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Musik 1: Clan 537: Clan 537 (Cheiro Producoes ci 062602): Mi religion Zitat Politycki: Im Spiegel über der Kommode sah er einen alten Mann, der ihm mit leeren Augen nachstarrte, den hatte er doch schon mal? Aber wo? Egal! Broschkus baute sich breitbeinig vor dem Spiel auf und tupfte die Spitze seines zusammengerollten Zehnpesoscheins gegen den Hals des Mannes, gegen den Wundschorf auf seiner Gurgel. "Ein Mal im Leben unlimited agieren, kapierst du? EIN MAL!" Erzählerin: Ein Mal Leben unlimited! Raus aus allen Konventionen. Im Fernsehen wird sie gebändigt in Sendefolgen wie "Steinzeit - Das Experiment!" oder "Oman - Abenteuer in Arabien". Aber was sucht ein Mann wie Broder Broschkus, dessen Leben sich in Hamburg auf blank geputzten Oberflächen, wohlbehütet zwischen der Wohnung an der Außenalster und dem Büro an der Binnenalster abspielt, im Zauber der Santeros und Paleros? Welche Grenzen will Polityckis Held sprengen fern ab der Zivilisation, in einer düsteren archaisch strukturierten Welt? 1 O-Ton: Matthias Politycki In der Tat glaube ich, dass seit Jahren schon in unserer Gesellschaft gesucht wird, zunächst natürlich mal privatistisch. In den ganzen Fluchtbewegungen Richtung Eso oder auch Fluchtbewegungen in Urlaubsregionen, wo es sozusagen deftiger zugeht, und sei es nur sexuell. Aber es ist nicht nur das. Das ist auch die Suche nach einem spirituelleren Leben oder einem existenziell herausgeforderteren, indem man in Wüsten geht, auf hochriskante Hochgebirgsexpeditionen, Wildwasserkanu, keine Ahnung. Jedenfalls ein eminenter Tourismus in Sachen Selbsterfahrung. Erzähler: "Ich denke, also bin ich." - das Credo des französischen Philosophen René Descartes, der Rationalismus in der Erkenntnis der Welt und des Ichs, der "Prozess der Zivilisation" haben Leerstellen hinterlassen. Leerstellen, die gelegentlich mit Ironie und Sarkasmus, mit einem spielerischen Hang zum Unverbindlichen überpinselt werden, die aber immer wieder einen Sog ausüben, die danach verlangen, ausgefüllt zu werden. Technischer Fortschritt, materieller Wohlstand, Sicherheit - ja, doch der 1955 geborene Schriftsteller und Essayist äußert seine, so wörtlich, "Zweifel am spätdemokratischen Glücksversprechen der Aufklärung" und fordert "Respekt für religiöse Welterklärungsmodelle". Erzählerin: Die 1969 geborene Tina Uebel erzählt in ihrem Roman "Horror Vacui" von einer Gruppe erfolgreicher, mitten im Leben stehenden Menschen, die ihre ultimativen Grenzerfahrungen auf einem Trip an den Südpol suchen. Zitat Uebel: Phantasmagorische Landschaften. Unirdische Wolkenformationen, die sich Richtung Horizont ausbreiten, über einen Himmel, der größer ist, als ich je einen Himmel gesehen habe. Unwirkliche Welten, man möchte sich auflösen darin. Erzählerin: Der Südpol. Nichts gibt es hier. Nur Eis. Nicht einmal mehr den Süden. 50.0000 $ haben die vier Abenteuertouristen für die Wanderung ans Ende der Welt ausgegebene: auf Skiern, mit Schlitten im Schlepptau. Einer aus der Gruppe kommt hierher, weil zu Hause die Mutter stirbt - allein in einem Heim. Zu ihr zu gehen bringt er nicht fertig. 