COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Literatur, 21.4.2009, 19.30 Uhr ?Lesen heißt antworten? Zum 80. Geburtstag des Literaturwissenschaftlers George Steiner Eine Sendung von Sieglinde Geisel Redaktion: Barbara Wahlster Kommentatorin: Es gibt kaum einen Denker, der weniger in unsere Zeit passt, als George Steiner. Er ist kein Literaturwissenschaftler oder Literaturtheoretiker, sondern ein Literat. Er ist kein Philosoph, sondern ein Universalgelehrter, dessen Interessen alles berühren, was mit dem menschlichen Geistesleben zu tun hat. Eine ?Bilanz? seines Lebens hat er bereits vor zehn Jahren geschrieben, als Siebzigjähriger. Er gab dem Büchlein einen unbehaglichen und vielleicht auch etwas koketten Titel: ?Errata?. Eine Autobiographie der Irrtümer, könnte man sagen, doch der Titel ist mehrdeutig. Zum einen gehört die Möglichkeit des Irrtums immer dazu, wenn man Kunst verstehen will. Zum anderen ist das Eingeständnis des Irrtums bei Steiner auch ein ironisches Signal an seine Kritiker. Denn George Steiner hat sich nie auf ein Fachgebiet spezialisiert. Und wer über alles schreibt, macht sich angreifbar. Ein Leben lang hat George Steiner darüber nachgedacht, was die Kunst, in all ihren Ausprägungen, für den Menschen bedeutet. Die Auseinandersetzung begann bereits in frühester Kindheit. Seine Kindheit sei ein ?anstrengendes Fest? gewesen, schreibt Steiner in ?Errata?. Es war eine Kindheit voller Privilegien und Bildung. George Steiner wurde 1929 in Paris geboren, doch seine Eltern stammten aus Wien, und so war es auch eine vielsprachige Kindheit. Sprecher: ?Meine Mutter, die so wienerisch in ihrer Art war, begann gewohnheitsmäßig einen Satz in der einen Sprache und beendete ihn in einer anderen. (...). Sprachen flatterten durch das Haus. Englisch, Französisch und Deutsch im Esszimmer und im Salon. Das meines Kindermädchens im Kinderzimmer; Ungarisch in der Küche.? (Errata, S.105. Übersetzung: Martin Pfeiffer) Kommentatorin An eine erste Sprache könne er sich nicht erinnern. Französisch, Deutsch und Englisch seien ihm in gleicher Weise Muttersprache gewesen. Vorträge hält George Steiner bis heute in allen drei Sprachen, seine Bücher allerdings schreibt er meist auf Englisch. Sprecher: ?Fast immer träume ich einfach in derjenigen Sprache, in der ich gerade gesprochen habe, die ich am Tage vorwiegend gehört habe.? (Errata, S.105. Übersetzung: Martin Pfeiffer) Kommentatorin: George Steiner war elf Jahre alt, als die jüdische Familie 1940 nach New York emigrierte, um der nationalsozialistischen Bedrohung zu entkommen. Es war vor allem der Vater, der die Kindheit seines begabten Sohnes zu einem anstrengenden Fest machte. Bildung war alles, denn der Vater war zwar im Brotberuf Jurist und Finanzexperte, doch seine wahre Leidenschaft gehörte der Kunst und der Literatur. Im Elternhaus gab es eine reichhaltige Bibliothek, und oft wurde Kammermusik gespielt. Durch den Türspalt durfte das kleine Kind vor dem Schlafengehen mithören. Glaubt man George Steiners Autobiographie, hat er mit sechs Jahren gelernt, Homer im altgriechischen Original zu lesen. Über die Lektüre seines Sohnes hatte der Vater ein wachsames Auge: Sprecher: ?Kein neues Buch wurde mir erlaubt, solange ich nicht für ihn eine Zusammenfassung des Buches geschrieben hatte, das ich zuletzt gelesen hatte. Wenn ich die eine oder andere Passage nicht verstanden hatte ? die Auswahl und die