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O-Ton 3 Stolle Wenn Sicherheitspolitiker von Sicherheit sprechen, meinen sie ja so eine diffuse indi- viduelle Sicherheit: Schutz vor nicht näher bezeichneten Bedrohungen, vor Kriminali- tät, sie meinen aber nicht soziale Sicherheit. O-Ton 4 Leutheusser-Schnarrenberger Seit dem 11. September 2001 gibt es eine Stimmungslage, die von den Teilen der Politik, die sowieso schärfere Gesetze und mehr Eingriffsbefugnisse für die Sicher- heitsbehörden wollen, bedient wird mit immer mehr Vorschlägen. O-Ton 5 Singelnstein Es ist natürlich grundsätzlich so, dass die Grundrechte durch die Ausweitung staatli- cher Eingriffsbefugnisse immer stärker unter Druck geraten. Das kann man daran ablesen, dass das Verfassungsgericht immer öfter Maßnahmen des Gesetzgebers für verfassungswidrig erklärt hat. Sprecherin Eine Momentaufnahme. Fünf Juristen - in ganz unterschiedlichen Bereichen mit Fra- gen der Sicherheit befasst. Als Politiker, Wissenschaftler und als Rechtspraktiker. In einem ziemlich übereinstimmend. Sie kritisieren eine politische Schieflage. Musik Sprecher vom Dienst: Im Namen der Sicherheit Wie der Zeitgeist die deutsche Rechts- und Innenpolitik verändert Eine Sendung von Heiner Dahl. Atmo Bundestag mit Stimmencollage Debatte Sprecherin Deutschland fast 11 Jahre nach den symbolträchtigen Terroranschlägen von New York. Unter den sichersten Ländern der Welt ganz oben stehend. Mit einer Gesell- schaft, die trotz Wirtschafts-, Finanz- und Währungskrisen unter stabilen politischen und sozialen Rahmenbedingungen lebt. Die politische Grundstimmung zur inneren und äußeren Sicherheit hat sich dennoch stark verändert. Politiker haben "Sicherheit" zu einer der großen Politik-Chiffren unserer Zeit gemacht. Sie reden in immer mehr Zusammenhängen davon. Aber immer seltener von Sicherheit als Zustand in unse- rem Land und immer öfter von Sicherheit als überragend wichtigem politischen Ziel. O-Ton 6 Bosbach Wir wissen schon seit Jahren, dass das die größte, die gefährlichste Herausforde- rung ist für die innere Sicherheit, nicht nur, aber auch unseres Landes, und wir haben ja auch infolge des 11.Septembers eine ganze Fülle von Anstrengungen unternom- men, übrigens nicht nur gesetzgeberischer Art, was völlig übersehen wird, dass wir ebenfalls auch auf Bundesebene das Personal deutlich aufgestockt haben, das gilt nicht nur für das Bundeskriminalamt, das gilt auch für den Verfassungsschutz. Sprecher Wolfgang Bosbach, Vorsitzender des Bundestags-Innenausschusses. Einer der er- fahrensten CDU-Fachpolitiker in Fragen der inneren und äußeren Sicherheit. Die Be- kämpfung des internationalen Terrorismus steht ganz oben auf seiner politischen Agenda und er ist fest davon überzeugt, in Deutschland gebe es eine zu hohe Krimi- nalitätsbelastung. O-Ton 7 Bosbach Es gibt besorgniserregende Entwicklungen, wenn man sich mal die letzten Jahre an- sieht. Wir haben ein sehr, sehr hohes Dunkelfeld. Wir stagnieren auf hohem Niveau. Sprecherin "Die Verurteiltenzahl ist gegenüber 2007, als die Strafverfolgungsstatistik erstmals flächendeckend in Deutschland durchgeführt wurde, um 9 Prozent zurückgegange- nen. Ein rückläufiger Trend ist in den meisten Deliktgruppen zu verzeichnen." Sprecher So das Statistische Bundesamt 2011. Auch nach den polizeilichen Kriminalstatistiken der letzten Jahre verläuft die Kriminalitätsentwicklung in Deutschland mit geringen Veränderungen in Einzelbereichen völlig unspektakulär. Wolfgang Bosbach verteidigt dennoch seine feste Überzeugung gegenüber politischer Zurückhaltung anderer. O-Ton 8 Bosbach Uns braucht man nicht zu wecken, wir sind schon seit Jahren wach. Wir kennen die Probleme, aber wenn