der Literatur. Erzähler: In Ralf Rothmanns Roman "Milch und Kohle" rücken sie dennoch in Gestalt des Italieners Gino ins Zentrum. Rothmann erzählt gut 25 Jahre später als Schneider und Timm aus der Perspektive des 15jährigen Simon, wie seine Eltern in den sechziger Jahren vom Bauernhof in Schleswig, aus "Kuhmist, Schlamm und Schweinegülle", ins Ruhrgebiet ziehen. Die Mutter will am Wirtschaftswunder teilhaben, doch ihr Mann wird unter Tage nicht glücklich, und sie macht nichts als Schulden. Erzählerin: Als der Vater eines Tages Gino von der Arbeit mit nach Hause bringt, stellt dieser das ganze Leben auf den Kopf. Gino kocht Auberginen statt Kohl, animiert die Mutter zu ihrem "krähenden Lachen" und tanzt, dass die Schlipse wirbeln. Der Italiener verzaubert die Mutter und verkörpert plötzlich alle ihre Wünsche. Dabei wird ihr bewusst, dass ihr Lebenstraum auf Sand gebaut ist. O-Ton: Susanne Stemmler Dieses Annehmen der Irritation durch das Fremde, um das Eigene zu mobilisieren, um die eigene Position in Frage zu stellen, um die eigene Position in Widersprüche zu verwickeln - das ist das Potenzial, was das Fremde haben könnte für die Literatur. Musik: Türk-Rapp Erzähler: "Selim blieb ein Einzelkind" - so hatte Peter Schneider seinen Essay in der "Zeit" überschrieben. Der Titel bezog sich auf Sten Nadolnys Roman "Selim oder die Gabe der Rede". Der Roman erschien 1990 und war damals die große Ausnahme. Zitat: Sten Nadolny Ich werde dieses Land erobern, dachte Selim. Erzählerin: Januar 1965. Selim sitzt im Sonderzug aus Istanbul, im Abteil mit Ömer, Niyazi, Mevlut und Mesut. Er hat einen Vertrag mit einer Werft in Kiel in der Tasche, unterhält seine Freunde mit zahllosen Geschichten. In Rosenheim steigt Alexander in den Gastarbeiterzug. Auch er bricht auf in ein neues Leben: raus aus der Provinz, erst einmal zur Bundeswehr, dann zum Studium nach Berlin. Alexander hat Angst vor dem Reden, er verhaspelt sich oft, stottert. Fasziniert beobachtet er, wie Selim voller Leidenschaft erzählt. Und Selim beobachtet Alexander, seinen ersten Deutschen. Zitat: Sten Nadolny Der junge Mann war offensichtlich ein "Rechts-Linkshänder". Selim hatte es schon bemerkt, als er noch im Gang gestanden hatte. Der wusste nie automatisch, mit welcher Hand er zufassen sollte. Erzählerin: In dieser zufälligen Begegnung, im neugierigen Blick auf den anderen, erkennen beide etwas von sich selbst. Im Berlin der Studentenunruhen treffen sie erneut aufeinander. Selim erkennt Alexander, den Rechts- Linkshänder sofort wieder, weil er selbst Linkshänder ist. Auf der Werft in Kiel wurde das sofort registriert. Zitat: Sten Nadolny: Selim benutzte die Rechte nur zum Festhalten, er schweißte mit der Linken. Er nahm sogar solche Werkzeuge in die Linke, die für die rechte Hand gearbeitet waren. Er war geschickt, aber wie der die Dinge anfasste, war für Kollegen und Kolonnenschieber ungewohnt. "Irgend etwas macht er falsch!", sagten sie. Erzählerin: Hier Alexander, der Linkshänders, der zum Rechtshänder gedrillt worden ist und sich selbst im Weg steht, da Selim, der als Linkshänder alles richtig und doch "falsch" macht. Das Motiv des Linkshänders wird zur Metapher für Anpassung oder Eigensinn. Selim