Sprecher (über Musik): Und Moses trat in das Tor des Lagers und sprach: Her zu mir, wer dem Herrn angehört! Da sammelten sich zu ihm alle Kinder Levi. Und er sprach zu ihnen: So spricht der Herr, der Gott Israels: Gürte ein jeglicher sein Schwert um seine Lenden und gehe durch das Lager hin und her von einem Tor zum andern und erwürge ein jeglicher seinen Bruder, Freund und Nächsten. Die Kinder Levi taten, wie ihnen Mose gesagt hatte; und fielen an dem Tag vom Volk dreitausend Mann. (Exodus 32) Sprecherin: Seit dem 11. September 2001 ist sie wieder in aller Munde: die Gewalt in religiösen Dingen. Das, was oft die „Wiederkehr der Religion“ genannt wird, ist mehrdeutig. Denn mit ihr ist nicht nur gemeint, dass die Religion als Grund für Terror ebenso wie im sogenannten „Krieg gegen den Terror“ traurige Rollen spielt. Gemeint ist auch: Nach der Säkularisierung, also der Verweltlichung, nach dem Siegeszug von Naturwissenschaft und Technik ist die Religion nicht etwa im Schwinden begriffen. Als gesellschaftliche Größe, als geistige und politische Dimension des Menschlichen bleibt sie entscheidend. Sprecher (über Musik): Lobe den Herrn, meine Seele! Herr, mein Gott, du bist sehr herrlich; du bist schön und prächtig geschmückt. Licht ist dein Kleid, das du anhast; du breitest aus den Himmel wie einen Teppich; du wölbest es oben mit Wasser; du fährst auf den Wolken wie auf einem Wagen und gehst auf den Fittichen des Windes; der du machst Winde zu deinen Engeln und zu deinen Dienern Feuerflammen. (Psalm 104) Sprecherin: Verwunderlich ist diese Renaissance der Religion im Grunde nicht. Denn die objektive Naturwissenschaft liefert keinerlei Sinnstiftungen oder Erklärungen des großen Ganzen. Die „Leerstellen“, die der Philosoph Hans Blumenberg im Bewusstseinsgefüge des Menschen nach dem Zeitalter der Religionskritik diagnostizierte, müssen immer wieder umbesetzt werden. Eine enttäuschte Katholikin, die sich der buddhistischen Meditation zuwendet, ist nicht als säkular, nicht als weltlich, zu verstehen. Und auch der Spötter, der den Atheismus als eine Religion wie jede andere bezeichnet, trifft insofern ins Schwarze, als allenfalls eine Sinnstiftung die andere ersetzen kann. Der absolute Zweifel schubst den modernen Menschen – so könnte man sagen – in den einen oder anderen Glauben. Das scheinen Leben und Geist vorzugeben. Musik Sprecherin: Es ist ausgerechnet ein Ägyptologe, der Licht in dieses Wirrwarr bringen will, nämlich der Heidelberger Gelehrte Jan Assmann; und das ist schon verwunderlich. Ägyptologie – ein klassisches Orchideenfach. Und zudem: Sind die „Götzen“ Ägyptens nicht nach wie vor die Gräuel des jüdisch-christlich-islamischen Kulturraumes? Jan Assmann, der erklären will, wie die Gewalt in die Religion kam; Jan Assmann, der daran erinnern will, wie man diese Gewalt wieder los wird, begibt sich auf Spurensuche in Ägypten, um unsere geistigen Horizonte neu zu vermessen. Wenn wir von den Wurzeln des Abendlandes sprechen, suchen wir sie gewöhnlich im geistigen Spannungsfeld von Athen und Jerusalem; bei den alten Griechen und Israeliten. Dass nun Theben und Amarna, die Sonnenstadt des Echnaton, dazukommen; dass die Ägypter aus der hergebrachten Polarität ein Dreieck oder gar Viereck kultureller Prägung werden lassen – das ist das Verdienst von Jan Assmann. Dass den Israeliten Ägypten ein religiöser Graus war, von dem es sich