Vorschläge meines Vaters zielten sorgfältig über meinen Kopf hinweg -, sollte ich sie ihm laut vorlesen. Oft lässt die Stimme einen Text klar werden. Wenn das Missverstehen bestehen blieb, sollte ich die fragliche Stelle mit eigener Hand abschreiben. Daraufhin gab sie dann gewöhnlich ihren Kern frei.? (Errata, S.21, Übersetzung: Martin Pfeiffer) Kommentatorin: Nach dem Studium in Chicago und Harvard kehrte George Steiner nach Europa zurück. Eine klassische Universitätskarriere blieb dem Generalisten versagt: Er unterrichtete am Churchill College in Cambridge, wo er noch heute lebt, und an der Universität Genf hatte er seit 1974 einen Lehrstuhl für Vergleichende Literaturwissenschaft inne. Wäre es anders gekommen, hätte er wohl nicht soviel Zeit zum konzentrierten Lesen und Schreiben gehabt. Die Liste seiner Bücher und Essays ist lang: Über Musik, Mathematik und Philosophie schrieb er ebenso wie über Theologie, die Kunst des Übersetzens und das Judentum, dessen intellektueller Tradition er sich verpflichtet sieht. Und doch gibt es in George Steiners Arbeit ein Gravitationszentrum: Es ist die Frage nach dem Verstehen von Texten, dem Auslegen von Literatur, ja schlicht dem Lesen. Er würde gern als ?Lehrer des Lesens? erinnert werden, sagte George Steiner vor Jahren in einem Interview. Er prägte die Wendung vom ?klassischen Akt des Lesens?. In einem Gespräch in seinem gemütlichen Haus in Cambridge erzählt George Steiner, wie er sich im Seminar mit Studenten einem literarischen Text zu nähern pflegte. Bis heute hat sein Deutsch eine wienerische Färbung beibehalten. O-Ton George Steiner, 5.19: Lesen ist ein grosses Abenteuer. (...) 6.49: Erst versuchen wir, mit dem Wörterbuch. Wörterbücher sind natürlich die grossen Schatzkammern der menschlichen Geschichte, der Geschichte einer Sprache, ein Littré, ein Grimm, ein Oxford English Dictionary hat alle anderen Bücher in sich schon, auch die Möglichkeiten der Bücher, die noch nicht geschrieben sind. Die Sprache lebt so. Wir schlagen nach, (...)! Wir versuchen, erster Schritt, manchmal eine Woche oder zwei Wochen, den Wortinhalt des Texts zu verstehen, ganz primitiv aber ernst. Und auch die Geschichte der Wörter. Nehmen Sie ein Gedicht, und plötzlich ist da eine ganze Chronologie der Vergangenheit dieser Wörter. Zweitens die Grammatik. Was ist Grammatik? Grammatik ist die Musik des menschlichen Gedankens! Ist die wahre Melodie des Denkens, (...). Die Grammatik ist ein Weltbild. (... 8.32) Der große Dichter denkt schon der Grammatik nach, er singt sie. Kommentatorin: Am Anfang steht also die philologische Arbeit, die Auseinandersetzung mit der Sprache eines Texts. Doch die Wörter allein geben den Sinn eines Textes noch nicht preis. O-Ton George Steiner, 8.38: Dann nach dem versuchen wir, historisch und im Kontext, wann wurde es geschrieben, was war der menschliche Kontext, für wen war es geschrieben? Und da kommt Walter Benjamin ganz ruhig ins Zimmer und sagt, meine Kinder, vielleicht noch nicht für euch, vielleicht nur in fünfhundert Jahren wird der richtige Leser kommen, aber ihr könnt es versuchen. Das würde der Borges auch sagen, warten, Geduld, aber man versucht. Es ist ganz unmöglich, einen seriösen, ernsten Text zu erleben, nicht verstehen, das kommt noch, zu erleben in sich ohne den Umfang seiner Welt. Was geschah zu dieser Zeit? Was waren die Bedingungen einer Veröffentlichung? Kommentatorin Erst, nachdem man sich in dieser Weise Schritt für Schritt an die Bedeutung eines Texts herangetastet hat, folgt die letzte Stufe des Lesens: die Interpretation, die Frage nach dem Sinn. O-Ton George Steiner, 11.30: Und der letzte Schritt, das Wort ist prätentiös, aber macht nichts, ist der semantische Schritt, die Interpretation. Wie werden wir das Gedicht lesen, was bedeutet das für uns? Das kommt ganz am Ende. (... 