3 O-Ton: Tina Uebel: Die Antarktis ist so unendlich groß, größer als Australien. Man kennt so etwas gar nicht. Es ist nicht gemacht für Menschen und man kennt es auch nicht aus irgendeiner Erfahrung. Ich denke, wenn ich in den Himalaja gehe, dann sieht das aus wie etwas größer geratene Alpen, aber die Antarktis sieht aus wie ein Planet aus einen Star Wars Sequel und es ist einfach so leer, dass es so viel Projektionsfläche gibt für Wünsche, Sehnsüchte, Vorstellungen. Zitat Uebel: Der Wind ist, als käme er von außerhalb der Zeit. Grausam weht er mir entgegen. Eispartikel. Bitterkalt. Vor mir und um mich ist nichts, die Negation von Landschaft, Leben, Existenz. Nur Eis, als wäre nie etwas anderes gewesen. Ich spüre meine Hände nicht mehr. Alles löst sich auf. Erzählerin: An die Grenzen gehen, bis an den Tod? Wie einst die Polarforscher Scott und Amundsen? In der Ausnahmesituation treten die Schranken der vier Wanderer nur umso deutlicher zutage. 4 O-Ton: Tina Uebel So viel Einsatz und so viel Aufwand und es macht das alles nur noch schlimmer. Ich finde sie allesamt sehr traurig. Auch Susan, die sich in ihrer Selbstperfektion versucht, in etwas hineinzusteigern, was nicht mehr menschlich ist. Was alle Beziehung, alle Verbindungen mit Menschen hinter sich lässt, weil sie der Meinung ist, all das würde sie schwächen. Auch mein Protagonist natürlich, der sich so viel versprochen hat von diesem einen großen Aufbruch in seinem Leben und dem das bisschen, was er sowieso nur hatte, dabei flöten geht. Ich finde das schon traurig. Erzähler: Die Flucht aus dem Käfig der Moderne, die Sehnsucht nach einem anderen Leben, das, was heute immer wieder zum Gegenstand literarischer Auseinandersetzung wird, mündet nicht in einer Nabelschau. Es lässt sich nicht vergleichen mit einer egozentrischen Befindlichkeitsprosa, in der sich alles um das eigene Ich dreht. Im Gegenteil: Es geht um die Grenzen einer fest umrissenen Individualität, um ein Aufgehen im Größeren, im Geheimnisvollen, im Glauben. Es geht um die Konfrontation mit dem Kreatürlichen, mit Schmerz und Tod. 5 O-Ton: Matthias Politycki' Wir sind eben nicht nur rationale Wesen, die durch Konsumwerte oder positive Signale des Zusammenlebens strukturiert sind. Nein, wir sind Menschen und deshalb zu 90 Prozent Tiere und sind auch gespeist von viel dunklen Motiven und Trieben, und sich darüber hinwegsetzen indem man die gar nicht mehr auf dem Schirm hat, ist hochmütig. Das ist falsch verstandene Aufklärung. Richtig verstandene hätte meiner Meinung nach auf jeden Fall das Irrationale immer auch mit zu bedenken. Musik 2: Orishas: A lo Cubana (EMI 7243 8 88601 2 3): Cayo huesco Zitat Politycki: Er konnte ja noch nicht einmal bei den hiesigen Begrüßungsritualen mithalten, wenn man ruck-zuck-ruck auf dreifach verschiedne Weise die Hände ineinanderschlug. Erzählerin: Noch fühlt Broder Broschkus sich fremd in Santiago de Cuba. Noch sucht er nicht den Zauber der Santeros und Paleros. Doch die abgeschnitten Schweinsköpfe, die ihn auf dem Markt und auf Straßenständen anstarren, faszinieren ihn. Auch der Hundekampf, den er beobachtet hat. Zitat Politycki: Woraufhin er begann, sich seines Verlangens nach Blut zu schämen, woraufhin er Stolz empfinden wollte auf sein Unvermögen zu töten, er, der Pazifist mit linksliberaler Vergangenheit, der anerkannte Kriegsdienstverweigerer, der hanseatische Sozialdemokrat durch und durch, auch als überzeugter Humanist hatte man seine Werte, abendländische Werte, von denen die hier gar keine Ahnung hatten in ihrem afrikanischen Mittelalter. 