unbedingt abzusetzen galt, mag noch zu unserem Allgemeinwissen gehören. Aber dass Ägypten die Vorgeschichte und Folie unseres kulturellen Koordinatensystems darstellt – von Moses bis Mozart sozusagen –, das zu erforschen ist das Verdienst von Jan Assmann; seit mehr als fünfzig Jahren, seit 1961, als er an seiner Dissertation arbeitete. O-Ton 1 ASSMANN: Da, in diesem Sommer transkribierte ich einen Text, den es nur als Faksimile einer ägyptischen Handschrift gab, das muss man ja auch erst einmal transkribieren ins Hieroglyphische und studieren usw. Diesen Text übertrug ich, das ist der Papyrus Berlin 3049, der damals völlig unbekannt war, kein Mensch hat den gelesen oder zitiert. Und ich war so etwas von fasziniert von diesem Text, und zwar von dem theologischen Niveau des Textes. Da muss man dazu sagen, dass ich zu dieser Zeit auch intensiv griechisch studierte, und sehr intensiv Platon las. Und ich fand die ganze – ich will nicht sagen: Philosophie, lieber Theologie in diesem Text wieder, wahrscheinlich neuplatonisch, also Weltseele und so was. Gott als Beseeler, der die Welt beseelt. Ich weiß nicht, was mir dazu nicht alles einfiele, das ist wahrscheinlich auch gar nicht so bewusst, wahrscheinlich ist es ein Assoziationsraum, der diesem Text in mir eine ungeheure Resonanz verschaffte. Ich glaube, das ist überhaupt das auslösende Erlebnis gewesen, dass ich auf die ägyptischen Texte anders reagierte als meine ägyptologischen Kollegen, weil ich durch die intensive Platonlektüre da einen Assoziationraum und Resonanzraum in mir aufgebaut hatte. Sprecherin: Gewöhnlich denken wir in Religionsdingen, dass zwei einander ausschließende Konzepte durch die Weltgeschichte ziehen: Monotheismus und Polytheismus, das heißt: der Glaube an den einen Gott und der Glaube an viele Götter. Im Grunde ganz fromm nach Exodus und den Zehn Geboten glauben wir bis heute, dass der Vielgottglaube mit allerlei Grusel und Opfern, gar Menschenopfern verbunden war. Der Eingottglaube ist mit „Fortschritt im Geiste“ verbunden – so drückte es Sigmund Freud aus –, mit übersichtlicher Einheit, schlicht mit einer ersten Aufklärung des Menschengeschlechts. Jan Assmann zeigt in den Zeugnissen und Denkmälern Ägyptens und Israels – und dann durch die europäische Geistesgeschichte hinweg bis heute –, dass die Bipolarität Monotheismus/Polytheismus eine religionsgeschichtliche Chimäre ist. Noch dazu eine gesellschaftlich gefährliche Chimäre. Sie brachte – und bringt – Sprengstoff in die Weltgeschichte. Sprecher (über Musik): Und Josia schlachtete alle Priester der Höhen, die daselbst waren, auf den Altären und verbrannte also Menschengebeine darauf und kam wieder nach Jerusalem. (2. Könige 23) O-Ton 2 ASSMANN: Und es ist völlig unsinnig, sich vorzustellen, wir nennen Monotheismus eine Religion, die sagen wir die Einheit Gottes bekennt und proklamiert und stellen ihr gegenüber den Polytheismus, der von der Vielheit der Götter ausgeht. Aber es gibt überhaupt keine Religion, die die Vielheit der Götter bekennt, etwa in dem Sinne „Höre Ägypten, deine Götter sind viele...