12.07) Und dann, was wir geliebt haben, werden wir einiges zusammen auswendig lernen. Das war für meine Studenten im Seminar immer das schöne Ende. Wir können ins Caféhaus gehen, wir können einen guten Wein dazu trinken, wir können ganz schön spazieren. Beim Spazieren kann man auch sehr gut auswendig lernen. Und dann hat man danke gesagt an den Text. Für mich ist ein gutes Lesen ein Dank. (... 13.03) Und ich weiss, wie altmodisch das ist, wie das heute das Gegenteil der Systematik der Dekonstruktion ist, aber für mich bleibt das wahr: Jedes gute Lesen, une bonne lecture, ist ein Danke. Kommentatorin: Wer kann heute noch aus dem Stegreif eine Ballade rezitieren? Das Auswendiglernen von Texten ist eine aussterbende Tugend. Für George Steiner jedoch ist es ein Credo. Auswendiglernen hat für ihn nichts Mechanisches. Es bedeutet eine Verinnerlichung, die dem Leser ein ganz neues Verhältnis zum Text ermöglicht. Ein Leser, der auswendig lernt, erweist dem Text, so Steiner, damit auch eine Ehre. Und der Text wiederum wirkt im Inneren des Lesers weiter. O-Ton George Steiner, 5.31: Ich bin fanatisch in diesem Punkt. Was man liebt, will man auswendig lernen. Man behält es in sich. Nichts kann es Ihnen wegnehmen. Keine Polizei, keine Zensur, Sie tragen es mit sich und es wächst in Ihnen. Derselbe Text, wenn man jung ist, dann wenn man mittelalt, dann alt ist, ist nicht derselbe Text. Er lebt mit Ihnen und verändert sich und verändert uns ? er liest uns. Was ich meinen Studenten versuche beizubringen ist, von einem grossen Text wird man gelesen. Man hat die Ehre, dort ins Haus einzutreten als Gast eines Texts, immer als Gast, und man versucht, zuzuhören. Kommentatorin: Damit nun formuliert George Steiner indirekt auch einen Anspruch an Literatur. Auswendig lernen wird man nur jene Texte, die man auch ein Leben lang in sich herumtragen mag. Texte, die sich lohnen. Texte, die nicht altern, sondern neu bleiben. George Steiner würde sagen, Texte, die zum ?Eigentlichen? gehören, nicht zum Ephemeren, Alltäglichen, das in der Gegenwart viel zu viel Raum einnehme. George Steiner ist ein vehementer Anwalt der Klassiker. Doch diese stehen in unserer Zeit unter Verdacht. Wer liest heute noch Klassiker? Ja, was ist überhaupt ein Klassiker? In ?Errata? schreibt Steiner: Sprecher ?Alles Verstehen ist unzulänglich. Es ist, als ziehe das Gedicht, das Gemälde, die Sonate rings um sich einen letzten Kreis, einen Raum für unverletzte Autonomie. Ich definiere den Klassiker als das, um welches herum dieser Raum beständig fruchtbar ist.? (Errata, S.33, Übersetzung: Martin Pfeiffer) Kommentatorin: Weil dieser Raum beständig fruchtbar bleibt, wird jede Generation von Lesern einen Klassiker anders verstehen, ja auch im Lauf seines eigenen Lebens wird man einen Klassiker verschieden lesen, verschieden auf ihn antworten. ?Lesen heißt antworten?, lautet ein Schlüsselsatz von George Steiner. Klassiker sind Werke, die uns verändern, weil sie Fragen an uns stellen, weil sie uns zu Antworten