6 O-Ton: Matthias Politycki Was sucht einer wie Broschkus? Zunächst mal nichts. Außer dem, was er ja ursprünglich sucht, nämlich eine Frau. Das ist tatsächlich das Grundmotiv auch dieses Romans, ein ganz einfaches Motiv, ein gealterter Sack sucht ein junges Mädchen. Nur gerät er da in Welten, die dann plötzlich ein Surplus anbieten, den er gar nicht gesucht aber nun gefunden hat. Das Problem ist also weniger, was sucht Broschkus, sondern was findet er. Zitat Politycki: Und doch, und doch! Er mochte auf sich einreden, er mochte sich rügen, verdammen: Wie vor ein paar Wochen, beim Hundekampf, war er heut morgen einer der Ihren geworden, aufgrund derselben Gier, die sie alle empfunden, und darauf war er wirklich stolz. Stolz auf das Wilde, das also selbst in einem wie ihm darauf wartete, mit Wucht hervorzubrechen: Ja, einmal wollte er's erleben, das Schlachten! An diesem Nachmittag unter der türkisgrün, türkisblau changierenden Zimmerdecke begriff Broschkus, dass sie's ernst hier meinten, wenn sie einander versicherten, das Leben sei ein Kampf, begriff die Grausamkeit der Karibik, wie sie so geschickt sich unter Palmen zu verbergen wusste. Die Dunkelheit, begriff er, war dort am größten, wo's am hellsten schien. 7 O-Ton: Matthias Politycki Und das findet Broschkus. Er findet ein Gegenmodell, ob er es will oder nicht, ob er es gut findet oder nicht, zu all dem, was wir hier fast als schon So-muss-es-sein- Situation haben. Eigentlich können wir uns kaum vorstellen in unserer wohlgeordneten Gesellschaft, dass ein anderes Leben als unseres ähnlich sinnvoll und beglückend ist. 8 O-Ton: Feridun Zaimoglu Der Aufklärung laufen die Kinder davon. Erzählerin: Feridun Zaimoglu über die Helden seines Erzählbands "Zwölf Gramm Glück": 9 O-Ton: Feridun Zaimoglu Und bei diesen Kindern, die ich gezeichnet habe in dem Buch "Zwölf Gramm Glück", handelt es sich um desperate junge Männer und Frauen, die tatsächlich jener Welt den Rücken kehren, die sie erstmal kalt lässt. Sie sind ja aufgebrochen nicht um fremde Länder zu bereisen, sondern um sich vielleicht einmal auszusetzen. Erzähler: In den schon 2004 erschienenen Erzählungen rückt Zaimoglu die Erfahrung von Migrantenkindern der zweiten und dritten Generation ins Zentrum. Er begleitet sie auf ihren Wegen von Deutschland zurück in das Land ihrer Väter und Mütter. Anders als Broschkus der in der Fremde das ganz andere findet, suchen sie nach ihren verloren gegangenen Wurzeln. Musik 3: Mercan Dede: SU (Doublemoon DM 0023): Ab-i-La'l Zitat Zaimoglu: Der Altvaterglaube ist auf dem Lande zählebig, und für einen Augenblick sehne ich mich danach, im wahren Volk unterzutauchen, die einfachen Handgriffe des Lebens zu heiligen. Die Gottesfurcht hat die Bauern veredelt, und doch sind sie wundersamerweise ungeschliffen geblieben. Erzählerin: Der Erzähler dieser Geschichte folgt den Spuren eines Predigers. Ein anderer wird Zeuge, wie ein Hexer ermordet wird: Zitat Zaimoglu: Längst habe ich aufgegeben, nach