wird zum Wunschbild für Alexander. Er hilft seinem Freund, seine Linke wiederzuentdecken. Durch Selim lernt Alexander schließlich auch die "Gabe der Rede". Erzähler: Nadolny war der erste deutsche Autor, der davon erzählt hat, wie ein Gastarbeiter ins Land kommt, vor allem aber schreibt er den Entwicklungsroman Alexanders, der nur in der Begegnung mit dem Fremden zu sich selbst finden konnte. So wie später der Roman Ralf Rothmanns zeigt er, wie produktiv die Verunsicherung durch das fremde Gegenüber ist, wie sehr es das Eigene berührt. Da geht es nicht um Exotik oder um ein Dekor, wie den türkischen Gemüsehändler, den italienischen Kellner, wie sie beiläufig in deutschen Großstadt-Romanen anzutreffen sind. O-Ton: Sherko Fatah Das liegt an der allgemeinen Separierung der Gesellschaft selbst. Ich glaube, das ist das Spiegelbild dessen, wie man in Deutschland eben zusammenlebt. So wird es auch abgebildet in der Literatur aufs Ganze betrachtet. Es gibt den Nachbarn, den Gemüsehändler, das sind Ausländer. Es gibt auch mal Begegnungen zwischen den Söhnen und Töchtern natürlich, aber in der Literatur ist das kein Thema. Keiner geht dem nach. Erzähler: Sherko Fatah tut es - in seinem 2004 erschienen Roman "Onkelchen". Erzählerin: Michael studiert mit 28 noch immer, hat kein klares Ziel vor Augen, schlendert durch den Prenzlauer Berg und stolpert über einen alten Reisebus, von dem ein Stromkabel in den dritten Stock eines Wohnhauses führt. In dem Bus entdeckt er Betten, einen Kühlschrank. Hier leben -ohne Papiere - Rumänen und Bosnier. In der leerstehenden Wohnung haben Rahman und Nîna aus dem Irak Unterschlupf gefunden - und mit ihnen Omar, ein schwer verletzter, traumatisierter Alter, den Nîna auf ihrer Flucht aus dem irakischen Kurdengebiet buchstäblich mitgeschleppt hat und den sie Onkelchen nennen. Zitat: Sherko Fatah Als Michael das Haus verließ und im Laternenlicht die Straße entlangschlenderte, hatte seine Ziellosigkeit an Spannung gewonnen. ... Ihm fiel auf, wie deutlich seine alte Abenteuerlust durch die Begegnung mit Rahman und Nîna eine Richtung bekommen hatte. Ich bin bereit, mich in etwas verwickeln zu lassen, dachte Michael. Wichtig ist nur, so sagte er, nicht umzukehren, weil man erschöpft ist oder sich verloren fühlt; gerade daran war das Fremde, nach dem er sich sehnte, zu erkennen. Erzählerin: Michael verliebt sich in Nîna und begleitet schließlich Rahman ins umkämpfte Kurdengebiet. Er setzt sich einer Realität aus, die seine Landsleute bestenfalls aus dem Fernsehen kennen, der sie im wirklichen Leben lieber aus dem Weg gehen. O-Ton: Sherko Fatah Vielleicht sind sie auch alle vielmehr auf der Suche nach dem Eigenen als nach dem Fremden, so dass sie sich eben nicht verwickeln lassen. Sie würden diesem Stromkabel, wie ich es beschreibe in "Onkelchen", einfach nicht nachgehen. Sie würden vielleicht beschreiben, wie es da zum Fenster führt, aber die Frage, wer da mit Strom versorgt wird, stellt sich ihnen einfach nicht, weil sie andere Sorgen haben. Ich würde das gar nicht so kompliziert aufbauen. Ich würde sagen, das ist einfach nicht im Fokus. Und die Erwartung an die Schriftsteller, so etwas darzustellen, geht vielleicht auch ein bisschen