DEUTSCHLANDFUNK Redaktion Hintergrund Kultur / Hhörspiel Redaktion: Karin Beindorff Dossier Ewig strahlend? (Teil II) Die radioaktive Vergiftung der Ozeane Von Achim Nuhr Regie: Karin Beindorff Technik I Technik II Sprecherin: Ursula Illert Übersetzer 1 Zateyev , Dok.film Übersetzer 2 Handler, Curtis Sammie O'Grassow Übersetzerin : St. Pfirman Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar - Sendung: Freitag, d. 18. Dezember 2009, 19.15 - 20.00 Uhr ATMO 1 SPRECHERIN 4. Juli 1961, Atlantischer Ozean : Das sowjetische Atom-U-Boot K-19 taucht mehrere Hundert Meter tief. Musik: CD Albi P. SPRECHERIN Nahe Grönland bemerkt Kapitän Nikolai Vladimirovich Zateyev, ein Leck in den Kühlpumpen für den hinteren Atomreaktor. Bald fallen die Pumpen ganz aus. Der Atomreaktor läuft immer heißer. Schließlich droht das Ganze U-Boot mitten im eisigen Meer zu verglühen. O-TON 1 russ. ÜBERSETZER 1 Ich rief nach Freiwilligen. Alle wollten mitmachen und so bildete ich drei Teams, die am Reaktor arbeiten sollten. Sie trugen Schutzkleidung. Nach maximal fünf Minuten taumelte der erste aus der Reaktorzone zurück. Er riss sich die Schutzmaske vom Kopf und fing sofort an, weißen Schaum zu speien. Den anderen erging es kurz darauf genauso. Wir isolierten die Kranken und brachten sie in unser Bordhospital. Wir versuchten zwar, ihnen zu helfen. Aber leider hatten wir damals nicht die richtige Medizin dabei. Musik: CD Albi P. SPRECHERIN Die sowjetische Regierung meldete damals nur kurz "ein Unglück im Nordatlantik". Ansage: Ewig strahlend? Die radioaktive Vergiftung der Ozeane Von Achim Nuhr O-TON 2 russ ÜBERSETZER 1 Meine Männer waren bald nicht mehr wiederzuerkennen: Ihre Haut rötete sich. Die Hände schwollen an. Aus den Haaren floss irgendeine Flüssigkeit. Wir konnten damals kaum einschätzen, wie viel Strahlung sie abbekommen hatten. Aber als wir zurück an Land gekehrt waren und sie in ein gutes Hospital gebracht hatten, wurde die Dosis genau gemessen: 20 Röntgen. Unsere Kameraden waren damit selber zu einer Strahlenquelle geworden. SPRECHERIN Schiffe der sowjetischen Marine schleppten das beschädigte U-Boot zur Kola-Halbinsel. Dort, unweit der Grenze zu Norwegen und Finnland, liegt ein Hafen der russischen Nordmeerflotte: Paljárne. O-TON 3 russ ÜBERSETZER 1 Sechs unserer Leute starben damals innerhalb einer Woche. Ein anderer konnte zwar später sogar noch eine Zeit lang Volleyball spielen. Doch eines Tages starb auch er plötzlich. Alle waren junge Burschen. Unser Militärkommandeur wollte aus der Todesursache ein Geheimnis machen. Deshalb stand in den Akten der Verstorbenen nicht etwa "Strahlenkrankheit", sondern jeweils irgendeine xbeliebige Krankheit. SPRECHERIN Die Geschichte des K-19, des ersten strategischen U-Boots der Sowjetunion, sollte vertuscht werden. Deshalb durfte Kapitän Zateyev die wahren Begebenheiten auch erst nach dem Ende der Sowjetunion erzählen ? kurz bevor er 1998 selbst an einer Lungenkrankheit starb. Quellen im Internet behaupten, dass seitdem weitere 20 Menschen an den Folgen des Unglücks gestorben seien. Eine amtliche Zahl gibt es bis heute nicht. Und mit dem Abwracken des U-Bootes ist die Geschichte noch lange nicht zu Ende: O-TON 4 russ ÜBERSETZER 1 Wir mussten vermeiden, dass der Atomreaktor explodiert. Deshalb pumpten wir 120 Tonnen Meerwasser in den Reaktor hinein. Als der Reaktor später etwas abkühlte, pumpten wir dieses Wasser wieder hinaus ins Meer. Dabei wurden große Mengen radioaktiver Strahlung freigesetzt, etwa so viel wie bei der Explosion einer Atombombe. Mir war schon klar, was wir da ins Meer pumpten. SPRECHERIN Die damals freigesetzten Radionuklide strahlen bis heute im Meer weiter. Trotzdem war die K-19-Katastrophe nur ein kleines Kapitel der radioaktiven Verseuchung der Ozeane: Heute liegen ganze U-Boote auf dem Meeresgrund, verschrottet mitsamt Atomreaktoren, wie Umweltorganisationen anprangern und Militärs einräumen. Tag für Tag leiten atomare Wiederaufbereitungsanlagen ihre radioaktiven Abwässer ins Meer. Die damals beim Reaktorunfall in Tschernobyl freigesetzte Strahlung ist bis heute in einigen Meeren nachzuweisen. Auch Atombomben-Tests haben Radionuklide mit einer Halbwertzeit von bis zu 24.000 Jahren in den Weltmeeren verteilt. Und schließlich wurden über Jahrzehnte HundertTausende Fässer mit radioaktiven Abfällen in die Ozeane verklappt. Welche Mengen und Sorten an radioaktiven Abfällen versenkt wurden, wird sich wohl nie mehr genau klären lassen. Verantwortliche Behörden, Militärs und private Unternehmen haben kein Interesse an Aufklärung. Viele Stellen wiegeln auf Nachfrage einfach ab. Obwohl heute Spuren von Radionukliden sogar in Speisefischen nachgewiesen werden: rund um die Erde, auch in Deutschland, Russland und den USA. Allein an der russischen Kola-Halbinsel lagert bis heute radioaktiver Müll mit einer