man sie anspricht, gilt das oft als politisch nicht korrekt, insbe- sondere in Verbindung mit dem Thema Ausländerkriminalität. Das wird schon mal gar nicht gerne gesehen, wenn man da Zahlen, Daten und Fakten nennt. Die sind zwar alle unbestreitbar richtig, aber offensichtlich sind einige der Auffassung, das gehört sich nicht, wenn man über diese Phänomene spricht. Sprecherin Wolfgang Bosbach repräsentiert beim Thema Innere Sicherheit den politischen Mainstream. Musik O-Ton 9 Bosbach Was die Wahrnehmung der Gefährdung durch den internationalen Terrorismus an- geht, war natürlich der 11. September ein Wendepunkt. Sprecherin Nicht wenige Politiker folgen dem Kalkül, extreme Terrorszenarien wie das des 11.Septembers als latent präsent darzustellen. Statt reale Gefährdungen zu be- schreiben, zeigen ihre Einlassungen ein eher gespaltenes Verhältnis von Wahrneh- mung und Wirklichkeit nach dem Motto: Wir fühlen stärker, als wir wissen. Manches daran erinnert an den titelgebenden Namen der Unterhaltungsband "Erste Allgemeine Verunsicherung." Die hat in ihrem Repertoire die bekannte Refrainzeile "das Böse ist immer und überall." Doch Politiker, die sich rhetorisch dieser nicht ganz ernst gemeinten Schreckenslyrik annähern, laufen Gefahr, einer Art nervöser "Ge- fühlspolitik" das Wort zu reden. Die zeitigt schon seit Jahren sehr reale politische Schwerpunktverlagerungen in Fragen der Inneren Sicherheit. O-Ton 10 Leutheusser-Schnarrenberger Wir haben die Rasterfahndung, die immer weniger an konkrete Anforderungen ge- knüpft wird. Wir haben die gesamte Digitalisierung von Fingerabdrücken, von Ge- sichtskennungen. Wir haben immer mehr auch die Forderung, die Bundeswehr müs- se im Inneren viel stärker auch aktiv werden zur Abwehr von Terrorgefahren. Wir ha- ben immer mehr Kompetenzen für Bundesnachrichtendienst, für Verfassungsschutz- ämter, die weit im Vorfeld ohne konkreten Verdacht beobachten dürfen, heimlich er- mitteln dürfen, heimlich Aufnahmen machen dürfen und auch heimlich die Online- Durchsuchung des privaten PCs durchführen können. O-Ton 11 Montag Wenn wir die letzten 10 Jahre der Rechtsentwicklung in der Innen- und Rechtspolitik in Deutschland und in der Europäischen Union ins Auge nehmen, dann stellen wir fest, die Debatte um mehr und bessere Sicherheit ist intensiv geführt worden und die Debatte um Freiheiten für die Menschen hatte eher eine Situation einer Abwehrver- anstaltung. Sprecher Was die liberale Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und den grünen Rechtspolitiker Jerzy Montag besorgt, wird mehrheitlich anders gesehen. Bundestag Atmo Stimmen Debatte Sprecher Gerade in den Bereichen, die funktionell eng mit Fragen der Sicherheit verbunden sind, folgen Politiker mit ihren Forderungen und gesetzlichen Maßnahmen einem kla- ren Trend: mehr Eingriffsbefugnisse für staatliche Behörden und weniger Grund- rechtsschutz für die Staatsbürger. O-Ton 12 Leutheusser Schnarrenberger Dieses Null Toleranz, was ja gerade zum Credo erhoben worden ist, hat doch auch hier in Deutschland Eingang gefunden in die Rhetorik von Innenpolitikern, die dann immer sagen, es ist viel wichtiger, alles Erdenkliche für die Sicherheit zu tun als nur vielleicht ein mögliches Delikt noch zuzulassen und nicht verhindern zu können. Wir sollten den Bürgerinnen und Bürgern nicht vormachen, dass wir ihnen absolute Si- cherheit geben könnten. Da können wir noch so viele Gesetze verschärfen, das wird nie gelingen, und deshalb sollten wir uns nicht diesen einfachen Formulierungen und diesen einfachen Forderungen hingeben, weil sie ganz gefährliche Auswirkungen haben. Sprecherin Wie kaum etwas anderes ist die Rechtspolitik ein Lackmustest für die freiheitliche