zu weit. O-Ton: Michael Wildenhain Also wenn man zum Beispiel durch den Gleimtunnel geht - der Gleimtunnel verbindet Wedding, und zwar da so Humboldthain-Nähe, Gesundbrunnen-Nähe mit Prenzlauer Berg - da geht man fünf Minuten durch, das ist so ein S-Bahn-Tunnel, einer dieser finsteren Berliner S- Bahn-Tunnel, und es ist, als wäre da eine unsichtbare Schranke. Erzählerin: So beschreibt der Berliner Schriftsteller Michael Wildenhain auch die räumliche Trennung der unterschiedlichen Milieus. Künstler und Intellektuelle wohnen in den Szenevierteln, vornehmlich im Prenzlauer Berg oder Friedrichshain. Die Ghettos der Migranten sind vorwiegend die riesigen Neubaublöcke im Westen der Stadt. O-Ton: Michael Wildenhain Auf der Weddinger Seite kann man die Berliner Kahlschlag-Sanierung und die Hochhäuser betrachten mit einer zum großen Teil türkisch geprägten Bevölkerung, aber nicht nur, aber auf jeden Fall eine ganz klare Unterklasse-Bevölkerung, und auf der anderen Seite ist Prenzlauer Berg, das ist das neue, grün bepinselte Bürgertum, und man hat den Eindruck, die wechseln nie durch diesen Tunnel. Beide Seiten nicht. Erzählerin: Wildenhain wurde 1958 geboren, war in den achtziger Jahren Teil der Berliner Hausbesetzerszene und engagiert sich im Kampf gegen Neo- Nazis und Rassismus. Später trainierte er auch Fußballmannschaften, in denen Jugendliche aller Herren Länder gemeinsam kickten. Migranten waren immer dabei, aus solchen Erfahrungen speist sich sein Jugendbuch "Blutsbrüder", aber auch der Roman "Träumer des Absoluten". O-Ton: Michael Wildenhain Und wenn mir Leute, die ich kenne, also Jugendliche, sagen, na ja, was soll ich sagen, ich bin ja kein Rassist, aber der Ärger kommt immer von den Türken oder Arabern, dann war das für mich ein Anlass, dieses Buch zu schreiben. Und aus diesem Anlass ist sozusagen die Konstellation in "Blutsbrüder" entstanden - zwischen Hakan auf der einen Seite und Darius auf der anderen. Erzählerin: In "Blutsbrüder" ist Darius, ein deklassierter Deutscher, in der Minderheit gegenüber Arabern und Türken, die ihn beim Fußball fertig machen wollen. Da zieht Hakan sich das Trikot der deutschen Nationalmannschaft an und wechselt die Seiten. In "Träumer des Absoluten" ist Tariq, Sohn eines libanesischen Vaters und einer deutschen Mutter der Außenseiter, wird im Sportunterricht in eine blutige Niederlage gedrängt. Sein Stolz verbietet ihm, einfach aufzugeben. Joachim ist der einzige, der ihn achtet und ihm beisteht. Im Zentrum beider Romane stehen Freundschaften, die bereits in der Schule begonnen haben - damit, dass einer der beiden Freunde sich offen gegen die eigene Clique gestellt hat. Erzähler: Verrat, Stolz und Ehre ergeben in Wildenhains Büchern eine Melange, aus der die Leser mit großer Wahrhaftigkeit etwas über die handfesten Konflikte zwischen Migranten und Deutschen erfahren. Vor allem hat Literatur die Möglichkeit, die Innenwelten der Subjekte auszuleuchten, auch ihre Widersprüchlichkeiten. O-Ton: Michael Wildenhain Also Stolz ist die ganze Zeit etwas, was gegenwärtig ist, und daran scheitern die Figuren am Ende auch. Und in der Tat ist es so, dass die Auseinandersetzung auch zwischen Darius und Hakan am Ende darauf