meinen eigenen Regeln zu leben. Die alten Fundamente, von wenigen Sedimenten der Erde bedeckt und verhüllt, sind der wahre Boden unter meinen Füßen. Erzählerin: Vor dem Verdacht der bloßen Nostalgie schützt der 1964 in der Türkei geborene Autor sich, indem er seine Türkei-Heimkehrer mit deutschen Figuren vom "Typ Broschkus" konfrontiert, einem deutschen Gotteskrieger beispielsweise, dem gegenüber, dem gegenüber der Erzähler türkischer Herkunft zwar eine tiefe Verbindung zu den tieferen Sedimenten seiner Kultur spürt, jedoch auch so etwas wie eine geläuterte Distanz. "Gottes Krieger" ist eine Geschichte überschrieben, in der ein islamistischer Prediger namens Karl auftritt, der völlig in seinem fundamentalistischen Wahn aufgeht. "Umgürtet euch mit dem Keuschheitsgürtel der Gottesdiener", predigt er in Deutschland, "Menschenbomben gegen Sexbomben". In einer anderen Geschichte biedert ein Deutscher Namens Ben sich religiösen Fanatikern an, soweit, dass er dabei zum Mörder wird. 10 O-Ton: Feridun Zaimoglu Man redet von der Aufklärung, man redet von dem modernen Leben. Sie haben festgestellt, dass das nebelhaft ist. Dass es hier, weil sie so frei sind, das ist ja das paradoxe Moment, weil sie so frei sind, möchten sie sich eigentlich ein Schicksal vorstellen, das sie auf die Knie zwingt, das sie zur Unfreiheit zwingt. Sie wollen Magie, sie wollen Alchemie, sie wollen etwas, das ihrem Körper zusetzt. Sie wollen den Schmerz. Erzähler: "Das Helle vergeht, doch das Dunkle, das bleibt" - so steht es am Anfang und am Ende von Polityckis gut 700 Seiten starken Roman "Herr der Hörner". Broder Broschkus geht im Dunklen unter - ohne das jedoch so zu empfinden, ohne dass der Autor dies als Modell empfiehlt. Als Virtuose auf den hellen, benutzerfreundlichen Oberflächen bewegt sich dagegen Dariusch, der Protagonist in Navid Kermanis Roman "Kurzmitteilung". Erzählerin: Der professionelle Macher arbeitet als Eventmanager. Er beherrscht Gefühle und Verhaltensweisen für alle Lebenslagen, weiß stets genau, was in einer Situation gerade nützlich ist. Emotionen setzt er gezielt ein, inszeniert sie, nutzt sie aus. Kühl und distanziert beobachtet Kermani seinen Helden. 11 O-Ton: Navid Kermani: Er ist natürlich nicht sympathisch, das muss ich ganz klar sagen, aber er ist auch nicht unter Niveau unsympathisch. Und ich finde schon, dass er ziemlich genau beobachtet. Und vieles, was man ihm vorwerfen könnte, glaube ich, steckt in vielen von uns. Er macht das nur ein bisschen expliziter, auch sich selbst gegenüber. Dieses Taxieren, Situationen einschätzen, ich glaube nicht, dass das so singulär bei ihm wäre. Erzählerin: Nichts ist echt im Leben dieses Mannes um die vierzig, bis er vom Tod einer ihm gar nicht mal nahestehenden Person erfährt. Lapidar, per Kurzmitteilung erhält er die Nachricht. Der Tod berührt ihn, er weiß nicht warum. Er strauchelt. Sogar Musik vermag ihn plötzlich anzusprechen. Zitat Kermani: Sie war ruhig, durchaus traurig, zugleich entrückt, im positiven Sinne meditativ, hätte ich sagen wollen, schließlich meditieren nicht nur blonde Sackhosen in Turnhallen. Vor echter Spiritualität habe ich Respekt, gleich in welcher Religion sie wurzelt. Ich habe daran keinen Anteil, aber achte Menschen, die mit ihren angestammten, über Generationen gewachsenen Ritualen und Gebeten leben. Ich würde auch gern glauben. Zu beten, muss eine Wohltat sein, nicht nur, wenn jemand stirbt. Erzählerin: Navid Kermani, geboren 1967, stammt aus dem Iran, lebt in Köln, ist Orientalist und seit dem 11. September gefragter Spezialist für das Verhältnis des Abendlandes zum Islam. Er zeigt in seinem Roman einen Spieler, dem nichts heilig ist - fast nichts. 