auffordern. Es gibt Werke, zu denen Steiner in seinen Essays immer wieder zurückkehrt. Rilkes Gedicht ?Archaischer Torso Apollos? ist eines davon. Rilke lässt uns eine antike Statue betrachten, und er führt uns dabei vor, wie Klassiker wirken, in welcher Weise sie neu bleiben, auch Jahrtausende später. Der Torso Apollos in Rilkes Gedicht sieht uns, und er spricht zu uns. Sprecher (Gedicht): Archaischer Torso Apollos Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt, darin die Augenäpfel reiften. Aber sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber, in dem sein Schauen nur zurückgeschraubt, sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug der Brust dich blenden, und im leisen Drehen der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen zu jener Mitte, die die Zeugung trug. Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz unter der Schultern durchsichtigem Sturz und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle; und bräche nicht aus allen seinen Rändern aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern. Kommentatorin: ?Du musst dein Leben ändern?: George Steiner liest die letzte Zeile dieses Gedichts als eine Metapher für jede Begegnung mit großer Kunst. Sprecher ?Der archaische Torso in Rilkes berühmtem Gedicht sagt zu uns: Und das sagen alle Gedichte, Romane, Dramen, Gemälde, Musikstücke, denen zu begegnen sich lohnt. Die Stimme nachvollziehbarer Form (...) fragt: .? (Von realer Gegenwart, S. 189. Übersetzung: Jörg Trobitius) Kommentatorin: Wer einen Klassiker liest, antwortet auf diese Fragen. George Steiner hat den Begriff ?Meisterleser? geprägt. Ein Meisterleser jedoch beherrscht nicht nur das philologische Handwerk. Ein guter Leser ist ein verantwortlicher Leser. George Steiner begreift das Lesen als einen moralischen Akt. O-Ton George Steiner, 21.26: ?Es gibt eine Ethik des Lesens. (...) Wenn Sie eintreten in ein Haus, wascht man sich die Hände. Man kommt sauber, wenn man kann, an einen Text. Es gibt eine Ethik des Verstehens. Man versucht nicht, einen Text umzugestalten, aus politischen, rhetorischen oder ideologischen Gründen. Und hauptsächlich, und da will ich ganz sorgsam werden, man vergisst nie, die Milliarden von Kilometern Entfernung zwischen dem besten Kritiker, Lehrer, Leser, Herausgeber und dem, der es geschaffen hat. Die Sünde der modernen Bonzenkultur ist, wie sich die Herren Dozenten und Kritiker ernst nehmen.? Kommentatorin: Mit dieser Kritik ist George Steiner in der akademischen Welt ein Außenseiter geblieben, und zwar ein ausgesprochen streitbarer. Heftig kritisiert er die Spezialisierung in den Geisteswissenschaften: Sprecher ?Mit jedem neuen Lehrstuhl und jeder neuen Bewilligung von Forschungsgeldern wird das Feld kleiner. Die mikroskopische Sichtweise ist allseits verbreitet und gebilligt. Über immer weniger wird in Zeitschriften und Wissenschaftsverlagen immer mehr publiziert (...). Der Spezialist begegnet dem oder mit verächtlicher Geringschätzung.? (Nach Babel, Vorwort zur Neuausgabe, S.11. Übersetzung: Peter Sillem) Kommentatorin: So schreibt George Steiner im Vorwort zu seinem Buch ?Nach Babel?, dessen englische Originalausgabe 1975 erschienen ist. Seit die Literaturwissenschaft sich als theoretische Disziplin versteht, ist der Literat alten Stils verdächtig geworden: Sprecher ?Die Theoretiker, die an der Macht sind, betrachten meine Arbeit, wenn sie sie überhaupt betrachten, als