COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Literatur Redaktion: Dorothea Westphal Die Panflöte von Meister Baudelaire Junge Dichter und ein großes Vorbild Ein Feature von Uta Rüenauver Sprecherin Zitator 1 für Baudelaire- Zitate (frz. Original und dt. Übersetzung) Zitator 2 für Zitate der dt. Dichter Zitatorin Musik (Debussy, Clair de Lune, Take 12 "Syrinx". Das Flötenstück soll leitmotivisch die Sendung durchziehen. Hier nur ganz kurz.) Zitator 1 (erste Strophe ohne Over-voice, dann dt. Übersetzung drüberlegen) Élévation Au-dessus des étangs, au-dessus des vallées, Des montagnes, des bois, des nuages, des mers, Par delà le soleil, par delà les éthers, Par delà les confins des sphères étoilées, Mon esprit, tu te meus avec agilité, Et, comme un bon nageur qui se pâme dans l'onde, Tu sillonnes gaiement l'immensité profonde Avec une indicible et mâle volupté. Envole-toi bien loin de ces miasmes morbides; Va te purifier dans l'air supérieur, Et bois, comme une pure et divine liqueur, Le feu clair qui remplit les espaces limpides. Derrière les ennuis et les vastes chagrins Qui chargent de leur poids l'existence brumeuse, Heureux celui qui peut d'une aile vigoureuse S'élancer vers les champs lumineux et sereins; Celui dont les pensers, comme des alouettes, Vers les cieux le matin prennent un libre essor, - Qui plane sur la vie, et comprend sans effort Le langage des fleurs et des choses muettes! Zitator 1 (nach erster Strophe über das frz. Original legen, ab 2. Strophe der dt. Übersetzung O-Töne unten zwischen bzw. über die Verse legen. Evtl. zwischendurch einzelne Verse des frz. Originals hervorheben. Es soll ein Gewebe aus Original, Übersetzung und O-Tönen entstehen) *Dieses und alle folgenden Baudelaire-Zitate sind von Friedhelm Kemp übersetzt. Erhebung Hoch über den Weihern, hoch über den Tälern, Gebirgen, Wäldern, Wolken und Meeren, jenseits der Sonne, jenseits des Äthers, jenseits der Grenzen der gestirnten Sphären Regst du, mein Geist, dich voll Behändigkeit, und wie ein guter Schwimmer, dem die Flut behagt, durchfurchst du froh die tiefe Unermesslichkeit mit unsäglicher Lust und männlichem Genuss. Nimm ferne deinen Flug, sehr fern von diesen kranken Dünsten; geh, läutere in den höheren Lüften dich, und trinke, gleich reinem Himmelssaft, das klare Feuer, das die lichten Räume füllt. Jenseits der Sorgen und des ungeheuren Grams, die auf dem nebeldüstren Dasein lasten, glücklich, wer sich mit kräftigem Flügel aufschwingen kann den heiter leuchtenden Gefilden zu! Folgende O-Töne ab 2. Strophe der dt. Übersetzung über bzw. zwischen die Verse legen. Evtl. zwischendurch einzelne Verse des frz. Originals hervorheben. O-Ton 1 (Fioretos) Dass auch Engel böse sein könnten das hab ich zum ersten Mal bei Baudelaire entdeckt. O-Ton 2 (Wagner) Baudelaire war für mich das Musterbild eines poète maudit. O-Ton 3 (Rinck) Diese Mischung aus Masochismus und Sadismus. O-Ton 4 (Kolbe) Also wofür Baudelaire eigentlich steht, nämlich alles tabulos zu sagen, innerhalb der vollendetsten Form. O-Ton 5 (Wagner) Es ist ja im Grunde fast schon ne poetische Messe für die Schönheit, die Baudelaire da in seinen Gedichten feiert. O-Ton 6 (Fioretos) All das konnte irgendwie geheime Botschaften einer abfälligen Truppe Engel sein. O-Ton 7 (Röhnert) Dass so nen Typ wie Baudelaire, der wirklich aufs Ganze gegangen ist wie keiner vor ihm und keiner nach ihm, dass der tatsächlich gelebt hat, ja, und ne Existenz geführt hat und so nen Werk hinterlassen hat, das uns heute noch träumen lässt. Zitator 1 Ihm steigen die Gedanken lerchengleich in