Gesamtstrahlung von etwa 27 Millionen Curie. Das entspricht etwa der Hälfte der in Tschernobyl freigesetzten Strahlung. So schätzt die weltweit tätige norwegische Umweltorganisation Bellona allein für die dortige Andreyeva-Bucht den Grad der Verseuchung. Detailliertere Messungen erlauben die russischen Behörden bis heute nicht. Dabei gibt es viele Interessenten: Schon nach dem Ende der Sowjetunion startete Greenpeace eine Kampagne für nuklearfreie Meere. Ihr Koordinator Joshua Handler dokumentierte bald, dass die sowjetische Marine sieben Atomreaktoren mitsamt Brennstäben in der Barents- und Karasee versenkt hatte. Umweltorganisationen wollten die küstennahen Regionen entlang der riesigen Doppelinsel Nowaja Semlja in Augenschein nehmen. O-TON 5 They basically refuse ... to solve this problem. ÜBERSETZER 2 Die Russen verweigern jeden Zugang, der notwendig wäre, um die betroffenen Zonen genau zu untersuchen. Sprecherin: Joshua Handler : ÜBERSETZER 2 weiter Viele Reaktoren sind in flachem Wasser versenkt worden, mitsamt verbrauchten Brennstäben. Etwa 20, 30, 50 Meter tief in kleinen Buchten. Es wäre kein Problem, die Reaktoren zu lokalisieren, sofern man Zugang hätte. Stattdessen sagen die russischen Behörden, in diesem Fall die Marine: Ihr bleibt schön viele Kilometer entfernt von diesen Orten. So gleicht das Ganze der Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Es wäre leichter, wenigstens schon mal in den Heuhaufen hinein zu dürfen. SPRECHERIN Handlers Versuch, die Folgen der Beseitigung des strahlenden Mülls aufzuklären, endete ganz plötzlich: In einer kalten Oktober-Nacht im Jahr 1999 stürmte der russische Geheimdienst FSB das Moskauer Appartment des us-amerikanischen Staatsbürgers, durchsuchte es und beschlagnahmte seinen Laptop. Anschließend beschuldigte ihn der FSB, für ausländische Nationen spioniert zu haben: derselbe Vorwurf wurde gegen den russischen Wissenschaftler Igor Sutyagin erhoben, der Handler bei seiner Doktorarbeit unterstützt hatte. Handler flüchtete aus Russland und wurde niemals angeklagt. Doch den russischen Atomphysiker Igor Sutyagin, der wie sein us-amerikanischer Mitstreiter lediglich mit frei zugänglichen, öffentlichen Dokumenten gearbeitet hatte, traf die ganze Härte staatlicher Willkür: Er wurde 2004 wegen angeblicher Spionage zu 15 Jahren Zwangsarbeit verurteilt und sitzt bis heute in einem Straflager bei Archangelsk; Amnesty International stuft ihn als unschuldigen politischen Gefangenen ein und bemüht sich mit vielen anderen Organisationen bisher vergeblich um seine Freilassung. Im selben Jahr 2004, als Sutyagin verurteilt wurde, veröffentlichten russische Behörden endlich einige wenige Fakten zum Atommüll an den Küsten des Landes. Das Motiv allerdings war einfach zu durchschauen: Die Regierung wollte Mittel für einen "strategischen Masterplan" bei der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung beantragen. Mit dem Geld sollte der Nordwesten Russlands von nuklearen Hinterlassenschaften gesäubert werden, vor allem die Küsten und Meere. Doch bis heute können die Mitarbeiter der Umweltschutzorganisation Bellona kaum nennenswerte Fortschritte feststellen. Dem wird aus Moskau nicht widersprochen. Erst Anfang dieses Jahres wurden erstmals einige einzelne Container mit radioaktivem Müll gesichert und abtransportiert. Noch heute gelten Atomtechnologie und ihre Industrie aus Sowjetzeiten vielen russischen Patrioten in Politik und Verwaltung als technische Errungenschaft, als Fortschritt. Kritische Stimmen sind eher selten: O-TON 6 russ ÜBERSETZER 1 Ich habe herausgefunden, dass die Sowjetunion ihre radioaktiven Abfälle seit jeher in die See geleitet hat: Und zwar von Anfang an, seitdem sie atomar betriebene Schiffe nutzte. Sprecherin: Andréi Zolotkóv ist heute Leiter der Bellona-Geschäftsstelle in der russischen Hafenstadt Murmansk O-TON 6 russ weiter ÜBERSETZER 1 Einrichtungen, die verbrauchtes radioaktives Kühlwasser hätten speichern können, wurden gar nicht erst geplant. Und deshalb gab es einfach keine. SPRECHERIN Das erste zivil betriebene Atomschiff war ein Eisbrecher und operierte ab 1959 zwischen Finnland und der Tschuktschen-Halbinsel, also nicht weit von Alaska entfernt. "Lenin" hiess das Schiff und ihm folgte eine Flotte von acht weiteren Atom-Eisbrechern. Bis Anfang der 90er-Jahre kamen fast 240 weitere schwimmende Atomkraftwerke hinzu: vom Zerstörer bis zum Untersee-Boot. Deren Abwässer landeten allesamt im Meer. Bald wurden auch belastete Abwässer von Land auf Schiffe verladen und von dort ins Meer verklappt. Andréi Zolotkóv arbeitete damals noch für eine sowjetische Gesellschaft, die Atomschiffe betrieb: die Schiffsgesellschaft Murmansk. So kann er genau beschreiben, wie die 'Entsorgung' damals vonstatten ging: O-TON 7russ ÜBERSETZER 1 Zuerst wurde ein großes Rohr quer über das Schiffsdeck