“ Das ist völliger Unsinn, „Polytheismus“ ist ein Kunstwort, eine künstliche Gegenkonstruktion gegenüber dem Monotheismus, der in der Tat, obwohl auch das ein Kunstwort ist, aber man kann doch sagen, dass bezieht sich auf Religionen, die den monos theos bekennen. Und so gibt es eben keine Religion, die die Vielheit der Götter bekennt, sondern da geht es eben auch um die Einheit und meistens geht es um die – also ich nenne das einen kosmogonischen Monotheismus, dass also die Götter aus einem Gott entstanden sind. Das ist in Babylonien, das ist in Ägypten, in Indien, das kannst du überall finden. Sprecher: Du lässt Brunnen quellen in den Gründen, dass die Wasser zwischen den Bergen hinfließen, dass alle Tiere auf dem Felde trinken und das Wild seinen Durst lösche. An denselben sitzen die Vögel des Himmels und singen unter den Zweigen. (Pslam 104) O-Ton 3 ASSMANN: Und so hab ich dann, als ich dann diesen Begriff des Kosmotheismus bei Jacobi fand, habe ich den mit Begeisterung aufgegriffen. Er münzt ihn auf Spinoza und sagt, nein, nein, Spinoza ist kein Atheist, ich würde ihn einen Cosmo-Theisten nennen. Das ist aber auch nicht viel besser. Und die Gegenüberstellung ist nun eigentlich die zwischen der Vorstellung eines Gottes, der sich in der Welt entfaltet als Welt, der sich in die Welt verwandelt, diese Welt gewissermaßen von innen beseelt und dann aber auch immer über sie hinausgreift. Da gibt es natürlich auch Vorstellungen von Transzendenz. (...) Und indem er sie erschafft, sie auch, das wird ja durch die Idee des siebten Tages deutlich gemacht, sich selbst überlässt, Gott ruht am siebten Tag, konstatiert dass es gut war und überlässt die Welt nun sich selbst. Und natürlich nicht ohne hier und da in sie einzugreifen. Diese Idee eben der radikalen Außerweltlichkeit Gottes, die, würde ich sagen, ist eben etwas Neues. Sprecher (über Musik): Du feuchtest die Berge von obenher; / du machst das Land voll Früchte, die du schaffest. / Du lässest Gras wachsen für das Vieh / und Saat zu Nutz den Menschen, / dass du Brot aus der Erde hervorbringst, / und dass der Wein erfreue des Menschen Herz / und sein Antlitz schön werde vom Öl / und das Brot des Menschen Herz stärke. (Psalm 104) Sprecherin: Ist dieser Kosmotheismus also etwas Drittes neben Polytheismus und Monotheismus? Nein, Assmann befindet, dass unser Begriff des Polytheismus durch die biblische Polemik gegen Götzen und Ähnliches geprägt wurde. Und dass er der tatsächlichen Situation in herkömmlich als polytheistisch bezeichneten Kulturen gar nicht entspricht. Denn in Ägypten, Babylonien, Griechenland – das ist Assmanns These – beseelte das Göttliche den ganzen Kosmos und manifestierte sich in Über-Gottheiten wie Isis, Aton oder Zeus. Und diese differenzierten sich kosmisch und in „Einzelgottheiten“ aus. Auf der anderen Seite ist auch in der Bibel Gott, Jaweh, als der All-Beseeler zu finden – am prominentesten in Psalm 104, der auf den Sonnengesang des ägyptischen Königs Echnaton zurückgehen soll. Jan Assmann hat den 104. Psalm mit einem Kommentar bibliophil herausgegeben. Sprecher (über Musik): Herr, wie sind deine Werke so groß und viel! Du hast sie alle weislich geordnet, und die Erde ist voll deiner Güter. (...) Ich will dem Herrn singen mein Leben lang und meinen Gott loben, solange ich bin. (Psalm 104) Sprecherin: Daneben – und im Gegensatz dazu – gibt es aber auch einen radikalen, wie Assmann es nennt, politischen Monotheismus: O-Ton 4 ASSMANN: Nun – politischer Monotheismus: Damit will ich nur betonen, dass es eben hier nicht um eine kosmologische Theorie geht, sondern, es geht um eine exklusive Gottesverehrung im Sinne der Bundestheologie, das ist etwas ganz anderes