freiem Flug zum Morgenhimmel, - über dem Leben schwebt er, und mühelos versteht er die Sprache der Blumen und der stummen Dinge! Musik (Debussy, "Syrinx", kurz) Zitatorin (anfangs mit Musik untergelegt) Charles Baudelaire, Die Blumen des Bösen Musik Sprecherin Als der Gedichtzyklus Die Blumen des Bösen 1857 erscheint - und gleich ein Gerichtsverfahren wegen Unmoral nach sich zieht - , hat Charles Baudelaire endlich das Werk vorgelegt, mit dem er hofft, in den Dichterolymp aufzusteigen. Seit seiner Jugend weiß er, dass er Dichter werden will - dass er Dichter ist. Die ersten Gedichte der Fleurs du Mal entstehen, da ist Baudelaire noch nicht volljährig. Er ist noch nicht Mitte zwanzig, da hat er den größten Teil der an die hundert Stücke bereits verfasst. Aber über ein Jahrzehnt vergeht noch, bis er den Zyklus für vollendet erklärt, bis er jedem Gedicht seinen bestimmten Platz in dem poetischen Kosmos zugewiesen hat. O-Ton 8 (Fioretos) Das erste Mal, dass ich seinen Namen gesehen habe, kann ich nicht so richtig mehr datieren, aber ich weiß, dass ich mich für sein Werk richtig interessiert habe so im Alter von 16 oder 17. Und das war wirklich wie ein Schock diese Gedichte, die sowohl schön als auch fabelhaft böse sein konnten, gemein, aber auch zierlich, nervös und phlegmatisch zugleich. (..) Das war Zündstoff für einen "poet wonna be". Zitatorin Aris Fioretos, 1960 geboren. Sprecherin Die Blumen des Bösen sind Baudelaires Lebenswerk. Sie beschreiben den zerstörerischen, qualvollen, abgründigen und über den Tod hinausweisenden Triumphzug der Dichtung gegen die verhasste Wirklichkeit. Baudelaire, der auch in seinen während und nach der Entstehungszeit der Fleurs du Mal verfassten Prosagedichten, in dem Drogen-Essay Die künstlichen Paradiese sowie in seinen kunsttheoretischen und -kritischen Schriften stets um das eine Thema kreist: die poetische, schöpferische Wahrnehmung in einer sinnentleerten, desillusionierten Welt, gehört zu den zentralen Wegbereitern der modernen Lyrik. O-Ton 9 (Rinck) Das kann ich glücklicherweise ziemlich genau sagen, weil mir meine Eltern damals dieses Buch geschenkt haben, das "Wasserzeichen der Poesie", und dieses Buch beschäftigt sich spielerisch mit Poetologie. Und in dem Kapitel "Oxymoron" fand ich dann ein Gedicht von Baudelaire, klein Moment (sucht in dem Buch), da ist es, der "Selbsthenker". Ja, S. 74. Es gehört zwar nicht zu dem Kapitel "Oxymoron", sondern "Paradoxon". Zitatorin Monika Rinck, 1969 geboren. O-Ton 10 (Kolbe) Und zwar geschah ein Wunder, weil in der Zeit, als ich anfing zu schreiben oder als es langsam ernster wurde, so, ja, in meinen späten Teenager-Jahren eigentlich, mit 17, 18, dass hintereinander weg drei Bücher erschienen im Insel-Verlag, Leipzig, in der DDR, Baudelaire, Verlaine und Rimbaud erschienen in neuen Übersetzungen. Und das war quasi nen Tabubruch für die sozialistisch-realistischen Verhältnisse, wo ja also diese Autoren als Vertreter der Decadence galten. Zitatorin Uwe Kolbe, 1957 geboren. O-Ton 11 (Kolbe) Das Erscheinen des Baudelaire-Bandes ist 1973, (..) das weiß ich ganz exakt. O-Ton 12 (Wagner) Die hab ich immer noch im Regal, ne ganz alte Taschenbuchausgabe, in der Prosaübersetzung von Kemp, also die Originale, die Baudelaire-Originale mit der Kempschen Prosaübersetzung. Und hab das dann, ja, durchgearbeitet. Zitatorin Jan Wagner, 1971 geboren. O-Ton 13 (Rinck) Zum Kapitel "Paradoxon" fand ich dort eben das Gedicht "Der Selbsthenker", und ich bekam das Buch kurz nachdem es erschienen ist, das war 1985, und das war natürlich für einen von der Pubertät