gelegt. Durch dieses Rohr wurde Meerwasser gepumpt, mit großem Druck von einer Seite über das Schiff hinweg bis zur anderen Seite. Dann wurde ein kleineres Rohr an das große angeschlossen und durch dieses kleine Rohr Abwasser zugeleitet. So wurde das radioaktive Abwasser verdünnt und im Meer verklappt. SPRECHERIN Weil die Abwässer unterwegs bei voller Fahrt abgepumpt wurden, verteilten sie sich auf den gesamten Aktionsbereich der Schiffe. Diese Methode war billig. Und deshalb ist es kaum verwunderlich, dass bald auch fester Müll hinterhergeworfen wurde. O-TON 8 russ ÜBERSETZER 1 Fester radioaktiver Abfall wurde zuerst an Land in großen Containern gelagert. Später wurden diese Container auf Schiffe geladen und von dort einfach ins Meer geschmissen - als wären sie nichts Besonderes. Oft schwammen diese Container zuerst an der Wasseroberfläche, wegen der Hohlräume im Innern. Dann schossen die Besatzungen mit Gewehren auf die Container, bis sie sanken. Später hat man die Container mit Ballast gefüllt: mit Steinen und Sand. Die Container wurden übrigens nie wirklich dicht verschlossen. Aber es ging ja auch nicht darum, den Austritt von Radioaktivität zu verhindern. Man wollte einfach nur den Müll loswerden. SPRECHERIN Nach und nach gestatteten die russischen Behörden handverlesenen Wissenschaftlern, wenigstens abseits der Ufer durch die Kara- und Barentssee zu fahren und Proben zu nehmen. Die Wissenschaftler mussten sich damit zufrieden geben, im Meer ein wenig Wasser zu zapfen und in ihre Laboratorien mitzunehmen. ATMO 2 darüber Der deutsche Geochemiker und Umweltwissenschaftler Peter Schlosser untersuchte einige der Wasserproben an seinem Arbeitsplatz, dem Lamont-Doherty Erdobservatorium der Columbia-Universität im Staat New York: O-TON 9 Schlosser Die Proben kommen in Kupferrohren - ungefähr ein Meter lang - ungefähr 40 Gramm Wasser. Die Kupferrohre sind abgequetscht mit Stahlklemmen und damit hochvakuumdicht verschlossen. Was wir nun hier tun müssen, ist: Wir müssen alle Gase aus diesen 40 Gramm Wasser extrahieren und in eine Glasampulle überführen, die dann abgeschmolzen wird und dann abgelagert werden kann bis zur massenspektrometischen Messung. SPRECHERIN Anschließend wird das Meerwasser in einen Kolben gefüllt und geschüttelt. Ein System von Fallen separiert einzelne Gase voneinander. Sie werden anschließend getrennt in einzelne Ampullen überführt. Dann wird jedes Gas auf Radionuklide untersucht. Am Ende zeigen Untersuchungsgeräte eindeutig: Wasserproben aus der Kara- und Barentssee enthalten Tritium, einen gefährlichen, gasförmigen Betastrahler. Doch nähere Untersuchungen ergeben: Das Tritium stammt gar nicht von versenkten Atomabfällen, sondern aus einer anderen gefährlichen Quelle: O-TON 10 Schlosser Das Tritium stammt aus der Atmosphäre und es wurde hauptsächlich durch die oberirdischen Kernwaffentests in die Atmosphäre gebracht. Das heißt das natürliche Tritium war in 5 Tritiumeinheiten enthalten, während der Atomtests haben wir das erhöht auf 1.000 bis 2.000 Tritiumeinheiten. SPRECHERIN Die radioaktive Strahlung durch Tritium in der Kara- und Barentssee wird in den nächsten Jahrzehnten abklingen, weil Tritium eine relativ kurze Halbwertzeit von etwa 12 Jahren hat. An den Ausbreitungswegen des Tritiums kann Peter Schlosser heute nachvollziehen, welche Wege Radionuklide in den Strömungen der Meere zurücklegen: O-TON 11 Schlosser Da Tritium praktisch überall zu finden ist und wir den Eintrag von der Atmosphäre in den Ozean sehr gut quantifizieren können, ist es ein geeigneter Spurenstoff, um Ausbreitungspfade und Ausbreitungszeiten zu studieren. Falls andere Radionuklide freigesetzt würden, würden die den gleichen Ausbreitungswegen folgen und würden die gleiche Zeit benötigen, um von einem Punkt zum anderen im Arktischen Ozean zu gelangen. SPRECHERIN Bisher wurden in der offenen See noch keine Radionuklide aus sowjetischen Atomreaktoren gefunden. Die Reaktoren liegen bis heute im seichten Wasser des Schelfs, des flachen küstennahen Meeresbodens der russischen Karasee. Von dort machen sich einmal freigesetzte Radionuklide auf einen sehr langen Weg, wie Peter Schlosser nachweist: Zuerst weg von der Küste - in Richtung offenes Nordpolar-Meer. Dann driften sie von dort mit Wasser und Eis nach Süden, um anschließend zwischen Grönland und Spitzbergen durch die Framstraße abzufließen: in das Europäische Nordmeer, Richtung Norwegen und Schottland. O-TON 12 Schlosser Wir haben abgeschätzt, dass die mittlere Verweildauer der Wassermassen auf dem Schelf ungefähr drei Jahre ist. Das Wasser ist im Mittel einige Jahre auf dem Schelf, bevor es in den zentralen arktischen Ozean fließt. Von dem Zeitpunkt ab, wenn es den zentralen arktischen Ozean erreicht, bis zu dem Zeitpunkt, wo das Wasser durch die Framstraße aus dem arktischen Ozean abfließt, haben wir