Manfred Bauschulte „Oh Bartleby! Oh Menschheit!“ Die Lange Nacht über den amerikanischen Schriftsteller Herman Melville Sprecher 1: Erzähler Sprecher 2: Herman Melville Sprecher 3: Freunde/Verwandte/Biographen Melvilles Sprecherin: Frauen aus dem Umkreis Melvilles 1. Stunde Einleitung: Erzähler: Seit Jahren geistert eine literarische Figur durch die öffentlichen Debatten und sorgt für erhebliche Irritationen. Sie stammt aus einer Erzählung, die der amerikanische Schriftsteller Herman Melville bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts schuf. Ihr Titel lautet „Bartleby, der Schreiber“. Selbst wer sie nicht gelesen hat, meint den Titelhelden vom Hörensagen zu kennen. Ein einziger Satz von ihm ist in Umlauf. Seinetwegen ist „Bartleby“ in aller Munde: Herman Melville: „I would prefer not to. - Ich möchte lieber nicht. – Ich würde vorziehen, es nicht zu tun“. Erzähler: Dieser Satz bildet den Schlüssel zur Novelle von Melville, die rasch erzählt ist. Bartleby arbeitet als Kopist an der Wallstreet. Er will seine Aufgaben nicht länger erledigen und lehnt es kategorisch ab, die Kanzlei zu verlassen, die ihn angestellt hat. Der Satz, den er ständig wiederholt, manifestiert seine Weigerung zur Vernunft zu kommen. Mit Polizeigewalt wird er schließlich in das Stadtgefängnis von New York verbracht, wo er keine Nahrung mehr zu sich nimmt, sich nicht mehr bewegt und an Auszehrung stirbt. Bartlebys renitente Passivität gewinnt Gestalt in einer paradoxen Passionsgeschichte. Die Erzählung erschien Ende 1853 in zwei Fortsetzungen in einem New Yorker Magazin. In den Jahren zuvor war Melville mit den Romanen „Moby Dick“ und „Pierre“ auf der ganzen Linie gescheitert. Von der Kritik wurden sie als „Schund aus der schlimmsten Schule der Irrenhausliteratur“ und als „übel zusammengeschusterte Mischung aus Abenteuerroman und Tatsachenbericht“ abgelehnt. Resigniert richtete er an seine Freund Nathaniel Hawthorne die Frage (Brief von Anfang Juni 1851): Herman Melville: „Was kommt eigentlich dabei heraus, wenn man an einer so kurzlebigen Sache wie einem modernen Roman so intensiv arbeitet? Und wenn ich in diesem Jahrhundert die Evangelien schriebe, ich würde doch im Rinnstein sterben“. Erzähler: Die Erzählung des Wallstreet-Angestellten Bartleby ist zu einer Parabel für Rebellion und Resignation im 21. Jahrhundert geworden. Was verbindet der Autor mit dem Schicksal des Schreibers? Was motiviert den bedeutendsten amerikanischen Schriftsteller, der eine Reihe weiterer legendärer Werke wie „Moby Dick“, „Benito Cereno“ und „Billy Budd“ schuf, beim Schreiben? In dieser Sendung gehen wir den Spuren des ungewöhnlichen Lebens von Herman Melville nach und fragen: Wie schöpfte er aus eigenen Erfahrungen die Motive für seine vieldeutigen Romane und rätselhaften Erzählungen? - In der ersten Stunde hören wir, wie er als junger Matrose auf Walfang- und Kriegsschiffen diente und sich eine Zeitlang auf den Inseln der Südsee herumtrieb. Die Irrfahrten schlugen sich in fünf Abenteuerbüchern nieder, die beim Publikum zunächst durchaus Anklang fanden. - Die zweite Stunde ist dem monumentalen Werk „Moby Dick“ gewidmet. Wir wollen seinen Tiefsinn ausloten und einige Rätsel seiner Komposition lüften. Das dramatische Meeresepos und die folgenden artifiziellen Romane wurden von der zeitgenössischen Literaturkritik komplett verrissen. - In der dritten Stunde erfahren wir, wie Melville nach andauernden Misserfolgen gezwungen ist, die Laufbahn als Schriftsteller zu beenden. Um seine Familie ernähren zu können, verdingt er sich als Zollinspektor im Hafen von New York. Zum Zeitpunkt seines Todes im Jahr 1891 ist er als Autor