zerrissenen Charakter großartig, ich hab mich unmittelbar identifiziert, ich hab das sofort auswendig gelernt und kann es teilweise heute auch noch auswendig, den Schluss "Je suis de mon c?ur le vampire, / - Un de ces grands abandonnés / Au rire éternel condamnés, / Et qui ne peuvent plus sourire!" O-Ton 14 (Röhnert) Ich kannte seine Gedichte schon recht lange, hab aber ne sehr innige Beziehung vor gar nicht langer Zeit eigentlich dazu gewonnen, als ich nämlich festzustellen begann, dass diese Gedichte sich richtig gut auswendig lernen lassen. Zitator 1 (bei "auswendig" unterlegen) Je suis de mon c?ur le vampire, - Un de ces grands abandonnés Au rire éternel condamnés, Et qui ne peuvent plus sourire!" Zitatorin (über Zitat legen) Jan Volker Röhnert, 1976 geboren. Zitator 1 Ich bin der Vampir meines eigenen Herzens, - einer jener großen Verlassenen, die zu ewigem Lachen verdammt sind und die nicht mehr lächeln können! O-Ton 15 (Rinck) Also das war sozusagen die Tonspur meiner Pubertät. Musik O-Ton 16 (Fioretos) All das konnte irgendwie geheime Botschaften einer abfälligen Truppe Engel sein. Diese erste explosive Erfahrung mit der Dichtung Baudelaires, die bleibt Merkmal im Kalender, ein großer Tag im Kalender. So eine Entdeckung als 16-, 17-jähriger Schreibender zu machen, das tut man nur einmal im Leben. Musik Sprecherin Charles Baudelaire ist sechs Jahre alt, als 1827 sein Vater stirbt und die geliebte Mutter wenig später den General Jacques Aupick zum Ehemann nimmt. Die Heirat mit dem Militär, der dem Stiefsohn ein Leben lang die Verkörperung der verabscheuten bürgerlichen Ordnung bleiben wird, verursacht das, was Jean-Paul Sartre als "la fêlure" bezeichnet: den entscheidenden Riss zwischen dem Selbst und der Welt. Von nun an empfindet sich Baudelaire als ein Anderer, vereinzelt, verdammt, verachtet von der Gesellschaft, die er selbst verachtet. Und Baudelaire nimmt es als seine Bestimmung an, dieser Andere, ein Paria, und das heißt später, ein Dichter zu sein. O-Ton 17 (Wagner) Ich hab mich damals schon für Lyrik interessiert und hab auch Lyrik geschrieben, also die üblichen Anfangsversuche. Es war jedenfalls die Phase, in der man sich seine Vorbilder sucht und dann nachzuahmen versucht, und Baudelaire war für mich der Dichter par excellence. O-Ton 18 (Kolbe) Zumindest gab es ne unglaubliche starke Interferenz mit meinem, wie soll ich sagen, mit meinem Selbstbild, also mit dem Dichterbild an sich. Und da ist ja nun Baudelaire wirklich einer, der das, sagen wir im "Albatros" immer wieder thematisiert hat, also immer wieder sozusagen vor den Spiegel gegangen ist, wie so einer wie er selber in der Gesellschaft steht oder welche Rolle der da spielt. Zitator 1 (ab "Albatros" im vorigen O-Ton, 4. Zeile, unterlegen, weiter unter folgenden O- Ton) Souvent, pour s'amuser, les hommes d'équipage Prennent des albatros, vaste oiseaux des mers, Qui suivent, indolents compagnons de voyage, Le navire glissant sur les gouffres amers. À peine les ont-ils déposés sur les planches, Que ces rois de l'azur, maladroits et honteux, Laissent piteusement leurs grandes ailes blanches Comme des avirons traîner à côté d'eux. Ce voyageur ailé, comme ils est gauche et veule! Lui, naguère si beau, qu'il est comique et laid! L'un agace son bec avec un brûle-gueule, L'autre mime, en boitant, l'infirme qui volait! Le Poëte est semblable au prince des nuées Qui hante la tempête et se rit de l'archer; Exilé sur le sol au milieu des huées, Ses ailes de géant l'empêchent de marcher. O-Ton 19 (Wagner 006, 00:24, über Zitat legen) Sein Faible für den Dandy, sein