Demokratie. An ihr ist direkt ablesbar, wie das Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit politisch austariert wird. Im Zentrum steht dabei die Kriminalpolitik. Dabei geht es um Strafgesetze, Kriminalprävention und um Strafvollzug. Und im großen Zusammenhang immer auch darum, wie die Grundrechte der Bürger vom Staat be- achtet und geschützt werden. Sprecher Was soll als Kriminalität gesetzlich gekennzeichnet und bestraft werden? Wie soll Kriminalität verhütet und wie bekämpft werden? O-Ton 14 Montag Kriminalitätspolitik ist die Gestaltung durch Strafrecht. Strafrecht ist das schärfste Mittel, das ein demokratischer Rechtsstaat kennt, und deswegen ist eine rationale Kriminalpolitik eine Politik, die die Fakten zur Kenntnis nimmt, die die Fakten einzu- ordnen weiß und die sich jeglichen Schnellschusses enthält. Sprecherin Sagt der grüne Parlamentarier Jerzy Montag. Die politischen Zeichen der Zeit zeigen eine ganz andere Entwicklung an. Meint das Berliner Autorenduo Tobias Sin- gelnstein und Peer Stolle. In ihrem Buch "Die Sicherheitsgesellschaft" analysieren sie, der Staat habe seine Eingriffsbefugnisse gegen abweichendes Verhalten und Kriminalität exzessiv aufgerüstet. Immer neue Anti-Terrormaßnahmen, Vorratsdaten- speicherung, verschärfte Straf- und härtere Strafvollzugsgesetze und eine einseitig ausgerichtete Kriminalprävention seien dafür kennzeichnend. Das Brisante daran: Alle diese Maßnahmen stehen nicht unabhängig nebeneinander, sondern ergänzen sich und summieren sich zu einem neuen Regime sozialer Kontrolle der Bürger. Be- währte Grundsätze der Kriminalpolitik bleiben dabei außer Acht. O-Ton 15 Singelnstein Ich glaube, dass man die Orientierung auf so ein Ideal der Sicherheit in allen mögli- chen Bereichen der Kriminalpolitik beobachten kann. In den 70er Jahren ist die Re- sozialisierung, also die Besserung des Straftäters in den Vordergrund getreten, ne- ben die Abschreckungswirkung, die man dem Strafrecht zuschreibt. Beide Funktio- nen des Strafrechts verlieren in der jüngeren Zeit an Bedeutung, anstelle dessen tritt die sogenannte positive Generalprävention in den Vordergrund, das heißt, das Ver- trauen der Allgemeinheit in die Rechtsordnung soll durch die Strafe gestärkt werden. Sprecher Was Tobias Singelnstein aus der Sicht des Strafrechtswissenschaftlers in großen Zusammenhängen kritisiert, erlebt Peer Stolle in Einzelfällen bei seiner täglichen Ar- beit als Strafverteidiger. O-Ton 16 Stolle Es wurden neue Straftatbestände geschaffen wie z. B. Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat. Da geht es nicht darum, ob ein Anschlag begangen worden ist, sondern es geht nur darum, sich Fähigkeiten, die zur Begehung eines Anschlags nutzbar sein könnten, dass man die sich angeeignet hat. Das zu ermitteln, das basiert in der Regel auf Indizien, Vermutungen, Annahmen, das sind sehr weit- reichende und nicht immer zielführende Ermittlungen. Anderseits merkt man in den Strafverfahren, dass immer mehr Technik eingesetzt wird, dass es sehr schwer ist nachzuvollziehen, wie eigentlich ein bestimmtes Ermittlungsergebnis zustande ge- kommen ist, weil vielfältige Maßnahmen ergriffen werden, die gar nicht mehr für ei- nen Verteidiger oder einen Beschuldigten nachvollziehbar sind. O-Ton 17 Singelnstein Parallel dazu werden aber auch die präventivpolizeilichen Befugnisse ausgeweitet. Das heißt, die Polizei kann tätig werden, weil sie davon ausgeht, dass eine Gefahr besteht. Dahinter steht eine Präventionsorientierung. Die Vorstellung ist, und da sind wir wieder bei der Sicherheit, dass man Straftaten und gefährliche Verhaltensweisen verhindern möchte, bevor sie überhaupt entstehen. Sprecher Werden Tatverdacht und