vergessen. Die Lange Nacht erzählt, warum so irritierende Figuren wie „Bartleby“ und so faszinierende Werke wie „Moby Dick“ ihren Schöpfer überlebt haben und mehr denn je Leser in ihren Bann ziehen. Musik Erzähler: Herman Melville kommt am 1. August 1819 als Sonntagskind zur Welt. Das Geburtshaus steht in der Pearl Street Nummer 6. Es liegt an der Südspitze von Manhattan, am Battery Parks, wo in der Mündung des Hudson River noch die Brandung des Atlantiks spürbar ist. New York, das zu dieser Zeit 100 000 Einwohner zählt, wird in den Nächten bereits von Straßenlampen erleuchtet, deren Öl die Walfangindustrie liefert. Die Familie lebt in einem ansehnlichen Wohlstand, der von den Großvätern, Major Melville und General Gansevoort, herrührt. Die in Albany und Boston ansässigen Patrizier genießen den Ruf, Helden der amerikanischen Revolution zu sein. Hermans Mutter, Maria Gansevoort, die aus einer aristokratischen niederländischen Siedlerfamilie stammt, legt äußersten Wert auf strenge calvinistische Erziehung. Der Vater Allan Melville ist schottisch-irischer Herkunft und als ebenso abenteuerlustiger wie vertrauensseliger Geschäftsmann im Pelzhandel tätig. Maria Gansevoort schenkt außer Herman (zwischen 1815 und 1830) sieben Kindern das Leben. Bei der Geburt des letzten Kindes schreibt der Vater über den Elfjährigen: Vater Allan Melville (Sprecher 3): „Herman macht, denke ich, mehr Fortschritte als in letzter Zeit, und obwohl er nicht gerade ein glänzender Schüler ist, behauptet er sich recht ordentlich und würde mehr leisten, wenn man ihn nur dazu bringen könnte, mehr zu lernen - da er das liebenswerteste und unschuldigste Kind ist, habe ich nicht das Herz ihn zu zwingen, zumal er scheinbar den Handel zu seinem bevorzugten Interesse gewählt hat, dessen Übung viel an Bücherwissen ersetzen kann“. Erzähler: Als Pelzhändler leidet Allan Melville unter beträchtlichen beruflichen Sorgen. Sie zwingen die Familie einige Male den Wohnort zu wechseln. Als das Leben in New York für sie zu teuer wird, muss sie ins provinzielle Albany ausweichen. Mit 50 Jahren stirbt der Vater angesichts eines drohenden finanziellen Bankrotts Ende Januar 1832 erschöpft und im Zustand geistiger Verwirrung. In dem autobiographischen Roman „Redburn“ beschreibt Melvilles jugendlicher Held im Rückblick das Ende des Vaters: Herman Melville: „Ich darf nicht an jene herrlichen Tage denken, bevor mein Vater bankrott ging und starb und wir die Stadt verließen, denn wenn ich daran denke, steigt etwas in meiner Kehle auf, das mich beinahe erstickt. – Mit welchen Schicksalsschlägen und Schwierigkeiten hatte er zu kämpfen; von wie vielen widrigen Stürmen wurde er geschüttelt, bis er schließlich als Bankrotteur starb“. Erzähler: Herman ist 12 Jahre alt, als der Tod des Vaters seine Kindheit beendet. Der Junge wird durch das soziale Netz der Familien Melville und Gansevoort aufgefangen. Aber der Schmerz über den Verlust des geliebten Vaters zieht sich weiterhin durch sein Leben. Bald muss er für sein Auskommen arbeiten. Vom 15. Lebensjahr an ist er der Reihe nach als Aushilfe in einer Bank und auf einer Farm tätig. Danach drückt er noch einmal die Schulbank, um wieder als Gehilfe im Pelzhandel bei seinem Onkel zu landen. Mit 18 findet er eine Anstellung als Hilfslehrer in einem gottverlassenen Nest. Er schreibt in einem Brief (an den Onkel Peter Gansevoort vom 30.12.1837): Herman Melville: „Meine Schule liegt fünf Meilen entfernt vom Dorf, und das Haus, in dem ich zur Miete wohne, ist eineinhalb Meilen von der nächsten menschlichen Behausung entfernt, - es liegt auf dem Gipfel eines der unwirtlichsten und einsamsten Berge, die