Leben als entmündigter Sohn, seine Liebeseskapaden. Dann die Anekdoten, die ja jeder kennt, dass er halb grün, halb rot gekleidet durch Paris gelaufen ist. So'n gewisses Faible für dieses Verrufene, für das Ungesetzliche und Anti-Bürgerliche. Sprecherin (über Zitat legen) Baudelaire ist Dichter, lange bevor er Gedichte veröffentlicht. Zwar ist er zum Jura-Studium eingeschrieben, doch führt er das Leben eines Bohemien. Er knüpft Kontakte zu Literaten, experimentiert mit Drogen, flaniert durch Paris in der Maske des Dandy, der sich von der Menge unterscheiden und der uniformen, vom Nützlichkeitsdenken durchzogenen Waren- und Funktionswelt seine Verachtung entgegenschleudern will. Er verkehrt mit Prostituierten, zieht sich eine Tripperinfektion zu, wenig später die Syphilis, die damals unheilbar ist und ein Vierteljahrhundert später für seinen qualvollen Tod verantwortlich sein wird. Die Geschlechtskrankheit prägt Baudelaire definitiv das Kainsmal des Ausgeschlossenen auf. Musik Zitator 1 Oft zum Zeitvertreib fangen die Seeleute sich Albatrosse ein, jene mächtigen Meervögel, die als lässige Reisegefährten dem Schiffe folgen, wie es auf bitteren Abgründen seine Bahn zieht. Sprecherin Um ihn von seinen poetischen Irrwegen abzubringen, beschließt die Familie Aupick, Baudelaire auf eine Schiffsreise nach Indien und Indochina zu schicken. Im Juni 1841 sticht der 20-Jährige auf dem "Paquebot-des-Mers-du-Sud" mit Richtung Kalkutta in See. Auf Deck hat er jenes Erlebnis, das ihn zu dem Gedicht "Albatros" und der berühmten Allegorie auf den modernen Dichter und seinen Platz in der Gesellschaft inspiriert: eine Gruppe brutaler Matrosen quält einen verletzen Albatros, den der Kapitän mit dem Karabiner vom Himmel geholt hat. Musik Zitator 1 Der Dichter gleicht dem Fürsten der Wolken, der mit dem Sturm Gemeinschaft hat und des Bogenschützen spottet; auf den Boden verbannt, von Hohngeschrei umgeben, hindern die Riesenflügel seinen Gang. O-Ton 20 (Wagner) Der Albatros, der in den Lüften majestätisch wirkt, aber dann, sobald er runtergezwungen wird auf die Ebene, zwischen die Menschen, sich unbeholfen benimmt und mit den langen Flügeln dann nicht gehen kann. Die aristokratische Haltung des Dichters, das Bild des Dichters als Geistesaristokraten, hat mich natürlich begeistert. Musik O-Ton 21 (Kolbe) Ich glaub auch, dass jeder, der auf diese Art anfängt, ob das heut ist oder damals war, dafür sehr empfänglich ist, ja. Für einen Auftritt, für ein Selbstbewusstsein, das einem ja in einem Augenblick, wo einen jeder wieder fragen kann "wat Sie schreiben Gedichte und wovon leben Sie denn", ja, in so ner Welt ist ja das Gegenbild, , was Baudelaire ja tut, also der versteht sich in der größten Tradition. Ich mein, das muss man erst mal auch verteidigen im eigenen Auftritt gegen etwas, was einem entgegenkommt, also wo gewünscht und verlangt wird die bürgerliche Existenz und Anpassung, ja. Und der steht für Nicht-Anpassung. Und auf ne grandiose Art. O-Ton 22 (Fioretos) Überhaupt die Gedichte im ersten Teil von "Bösen Blumen" hab ich dann irgendwann versucht zu übersetzen. Das ging nicht sonderlich gut, und dann hab ich sie nachzudichten versucht. Auch das ging nicht sonderlich gut. O-Ton 23 (Wagner) Ich hab schon versucht natürlich zu sehen, wie Baudelaire arbeitet, welche Reime er benutzt, welche Formen das sind, mit denen er spielt, die Rhythmen, die Zäsuren usw. Also erst die "Fleurs du Mal" und dann nicht zuletzt auch die Prosagedichte. Und die hab ich dann tatsächlich nachgeahmt. Musik Zitator 2 Keine Schmerzerei Hebt obern Kieferteil