Abschätzungen, die zwischen 5 und 10 Jahren in etwa liegen. SPRECHERIN Radionuklide könnten sich irgendwann langsam auf den langen Weg machen. An der Quelle - dem Versenkungsort - ist bisher kaum etwas unternommen worden. Die Mündung im Auge zu behalten, ist praktisch unmöglich: Das Nordpolar-Meer ist etwa 34mal so groß wie Deutschland. Hinter der Framstraße liegen dann das Europäische Nordmeer und die Nordsee. O-TON 13 Schlosser Falls Radionuklide freigesetzt werden, dann werden sie mit Sicherheit aus dem arktischen Ozean und aus Grönland und der Islandsee herausgespült werden in den Atlantik. Meiner Meinung nach wird die Verdünnung sehr hoch sein an dem Punkt. Ich würde rein subjektiv zu dem Zeitpunkt mit dem jetzigen Wissen sagen, dass es dann keine Gefahr mehr darstellt. Die ganze Diskussion über den Pegel, ab dem gewisse Stoffe oder Radionuklide tatsächlich zu messbaren oder gut erfassbaren Reaktionen führen, ist sehr kontrovers und ist einfach nicht genug durch intensive Forschung oder Forschung mit festen Schlussfolgerungen versehen. Das heißt, wir müssen leider einige Fragezeichen offen lassen. SPRECHERIN Peter Schlosser und seine Kollegen beobachten seit mehr als zwei Jahrzehnten die betroffenen Meere. Die meisten Szenarien gehen davon aus, dass gefährliche Objekte, wie versenkte Atomreaktoren oder unzählige Fässer mit Atomabfällen, langsam korrodieren und dabei nach und nach Spaltmaterial freisetzen. Musik: CD Albi P. SPRECHERIN Es sind auch dramatischere Ereignisse denkbar: Schlossers Kollegin Stephanie Pfirman untersucht arktische Eisberge. Deren untere Kanten gleiten oft in mehr als 25 Metern Tiefe durch das Meerwasser - tief genug, um mit ihrer gewaltigen Kraft versenkte Abfallcontainer zu rammen. Die Wucht eines Zusammenpralls würde von den Containern kaum etwas übriglassen. O-TON 14 Pfirman So, potentially, these could move ... gouge the sea floor. ÜBERSETZERIN Eisberge könnten mit Müllcontainern kollidieren und sie dabei aufreißen, wie ein Bulldozer. Dabei könnte Material schlagartig freigesetzt werden. Eine weitere potentielle Gefahrenquelle sind die Gletscher: Wo sie in den Ozean dringen, brechen große Eisstücke ab und dringen dann tief ins Wasser. Solche Eisstücke können sich sogar in den Meeresboden bohren und dann von dort in die Höhe ragen. SPRECHERIN Die Eisberge der Arktis sind selbst zu Trägern von Schadstoffen geworden. Die Kolosse sehen anders aus, als man sich das üblicherweise vorstellt: Die meisten sind nicht strahlendweiß, sondern schmutzigbraun. Das liegt an Ablagerungen, die gemeinsam mit dem Wasser zu Eis frieren. Meistens handelt es sich um harmlosen Bodensatz von den Küsten, manchmal auch um Müll. Stephanie Pfirman interessiert sich besonders für Sedimente, die langsam aus dem Landesinnern Sibiriens bis in den Arktischen Ozean wandern. Der Bodensatz wandert in Eisbrocken, die auf mächtigen sibirischen Flüssen wie dem Ob und dem Jenissei nordwärts fließen - in Richtung Nordpolarmeer. Entlang dieser Flüsse liegen auch die lange geheimen Städte, in denen früher für das Nuklearprogramm der Sowjetunion geforscht wurde: wie Tomsk-7 am Ob und Krasnojarsk-26 am Jenissei. Viele Flussufer sind dort heute gesperrt, weil sie radioaktiv verseucht wurden durch Abwässer von Nuklearfabriken. Auch Sedimente von diesen verseuchten Ufern wandern Huckepack mit dem Wintereis flussaufwärts nach Norden. Irgendwann im Frühling oder Sommer schmilzt das Eis und setzt die Sedimente wieder frei - bis zum Beginn des nächsten Winters. Nach Jahren kommt Bodensatz auf seiner Reise im Nordpolarmeer an. Dort ist es dann so kalt, sagt Stephanie Pfirman , dass Eisberge im Sommer nur noch teilweise schmelzen: O-TON 15 Pfirman What happens is that ... from the coastal area. ÜBERSETZERIN Im Nordpolarmeer schmilzt immer nur ein kleiner Teil eines Eisbergs: und zwar dort, wo er aus dem Wasser in die Luft ragt. Gleichzeitig nimmt derselbe Eisberg neues Eis auf: nämlich unterhalb der Wasseroberfläche; dort, wo er von extrem kalten Wasser umschlossen ist. Eisberge bilden sich nahe der Küsten ? dort, wo normalerweise auch viele Schadstoffe zu finden sind. Während sich ein Eisberg von der Küste fort bewegt, setzt sich zwar unten neues, sauberes Eis fest. Aber oben, nahe seiner Spitze, schmilzt belastetes Eis und setzt dabei auch gesammelte Schadstoffe frei. SPRECHERIN An leicht nachzuweisenden Giften lassen sich Verbreitungswege nachverfolgen: zum Beispiel polychlorierten Biphenylen, Pflanzengiften wie DDT und Schwermetallen wie Kadmium. Diese Schadstoffe dringen schon seit Langem über Flüsse bis in die Arktis vor. Dort sind sie sogar in den Körpern von Eisbären und Pinguinen nachweisbar. O-TON 16 What would happen is ... they can cause damage. ÜBERSETZERIN Belastetes Eis enthält oft Schadstoff-belastetes Plankton. Das Plankton wird von kleinsten