ich je bestiegen habe. Die Landschaft ist ungewöhnlich großartig, sie breitet sich wie ein viele Meilen umspannendes Amphitheater aus. – Der Mann, bei dem ich jetzt wohne, ist die vollkommenste Verkörperung eines Yankee, er ist listig, waghalsig, eigenmächtig, gefällt sich in republikanischem Gehabe, spielt gerne den Wirt, gibt seinen Gefühlen mit völligem Freimut Ausdruck, und wenn er glaubt dich einen Narren oder Gauner nennen zu müssen, so würde ihm das so leicht fallen, wie wenn unsereins seine Weste zuknöpft. Neun Jungs und drei Mädchen hat er aufgezogen, fünf davon sind meine Schüler, und sie scharren und graben in den Wäldern herum wie ebenso viele Füchse“. Erzähler: Früh packt die Erzähllust den Jungen. Neben dem Unterricht an der Klippschule in der Wildnis verschlingt er eine Menge Bücher. Er entdeckt die Seeromane von James Fenimore Cooper, Frederick Marryat und Mungo Park. Es entstehen erste Schreibversuche, die er „Fragments from a Writing Desk“ betitelt. Gleichzeitig wird sein Drang unbezwinglich, der Enge familiärer und sozialer Verhältnisse zu entfliehen. Im Frühjahr 1839 heuert er als Kabinensteward auf der „St. Lawrence“ an. Das Postschiff verkehrt auf der Linie New York - Liverpool. Die Mutter schreibt an seinen Bruder: Melvilles Mutter Maria (Sprecherin): „Herman ist glücklich, aber ich vermute im Innersten ist er ziemlich aufgeregt. Ich kann kaum glauben, dass er das wahrhaftig tun wird“. Erzähler: Melville ist 20 Jahre alt, als er die erste Schiffsreise antritt. Der Roman „Redburn“, den er zehn Jahre später (1849) schreiben wird, hält den Aufenthalt in Liverpool fest. Die Stadt hat den modernsten Hafen der Welt und steht im Ruf von Freiheit und Freizügigkeit. Er nimmt Geschehnisse wahr, die seine humane Einstellung von Grund auf prägen: Herman Melville: „Drei oder vier Mal begegnete ich unserem schwarzen Steward, wie er fein angezogen mit einer gutaussehenden Engländerin spazieren ging. In New York wäre ein solches Paar sofort angepöbelt worden, und der Steward hätte noch von Glück sagen können, wenn er mit heilen Gliedern davon gekommen wäre. Anfangs war ich überrascht, dass man einen Farbigen in dieser Stadt so freundlich begegnete; aber bei näherer Überlegung fand ich, dass man hier schließlich nur seinen Anspruch auf Menschlichkeit und normale Gleichberechtigung anerkannte und dass wir Amerikaner es in mancher Hinsicht anderen Ländern überlassen mit dem Grundsatz der unserer Unabhängigkeitserklärung voran steht, Ernst zu machen“. Erzähler: Auf den Docks von Liverpool sieht er zum ersten Mal europäische Emigranten, die auf die Schiffe für die Überfahrt in die neue Welt warten. Wir lernen einen radikalen Demokraten kennen. Herman Melville: „Kaum etwas in den Docks erregte meine Teilnahme mehr als die deutschen Auswanderer, die immer mehrere Tage vor der Abreise an Bord der großen New Yorker Schiffe kommen, um sich häuslich einzurichten. Aus der Mitte dieser biederen Deutschen sind meinem Land die tüchtigsten und wertvollsten Kräfte zugewachsen. Wer recht bedenkt, wie Amerika besiedelt worden ist, dem gehen die Augen auf. In jedem sollten die Vorurteile nationaler Abneigungen für immer verschwinden. Unser Blut ist wie die Flut des Amazonas: tausend Ströme haben dazu beigetragen. Wir sind nicht so sehr eine Nation, als eine Welt und wir sind ohne Vater und Mutter“. Erzähler: Melville verfügt über eine unstillbare Neugier und einen hellwachen Verstand. Es lockt ihn zu erfahren, was in der Welt geschieht. Nach der Rückkehr von der Reise schlägt er sich erneut mit Gelegenheitsarbeiten durch, um der Familie zu gefallen. Dann hält es ihn nicht länger an