vom andern noch mal ab, kein spielerischer Schrei. Gepflügt die Brache, neue Lügen blühn schon warm und bunt. Ich jubilier und lache. Baudelaire, mein kalter Pate wurd schon vom Überdruss getrieben zu den eigentlichen Taten, und ich erschöpfe Reste Bluts aus dem verschenkten Fleisch in Schnellkochtöpfe. Zitatorin Uwe Kolbe O-Ton 24 (Kolbe) Na, da ging's um diesen Überdruss-Begriff und das spiegelt damals die, wie soll ich sagen, die gesellschaftlichen Zustände in der DDR oder in einer geschlossenen Welt eben, ja. Da stockte die Zeit. Das war das Bewusstsein.. Also Mitte des 19. Jahrhunderts, Frankreich, das war ne andere Situation, aber über weite Strecken stand da ja auch die Luft, ja. Und an das schloss das an. Und also alle Formen von Ekel, von Verachtung , so ne nietzscheanische Attitüde war mir auch nicht fremd damals. Also Verachtung und Ekel, aber als produktive Haltung eben. und dass dieses ganze Antichristliche und Antibürgerliche eben auch bei Baudelaire nicht nur einfach ne Attitüde ist, sondern dass das enorm produktiv ist, um die Welt umzuwenden und sie immer neu anzuschauen. Musik Zitator 1 (über Musik) J'ai plus de souvenirs que si j'avais mille ans. Musik O-Ton 25 (Fioretos) Ich stamme aus einer Familie, wo zwei Eltern aus zwei verschiedenen Ländern kommen und bin in einem dritten Land dann geboren und groß geworden. Das heißt, ich habe nie in meinem Leben ein natürliches Gefühl für Sprache gehabt. Jeder Gegenstand hatte wenigstens zwei oder drei verschiedene Bezeichnungen und die waren nicht gleichzusetzen. Zitat 1 Ich habe mehr Erinnerungen, als wär ich tausend Jahre alt. O-Ton 26 (Fioretos) Wenn man das wirklich sehr drastisch verkürzen möchte, geht es um Differenzerfahrung. Und diese Differenzerfahrung gehört auch zu den Erfahrungen, die Baudelaire machte, in seiner Zeit, natürlich unter ganz anderen Vorzeichen. Er hat gezeigt, dass diese Erfahrung eigentlich eine literarische sein konnte, und dadurch hat er es ermöglicht, dass man nicht mehr davon traumatisiert war, sondern das auch umfunktionieren und sogar verwenden und exploitieren konnte. Sprecherin Baudelaire bleibt sein Leben lang der entrechtete Sohn. Bis zu seinem Tod ist er einem Vermögensvormund unterstellt, den der Aupicksche Familienrat nach des Dichters Schiffsreise, die ihn von seiner Bestimmung und Lebensart nicht abzubringen vermochte, gerichtlich durchsetzt. Spleen und Ennui, Überdruss, Melancholie und Langeweile sind seine Grundempfindungen in einer Welt, die kein Zuhause mehr sein kann. Fluchtpunkt ist das Imaginäre. O-Ton 27 (Rinck) Ich glaube, ein Grund, warum ich sozusagen zwischenzeitlich eher Abstand genommen hab zu Baudelaire waren eben bestimmte Formen von so Großstadtlyrik, von Jungs, die halb altklug und halb durchgedreht waren, wo dann plötzlich 22-Jährige erzählen irgendwie von Rotwein und Huren und der Stadt und der Schwärze der Nacht. Diese Form des "poète maudit", der also völlig in sich und von seinem eigenartigen Irrsinn befangen und irgendwie nichtswürdig und angespuckt von der Gesellschaft, das ist natürlich ein ganz starkes Identifikationsangebot, nach wie vor, nur die Anteile, die damals bei Baudelaire noch revolutionär sein konnten und nicht einer bestimmten Identitätsideologie verhaftet, die sind natürlich heute schon so. Also dann ist das einfach ein maskiertes lyrisches Ich, das versucht, Intensität zu herzustellen aus Konzepten, die deswegen lächerlich sind, weil wenn jemand in den späten 80er Jahren mit dem Baudelaire-Mäntelchen ankam und dachte, er sei radikal, bösartig, wild und gebrochen, dann saß