Meerestieren verzehrt. Diese Tiere werden ihrerseits von Fischen gefressen - zum Beispiel vom Arktischen Kabeljau. Seehunde lieben Kabeljau und fressen ihn massenweise. Eisbären verspeisen ihrerseits sehr gerne Seehunde. Sobald eine Nahrungskette am unteren Ende belastet wird, wandern die Belastungen von dort immer weiter nach oben. Das nennen wir Bioakkumulation, also Anreicherung, denn von unten nach oben konzentrieren sich die Schadstoffe immer weiter. Und das kann Tiere schädigen. ATMO 3 O-TON 17 Nielson We would get on board towards ... what we were doing. ÜBERSETZER 1 Wenn wir hinausfuhren, ging es stets in Richtung der Farallon-Inseln. Die liegen rund 40 Kilometer vor San Francisco. Irgendwo schmissen wir dann das gesamte radioaktive Material über Bord: auch mal 55 gelbe Tonnen, die oben zu zementiert worden waren. Manchmal sanken die Fässer nicht von allein, sondern schwammen auf der Meeresoberfläche. Das ging natürlich nicht. Was taten wir also? Wir nahmen Gewehre und schossen auf die Fässer, bis sie endlich sanken. Ich weiß nicht, ob das gegen radioaktiven Abfall schützt. Aber so haben wir das jedenfalls damals gemacht. SPRECHERIN Ein Ausschnitt aus dem Dokumentarfilm "Aus den Augen, aus dem Sinn" des größten öffentlichen Fernsehproduzenten der USA, der WGBH in Boston: Der us-amerikanische Müllverklapper Ray Nielson erzählt darin aus der Nachkriegszeit. Schon in den 40er-Jahren versuchten er und seine Kollegen, strahlenden Müll mit Schusswaffen im Meer zu "entsorgen". Die USA besaßen nach dem 2. Weltkrieg jahrelang ein Atommonopol: Bis 1949 produzierten nur sie Atombomben. 1951 wurde erstmals in den USA Atomstrom erzeugt. Und 1954 verließ das erste atomgetriebene Schiff der Welt einen us-amerikanischen Hafen: das Marine-U-Boot Nautilus. Der erste Atomkomplex der Welt produzierte bald auch den ersten radioaktiven Müll. Und dieser Müll wurde vor allem ins Meer geworfen. Der Verklapper George C. Parry war damals auf der anderen Seite der USA, am Atlantik tätig: an der Ostküste vor Boston. O-TON 18 Parry What we dumped was mostly ... and that's on record. ÜBERSETZER 2 Wir verklappten meistens Sachen, die radioaktiv belastet waren: wie Arbeitskleidung, Werkzeuge, Handschuhe. - Verklappten Sie ausschließlich radioaktives Material? - Nein, damit hätte ich nicht genügend Geld verdienen können. Ich nahm damals jeden Auftrag an: Chemikalien aller Art, Explosivstoffe, Zündstoffe, Gifte. Alles, was niemand sonst übernehmen wollte. - Wer waren Ihre Kunden? - Alle, die schon damals mit Radioaktivität experimentierten: vom Massachusetts Institute of Technology, MIT, bis zu kleinen Laboren. Dann inserierte ich im "Nuklearmagazin". Danach hatte ich ein halbes Jahr lang jeden Tag einen neuen Kunden. - Wie viel radioaktives Material haben Sie damals insgesamt verklappt? - In Tonnen oder Volumen? - Wie könnten Sie es denn selbst am besten beschreiben? - Ach, eigentlich ist das auch egal. Weil ich sowieso keine Ahnung habe, wie viel es war. Die Atomenergie-Kommission fragte mich einmal dasselbe wie Sie, so etwa im Jahr 1955 war das. Und ich habe einfach gesagt, dass es 3 300 Fässern gewesen wären. Ich hatte zwar eigentlich keine Ahnung, aber so steht es jetzt jedenfalls in der Akte. (lacht) SPRECHERIN In den USA wurden später offizielle Dokumente zu den Verklappungen veröffentlicht. In einem Dossier für das Repräsentantenhaus listete die Umweltagentur der USA - die Environmental Protection Agency, kurz EPA - scheinbar exakt auf, wer wo was versenkt haben soll. Unter "Bucht von Massachusetts" taucht der Name "Crossroads Marines Disposal" auf, also "Crossroads Meeresentsorgung". Das Unternehmen mit dem wohlklingenden Namen versenkte nach Aktenlage exakt 4.008 Container mit einer Strahlung von genau 2 440 Curie, und dies im Zeitraum 1952 bis 1959. Wer den Dokumentarfilm der Bostoner Stiftung gesehen hat, weiß, was er von diesen Angaben zu halten hat: Das Unternehmen Crossroads bestand aus dem alten Kutter von George C. Parry. Und die Daten beruhen auf den unzuverlässigen Angaben, die er damals gegenüber den Behörden gemacht hatte. William R. Curtis arbeitete damals bei der staatlichen Umweltagentur EPA : O-TON 19 Curtis You have to remember ... concerns to worry about. ÜBERSETZER 1 Sie müssen bedenken, dass die meisten Verklappungen Ende der 40er-Jahre, Anfang der 50er-Jahre geschahen. Damals gab es nicht so eine Besorgnis wie heute. Da kamen nicht Leute wie Sie für ein Interview. Weil sich niemand kümmerte. Es ging nur darum, das Zeug loszuwerden. Nun hatten wir hier schon eine Reihe von Leuten wie Sie und alle fragen uns: Warum machen Sie nicht noch mehr Studien? Ja, das sollte auch periodisch geschehen. Aber wir wägen ab: zwischen vorhandenen Ressourcen und zu erwartenden Problemen. Und die Agentur hat schon oft erklärt - in Berichten, im Fernsehen, in Filmen - dass niemand gesundheitliche Bedenken haben muss. SPRECHERIN Doch die USA haben der Internationalen Atomenergie-Organisation in Wien mitgeteilt, dass von 1946 bis 1970 über 90 000 Container mit radioaktivem Abfall vor ihren Küsten versenkt wurden. Kann man diese gewaltigen Mengen pauschal für unbedenklich erklären? Und wer will mehr als 90 000 im Meer verklappte Container überwachen? O-TON 20 where the barrels were disposed off ... we are not aware of it - sure. ÜBERSETZER 1 Dort, wo die Fässer beseitigt wurden, würde ich nicht erwarten, dass die Fässer, von denen wir wissen ... da würde ich nicht erwarten, dass irgendeines von denen zurück an Land geschwemmt wird. Wegen der Lage der Fässer und der Mechanismen, die nötig wären, um diese Fässer durch den Ozean bis an die Strände zu schwemmen. Falls aber irgendjemand nur eine Meile vor der Küste ein Fass weggeschmissen hat und wir davon nichts wissen - das wäre sicher möglich. SPRECHERIN Doch in ihren Dokumenten gibt die Umweltagentur der USA auch über die Lage der Fässer scheinbar genau Auskunft: Sie sind auf Karten mit Koordinaten als "Abfallbeseitigungsstellen" eingezeichnet. Obwohl die Müllfässer damals in Wirklichkeit einfach irgendwo ins Meer gekippt wurden. Ende der 80er-Jahre lag das Fanggebiet des Fischers Sammie O'Grassow vor Boston - dort, wo Unternehmen wie "Crossroads Meeresentsorgung" radioaktives Material versenkt hatten. Auch O'Grassow kommt in dem Dokumentarfilm zu Wort: An einem Arbeitstag im Jahre 1989 machte der Fischer einen ungewöhnlichen Fang: In seinem Netz lagen ein paar Fässer. Vorsichtig setzte er das Netz mitsamt Fässern auf dem Deck seines Schiffs ab. O-TON 21 The deck of the boat ... 2 or 3 times a day. ÜBERSETZER 2 Das Deck meines Bootes ? plötzlich war es voller Chemikalien - gelb, rot. - Die Chemikalien hatten Farben? - Ja, sie waren rot und gelb. Und seitdem wird mir zwei- oder dreimal am Tag schwindlig. Jetzt wird mir jedes Mal, wenn ich fischen gehe, schwindlig. SPRECHERIN Sammie O'Grassow erkrankte. Doch woran? Als er damals die ausgetretener Chemikalien bemerkte, warf er die Beweisstücke schnell ins Meer zurück. Nur eines konnte er sich merken: Ein Teil der Fässer war zubetoniert gewesen - wie die Fässer, die George C. Parry ins Meer geworfen hatte. O-TON 22 In massachusetts bay ... they didn't answer. ÜBERSETZER 2 In Massachusetts haben Fischer mit ihren Netzen angeblich Fässer hochgezogen. SPRECHERIN: William R. Curtis von der Umweltagentur EPA: ÜBERSETZER 2 weiter Wir haben die Fässer nie selbst gesehen, weil sie angeblich gleich wieder zurückgeworfen wurden. Ein Fischer oder zwei haben Schadensersatz-Ansprüche gestellt, weil sie Krankheitssymptome hatten. Ich glaube, sie haben den Staat Massachusetts verklagt. Aber es kam nie heraus, ob die heraufgezogenen Fässer radioaktiven oder nicht-radioaktiven Abfall enthielten. Wir beschäftigen uns hier nur mit radioaktiven Abfällen. Wir haben auch eine Studie über die Bucht von Massachusetts angefertigt: zu den Orten, von denen die Fischer sagten, dass sie dort die Fässer gefunden hätten. Aber wir konnten nichts finden. Wir versuchten, mit den Fischern zu reden. Aber vergeblich: Sie antworteten uns nicht mehr. SPRECHERIN Jahrzehnte nach Beginn der Verklappungen schickte die Umweltbehörde EPA erstmals ein Boot zu den Farallon-Inseln im Pazifik vor der Küste von San Francisco, um sich ein paar Fässer aus der Nähe anzuschauen. Eine Unterwasser-Kamera lieferte aus etwa 900 Metern Tiefe erste Bilder: Viele Fässer waren korrodiert, einige wegen des Wasserdrucks bereits implodiert und aufgerissen. Aus einigen der aufgerissenen Fässer war der radioaktive Müll herausgeschwemmt worden und nicht mehr zu sehen. Aus manchen Fässern wuchsen Pflanzen. In den Fässern lebten Fische, die sich von diesen Pflanzen sowie Sedimenten ernährten. Die Region um die Farallon-Inseln gilt als bekanntes Fischfang-Gebiet. In den geborstenen Atommüll-Fässern wuchsen auch Speisefische auf. Kein Grund zur Beunruhigung für William R. Curtis: O-TON 23 Yes, there are a lot of bottom fish ... to be quoted a such. ÜBERSETZER 2 Ja, dort gibt es eine Menge Fische und einige unserer Filme zeigen, dass einige in den Fässern leben. Und wir haben auch Tiefsee-Fische nahe den Fässern gefangen und auf Radioaktivität untersucht. Ich denke, wenn sich jemand viele Jahre lang ständig von radioaktiv belastetem Fisch ernähren würde, könnte das ein Gesundheitsproblem sein. Aber wir haben keinerlei Daten für ein solches Szenario. Bei den Strahlendosen, die wir in Fischen nahe der Versenkungsplätze gefunden haben, müssten die Leute schon fürchterlich viel Fisch essen. Und außerdem: Ich bin kein Strahlenspezialist. Ich kann Ihnen nur von unseren Ozeanuntersuchungen berichten. Ich bin keinesfalls Experte für Strahlung und möchte auch nicht als solcher zitiert werden. SPRECHERIN