Land! Anfang Januar 1841 sticht er als Hilfsmatrose auf der „Acushnet“ von New Bedford aus in See. Vier lange Jahre ist er ununterbrochen unterwegs. Erst im Herbst 1844 wird er wieder zu Hause sein. Von seinen Abenteuern gibt es keine Zeugnisse wie Briefe oder Tagebücher. Hingegen hält er in fünf Romanen, die in rascher Folge nach der Rückkehr entstehen - in „Taipi“ (1846), „Omu“ (1847), „Mardi“ (1849), „Redburn“ (1849) und „Weißjacke“ (1850) - ihre Etappen fest. Folgen wir den einzelnen Stationen der Reise, erhalten wir Einblicke in das bewegte Leben dieses ungewöhnlichen Autors. Sechs Monate verrichtet Melville seinen anstrengenden Dienst auf der „Acushnet“. Das Schiff segelt rund um Kap Horn, um im Pazifik Wale zu jagen. Die ersten Sätze von „Taipi“ sprechen von der Schinderei an Bord: Herman Melville: „Sechs Monate auf See! Ja, Leser, so wahr ich lebe, sechs Monate kein Land gesichtet; auf der Jagd nach dem Pottwal unter der sengenden Sonne des Äquators, auf den Wogen des weithin rollenden Stillen Ozeans umhergeworfen – den Himmel über uns, die See um uns, und weiter nichts! Schon vor vielen Wochen war unser frischer Proviant aufgezehrt. Nicht eine Süßkartoffel ist übriggeblieben, nicht eine einzige Yamswurzel“. Erzähler: Auf Nukuhiwa, einer der Marquesas-Insel, desertiert Melville von der „Acushnet“, die unter der Tyrannei ihres Kapitäns leidet. Der Roman „Taipi“ erzählt von dem exotischen Leben auf der polynesischen Insel, wo er für einige Wochen Zuflucht findet, weil er sich verletzt hat. Er berichtet von den Wilden in einem verwunschenen Tal, von verführerischen jungen Männern und von schönen Frauen, die ihn in ihre Obhut nehmen. In „Taipi“ findet sich die folgende Passage. Tommo, der Erzähler, beobachtet seinen eingeborenen Freund Kory-Kory bei der Erzeugung von Feuer: Herman Melville: „Ein gerader, trockener, halbverfaulter Eibischstock von ungefähr sechs Fuß Länge und drei Zoll Durchmesser findet sich zusammen mit einem kleineren Stück Holz. Der Eingeborene stellt den großen Stock schräg in einem Winkel von 45 Grad gegen einen Gegenstand, besteigt ihn rittlings, wie ein Knirps sein Steckenpferd, auf dem er davon galoppiert, nimmt dann das kleinere Stück Holz in beide Hände und reibt das spitze Ende auf dem Hauptstock langsam auf und ab, bis er eine schmale Furche in das Holz gräbt. Am weitesten entfernten Punkt der Furche sammeln sich so die Staubkörnchen zu einem Häufchen. – Zuerst macht sich Kory-Kory ganz gemütlich an die Arbeit, allmählich beschleunigt er das Tempo, seine Hände bewegen sich erstaunlich flink auf und ab. Wenn er die Höchstgeschwindigkeit erreicht hat, keucht er und schnappt er nach Luft, die Augen springen ihm fast aus den Höhlen, so strengt er sich an. Das ist der kritische Punkt des Verfahrens, alle Mühen sind umsonst, wenn er jetzt nicht sein Tempo durchhalten kann, bis der widerstrebende Funke erzeugt ist. Plötzlich hört Kory-Kory auf und verharrt völlig regungslos. Seine Hände halten immer noch den kleinen Stock und pressen ihn krampfhaft in das feine Pulver, das sich in der kleinen Rinne gesammelt hat. Das wirkt so, als ob er eine kleine Schlange durchbohrt hätte, die sich windet und müht, seinem Griff zu entkommen. Im nächsten Augenblick ringelt sich ein zarter Rauchfaden wie ein Spiral in der Luft, das Häufchen Staub glüht feurig auf und Kory-Kory steigt atemlos von seinem Ross“. Erzähler: Die Darstellung der Erzeugung von Feuer weist bis in sprachliche Feinheiten Anleihen an den Akt der Masturbation auf. Bereits in seinem ersten Roman lernen wir ein Talent Melvilles kennen. Er liebt es auf der Klaviatur von Zweideutigkeit zu spielen. Seine