man manchmal so da, mein Gott. Zitator 1 Hinfort, o lebende Materie! bist du nur noch ein Granitblock, der umhaucht von unbestimmten Grauen, am Grunde einer Nebelwüste schlummert! O-Ton 28 (Rinck, nach "Granitblock" über Zitat legen) Als der Slam aufkam, schien mir auch manchmal solche Sachen dann, meistens zwar angloamerikanisch gewendet, aber im Kern doch auch wieder entgegenzukommen, also bei deutschen Dichtern, die so einen Import eben dieser Intensitätsideen machten, die mischten sie dann noch mit Rap oder amerikanischen Ghettos, aber letztendlich kamen dann auch so Baudelairesche Verzweiflungsgesten mit hinein, und die wurden dann mit einer Wut ins Publikum geschrieen, und das kam natürlich auch gut an. Aber gleichzeitig hat es für mich die direkte Anbindung zum aktuellen Schreiben und der Beschäftigung mit Sprache, den Anforderungen von Sprache, mit denen man sich heute beschäftigt, das alles schien mir das dann zu verfehlen. Und das hat mich dann eben auch son bisschen von der Beschäftigung mit Baudelaire son bisschen entfremdet. Musik O-Ton 29 (Fioretos, anfangs über Musik) Der Baudelaire der 80er Jahre ist für mich der Baudelaire, den man in Seminaren belegen konnte und über den man unendlich lang sinnieren konnte über irgendwie eine Verschiebung innerhalb der Syntax oder eine Doppeldeutigkeit eines Wortes. Aber es war nicht mehr der Baudelaire der Anfangszeit, das war ein herauspräparierter Baudelaire. Und irgendwann verlor ich dann die Lust dazu. Aber als ich vor jetzt zehn Jahren einen Essay schrieb, um für mich selber wenigstens zu artikulieren, was der Autor für mich so sein konnte, da hab ich wieder Baudelaire gelesen. Und das waren dann die Prosasachen, die aphoristischen Sprengsätze, wo er so etwas wie den Habitus des modernen, zerrissenen Autors entwarf. Das ist der Baudelaire, den ich am meisten heute schätze. Zitator 2 ("Ist mein Gehirn ein Zauberspiegel?)", fragt sich Baudelaire in einem seiner intimen Tagebücher. (...) Die Frage enthält alles Pathos, und alle Paranoia, deren Schriftsteller in unbeobachteten Augenblicken mächtig sind. Denn ist sie nicht eine verzweifelte Version jener Aufforderung zur Selbsterkenntnis, wie sie die Literatur seit der Antike begleitet? Gleichzeitig warm und kalt, bejahend und verzehrend, orphisch und menadisch baut sie mit der einen Hand auf, was sie mit der anderen wieder zum Einsturz bringt. Zitatorin Aris Fioretos, Mein schwarzer Schädel O-Ton 30 (Fioretos) Auf der einen Seite ist es natürlich ein Autor, der Außenseiter ist oder sein will. Auf der anderen Seite aber ist es ein durchaus urbaner Typus, ein Typus, der dauernd unterwegs ist, alles mitkriegt, die niedrigsten Schichten der Stadt aufsucht, ob das jetzt die Bordelle ist oder das Leichenschauhaus oder die Salons der gehobenen Gesellschaft. Also jemand, der fast wie ein trickster die ganze Gesellschaft hindurchläuft. Zitator 1 Il n'est pas donné à chacun de prendre un bain de multidude; jouir de la foule est un art; et celui-là seul peut faire, aux dépens du genre humain, une ribote de vitalité, à qui une fée a insufflé dans son berceau le goût du travestissement et du masque, la haine du domicile et la passion du voyage. Zitator 1 (nach "bain de multitude" über frz. Original legen) Nicht jedem ist es gegeben, ein Bad in der Menge zu nehmen: die Menge zu genießen, ist eine Kunst; und der allein versteht es, auf Kosten des Menschengeschlechts sich Lebenskraft zu erschwelgen, dem in seiner Wiege schon eine Fee die Lust zu Verkleidung und zur Maske, den Abscheu vor der Sesshaftigkeit und einen leidenschaftlichen