archaischen Impressionismus.? (Errata, S.14. Übersetzung: Martin Pfeiffer) Kommentatorin: Für den Literaten wiederum ist der Theorie-Anspruch in der Literaturwissenschaft bloße Scharlatanerie und Wichtigtuerei. Wenn es um die Geisteswissenschaften gehe, sei ?Theorie? nichts als eine Intuition, die die Geduld verloren habe, so Steiner. Man wolle sich das Prestige der Naturwissenschaften borgen, doch der Literatur könne man nicht mit naturwissenschaftlichen Methoden zu Leibe rücken. In seinem Buch ?Von realer Gegenwart? schreibt Steiner: Sprecher ?In Kunst und Dichtung gibt es keine entscheidenden Experimente, keine Lackmustests. Es kann keine verifizierbaren oder falsifizierbaren Schlüsse geben, die vorhersehbare Folgen nach sich ziehen in dem sehr konkreten Sinn, in dem eine wissenschaftliche Theorie Voraussagekraft hat.? (Von realer Gegenwart, S.105. Übersetzung: Jörg Trobitius) Kommentatorin: George Steiner hat unsere Zeit wiederholt als einen bloßen Epilog bezeichnet, als ein Nachwort. Er ist ein leidenschaftlicher Gegner von Dekonstruktivismus und Poststrukturalismus. Die Behauptung etwa, man könne einen Text ?immanent? lesen, ohne Kontext, scheint ihm ebenso inakzeptabel wie der fehlende Respekt gegenüber dem Kunstwerk und seinem Schöpfer. Und doch: Obwohl die Fronten klar scheinen, lässt sich George Steiners Position in der Intellektuellenszene der Gegenwart kaum auf einen Nenner bringen. Nicht weniger als sechzehn Universitäten haben ihm die Ehrendoktorwürde verliehen, und an den meisten großen Universitäten war er Gastlektor ? aber er gehöre nicht dazu, wie er selbst bemerkt. Mit seinen kulturphilosophischen Essays ist er bekannter geworden als die meisten Universitätsprofessoren. Doch im Gegensatz zu den Dekonstruktivisten, die er bekämpft, hat er keine geistige Strömung begründet. In ?Errata? zieht George Steiner daher eine melancholische Bilanz: Sprecher ?Da der Schluss näherrückt, weiss ich, dass meine überfüllte Einsamkeit, dass das Fehlen einer Schule oder einer Bewegung, die von meiner Arbeit ausgeht, und die Summe seiner Unvollkommenheiten in erheblichem Maße mein eigenes Werk sind. Die Aneignung, die Ausbeutung meiner Schriften und Lehren durch andere, die eklatante Nicht-Anerkennung durch diejenigen, die ihre öffentliche Sichtbarkeit und Vielfalt anstößig gefunden haben, mag in einem ironischen Paradox ihr wahrer Lohn sein. Doch die Traurigkeit, die tristitia, jenes betäubende lateinische Wort, ist da.? (Errata, S.202. Übersetzung: Martin Pfeiffer) Kommentatorin: George Steiner kritisiert unseren Umgang mit der Literatur: Was ihn dabei mit größten Bedenken erfüllt, ist die Macht des Sekundären, das sich zwischen den Leser und den eigentlichen Text schiebt. An den Universitäten etwa wird der Sekundärliteratur oft mehr Aufmerksamkeit geschenkt als den Werken, die sie kommentiert. Sprecher ?Eine tonangebende Tollheit von sekundärem Diskurs infiziert Denken und Sensibilität?, (Von realer Gegenwart, S. 43. Übersetzung: Jörg Trobitius) Kommentatorin: schreibt Steiner. Sprecher: ?Essay spricht zu Essay, Artikel plappert mit Artikel in einem endlosen Höhlennetz verdrießlicher Echos.? (Von realer Gegenwart, S. 60. Übersetzung: Jörg Trobitius) Kommentatorin: Doch Steiner zielt mit seiner Kritik nicht nur auf die Flut von Dissertationen und Publikationen, mit welcher der akademische Betrieb die Kunstwerke zu ersticken drohe. Auch das