hinausläuft, diese Begriffe zu thematisieren. Es geht ja so weit, dass Hakan in der Auseinandersetzung mit seinem Freund Darius sagt: Du verstehst nicht, was das ist. Und letztlich verstehen das eure Nazis besser. Musik Türk Rapp O-Ton: Susanne Stemmler Man würde ja eigentlich denken, die Literatur ist eine Avantgarde, Erzählerin: so die Literaturwissenschaftlerin Susanne Stemmler, O-Ton: Susanne Stemmler die Literatur ist immer voraus, sie schreibt von den Randpositionen aus, treibt die Mehrheitsgesellschaft weiter, sprich: von den Minderheitenpositionen wie Ausländer, Eingewanderte, Schwule, Lesben, Queere, das sind ja eigentlich die Positionen, die die Avantgarde immer benutzt hat, um die Mehrheitsgesellschaft ein Stück aufzurütteln, zu schockieren, weiter zu bringen. Erzähler: Was guckst du? - die Frage klingt aggressiv. Mit ihr wehren Migranten, Außenseiter neugierige Blicke ab. Die Literatur hat sie aber lange gar nicht im Visier gehabt. Vorreiter dieses literarischen Interesses waren Autoren aus der Studentenbewegung, in ihrem Werk setzt sich diese Offenheit auch fort. Erzählerin: In seinen Roman "Rot", einer literarischen Suche danach, was von den Träumen der 1968er geblieben ist, führt Uwe Timm die türkisch-stämmige Ärztin Nilgün ein. Nilgün ist schick, modebewusst, geschminkt. Der alte 68er hält sie für eine oberflächliche Schickse, sie kämpft für die Emanzipation, behandelt kostenlos Migranten ohne Pass und Krankenkassenkarte und hält ihn für einen müden Alten, der nur noch von seinen Erinnerungen zehrt. O-Ton: Uwe Timm Ich finde die auch klasse, auch gerade, dass die schick ist und nicht da in Sack und Asche oder selbst gestricktem Pullover sitzt. Also das ist mir natürlich passiert, das ahnt man, türkische Frauen, die Ärztinnen wurden, schick auftreten, wo du denkst, na ja, da ist nichts mit los - im Gegenteil. Das hat sich so verändert, dass die äußeren Zeichen - Bourdieu - nicht immer übereinstimmen mit dem, was dann im Kopf ist und in der politischen Tat ist. Erzählerin: Jüngere Autorinnen und Autoren erzählen von ganz alltäglichen Begegnungen, erfrischend, offen und ohne jede Rücksicht auf political correctness, von Konflikten, die in der politischen Debatte entweder instrumentalisiert oder verdrängt werden. Im Roman "Einsamkeit und Sex und Mitleid" von Helmut Krausser bietet ein junger Araber einem Mädchen 100 Euro dafür, dass er sie mal lecken darf. Dabei ist er verliebt, kann sich das aber aus Stolz nicht eingestehen. In einer anderen Szene rotzt ein junger Macho-Türke neben einem Geschäftsmann und seiner Geliebten Carla auf den Boden. Es ekelt die beiden und die junge Frau kontert: Sie bezeichnet ihn deutlich hörbar als kleinen, süßen Schwulen. Das kann er natürlich nicht auf sich sitzen lassen, schlägt zu, zieht aber den Kürzeren. Carla ist Vize-Meisterin im Kickboxen. Erzähler: "Selim blieb ein Einzelkind." Diese Aussage Peter Schneiders über die Abstinenz deutscher Autoren gegenüber dem Fremden, gegenüber Migranten und Flüchtlingen hatte lange Gültigkeit. Mit Autoren wie Helmut Krausser, Benedict Wells und Frédéric Valin ändert sich das allmählich. Erzählerin: Der 30jährige Frédéric Valin hat einen Band mit Erzählungen unter