konkrete Gefahr wegen eines übersteigerten Präventions- verständnisses abgelöst von Mutmaßungen als Voraussetzung für staatliches Ein- greifen? Musik Sprecherin Wohin es führen kann, wenn ein Staat bei der Kriminalprävention seine rechtsstaatli- che Selbstbegrenzung aufgibt, hat Steven Spielberg im Film "Minority Report" ge- zeigt. In diesem Zukunftsszenario werden Verbrechen mit absoluter Sicherheit ver- hindert. Indem man die Menschen immer und überall überwacht und sie verhaftet, bevor sie zum Verbrecher werden können. Dafür hat man Precrime installiert, ein Sicherheitssystem, das die Gedanken kontrolliert, und Precogs, Personen, die mit hellseherischen Fähigkeiten Straftaten voraussehen. Die Mitglieder dieser Sicher- heitstruppe wissen, wann und wo potentielle Täter sich verdächtig verhalten und schalten sie vorbeugend aus. Weil sie sogenannte "Gefahrpersonen" sind. Sprecher Soviel ist unbestreitbar: Ein Sicherheitsregime wie das mit den Film-Precogs hat im Rechtsstaat keinen Platz. Aber wie weit darf der Rechtstaat im realen Leben die Prä- vention gegen Terror und Kriminalität ausweiten? Und wo beginnen grundrechtswid- rige Abgründe der Prävention? O-Ton 18 Leutheusser-Schnarrenberger Vorverlagerung von Strafbarkeit weg von dem konkreten Handeln hin zu der allge- meinen Gefährlichkeit ist in meinen Augen eine wirklich sehr problematische Entwick- lung. Dass allein die Mitgliedschaft in einer Gruppe von zwei Leuten, bei denen einer vielleicht kriminelle Dinge im Kopf hat, dann schon als eine kriminelle Vereinigung bewertet werden kann und jemand, der nur jemand kennt, damit mit einem sich auch gleich strafbar macht, ist ja nicht bestimmbar und nicht vorhersehbar für den Einzel- nen. Da darf man auf keinen Fall diese Schraube weiter drehen, weil wir dann weg- kommen davon, dass ein konkretes Verhalten bestraft wird, sondern eher Verhal- tensmuster, Denkrichtungen oder Vorstellungsrichtungen schon dazu führen, dass man in den strafrechtlichen Bereich kommt, und das geht zu weit. Sprecherin An der Schraube angenommener Gefährlichkeit der Bürger immer weiter zu drehen, ist kriminalpolitisch selbst gefährlich. Wenn vermutete Vorstellungen und Denkrich- tungen dafür ausreichen können, Menschen strafrechtlich zu belangen, können irgendwann auch personalisierte Zuschreibungen an das individualisierbare Böse in den Fokus staatlicher Sicherheitspolitik geraten, weiß auch die Bundesjustizministe- rin: O-Ton 19 Leutheusser-Schnarrenberger Es ist schon die Gefahr da, dass Menschen, die der islamischen Religion angehören, pauschaler in den Verdacht geraten, eher terroristisch auch verdächtig und auffällig zu sein, dass es zu einer gewissen Stigmatisierung von Personengruppen kommen kann, die sich einfach vielleicht anders verhalten. Hier glaube ich müssen wir weg- kommen von Prangern, von Stigmatisierung, von einseitiger Verurteilung, weil auch das der Problematik nicht gerecht wird, aber auch zu ganz gefährlichen Emotionen führen kann, dann wird nämlich wieder so ein Freund-Feind-Denken entstehen, und ich glaube, gerade dieses Klima, das dürfen wir nicht schüren und das wäre gefähr- lich. Sprecher Kriminologen warnen vor rechtsstaatlich inakzeptablen Versuchen, Menschen ohne einen konkreten Tatverdacht zu inhaftieren oder ganz unschädlich zu machen, nur weil man sie als gefährlich definiert hat. Diese Tendenz enthielt beispielsweise das Luftsicherheitsgesetz. Mit der Möglichkeit, ein Flugzeug abschießen zu dürfen, nur gestützt auf die Wahrscheinlichkeit, dass darin gefährliche Terroristen sitzen und der weiteren Wahrscheinlichkeit, dass die Fluggäste sich selbst nicht wehren können. Das Bundesverfassungsgericht hat diesen gesetzgeberischen