allgemeine Lesepublikum hält sich ans Sekundäre: Man liest Rezensionen und Biographien, aber um die Werke selbst machen viele einen Bogen. Sprecher: ?Wir suchen die Immunitäten des Indirekten. In der Stellvertreterrolle des Rezensenten, des Kommentators, der Kritikerpapstes sind uns jene lieb, die das Mysterium, die den Ruf des Schöpferischen domestizieren, säkularisieren können.? (Von realer Gegenwart, S.59. Übersetzung: Jörg Trobitius) Kommentatorin: Für George Steiner ist das antwortende Lesen, das Hören von Musik oder das Betrachten von Gemälden eine Begegnung mit ?realer Gegenwart?. Hier spricht der Metaphysiker Steiner: Die Kunst vergegenwärtigt sich in uns, weil sie etwas von uns will. Ein solches Kunstverständnis allerdings ist nichts für die große Masse. Vor der Kunst sind nicht alle Menschen gleich. Große Kunst ist elitär, eine Angelegenheit von und für Minderheiten ? für George Steiner ist diese Feststellung kein Tabu. Er lehnt political correctness als einen Verrat am Intellektuellen ab, und er kennt die Gefährdung der Kunst in der Demokratie: Eine egalitäre Gesellschaft neige dazu, das Herausragende zu zähmen. Mit dieser Haltung jedoch wird George Steiner für seine Zeitgenossen zum Stein des Anstoßes, in vielerlei Hinsicht. Für Steiner setzt das Genie den gültigen Maßstab. Doch der Genie-Begriff des 19.Jahrhunderts ist in der Literaturwissenschaft längst suspekt geworden, und vor einem direkten Kontakt mit dem Kunstwerk scheuen viele Menschen zurück. Wir fürchten uns vor dessen Größe, wie George Steiner sagt: O-Ton George Steiner, 31.10: ?Weil man selbst sich so klein fühlt. Es ist so ungerecht. Das Genie ist etwas so prinzipiell Ungerechtes. Die Kinder waren fünf Jahre alt, eine Kindergartenschule in Bern, und die Lehrerin nimmt sie auf ein Picknick. Und sitzen vor einem Aquädukt (...) die Lehrerin sagt den Kindern: Versucht, es zu zeichnen. Und ein Kind gibt den Pfeilern Schuhe, und das Aquädukt ist in Bewegung. Ein Kind. Das Kind hiess Paul Klee. (...) Und seitdem sind alle Aquädukte in Bewegung, sie haben alle Schuhe. Oder ein Herr Van Gogh schaut eine Pappel an, und sieht, dass sie nicht eine Pappel ist, sondern Feuer, eine grüne Flamme. Milliarden Menschen hatten Pappeln angeschaut, und niemand hatte gesehen, dass es ein grünes Feuer ist ? und seitdem brennt jede Pappel. Das ist so ungerecht.? Kommentatorin: Dass unter Millionen Menschen nur einer sich als Genie erweist und sehen kann, wofür alle anderen blind waren, darin besteht eine subtile Kränkung, die uns das Kunstwerk zufügen kann. Doch nicht nur das Schaffen von Meisterwerken ist für George Steiner ein Mysterium. Auch das Verstehen, das Lesen großer Werke ist eine Aufgabe, die uns an die Grenze unserer Möglichkeiten bringen kann. Deshalb werden gerade die herausragenden Werke nur selten von den Zeitgenossen bereits in ihrer Größe erkannt. O-Ton George Steiner, 34.40: ?Ein großer Text ist oft schwierig, kompliziert, wenn er neu ist, bietet er sehr schwierige Herausforderungen ans Verständnis, an den Wortschatz ? Joyce zu lesen braucht Zeit, braucht Zeit, bis die Zeit selbst zu Joyce heranwächst. Die späten Gedichte von Celan, das wird hunderte Jahre dauern, bis die wirklich alltäglich werden können. Er sprach von einer Sprache im Norden der Zukunft, ein sehr grosses Bild.? Sprecher (Gedicht) In den Flüssen nördlich der Zukunft werf ich das Netz aus, das du zögernd beschwerst