als in Ägypten. Die Idee eines Gottes, der mit einem Volk ein Bündnis schließt und dieses Volk nun im Sinne einer exklusiven Loyalität – Bundesloyalität – an sich bindet. Also dieser Loyalitätszwang – das ist ein politisches Prinzip. Sprecherin: Dahinter steht die Idee der Treue, die Treue zu Einem. Der Prophet Hosea beschreibt sie mit der Metapher der Ehe. Das Gegenteil ist das Huren mit den Göttern Babylons. Es geht um die politische Idee der exklusiven Treue. O-Ton 5 ASSMANN: Und zwar Bündnistreue, das ist eben auch, was der hebräische Begriff emunah meint: Vertrauen in den Bundesherren, der zu einem hält, wenn es einem schlecht geht. Dieses rettende Eingreifen eines befreienden Gottes, das ist nicht der Schöpfer des Himmels und der Erden, das kommt erst in einem ganz anderen Kontext der Bibel vor. Aber ursprünglich geht es um den Gott, der dich aus Ägypten herausgeführt hat. Das ist dieser Gottesbegriff – und der ist politisch, in dem Sinne, dass er nicht nur mit diesem Konzept des Bündnisses, sondern auch mit dem Begriff des Volkes operiert. Auch das ist ein völlig neuartiger Begriff, das gibt es im Babylonischen nicht, im Ägyptischen nicht, man wüsste gar nicht wie man das übersetzen sollte. Den Hebräischen Begriff Am als das Gottesvolk. Das ist genauso neuartig wie das Konzept des einen Gottes, das auserwählte Volk – das gehört zusammen, und insofern nenne ich das politisch. Sprecherin: Gegen diese politische Dimension steht das Konzept des kosmologischen Monotheismus, der die politischen Freund- und Feind-Definitionen unmöglich macht: O-Ton 6 ASSMANN: Das ist etwas ganz anderes als der kosmologische Monotheismus, der davon ausgeht, dass die ganze Welt sich aus einen Gott entfaltet hat. Sprecherin: In seinem Buch „Die Mosaische Unterscheidung oder Der Preis des Monotheismus“ aus dem Jahr 2003 fokussiert Assmann das Phänomen des politischen Monotheismus: Durch den Bann über die Götter zugunsten des einen, des einzigen Gottes sei etwas grundsätzlich Neues in die Welt der Religionen gekommen, der religiöse „Hass“. Denn durch die simple Zweiwertigkeit WAHR / FALSCH oder FREUND und FEIND in Gottesdingen, wird das Schema etabliert, das zu religiöser Gewalt führt. Damit meint Jan Assmann ganz und gar nicht, dass die religiöse Gewalt eine spezifische Sache der Israeliten und später der Juden sei. Im Gegenteil beschreibt er die jüdische Geschichte und ihr Schrifttum als ein Beispiel dafür, wie dieses brisante Schema gebändigt und zivilisiert wurde. Nein, die Kandidaten für die gräueltechnische Umsetzung der Mosaischen Unterscheidung, also des extremen politischen Monotheismus, sind Christentum oder Islam. Sprecher (über Musik): (Jesus spricht:) Ihr sollt nicht wähnen, dass ich gekommen sei, Frieden zu senden auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert. (Matthäus 10) Sprecherin: Dennoch gab es einige absurde Vorwürfe gegen Assmann, seine Thesen vom „Preis des Monotheismus“ seien antisemitisch. Man schmolz sein differenziertes Buch auf den Satz zusammen, am Sinai sei der Hass in die Welt gekommen. In diesen Tagen findet eine ausführliche Debatte zu diesem Thema auf dem Internetportal „Perlentaucher“ statt mit Beiträgen von Peter Sloterdijk, Marcia Pally, Micha Brumlik und vielen anderen. Seitdem Moses vom Sinai herabstieg, den Kult ums „goldene Kalb“ geißelte und 3000 Hebräer hinrichtete, kann man Gottesdinge