Versuch des Verfas- sungsbruchs mit seinem Urteil verhindert. O-Ton 20 Montag Ich persönlich bin dankbar für jede Entscheidung, die uns darauf verweist, dass die Ausgestaltung von Sicherheitsgesetzen auch im Vollzug die Grundrechte zu wahren hat. Die sagen, scharfe Waffen dürft ihr haben, aber wie ihr sie einsetzt, dabei müsst ihr die Grundrechte der Betroffenen und insbesondere auch der Nichtbetroffenen be- achten. Musik Sprecherin Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger und der Oppositionspolitiker Jerzy Montag fordern Selbstbeschränkung und Selbstkontrolle in der Rechtspolitik ein. Das hat seinen guten Grund in gemachten Erfahrungen mit dem Bundesverfas- sungsgericht. Das hat in jüngster Zeit immer wieder Sicherheitsgesetze für rechtswid- rig erklärt, weil sie den Schutz der Grundrechte verletzten. O-Ton 21 Montag Es gibt Strafnormen, gegen die wir uns vehement zur Wehr gesetzt haben. Beispiel: Die Strafbarkeit des Besuchs von Terrorcamps als vorverlegtes Strafrecht, da dürfen wir nicht übertreiben. Im Grundsatz ist das Parlament, sowieso in der permanenten Pflicht die Wirksamkeit oder Unwirksamkeit seiner Gesetze zu bedenken und daraus für die Zukunft Schlüsse zu ziehen. Evaluation plus zeitliche Befristung ist ein sehr, sehr gutes Instrument, um den Bundestag immer wieder daran zu erinnern: Denk darüber nach, was du mit den Gesetzen anstellst, die du verabschiedest. Sprecherin Gerade daran mangelt es. Politiker haben in wenigen Jahren immer neue Bausteine für eine Art von Sicherheitsstrafrecht zusammengetragen. In dieser Architektur sind Polizeireicht, Strafrecht und Strafprozessrecht eng miteinander querverbunden. Mit verdachtsunabhängigen Kontrollen und Ermittlungen. Mit abstrakten Gefährdungsde- likten statt klassischer Erfolgsdelikte. Mit mehr beschleunigenden Verfahrensregeln. Mit weniger Begründungspflichten in Strafurteilen, mit verkürzten Rechtsmittelwegen. Kriminologen kritisieren seit Jahren einen "gesetzlichen Überschuss" im gesamten Bereich der Sicherheits- und Kriminalpolitik. Das jüngste Beispiel dafür ist der Warn- schussarrest im Jugendstrafrecht. Jugendrichter sollen künftig neben einer Bewährungsstrafe auch einen solchen Ar- rest von bis zu vier Wochen anordnen dürfen. So haben es die Abgeordneten der Regierungskoalition im Juni im Bundestag beschlossen. Gegen die Opposition und die geballte Expertise von Fachleuten. Collage Stimmen Warnschussarrest Sprecher Das Einzelbeispiel illustriert einen gängigen Politikstil. Viele Politiker zeigen wenig Interesse daran, auch Rechenschaft darüber abzulegen, ob sie mit ihren Gesetzen tatsächlich für mehr Sicherheit sorgen. O-Ton 22 Albrecht Es gibt keine Evaluation von Gesetzen. Die Gesetze, die heute im Bereich des Straf- rechts, der öffentlichen Sicherheit erlassen werden, sind Dummy-Gesetze. Es sind Knautschbegriffe mit unglaublicher Diffusität, man hat nicht mehr die alten klaren Normen des Wenn-Dann-Prinzips, so wie mal Gesetze waren, sondern am liebsten hat man Gefährdungstatbestände, wo der Straftäter gar keinen Schaden mehr her- beiführt, sondern nur noch irgendwas gefährdet: unsere Sicherheit, die Wirtschaft, die Umwelt. Und Gefährdung kann man überhaupt nicht nachweisen, die kann man nur behaupten. Sprecher Professor Peter-Alexis Albrecht war bei vielen Gesetzgebungsverfahren als Sachver- ständiger dabei. Er hat Bundesregierungen und Rechtsausschüsse des Bundestages beraten. Seine langjährige Erfahrung mit Rechtspolitikern ist für diese wenig schmei- chelhaft. O-Ton 23 Albrecht Sicherheit knüpft nicht etwa am Interesse des einzelnen Menschen an, dass er sicher lebt, sondern Sicherheit wird politisch verstanden als ein Sammelsurium von