Das ist sehr bescheiden: Immerhin vertrat William R. Curtis die us-amerikanische Umweltagentur EPA auf internationalen Konferenzen zu Radioaktivität und Umweltsicherheit in den Ozeanen. Der Zweck des Interviews war ihm Wochen vorher schriftlich mitgeteilt worden. Und in Konferenzbeiträgen sowie offiziellen Stellungnahmen hatte er zuvor geschrieben, was die von ihm angesprochenen Daten angeblich "klar zeigen" würden: dass auf Märkten verkaufte Fische aus der betroffenen Region "keine maßgebliche Belastung durch Radioaktivität" aufweisen würden. Heute arbeitet William R. Curtis nicht mehr für die EPA. Deren Pressestelle kann über seine weitere Karriere keine Auskunft geben. Doch im Internet sind weitere themenbezogene Vorträge zu entdecken von einem "William R. Curtis". Der arbeitet nun für eine der Institutionen, die er vorher eigentlich streng kontrollieren sollte: die U.S. Army, konkret deren "Technisches Forschungs- und Entwicklungslabor" in Vicksburg, Mississippi. Damals ließ die EPA im offenen Meer an vier früheren Müllversenkungs-Plätzen Fische fangen und kaufte außerdem Fische auf den Märkten von Hafenstädten ein. Anschließend stand die Agentur vor dem Problem, das Strahlendebatten stets begleitet: Welche Proben sollten mit welchen Methoden und Maßstäben gemessen werden? Der Wissenschaftler Tom Sukarnak von der Universität von Kalifornien analysierte vor den Augen des Dokumentarfilmteams von 'Aus den Augen, aus dem Sinn' einen Fisch, und zwar im Auftrag der EPA: O-TON 24 So what kind of fish is that ... representative part of filet. ÜBERSETZER 1 Welchen Fisch haben Sie da, Tom? - Das ist ein Kabeljau aus etwa 1.000 Metern Tiefe - diese Art wandert weite Strecken entlang der Küste und darüber hinaus. Jetzt entfernen wir hier die Haut und schneiden etwas Gewebe heraus. Dann untersuchen wir lediglich ein bisschen Muskelgewebe. Obwohl ich mich stark dafür eingesetzt habe, auch die Haut zu untersuchen. Aber das wurde nicht erlaubt. Wir dürfen nur das Muskelgewebe untersuchen. - Warum wollten Sie auch die Haut untersuchen? - Nun ja, Studien aus der Vergangenheit zeigen sehr deutlich, dass sich in vielen Fällen Schwermetalle oder manchmal auch Radionuklide stärker in der Haut anreichern als im Muskelgewebe. Manchmal enthält die Haut sogar zehn- oder hundertmal soviel Belastung wie Muskelgewebe. Deshalb meine ich, dass wir wirklich auch die Haut untersuchen sollten, oder ein ganzes Filet mit Haut. Das wäre eine repräsentativere Probe für das, was die Menschen hier essen. - Die Menschen hier essen Fischhaut? - Auf jeden Fall. Es gibt viele Gruppen gerade in dieser Gegend hier, die viele Teile vom Fisch essen. Nicht nur die Haut, sondern auch den Kopf, die Augen und die knochigen Teile. Das wäre also ein repräsentativer Teil eines Filets gewesen. SPRECHERIN Doch selbst die derart zensierten Untersuchungen der staatlichen Umweltagentur lieferten brisante Ergebnisse: hochgiftiges Plutonium 239, ein im Reaktor künstlich ausgebrüteter Stoff mit einer Halbwertzeit von etwa 24.000 Jahren, wurde in den Mägen von Fischen gefunden. Die an der Ostküste und vor den Farallon-Inseln gefangenen Tiere enthielten bis zu 0,02 Picocurie pro Gramm Fisch. Künstliches Caesium 137, Halbwertzeit 30 Jahre, wurde in Flundern nachgewiesen, die ebenfalls von derOst- und der Westküste stammten. Die Fische enthielten bis zu 0,04 Picocurie pro Gramm. Auf den Fischmärkten von San Francisco kaufte EPA caesiumhaltigen Kabeljau, in Boston caesiumhaltige Aale. Von den gesammelten Fischmarkt-Proben enthielten fast sieben Prozent Spuren von Plutonium oder Caesium. Und die Agentur zog folgenden Schluss: ZITATORIN Die Daten liegen im Bereich der Strahlenaktivitäten, die durch Atombombenversuche entstanden sind. ... Die Daten zeigen klar und deutlich keine bedeutende Strahlenbelastung. SPRECHERIN Welcher Maßstab eigentlich eine 'bedeutende Strahlenbelastung' bestimmt, ist unter Wissenschaftlern bekanntlich stark umstritten. Auf jeden Fall dokumentiert die Untersuchung der EPA eindeutig: Fische, die auf den Märkten der USA verkauft werden, sind zum Teil radioaktiv belastet. Und diese Strahlung ist beim letzten Glied der Nahrungskette angelangt: den Menschen. SPRECHERIN Seit 1994 ist es verboten, feste radioaktive Abfälle ins Meer zu verklappen. Damals beschlossen 37 Staaten der 'International Maritime Organisation', kurz IMO, in einer Konvention, zukünftig festen Atommüll nicht mehr ins Meer zu verklappen. Mit dabei: Deutschland, das bis dahin "nur" einige hundert Tonnen mit radioaktiven Abfällen versenkt hatte. Seitdem ist keine solche Verklappungsaktion mehr bekannt geworden. Doch das Verklappungsverbot gilt nur für feste radioaktive Abfälle - die Einleitung flüssiger radioaktiver Abfälle ins Meer ist dagegen bis heute erlaubt. Dies nutzen die Betreiber von Wiederaufarbeitungsanlagen