dem Titel "Randgruppenmitglied" veröffentlicht. In dem "Mimoun" überschriebenen Text erzählt er, von einer Berliner Wohngemeinschaft, die eher zufällig und aus Mitleid einen Flüchtling von der Straße aufliest und ihm ein Dach über den Kopf gibt. Berührungspunkte zwischen den unterschiedlichen Sphären existieren nicht, man redet nicht miteinander, und wenn es gekracht hat, weil Mimoun etwas falsch gemacht hat, kocht er. Die Wohngemeinschaft weiß nicht einmal, woher er kommt. Zitat Frédéric Valin: Mimoun Als er eine Zeit lang fast ausschließlich Couscous kochte, waren wir überzeugt, er stamme aus Algerien oder Tunesien oder Marokko, vielleicht war er ja ein Berber. Und als er einmal unsere gesamten Kichererbsenvorräte zu Humus verarbeitete, schlossen wir daraus, dass er auch Türke sein könnte, vielleicht sogar ein Kurde, oder aber aus dem Libanon. Mimoun. Wir haben ihn nie gefragt. Erzählerin: Mimoun fehlen die nötigen Ebenen der Kommunikation, für die WG bedeutet er nichts als ein Fremdkörper, dem gegenüber sie ein Wir-Gefühl entwickeln kann. Interessiert für ihn hat sie sich nie. O-Ton: Frédéric Valin Tatsächlich war ein Freund von mir in einer ähnlichen Situation, der bei uns dann tatsächlich auch einzog und der sehr viele Sachen anders gelebt hat als wir. Er kam auch mit diesem ganzen Behördenkram nicht zurecht und er wollte sich gleichzeitig nicht anleiten lassen, sondern hatte ein Bedürfnis nach Ich muss das irgendwie selbst regeln. Bei ihm hat sich das alles gut geregelt mit der Zeit und mich hat interessiert, wie das bei Figuren passiert, denen man mit mehr Gleichgültigkeit begegnet. O-Ton: Benedict Wells 04 Ich denke keine Sekunde vorher drüber nach. Erzähler: Antwortet Benedict Wells auf die Frage, warum die Hauptfiguren seiner Romane stets ein Gegenüber haben, dass grundlegend anders ist. Mit 24 hat er seinen ersten Roman - "Becks letzter Sommer" - veröffentlicht. Im Zentrum stehen der Lehrer Beck. Er hat mal davon geträumt, in einer Band Musik zu machen, ist aber so im Alltagstrott seiner Arbeit aufgegangen, dass er das längst aufgegeben hat. Rauli ist ein litauischer Schüler, kommt aus einem desolaten Elternhaus, in der Schule ist er isoliert. Beck kümmert sich um ihn und wird sich bewusst, wie traurig es um ihn selbst steht. Rauli ist ein begnadeter Gitarrist, auf ihn projiziert Beck alle seine Träume. O-Ton: Benedict Wells 06 Rauli war die einzige bewusste Entscheidung, weil dieses Wunder-Genie musste Ausländer sein und ein bisschen benachteiligt, sonst hätte es sich gar nicht mit dem Lehrer so viel abgegeben. Das uncoolste, was du haben willst als Sechzehnjähriger ist ja eigentlich, mit deinem siebenunddreißigjährigen Deutsch- und Musiklehrer rumzuhängen. Aber so ein benachteiligter litauischer Außenseiter - da wäre das vielleicht eher gegeben, da habe ich zum ersten Mal gedacht: Der muss Ausländer sein. Erzählerin: Hier geht es nicht um Botschaften. Hier geht es vor allem um eigene Erfahrungen, die zu Literatur werden. O-Ton: Benedict Wells 15 Was mich immer interessiert hat, immer immer immer, das sind Geschichten. Und es sind einfach andere Geschichten, weil der Sound der Geschichten unterschiedlich ist, je nachdem wo du herkommst. 1