12 O-Ton: Navid Kermani: Er hat ja diese Sehnsucht nach dem Echten. Er weiß genau, wie künstlich sein Leben ist, wie künstlich seine Empfindungen sind, dass alles, was er denkt, eigentlich schon aus zweiter Hand ist. Er analysiert dauernd die Floskeln seiner Mitmenschen, aber wenn man ihn fragen würde - er spricht auch floskelhaft. Und wo er wirklich Respekt hat, ist - Picasso. Picasso ist echt. Mutter Theresa ist echt. Authentisch. Erzähler: Die Suche des saturierten Bürgers entwickelt sich dort, wo der Glaube an die Beherrschbarkeit des Lebens ein Vakuum hinterlassen hat, wo plötzlich Zweifel wachsen an der individuellen Verantwortung eines vernunftbegabten Wesens; wo die Möglichkeiten der Wissenschaft und der Betriebswirtschaftslehre nicht weiter führen. Sie bekommt eine neue Dimension, wenn der Suchende einbricht ins Tiefparterre der Zivilisation, einen neuen Irrationalismus feiert, archaische Verhältnisse idealisieret und die Leistungen der Aufklärung in Frage stellt. . Erzählerin: Tina Uebel und Navid Kermani zeigen uns gewöhnliche Figuren aus der modernen Geschäftswelt, zeigen, wie der vermeintliche Ausbruch auch nur wieder zurück in die alten Bahnen führt. Georg Klein lässt in seinem Roman "Libidissi" die dynamischen Vertreter einer modernen Welt im undurchdringlichen Labyrinth einer archaischen Gesellschaft untergehen, versetzt seine Leser zuletzt, in "Sünde Güte Blitz" staunend in eine Welt, die sie nicht im Griff haben, die von Geistern und Engel beherrscht ist. Zeigt der Autor dem Leser einfach nur die lange Nase? Der Leipziger Autor Uwe Tellkamp erzählt in seinem umstrittenen Roman "Eisvogel", wie ein junger Mann die Welt des "Haben-haben-haben-Wollens" seiner Väter und Freunde hinter sich lässt, weil er ihr "Geschwätz" satt, das Geld, so heißt es, zum Gleichnis fürs Leben macht und sonst ziemlich unverbindlich bleibt: Zitat Tellkamp: Ich hasste Ironie, konnte sie nicht ausstehen, die Ironiker glauben an nichts, haben nichts, bezweifeln alles, tunken alles in die saure Sauce ihrer scheinbar mit einem Lächeln versüßten Skepsis, geben alles der Lächerlichkeit preis, sind aber im Grund nur zynisch, Zyniker, lieber Patrik - Erzählerin: So wendet er sich an einen alten Freund: Zitat Tellkamp: Zyniker bauen keine Kathedralen. Erzählerin: Der Held des Romans folgt dem hohlen Pathos einer nationalen Erweckungsbewegung. "Wir brauchen einen Krieg" - das ist eine der Losungen, denen er folgt, "Die Wahrheit ist, dass wir gemacht sind, um zu töten und den Tod, mit dem andere uns bedrohen, abzuwehren." Erzähler: Rückbesinnung auf das Irrationale, auf Zauber und Gegenzauber, auf das Tier im Menschen setzt viel aufs Spiel. Da, wo Matthias Polityckis Held Broder Broschkus dem Zauber der Karibik erliegt, träumen die Menschen von