überhaupt erst im Horizont des Wahrheitsbegriff verstehen. Ohne diesen Hintergrund lässt sich nicht erklären, was eine „Glaubenswahrheit“ ist – geschweige denn eine „Glaubensfalschheit“. Assmann appelliert in „Die Mosaische Unterscheidung“ schlicht für einen subtilen Relativismus. O-Ton 7 ASSMANN: Ja, das ist im Grunde eine ganz simple Überlegung: Es kommt jetzt nicht mehr darauf an, die anderen Religionen zu tolerieren, das ist zu wenig. Es kommt darauf an sie anzuerkennen. Als Religionen, die ihre Wahrheit haben. Ein Recht haben, an ihrer Wahrheit festzuhalten. Und das bedeutet eben auch dass unsere Religion ihren Anspruch auf Universalisierbarkeit zurücknimmt. Und sagt, also wir wissen, warum wir glauben, was wir glauben, aber erkennen euch völlig an, dass auch ihr wisst, was ihr glaubt. Sprecherin: Jan Assmann folgt einem pädagogischen Impuls, der in der Tradition des europäischen Humanismus steht. Er hat nichts Geringeres als die Erziehung des Menschengeschlechts im Sinne: Wenn wir die Wurzeln unserer Glaubensüberzeugungen in Ägypten und am Sinai besser verstehen und dadurch unsere Geistesgeschichte als Wechselspiel zwischen politisch-monotheistischer Radikalität und kosmotheistischer Liberalisierung begreifen, dann können wir die Herausforderungen der Globalisierung in religiösen Dingen unter Umständen glimpflich gestalten. Es wäre ein grotesker und ungerechter Irrtum, Assmann zu unterstellen, er würde den politischen Monotheismus und seine blutige Geschichte nun den Juden in die Schuhe schieben. Nein, die Bibel ist eine Sammlung von Geschichten über das Eine, die Welt, die Menschen und ihre komplexen Wechselbeziehungen. Die Gottesbegriffe im Alten Testament sind zahlreich und verschieden: „Elohim“ ist ein monotheistischer Gottesname im Plural; in einigen Priesterschriften herrscht der rigorose, abstrakte, politische Gott; in manchen Psalmen gibt es den sonnengotthaften All-Beseeler; und bei Salomo finden sich esoterische, fast schon blasphemischen Gottesvorstellungen. Trenner: Musik Sprecherin: Jan Assmann, der in den Grabkammern im Tal der Könige mit Staubpinsel und Zeichenstift am Werke war und exakte Archäologie praktizierte, entwickelte mit seiner Frau, der Anglistin und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, die Theorie des „Kulturellen Gedächtnisses“. Sie ergänzt die wissenschaftliche Perspektive auf das, was wirklich gewesen ist, um die Nachwirkung in den Erinnerungen der Späteren. Ob Moses tatsächlich 3000 Hebräer nach dem Faux-Pas mit dem Goldenen Kalb hat hinrichten lassen, ist „gedächtnisgeschichtlich“ eben unwichtig. Das Interesse fürs Kulturelle Gedächtnis fragt vielmehr danach, wie dieses Narrativ überliefert und zu den verschiedenen Zeiten verstanden, wie es erinnert wurde. Szenen wie die Moses-Geschichte am Sinai oder das Massaker an Amalekitern und den Kanaanitern gaben vor allem für das christliche und islamische Mittelalter die Folien, aber auch die konkreten Rechtfertigungen für die blutigsten Ereignisse ab. Erst wenn der Gott politisch und radikal verstanden werden kann, können Kriege und Verfolgungen zur Sache Gottes werden. In Seinem Namen geschieht dann das Grauen. Es geht Jan Assmann also mitnichten darum, die Gräuel des Bibeltextes zu beurteilen, sondern zu untersuchen, wie diese Geschichten für Spätere die Argumente liefern, Gewalt im Namen des Herrn auszuüben. Sprecher (über