Mög- lichkeiten, Rechte einzuschränken und den Bürger daran zu gewöhnen, von seinen Grundrechten Abstand zu nehmen, sie nicht mehr als Abwehrrechte zu verstehen, sondern sich einzuordnen, integrativ sozusagen an der Sicherheit teilzunehmen. Und das ist ein fatales Management von Sicherheit, nämlich Sicherheit des Staates und nicht Sicherheit der Menschen. Sprecher Bei vielen Gesetzgebungsverfahren mangelt es an fundierten Untersuchungen, mit denen man evaluiert und danach unaufgeregt entscheidet: Was hat die bisherige Gesetzeslage gebracht? Wo gibt es vielleicht auch ein Zuviel an Gesetzesparagraphen? Wo kann man auch wieder etwas zurückführen? Wo gibt es möglicherweise auch Gesetzeslücken, die geschlossen werden müssen? Sprecherin Viele Sicherheits- und Rechtspolitiker haben dafür wenig Sinn. Sie begleiten bei ih- rem "operativen Geschäft" nahezu jedes neue Gesetz mit einer immer gleich klin- genden Verstärker-Rhetorik: Wir brauchen mehr vom Gleichen. Das ist dringend not- wendig im Interesse der Sicherheit. Sprecher Die Fachwissenschaft aus Strafrecht und Kriminologie klagt, ihre validen Befunde würden zurückgedrängt oder ganz übergangen werden. Stattdessen operierten Si- cherheitspolitiker allzu oft mit Gesetzesreflexen im populistischen Ungefähren. O-Ton 24 Albrecht Die Diffusität von Gesetzen führt dazu, dass man Gesinnungsstrafrecht produziert. Es gibt eine Fülle von Tatbeständen, wo bereits die Gesinnung kriminalisiert wird. Und daran zeigt sich ebenso, dass man dort keine klaren Begrifflichkeiten einführt, sondern nur noch Tendenzen bestraft. Das ist leider ein Grundprinzip der jetzigen Entwicklung, dass das Recht nicht mehr dazu da ist, die Freiheit auch des Einzelnen zu schützen, denn das ist eigentlich die Aufgabe des Strafrechts. Zu sagen, wo ist genau die Grenze zwischen Strafbarkeit und Nicht-Strafbarkeit. Heute wird mit der Opportunität, also dem Gegensatz von Legalität gearbeitet im Interesse der Sicher- heit, im Interesse der Prävention, alles diffus, Hauptsache der gute Wille steht dahin- ter, und wir wissen genau, dass oft der gute Wille das Gegenteil von gut ist. Sprecher Die Auseinandersetzungen zwischen Rechtswissenschaftlern und Rechtspolitikern in Fragen der Sicherheit machen ein Dilemma sichtbar. Rechtspolitiker halten oft und gerne den Transmissionsriemen an, der wissenschaftlich abgesicherte Befunde in ihre politischen Entscheidungsprozesse befördern könnte. Quer durch die politischen Lager handeln sie nach der Devise: "Wir tun, was uns gefällt." O-Ton 25 Montag Der Input ist insbesondere auf dem Gebiet des Strafrechts und des Strafprozess- rechts hochqualifiziert und sehr dicht. Aber Gesetze sind Ausdruck des politischen Streits in einer demokratischen Gesellschaft und gehorchen Interessen, Einflüssen, allem Möglichen. Ich würde mir mehr Zuhören aufseiten der Politik wünschen, ich würde mir wünschen, dass man die an uns herangebrachten wissenschaftlichen Er- kenntnisse intensiver auswertet und mehr beachtet, aber ich bin Abgeordneter genug zu sagen, zum Schluss entscheide ich. Sprecherin Wenige Politiker sind wie Jerzy Montag bereit die Hin- und Hergerissenheit zwischen fachlicher Erkenntnis und politischer Entscheidung zuzugeben. Karl Valentins un- nachahmlich formuliertes Bonmot "Mögen täten wir schon wollen, aber dürfen haben wir uns nicht getraut" lässt grüßen. Die Angst vieler Politiker ihren Selbstanspruch als oberste Problemlöser zu verlieren, verhindert gerade in Sicherheitsfragen viel an poli- tischer Exzellenz. O-Ton 26 Bosbach Wir haben immer wieder den gleichen Ablauf. Wenn ein fürchterliches Verbrechen geschieht. Im ersten Akt wird die Politik gefragt, was denn jetzt zu tun sei. Im zweiten Akt kommt