einer anderen Zukunft. Luisito, Broschkus Zimmerwirt in Santaigo de Cuba zumindest, sehnt sich - und das ist auch symbolisch zu verstehen - endlich nach einem Telefon. Musik 4: Clan 537: Clan 537 (Cheiro Producoes ci 062602): Mi religion Zitat Politycki: Luisito mochte für hiesige Verhältnisse ein Intellektueller sein, einer, der sich's mit seinem latent abergläubischen Atheismus, den Umständen entsprechend, prächtig eingerichtet hatte. (...) Broschkus dagegen (...) war Zweiter Krieger, war auf dem Weg ins Irrationale, ins Inhumane, Broschkus hatte Blut geleckt. Dem einen fehlte noch immer das Telefon, dem anderen schon die Machete. 14 O-Ton: Matthias Polityck So wie Lowry mal gesagt hat, er wollte den ultimativen Roman über Alkoholismus schreiben, so wollte ich den ultimativen Roman eines spätzivilisierten, spätdemokratischen, wohl saturierten Mitteleuropäers schreiben, der einmal diesem Fehlläuten der Nachtglocke folgt. Nach diesem ganz anderen hin. Was dann passiert. Ohne das abzubremsen. Erzähler: Mit einer Sprache, die den Leser in Trance versetzen kann, folgt Matthias Politycki dem Ziel, das er hier in Anspielung auf Kafkas "Landarzt" formuliert. Mit seiner an orientalischen Geschichtenerzählern geschulten Beobachtungsgabe entwickelt Feridun Zaimoglu, angelehnt an die Erfahrungen seiner Mutter, eine auf den ersten Blick völlig entgegengesetzt verlaufende Entwicklung. In seinem Roman "Leyla" erzählt er von der großen Bewegung der Jüngsten von fünf Geschwistern aus tatsächlich archaischen Verhältnissen über Istanbul nach München und Berlin. 15 O-Ton: Feridun Zaimoglu Die Geschichte spielt ja in den 1950ern, 1960ern. Und da ist ja nicht nur Aufbruch gewesen. Davor war erstmal ein Einbruch. Erzählerin: Die Türkei als Ganze ist in der modernen Nachkriegsordnung angekommen, führt an der Seite der Vereinigten Staaten von Amerika Krieg im fernen Korea. Doch zu Hause, in der Gegend von Malatya, herrscht ein dichtes Regelwerk der Tradition, herrschen Glauben und Aberglauben. Die Vertreter der Ordnung halten sich fest an der Macht eines von Gott legitimierten Patriarchats, Männer schlagen ihre Frauen und Kinder, dulden keinen Widerspruch. Keine Frau, die sich dagegen auflehnt. 16 O-Ton: Feridun Zaimoglu Der Vater in dieser Familie, der sich als Schatten Gottes fast vorstellt allen und sagt, deswegen kann ich mir diese Freiheiten nehmen, dieser Vater ist ja ein Versager. Er versagt, weil er plötzlich es in dieser Gesellschaft nicht schafft, Geld zu verdienen. Musik 5: Mercan Dede: SU (Doublemoon DM 0023): Ab-i-Hayat Zitat Zaimoglu: Der Ehrlose steckt im Gefängnis, mein Sohn, sagt meine Mutter im Türrahmen, ich liebe dich, ich gebe mein Leben für dich hin. Erzählerin: Der Ehrlose? Der Vater ist auch noch ins Gefängnis gekommen. Leylas Brüder, vor allem Djengis, der Älteste, kratzen an seiner Macht. Die Mutter lässt das nicht zu: Zitat Zaimoglu: Doch ich lege jedem Verräter das Henkerseil um den Hals, auch wenn er mein Sohn ist. Hast du mich verstanden? Djengis starrt sie lange an (...). Ja, Mutter, sagt er, ich habe verstanden. Wir sind eine Familie, sagt meine Mutter, wer die Familie verrät, soll sterben. Erzählerin: Das Individuum, seine Wünsche und Hoffnungen gelten nichts. Die Mutter soll den Tyrannen doch verlassen? Wohin sollte sie denn gehen? "Gott soll mich von ihm erlösen" - zu mehr als zu diesem Seufzer kann sie sich nicht durchringen. So lange er lebt ... Doch es gärt auch in dieser Gesellschaft, der Leyla schließlich den Rücken kehrt. 