Reisetrieb eingegeben hat. Musik O-Ton 31 (Kolbe) Der Humus ist ja ne bestimmte Form von, von Gesellschaft, insbesondere von Stadterfahrung. Und den teil ich ja ganz einfach. Das hat was mit einer Form von Konfrontation, wie Menschen miteinander sind, wie sie sich bewegen in solchen Städten. O-Ton 32 (Röhnert) Es ist die Bewegung, es sind die Bilder, die Oberflächen, das Nicht-Festgestellte. O-Ton 33 (Kolbe) Außer-sich-gesetzt-Sein und gleichzeitig die Augen nicht wegbekommen, also gleichzeitig hinschauen müssen, ja. Auch wenn man sich eigentlich immerzu wie ne verletzte Schnecke zurückziehen will, trotzdem hingucken müssen. Das ist ja ne Grundhaltung, also ne Grundsensibilität, die notwendig ist. Das treffen wir bei Gottfried Benn wieder, das ist dieses merkwürdige Wesen mit den komischen Flimmerhaaren. O-Ton 34 (Röhnert) Andererseits ist es natürlich äußerst reizvoll zu sehen, wie Baudelaire diesem amorphen Strom von Bildern und Erscheinungen ne Form entgegensetzt. Musik Zitator 1 (über Musik legen) Der Dichter genießt jenes unvergleichliche Vorrecht, nach Belieben er selbst und ein anderer zu sein. O-Ton 35 (Röhnert) Die Großstadt als Erster wie eine Landschaft erfahren zu haben, das ist das Großartige an Baudelaire, ne Landschaft, die konstruiert ist. Musik O-Ton 36 (Röhnert, über Musik legen) Metropole als Imaginationsraum. Sprecherin Baudelaire ist Zeuge des gewaltigen Umbaus von Paris zu einer modernen Großstadt mit schneisenartigen, gleichförmig bebauten Boulevards, Kaufpassagen und Gasbeleuchtung. Er verabscheut diese Veränderungen, zugleich sind sie die zentrale Voraussetzung seiner poetischen Wahrnehmung. Einen Geistesverwandten findet Baudelaire in dem amerikanischen Schriftsteller Edgar Allan Poe, den er übersetzt und in Frankreich bekannt macht. Poe liefert Baudelaire das Beispiel der radikalen dichterischen Existenz, zu der er selbst sich berufen fühlt, in seinen Schriften erkennt er die Arbeit eines Bewusstseins, das sich nicht mehr an der äußeren Realität orientiert, sondern sich aus Wirklichkeits-, Traum- und Erinnerungsfragmenten eine eigene Welt schafft . O-Ton 37 (Wagner) Also ich hab dann Baudelaire ein zweites Mal wiederentdeckt über die Beschäftigung mit der amerikanischen Literatur, über Edgar Allen Poe, der ja im Grunde erst vermittelt wurde durch Baudelaire. Durch das Lesen des Poetic Principle von Poe und diese Herangehensweise an das Gedicht, dieses Weggehen von der Idee der Inspiration, der Muse, auch wenn die Muse natürlich bei Baudelaire immer wieder auftaucht, aber die Auffassung vom Gedicht als etwas Gemachtes. Valérie sagt immer über Baudelaire, dass Baudelaire in Poe dem Genuis des Konstrukteurs oder des Ingenieurs begegnet ist. Oder, ich glaub, dem Genius der Präzision. Also die Idee des, was bei Benn dann das Labor ist, das Gedicht als Gemachtes. Das hat mich schon sehr fasziniert, weil es wegging von diesem Klischeebild des Dichters, der durch den vom Mond beschienen Wald reitet und dann plötzlich ein tolles Sonett schreibt. Musik Zitator 2 champignons wir trafen sie im wald auf einer lichtung: zwei expeditionen durch die dämmerung die sich stumm betrachteten. zwischen uns nervös das telegraphensummen des stechmückenschwarms. meine großmutter war berühmt für ihr rezept der champignons farcis. sie schloss es in ihr grab. alles was gut ist, sagte sie, füllt man mit wenig mehr als mit sich selbst. später in der küche hielten wir die pilze ans ohr und drehten an den stielen - wartend auf das leise knacken im innern, suchend nach der richtigen kombination. Zitatorin Jan Wagner