dann sofort die Warnung vor der Überreaktion. Im dritten Akt melden sich die sogenannten Experten zu Wort. Die genau wissen, was man nicht machen darf, uns allerdings auch nicht mitteilen, was man machen sollte. Und im vierten Akt bleibt dann alles so, wie es immer schon war, bis dann das nächste Verbrechen geschieht, und dann beginnt alles wieder von vorne. Sprecher Wolfgang Bosbach weist Bedenken zurück, sein Empfinden könnte den fachlichen Umgang mit Kriminalität zu schlicht kommunizieren. Der gelernte Jurist bewegt sich damit im Trend des "gesunden Volksempfindens." Wie Durchschnittsbürger reagieren auch Politiker auf spektakuläre Kriminalfälle ganz überwiegend nach einem Reiz- Reflex-Schema. Mit dem Ruf nach härteren Gesetzen. Das mündet in einem rechts- staatlich gefährlichen Selbstverstärkerkreislauf. Wer die Wahlbürger auf diese Weise "ernst nimmt", handelt bestimmt volksnah. Sicherlich aber oft auch sachlich falsch oder sogar verantwortungslos. O-Ton 28 Albrecht Das ist die Modernität unserer Zeit, dass die Ängste, die durch mediale Aufmerksam- keit, bei den Bürgern auftauchen, dass diese Ängste nun scheinbar bekämpft wer- den. Weil durch Prävention und Sicherheitsgesetze diese Ängste überhaupt nicht angegangen werden können. Im Gegenteil, da ja immer neue terroristische Eingriffe erfolgen, hat der Bürger den Eindruck, es wird viel zu wenig getan, man muss noch viel mehr qua Sicherheit qua Prävention an die Grundrechte heran. Das ist eine fata- le Fehlinterpretation von bürgerlicher Freiheit, die in unseren Zeiten leider völlig ab- handenkommt. Sprecher Peter-Alexis Albrecht warnt Politiker vor einem Paradox: den Bürgern immer mehr Sicherheit zu versprechen und sie gerade dadurch immer mehr zu verunsichern. Die Versuchung dazu besteht. Sicherheit ist schon ihrem Wesen nach immer bedroht. Sie ist nicht mess- und nicht fassbar und damit letztlich auch nie zu erreichen. Die alles entscheidende Frage für Politiker im Rechtsstaat ist die nach dem rechten Ver- hältnis zur Freiheit: Wie viel davon darf man der Sicherheit opfern? Sprecherin Franz Kafka hat in seinem gleichnishaften Roman "Der Prozess" messerscharf ana- lysiert, was auf dem Spiel steht, wenn der einzelne Staatsbürger nicht sicher im Staat sein kann, sondern selbst als stete Gefahr für die Sicherheit des Staates ausgemacht wird. Sein K. wird verhaftet. Ohne jeden sichtbaren Grund, eine Straftat begangen zu haben. Vor dem Richter sagt er: Sprecher: Was mir geschehen ist, ist ja nur ein einzelner Fall und als solcher nicht sehr wichtig, da ich es nicht sehr schwer nehme, aber es ist ein Zeichen eines Verfahrens, wie es gegen viele geübt wird. Sprecherin Wir tun gut daran, Kafkas Romanszenario nicht in Reichweite unserer heutigen Le- benswirklichkeit kommen zu lassen. Denn dadurch würde das Vertrauen der Bürger in den schützenden Grundrechtsstaat zerstört. Tobias Singelnstein übersetzt das eins zu eins in unseren aktuellen Sicherheitsdiskurs. O-Ton 29 Singelnstein Was wir heute für Vorstellungen von Grundrechten haben, ist ja nichts Feststehen- des, sondern das unterliegt einem ständigen gesellschaftlichen Wandel. Und die De- batten, die wir derzeit haben über individuelle Sicherheit, über Kriminalität, über das, was Staat dürfen soll, die beeinflussen natürlich auch unsere Vorstellungen über Demokratie und Rechtsstaat und Grundrechte und hinterlassen da ihre Spuren. Musik Sprecher vom Dienst: Im Namen der Sicherheit Wie der Zeitgeist die deutsche Rechts- und Innenpolitik verändert Eine Sendung von Heiner Dahl. Es sprachen: Nadja Schulz-Berlinghoff und Viktor Neumann Regie: Klaus-Michael Klingsporn Redaktion: Constanze Lehmann Produktion: Deutschlandradio Kultur 2012 1