17 O-Ton: Feridun Zaimoglu Die Winde der Moderne ziehen ja über diese kleine Stadt. Und Leyla, was macht Leyla? Sie ist keine, die sich auf die Traditionen beruft, die aber auch nicht von den Traditionen sich löst, sie hat was für einen Weg gefunden? Sie hat sich für das Leben entschieden. Sie, obwohl ihr das nicht zusteht, wie der Vater sagt, entscheidet sich als jüngste von fünf Geschwistern, sich der Familie auf dem traditionellen Wege zu entsagen, nämlich indem sie eine neue Familie gründet. Zitat Zaimoglu: Schafak Bey, Djengis, Tolga und auch die Großtante begleiten uns zum Istanbuler Hauptbahnhof, sie sprechen mich gelegentlich an, doch ich sehe durch sie hindurch, als seien sie Gespenster. Mein bisheriges Leben steckt in zwei Koffern, denke ich, nicht viel, um vor anderen Menschen bestehen zu können. Erzähler: Auf den ersten Blick könnte Zaimoglus Roman, anders als die Erzählungen, als Gegenentwurf zu Polityckis "Herr der Hörner" gelesen werden. Leyla befreit sich aus archaischen Verhältnissen, Broschkus versinkt in ihnen. Doch was erlebt Broschkus tatsächlich? Eine hier einmal kühn mit der anatolischen Realität verglichene kubanische Realität? Oder auch nur das, was er in sie hineinprojiziert? Matthias Politycki: O-Ton: Matthias Politycki Also man ist da niemals Individualist und das ist wohl das Entscheidende. Wir sind eine individualistisch verfasste Gesellschaft und als solche gerade in der Krise, weil wir den Individualismus seit der Aufklärung perfektioniert haben und gerade in unserer Generation - wir sind ja nun nach den 68ern die 78er eben die Vertreter der Individualität, die sich mit gar nichts mehr solidarisieren, sondern nur in den Kleinst-Zirkeln noch aktiv werden wollen. Das ist natürlich auf Kuba das krasse Gegenteil. Erzähler: So wie es in der türkischen Gesellschaft, wie Zaimoglu sie zeichnet, gärt und aufbricht, so wie Leylas Schrei nach individuellen Rechten und Freiheit in dem Roman hörbar wird, so gärt es auch in der kubanischen. Im schwarzen Kuba findet er Broschkus nur das Trugbild seiner Hoffnungen und Wünsche. O-Ton: Matthias Politycki Natürlich gärt es auch in Kuba und es wird in dieselbe Richtung gehen, nämlich eine Konsumgesellschaft. Und im Übrigen ist es unter der Hand ohnehin schon eine. Da spielen materielle Werte ja geradezu die Hauptrolle, es ist ja alles für Geld dort zu haben. Ich sag ja auch auf keinen Fall, das muss ich immer wieder betonen, der Weg führt zurück in diese Formen von Gesellschaft, nur: Es geht bei dieser Höherentwicklung Richtung individualistische Gesellschaft, es geht etwas verloren auch. Erzähler: An diesem Punkt treffen sich die Wahrnehmungen Polityckis auch mit denen Zaimoglus, spießen beide in ihren Romanen dasselbe Unbehagen auf. Die große, geradezu historische Vorwärtsbewegung, die Zaimoglu in seinem Roman "Leyla" Richtung Westen beschreibt, die Wanderung aus dem rückständigen Anatolien ins Zentrum eines aufgeklärten Europas, findet