O-Ton 38 (Wagner) Dass die Wahrheit hinter dem Musenkuss eine andere ist. Ein sehr rätselhafter, wechselseitiger Prozess aus Inspiration und Konstruktion. Das zu lernen von Baudelaire, das war wichtig. Musik O-Ton 39 (Röhnert) Ich denke, man kann Baudelaires Großstadterfahrung mit unserer heutigen medialisierten Metropolenerfahrung vergleichen, als bei ihm schon Elemente vorhanden sind, mit denen wir heute noch etwas anfangen können. Also dieser Blick auf eine völlig konstruierte Landschaft, am nachvollziehbarsten etwa in dem wahrscheinlich am weitesten gehenden Gedicht überhaupt bei ihm, aus den "Tableux parisiens" , das Gedicht "Rêve parisien", "Pariser Traum", was manche Interpreten auf Haschischerfahrungen zurückführen wollen. Und hier ist ja diese ganz konkrete Metropole Paris völlig verfremdet, ja, zu einer Stadt, die scheinbar irgendwie aus 1001 Nacht zu kommen scheint, aus diesen Feenreichen, und andererseits aber Konstruktionen vorhanden sind, die man zurückführen kann auf ganz konkrete Orte in Paris selbst. Zitator 1 Architecte des mes féeries, Je faisais, à ma volonté, Sous un tunnel des pierreries Passer un océan dompté; Zitator 1 (nach "féeries" drüberlegen) Erbauer meiner Zauberwelten, ließ ich nach meinem Willen durch ein Gewölbe von Juwelen gebändigt ein Weltmeer fluten; O-Ton 40 (Rinck) Ich hab hier etwas aus den Fragmenten zu den Prosagedichten (blättert), wo es eben heißt "Je vois... quelque chose en rêve, que je voudrais quelquefois le plus dormir", und dem Text, dem ich das vorangestellt hab, heißt "In Kleidern schlafen" und handelt eben von einer Mischung von Wach- und Traumbewusstsein. Musik Zitator 2 Die Dämmerung, die großen Boulevards, Kondens, Schnee, Eis Dein gelber Faserschritt, Streifen von der Zeit verwischt, wie ein Schritt um den anderen, wie ein Tag und der nächste die Gegenwart verlässt. Nur die Lichter sind real, wo es den Ort, und darin dich, nicht gibt, das Hinterher kein Wort für einen zweiten Blick, nur die Dämmerung, die großen Boulevards ... Zitatorin Jan Volker Röhnert O-Ton 41 (Röhnert) Es ist wichtig, um poetisch wahrzunehmen, dass man einerseits die Dinge sie selber sein lässt oder versucht, ihnen nicht von außen schon irgendeine festgelegte Bedeutung vorzuschreiben, und sie begreift als Angebote an die Imagination, was sie aus ihrem augenscheinlichen Zusammenhang herausreißt, was sie in neue Zusammenhänge stellt. Es gibt, in der Vorrede zu seinen Prosagedichten diese wunderschöne Passage. "Wer von uns hätte nicht schon von einer Prosa geträumt, die alle Saltosprünge des Bewusstseins aufnimmt", und das ist zentral für den poetischen Akt, ja, das, was sich in der Vorstellung, im Bewusstsein abspielt, dass man das auch mit als Vorlage für die poetische Kreation nimmt. Musik O-Ton 42 (Kolbe, über Musik legen) Dieses Vakuum, das zwischen mir und der Welt da ist, das bearbeite ich ständig, das perforiere ich ständig, um irgendwie zu sagen, was ist denn dahinter, hinter dieser Wand. Und das ist das, was Dichter tun, ja. Und wenn es gelingt und wenn sie sozusagen kleine Nadelstiche in die Schwärze setzen, dann fällt da Licht durch. Zitatorin park das weiße licht in den straßen bündelt die stadt und im park über den wegen, wo der sommer verbrannt wird stehen die segel des rauchs. wir opfern zuerst deine keuschheit, liebster und erhalten die gabe der sprache dafür erschöpft und gelöst liegen die körper im schatten der rede Zitator 2 Monika Rinck Musik O-Ton 43 (Kolbe, über Musik legen) Da ist eben plötzlich die Panflöte von Meister Baudelaire wieder in der Nähe. Musik (hochziehen) 1