Musik): Und Josua dämpfte den Amalek und sein Volk durch des Schwertes Schärfe. (Exodus 17) Sprecherin: In seinem Buch „Religio duplex. Ägyptische Mysterien und europäische Aufklärung“ aus dem Jahre 2010 schreibt Assmann die „Mosaische Unterscheidung“ in der europäischen Aufklärungstradition fort. Erweitert allerdings um einen entscheidenden Aspekt: den der „Doppelten Religion“. In Ägypten gab es eine Zweiteilung des Kultes und eine zweifache Schrifttradition. Es gab Feste in den Tempeln unter Ausschluss der Öffentlichkeit – und Feste für alle. Es gab eine Schrift für die Priester und eine Schrift für alle. Die antiken und spätantiken Ägypten-Bewunderer, wie etwa der große Biograph Plutarch, machten daraus etwas, was man fortan Mysterienkult nannte: Der Öffentlichkeit, die mit einfachen Mythen, mit Volksglauben, in das Götterwesen einbezogen war, steht eine Kaste der Eingeweihten und Priester gegenüber. Der mythische Sängerdichter Orpheus soll in Ägypten in die Mysterien eingeweiht worden sein, wie auch der Mathematiker, Philosoph und Musiker Pythagoras. Assmann weitet den Begriff der Doppelten Religion, den er aus der Religionswissenschaft des 17. Jahrhunderts entnommen hat, dann bis in unsere Gegenwart aus. Sprecherin: Die Griechen glaubten, dass die Ägypter zwei verschiedene Schriftsysteme verwendeten: ein bildliches und ein unbildliches. Dabei sei das bildliche Schriftsystem, die Hieroglyphen, mit den Mysterien verbunden gewesen und würde die Geheimlehren kodifizieren. Das unbildliche Schriftsystem sei die Alltagsschrift, mit der man sich öffentlich und im Alltag austauscht. O-Ton 8 ASSMANN: Von dieser, sagen wir mal „falschen“ Theorie der ägyptischen Schriftkultur und der Idee, dass das zwei Systeme der Schriftkultur sind, und dass sich da der Doppelcharakter der ägyptischen Kultur als einer öffentlichen und einer geheimen ausspricht, da nimmt diese Konzeption ihren Ursprung und wird im frühen 18. Jahrhundert von diesem Herrn Lau, dessen Vornamen mir jetzt nicht ganz geläufig sind, auf die Formel „religio duplex est“ gebracht. Und er versteht darunter „religio revelationis“ und „religio rationis“. Also er meint Religion kommt in zweierlei Formen vor, es ist eine Religion der Vernunft und eine Religion der Offenbarung. Sprecherin: Im späten 18. Jahrhundert markieren diese beiden Begriffe Religion der Vernunft und Religion der Offenbarung die beiden Pole der Religionsphilosophie: Johann Gottlieb Fichte lieferte die Kritik der Offenbarung, Kant hatte die Religion der reinen Vernunftsideen umrissen. O-Ton 9 ASSMANN: Und das ist die großartige und sagen wir mal geniale Generalisierung des Konzepts. Jetzt geht es nicht mehr um das alte Ägypten, sondern jetzt geht es um Religion überhaupt, und die Religion ist eben zweifach. Es gibt wie gesagt eine Religion der Vernunft und eine Religion der Offenbarung, und beide Religionen haben ihr gutes Recht. Also dieser Lau muss ein Genie gewesen sein und total verkannt in seiner Zeit, er ist in bitterer Armut gestorben, kein Mensch hat das gedruckt. Aber da findet sich der Begriff, und da findet sich dann die Ausweitung, die dann Mendelssohn und Lessing damit vornehmen... Sprecherin: Heute gilt die Aufklärung im allgemeinen einfach als das Zeitalter der Rationalität, das der Religionskritik und exakten Naturwissenschaft. Doch diese Vorstellung ist unvollständig. Die Epoche der