eine wichtige Unterbrechung. O-Ton: Feridun Zaimoglu In dieser linearen Bewegung ist auch dieser Rückgriff auf eine archaischere Welt enthalten. Denn es wird sich später zeigen, dass eben dieser gerade Weg auch angefochten wird, dass es nicht um die Geschichte, um die Familiengeschichte geht, die man mit Vektoren zeigen kann, sondern in der zweiten, spätestens in der dritten Generation schlägt etwas zurück, das in dieser Reise Leylas ja enthalten ist, nämlich das Versprechen der alten Welt, so einfach nicht unterzugehen. Erzählerin: In der Mitte des Romans folgt Leyla gemeinsam mit anderen Mädchen der Einladung ihrer besten Freundin Manolya in ihre Heimat. Manolyas Vater ist ein kurdischer Stammesfürst, dem nicht nur die Körper, die Arbeitskraft seiner Leute gehören, sondern auch ihre Seelen. Die Reise führt sie geographisch weiter Richtung Osten, auf der Zeitachse zurück ins Mittelalter. Leyla fürchtet sich vor den "Wilden", wie Manolya sagt, fühlt sich in deren Welt aber freier und geborgener als zu Hause. Und dann das überwältigende Schauspiel der Natur: die Berge, der Euphrat. Musik 6: Mercan Dede: SU (Doublemoon DM 0023): Ab-i-La'l Zitat Zaimoglu: Wie armselig sind doch wir Menschen, denke ich, wir schreiben und lesen Geschichten über die große Liebe, doch die wahre Kraft enthüllt sich uns immer dann, wenn wir den Blick von den Menschen abwenden. Erzählerin: Im Roman taucht an dieser Stelle, buchstäblich am Ende der Welt, erstmals das Wort Glück auf. Zitat Zaimoglu: Heute ist ein Tag, an dem ich glücklich gewesen bin. O-Ton: Feridun Zaimoglu Später, viel später, wird dieses Bild, nämlich die Reise ins Hinterland der Tradition, in die tatsächlich wirklich stramme archaische Welt wieder aufbrechen. Erzähler: So schlägt Zaimoglu die Brücke von dem Roman zurück zu den zuvor erschienenen Erzählungen. O-Ton: Feridun Zaimoglu Wie ein böser Traum ergießen über die Menschen dieser späteren Generationen, die ihre Sehnsüchte, ihre Träume, ihre Magie, durch die Aufklärung zerstört sehen, die daraus auch einen Vorwurf machen werden. Es ist ja schön und gut, es war richtig, dass diese Welt der Traditionen untergegangen ist, nur jetzt ist es auch nicht in Ordnung. Erzähler: Es geht auf dem Weg zu einer modernen, individualistisch organisierten Gesellschaft etwas verloren, sagt Matthias Politycki mit Blick auf Leute wie Broder Broschkus. Zaimoglus Figuren erleben dies wie im Zeitraffer. O-Ton: Matthias Politycki Wir leben in klar strukturierten mitteleuropäischen Verhältnissen, und im Übrigen, die begrüße ich auch! Das ist eine Kulturleistung, die wir erbracht haben, uns im Lauf der Jahrhunderte so zu organisieren und da darf es keinen Schritt zurück geben. Aber es darf geben und ist seit einiger Zeit schon im Gange, die Verkrustungen, die eine solche Kulturleistung mit sich bringt, wieder aufzubrechen. Wir können uns nicht nur mit aufgeklärten Teeroberflächen versiegeln sondern wir müssen porös bleiben für das, woher wir auch kommen. Musik 1: Clan 537: Clan 537 (Cheiro Producoes ci 062602) Mi religion Musik 2: Orishas: A lo Cubana (EMI 7243 8 88601 2 3) Cayo huesco Musik 3 Mercan Dede: SU (Doublemoon DM 0023) Ab-i-La'l Musik 4 Mercan Dede: SU (Doublemoon DM 0023) Ab-i-Hayat 16