mit von Steinen geschriebenen Schatten. O-Ton George Steiner (Fortsetzung, 35.20): ?Sprache im Norden der Zukunft ? da ist es sehr kalt da oben im Norden der Zukunft. Da muss man ein Polarentdecker sein.? Kommentatorin: Um lesend neue Welten zu entdecken, um gar Texte auswendig zu lernen, braucht man Stille. George Steiners ?klassischer Akt des Lesens? ist eine private, einsame Handlung. Eine, die immer schwieriger wird. Auch dies gehört zu Steiners Kritik an unserer Zeit: Sie droht, zu einem Epilog zu werden, weil sie uns mit ihrem Lärm und ihrer Geschäftigkeit vom Eigentlichen ablenkt. Sprecher: Die Räume in unserem Inneren sind still und leer oder vollgestopft mit lärmenden Trivialitäten. (...) Die Sehnen des Gedächtnisses lassen sich nur straffen, wenn Stille herrscht. Etwas auswendig zu lernen, einen Text getreulich zu transkribieren, mit höchster Aufmerksamkeit zu lesen, heißt still zu sein und inmitten von Stille. Ein solch hoher Grad von Stille wird in dem Stadium, in dem sich die westliche Kultur gegenwärtig befindet, mehr und mehr zu einem Luxusartikel. Erst zukünftige Historiker des Bewusstseins werden die Verkürzung unserer Aufmerksamkeitsspanne, die Schwächung unserer Konzentration genau ermessen können, die schon durch so eine einfache Tatsache bewirkt werden kann, dass uns das Klingeln des Telefons stört, und vor allem dadurch, dass die meisten von uns (...) auch sofort darauf antworten.? (Der Garten des Archimedes, S.30. Übersetzung: Michael Müller) Kommentatorin: George Steiner ist in seiner Kritik konsequent ? bis hin zur Gefahr, dass die Hinwendung zum Klassischen in einem Elfenbeinturm endet. Von unserer vielleicht ebenso realen Gegenwart dringt kaum etwas in diese Festung der Kunst hinein. In seiner Autobiographie ?Errata? hat George Steiner diesen Irrtum vorsichtig eingestanden: Sprecher: ?Ausgebildet in einer übermäßigen Verehrung für die Klassiker (...) fühlte ich mich dem Kanonischen, dem Anerkannten und dem ?Unsterblichen? (...) verpflichtet. Es dauerte zu lange, bis ich verstand, dass das Ephemere, das Fragmentarische, das Spöttische, das Selbstironische die entscheidenden Formen der Moderne sind; bis mir klar wurde, dass die Wechselwirkungen zwischen hoher und Populärkultur (...) das monumentale Pantheon weitgehend abgelöst hatten.? (Errata, S.202. Übersetzung: Martin Pfeiffer) Kommentatorin: Auch wenn man sich George Steiners Weltbild nicht vollständig zu eigen macht, kann man von ihm Dinge lernen, die man sonst nirgends findet. Denn gerade sein Unbehagen gegenüber der Gegenwart, ja sein inneres Fremdsein haben seinen Blick für ebendiese Gegenwart geschärft. Uns ist kaum bewusst, wie stark die Elektrizität unser Leben prägt. Sie macht die Nacht zum Tag, und sie hat unsere Welt unter eine permanente Beschallung mit Musik gesetzt. George Steiner hat sich die Sensibilität dafür bewahrt, wie tiefgreifend die Technik unser Verhältnis zur Kunst verändert. Kürzlich tauchte ein Stromausfall ganz Cambridge ins Dunkel. Für George Steiner wurde dies zu einer neuen Erfahrung von Stille ? und diese wurde zu einer neuen Erfahrung des Lesens: O-Ton George Steiner, 26.40: So haben wir unsere Kerzen hier angezündet, in diesem Raum. Und plötzlich habe ich bemerkt, dass um meine Kerze herum beim Lesen ein herrliches Schweigen kommt. Kerzen bringen nicht nur Licht, sondern ein ganz einzigartiges Schweigen. Man liest mit großer Konzentration. 7