Aufklärung, das war ebenso ein Schmelztiegel von Geheimwissenschaften, Geheimgesellschaften und Geheimphilosophien. Das Geheime wächst am Offenen, am Transparenten könnte man sagen. Die theoretische Aufklärung im 18. Jahrhundert entwickelte sich schneller, als die politischen Verhältnisse, etwa in der Zensurgesetzgebung, mithalten konnten. Auch dann, wenn der jeweilige Landesherr besten Willens war. Das Geheime bot nun eine zweifache Möglichkeit: Erstens kodifizierte es die neuen Ideen unter dem Deckmantel der Esoterik. Und zweitens bot es die Utopie einer alle Offenbarungswahrheiten transzendierenden allgemeinen Menschenvernunft – und einer entsprechenden Menschheitsreligion: O-Ton 10 ASSMANN: Und bei Mendelssohn und Lessing wird es dann unterschieden, besonders bei Mendelssohn, in die partikularen Religionen, die es immer nur im Plural gibt und die allgemeine Menschenreligion, der alle Menschen als Menschen angehören. Und Gott, der einer Gruppe in Wort und Schrift Anweisungen gibt wie sie zu Leben haben, aber allen Menschen in Natur und Sache, das heißt also in Schöpfung und Geschichte sich offenbart und alle Menschen, sagen wir, aus dieser Offenbarung heraus ewige Vernunftwahrheiten erschließen können, nach Maßgabe eben ihrer Vernunft. Sprecherin: Und dafür hatte der unveröffentlichte und vergessene Herr Lau vor 250 Jahren ein Schema gefunden: O-Ton 11 ASSMANN: Das ist die religio rationis nach Lau, und das andere ist die religio relevationis, die eben immer partikular ist und die man nicht analysieren kann, und die eben dieses Paradoxon aufhebt, dass Offenbarungen einer Gruppe gegeben, aber für alle Menschen nun universal gültig sein sollen. Sprecherin: Assmann analysiert dieses Phänomen der Doppelten Religion nicht nur als maßgeblich für die Texte der Aufklärung. Er schlägt diesen Begriff, der der Feder des vergessenen Religionsphilosophen Theodor Ludwig Lau entstammte, als Paradigma für die Analyse von religiösen Phänomenen überhaupt vor. Und er empfiehlt das Schema der Religio Duplex als Rüstzeug für die intellektuelle und pragmatische Bearbeitung der gegenwärtigen religiösen Probleme. – Darin ist er wieder ganz Zeitgenosse und Weltbürger. Bei all dem geht es ihm nicht darum, das Volk mit Mythen abzuspeisen und eine spirituelle oder atheistische Elite zu züchten. Nein, die beiden Pole in diesem Begriffsschema sind komplementär und durchdringen einander: Offenbarungswahrheiten schließen einander nicht mehr aus, wenn sie als konkrete Ausdrücke einer Menschheitsreligion verstanden werden. Am Ende geht es Jan Assmann auch um echten religiösen Frieden in einer Welt, die sich auf das langfristige Fortbestehen religiöser Phänomene einzustellen hat. Es geht um eine Art „Vergangenheitsbewältigung“ von Christentum und Islam, die mit ihren Gewaltexzessen jenen „Preis des Monotheismus“ in die traurige Höhe trieben und zum Blutzoll werden ließen. Dass der „Preis des Monotheismus“ dabei von der christlich-islamischen Kultur nun in kleinen Raten abzuzahlen wäre – das dürfte als das „Assmann’sche Postulat“ in die Religionsgeschichte eingehen. Sprecher: Herr, wie sind deine Werke so groß und viel! Du hast sie alle weislich geordnet, und die Erde ist voll deiner Güter. (...) Es wartet alles auf dich, dass du ihnen Speise gebest zu seiner Zeit. Wenn du ihnen gibst, so sammeln sie; wenn du deine Hand auftust, so werden sie mit Gut gesättigt. 1