in England und Frankreich: In Sellafield werden immer noch ganz legal radioaktive Abwässer in die Irische See eingeleitet, und in La Hague in den Englischen Kanal und von dort breiten sie sich weiter aus. Zwar ist das Radionuklid Carbon 14 zum Beispiel seit jeher natürlich im Meer enthalten. Doch durch die Anreicherung mit zusätzlich eingeleitetem Carbon 14 aus den beiden Wiederaufarbeitungsanlagen hat sich die Carbon 14-Dosis für die Nordsee künstlich erhöht, und zwar bereits um ein Neuntel. Auch Schiffe der deutschen Bundesforschungsanstalt für Fischerei messen bis heute Radionuklide in heimischen Speisefischen. Die gefundenen Dosen sind im Durchschnitt gering und aus Sicht der Behörde selbstredent unbedenklich. Doch die Anstalt räumt ein, dass Spitzenwerte vom Durchschnitt stark nach oben abweichen können: Bei neueren Untersuchungen wurde eher zufällig entdeckt, dass sich zum Beispiel im Fleisch bestimmter Hummerarten das Radionuklid Technetium 99 zehnmal stärker anreichert als in anderen, zuvor untersuchten Krebsarten. Prompt mussten bisherige Einschätzungen korrigiert werden. Dabei messen deutsche Behörden noch deutlich seriöser als ihre europäischen Kollegen. Das räumen auch unabhängige Umweltschützer ein, wie Christian Küppers vom Ökoinstitut in Darmstadt: O-TON 25 Küppers Je nachdem, wo man seine Probeentnahme macht zieht, kann man natürlich auch ganz verschiedene Ergebnisse bekommen. Es gab ein Beispiel aus La Hague: Greenpeace hat Königskrabben in der Nähe des Ausgangs der Pipeline untersucht und dann hat man ganz andere Werte gefunden, als was in den umliegenden Fischereihäfen gefangen worden ist. Wenn jetzt jemand dummerweise genau solche Krabben erwischt, hat er eine viel höhere Dosis. Aber man hat sich eben nicht die Mühe gemacht, wirklich nach einem Maximum zu suchen. SPRECHERIN In der Europäischen Union gibt es bekanntlich vielerlei Anstrengungen, Prüfungsverfahren und Normen zu harmonisieren. Doch was bei der Gurkenkrümmung klappt, scheitert ausgerechnet bei Atomanlagen. Schon die Prüfansätze sind von Land zu Land verschieden: Deutsche Behörden bemühen sich zumindest, von denkbar maximalen Fällen auszugehen. Englische und französische Behörden messen dagegen den Ist-Zustand zu einem bestimmten Zeitpunkt und rechnen ihn dann einfach in die Zukunft hoch. Noch zu Zeiten der rot-grünen Bundesregierung verfasste Küppers ein Gutachten für das Bundesamt für Strahlenschutz: Weil auch deutscher Atommüll nach Sellafield transportiert worden war, sollte er prüfen, ob die Wiederaufarbeitungsanlage dort auch nach deutschem Recht genehmigt worden wäre. Das Ergebnis lautete: Nein, die Anlagen in Sellafield und La Hague hätten in Deutschland keine Betriebserlaubnis erhalten. Und sie wären hier ganz anders berechnet worden. O-TON 28 Küppers Die Philosophie in Deutschland ist immer: Man will möglichst alles abdecken, was auch in zukünftigen Anlagen möglich ist in der Umgebung. Was ,denke ich, auch die sinnvolle Herangehensweise bei einem Genehmigungsverfahren dieser Art ist. Und nicht, wie es eben in Großbritannien und Frankreich der Fall ist, wo man schaut: Was ist gerade die reale Nutzung in der Umgebung? Momentan in welcher Entfernung steht denn gerade die erste Kuh, die Milch gibt? Und genau für diesen Punkt schaut man sich dann an, wie die Belastung ist. Aber nicht für mögliche andere Nutzungsorte in der Zukunft. SPRECHERIN Das Gutachten des Öko-Instituts sorgte mit dafür, Atommüllexporte aus Deutschland gesetzlich zu verbieten. Laut Paragraph 9a des Atomgesetzes ist es seit dem 1. Juli 2005 auch verboten, Kernbrennstoffe an eine Wiederaufarbeitungsanlage abzugeben. Wenn irgendwann einmal das letzte deutsche Atomkraftwerk geschlossen werden sollte, würde Deutschland immerhin in keiner Weise mehr zur radioaktiven Verseuchung des Planeten Erde und seiner Meere beitragen. Einmal freigesetzte Strahlung wird allerdings in jedem Fall noch lange nachzuweisen sein. Christian Küppers: O-TON 29 So lange man diese Einleitungen hat, wird man sie auch immer nachweisen können. Es sind radioaktive Stoffe dabei mit sehr langer Halbwertzeit und starker Anreicherung: Technetium 99 hat eine Halbwertzeit von 210.000 Jahren. Das kann eigentlich nur über Verdünnung über weite Teile des Ozeans auf einen Level gebracht werden, um es eines Tages praktisch nicht mehr nachweisen zu können in Blasentang. Musik: CD Albi P. darüber Da müsste man mal mindestens einige Jahrhunderte ins Land gehen lassen. Und man muss auf neue Belastungen verzichten. Absage: Ewig strahlend? (Teil II) Die radioaktive Vergiftung der Ozeane Von Achim Nuhr Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2009 Es sprachen: Ursula Illert, Philip Schepmann, Rainer Delventhal und Claudia Mischke. Ton und Technik: Gunter Rose und Angelika Brochhaus Regie und Redaktion: Karin Beindorff 22 1