Erzählung ist nicht an der Symbolik der Feuererzeugung interessiert, sie will vielmehr demonstrieren, wie vitale Energien des Akteurs frei zur Entfaltung kommen. Entsprechend liest sich „Taipi“ wie eine moderne ethnologische Reportage. Der Roman schildert die archaische Welt der Südsee, in der geordnete polygame Verhältnisse herrschen. Der Autor beobachtet die intimen Gebräuche der Insulaner, die mit einem „Tabu“ behaftet sind und das Zusammenleben regeln. Nach dem Entdecker Captain James Cook ist es Melville, der dem klingenden Wort „Tabu“ Bedeutung verleiht und Eingang in die Weltsprache verschafft. Zugleich muss er miterleben, wie Fremde, Missionare und Seeleute rücksichtslos in die unberührte Welt einbrechen. Als Deserteur zählt sich Melville zu den „beachcombers“, die sich an den Küsten der Inseln auf der Suche nach einem Schiff herumtreiben. In „Omu“, seinem zweiten Buch, beschreibt er das Schicksal der „Strandläufer“. Herman Melville: „Der Titel des Buchs „Omu“ ist der Sprache der Marquesas-Inseln entnommen, wo das Wort unter anderem ‚Herumstreicher’ bedeutet oder eigentlich einen Menschen, der von einer Insel zur anderen zieht, wie es manche Eingeborene tun, die unter ihren Landsleuten als ‚tabu kanakas’ bekannt sind“. Erzähler: Nachdem er sein polynesisches Paradies verlassen musste, führt Melville die Existenz eines „Omu“. Schließlich heuert er auf einem australischen Walfänger an: auf der „Lucy Ann“. Aber auch auf diesem Schiff herrschen so katastrophale Zustände, dass die komplette Mannschaft meutert. Daraufhin werden die Seeleute von den Behörden auf Tahiti wegen Arbeitsverweigerung interniert. Melville gelingt nach Wochen die Flucht aus dem Lager. Wieder irrt er eine Zeit lang auf dem Inselarchipel umher, bis er ein amerikanisches Schiff findet. Auf der „Charles and Henry“, einem Walfänger aus Nantucket, erhält er eine Passage nach Hawaii. Hier verdingt er sich für die Sommermonate (1843) als Hilfsarbeiter. Um die Heimreise antreten zu können, mustert er auf der „United States“ an. Das ist die berühmteste Fregatte der amerikanischen Kriegsflotte. Sie liegt gerade in Honolulu vor Anker und zählt 480 Mann Besatzung. Ein Regime von Disziplin und Strafe ist auf dem Kriegsschiff an der Tagesordnung. Das soll er in den kommenden 14 Monaten schmerzlich erfahren. Sein Dienst in der Marine wird Jahre später Gegenstand des Romans „Weißjacke“ (1849). Der Verfasser anonymisiert den Namen des Schiffs, um sich schonungslos der Bestandsaufnahme zu widmen, die er vornimmt. Herman Melville: „Im Jahre 1843 trat der Verfasser als gemeiner Matrose in den Dienst einer amerikanischen Fregatte, die in einem Südseehafen vor Anker lag. Seine Erfahrungen und Beobachtungen auf diesem Kriegsschiff sind in dem vorliegenden Buch niedergelegt. Sein Ziel ist aber nicht nur dieses eine besondere Schiff samt Offizieren und Mannschaft sondern an charakteristischen Vorkommnissen das Leben in der Marine überhaupt zu schildern. Wo Kritik an hergebrachten Rechten und Bräuchen der Marine geübt wird, geschieht es streng auf Grund von Tatsachen“. Erzähler: Der Erzähler trägt den Namen „Weißjacke“, weil er sich zu Beginn eine Jacke aus weißem Segeltuch näht, die ihn gegen Wind und Wetter schützen soll. Als Symbol der Reinheit und Unschuld dient die Jacke dem Helden, während er Tag für Tag seinen Dienst schiebt und den gnadenlosen Drill an Bord erlebt. Mit Sympathie nimmt er die Nöte der Seeleute auf dem Kriegsschiff wahr. Im Zentrum des Romans steht die Auspeitschung einiger Matrosen vor versammelter Mannschaft. Herman Melville: „‚Alle Mann antreten zum Strafvollzug, ahoi!’ Bei dem Befehl drängte sich die Mannschaft um den Großmast, die Mehrzahl gierig einen guten Platz auf den Spieren zu erlangen, wo man alles überschaute; viele lachend und schwatzend, andere das Vergehen der Angeklagten erörternd; einige mit betrübter und besorgter Miene oder mit unterdrückter Entrüstung im Blick; ein paar absichtlich im Hintergrund sich haltend, um nicht zusehen zu müssen; kurz unter fünfhundert Mann war jede mögliche Schattierung der Seelenart vertreten“. Erzähler: Mit quälenden Einzelheiten beschreibt Melville die Bestrafung der Delinquenten, die der Rauflust beschuldigt werden. Der grausame Strafvollzug scheint den ersten Dreien, die Schläge gewohnt sind, wenig anzuhaben, beim letzten, dem Kreuzmarsjungen, ist das anders: Herman Melville: „Der vierte und letzte war Peter, ein Kreuzmarsjunge. Er hatte oft geprahlt, er sei noch nie am Fallreep gedemütigt worden. Am Tag vorher hatte seine Wange das übliche Rot getragen; jetzt aber war er bleich wie ein Geist. Als er an das Gatter gebunden war und das Schaudern und Zittern auf seinem blenden weißen Rücken sichtbar wurde, wandte er flehend seinen Kopf herum; doch seine weinenden Bitten und Gelübde der Reue halfen nichts: ‚Ich würde auch dem allmächtigen Gott nicht verzeihen!’ schrie der Kapitän. Der vierte Bootsmannsmaat trat vor und beim ersten Schlag schrie der Junge: ‚Mein Gott! O mein Gott!’ und wandte und krümmte sich, dass das Gatter vom Ort gerissen wurde und sich die neuen Schwänze der Katze über seinen ganzen Körper verbreiteten. Beim nächsten Hieb heulte, zuckte und tobte er in unerträglicher Qual. ‚Was halten Sie inne, Bootsmannsmaat?’ Schrie da der Kapitän: ‚Weiter!’ Und das volle Dutzend wurde ausgemessen“. Erzähler: Melville treibt die qualvolle Szene der Erniedrigung bis zum Höhepunkt. Am Ende bleibt er an der Psychologie des geschundenen Jungen und der des gnadenlosen Kapitäns interessiert. Von Peter, der voller Rachsucht ist, heißt es: Herman Melville: „‚Mag nun geschehen mit mir, was will’, stöhnte Peter, als er mit blutunterlaufenen Augen zur Mannschaft zurücktrat und sein Hemd anzog. ‚Einmal haben sie mich ausgepeitscht, und sie können es wieder tun, wenn sie wollen. Sie sollen sich in acht nehmen vor mir’“. Erzähler: In dem Augenblick, als der Kapitän der Mannschaft das Wegtreten befiehlt, bricht Weißjacke aus dem Fluss der Erzählung aus. Jetzt erhebt der Anwalt für Menschenrechte das Wort und spricht an seiner Stelle weiter: Herman Melville: „Wir wollen barmherzig sein und ihnen Glauben schenken – wahrhaftig! – wenn gewisse Kapitäne der Marine beteuern, das Widerlichste von allem, was sie als ihre Berufspflicht erachteten, sei für sie die Verhängung körperlicher Züchtigung über die Mannschaft; denn in der Tat, wen derartige Szenen nicht bis die tiefste Seele hinein kränken, der verrät dadurch, dass er bloß ein rohes Vieh ist. Du siehst ein menschliches Wesen, entblößt wie ein Sklave, gegeißelt schlimmer als ein Hund. Und wofür? Für Vergehen, die im Grunde gar nicht strafbar sind, sondern bloß durch willkürliche Gesetze dazu gemacht werden“. Erzähler: Während der 14-monatigen Reise von Honolulu nach Boston wird Melville an Bord der „United States“ mehr als 150 Mal Zeuge von sadistischen Strafmassnahmen. Sein Roman „Weißjacke“, der 1849 erscheint, spielt eine maßgebliche Rolle bei der Abschaffung der Prügelstrafe. Als es am 28. September 1850 zur Abstimmung in Washington kommt, haben die Gegner des willkürlichen Strafvollzugs in der amerikanischen Marine allen Abgeordneten des Kongresses ein Exemplar des Romans vorgelegt (berichtet Admiral Samuel Franklin in seinen Memoiren viele Jahre später). Unter diesen Vorzeichen dürfte „Weißjacke“ das einflussreichste Werk zu Lebzeiten Melville gewesen sein. Im Oktober 1844 geht er nach dem aufreibenden Dienst in der Marine und vier erfahrungsreichen Jahren in Boston wieder an Land. Zunächst kehrt er nach Lansingburgh bei Albany zu seiner Familie zurück. Schon bald schließt er sich mit seinem ältesten Bruder Gansevoort zusammen, der den holländischen Geburtsnamen der Mutter trägt. Dieser hat in der Zeit seiner Abwesenheit die Sorge für die Familie übernommen. Gansevoort, der in New York lebt, ist ein wichtiger Wahlkampfhelfer für den Kandidaten der Demokraten, James Polk, der im Jahr 1845 zum 11. Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt wird. Wegen seines politischen Engagements verfügt Gansevoort über einflussreiche Kontakte in die Zeitungs- und Verlagswelt. Er hilft die Abenteuerromane „Taipi“ (1846) und „Omu“ (1847) seines Bruders gleichzeitig in New York und London herauszubringen. In einem atemberaubenden Tempo sind die Bücher in den Jahren 1845 - 1846 entstanden. Sie verkaufen sich überaus gut, weil sie den Nerv der Zeitgenossen treffen, die von der unbekannten Welt der Südsee fasziniert sind. Im April 1846 erreicht Herman ein alarmierender Brief von Gansevoort aus London, der nach der erfolgreich verlaufenen Präsidentschaftskampagne zum Botschaftssekretär in der englischen Metropole ernannt wurde. Gansevoort Melville (Sprecher 3): „Ich befürchte manchmal, dass ich nach und nach auseinanderbreche. Falls dem so sein sollte - soll es sein - Gottes Wille geschehe. Ich habe bereits so viel von der Londoner Gesellschaft gesehen, wie ich davon sehen möchte. Es wird für mich zur Plage, die notwendigen Anstrengungen auf mich zu nehmen, mich anzuziehen, um auszugehen, und nun führe ich ein beinahe stilles Leben wie Du in Lansingburgh – ich glaube, ich werde phlegmatisch und kalt. Die Menschen sind mir gleichgültig, sogar die Frauen. Mein Kreislauf ist schwach, mein Geist stumpf. Egoistisch gesprochen habe ich dem Leben nie großen Wert beigemessen – es wäre nicht möglich, es geringer zu schätzen, als ich es jetzt tue“. Erzähler: Wie der Vater Allan Melville bricht der älteste Bruder Gansevoort unter der Last seiner Verpflichtungen zusammen. Er stirbt mit nur 31 Jahren am 8. Mai 1846 vereinsamt und hoch verschuldet in London. Sein Überdruss und seine Überforderung münden, wie der Brief des Bruders andeutet, in Formen der Erschöpfung und Verweigerung. Alle diese Motive werden Jahre später ihren literarischen Ausdruck in Melvilles Erzählung „Bartleby“ finden. Über den schmerzhaften Verlust seines tatkräftigen Unterstützers hilft ihm einzig die Liebe zu einer Frau hinweg. Gleich nach der Rückkehr von seinen abenteuerlichen Reisen ist er ihr in Boston zum ersten Mal begegnet. Elisabeth, die „Lizzie“ genannt wird, ist die Tochter von Lemuel Shaw, dem Obersten Richter von Massachusetts, einem treuen Freund und Helfer der Familie. In einem New Yorker Literaturblatt findet sich anlässlich der Hochzeit von Herman Melville mit Lizzie Shaw diese feinsinnige Notiz: Freund von Melville (Sprecher 3): „Anzeige wegen Heiratsschwindelei erwartet. Mr. Herman Taipi Omo Melville hat kürzlich den Ehebund mit einer jungen Dame in Boston geschlossen. Die schöne verlassene Fayaway wird sich zweifellos mit einer Anzeige wegen Heiratsschwindelei trösten“. Erzähler: „Fayaway“ ist der Name der jungen Frau in „Taipi“, vor der Tommo alias Melville aus dem polynesischen Paradies geflohen ist, weil sie ihn so sehr betörte. Die Verführerin holt ihn ein und rächt sich an ihm, als er sich in Lizzie Shaw verliebt und sie zu seiner Frau nimmt. Die reizende Legende zielt auf einen Sachverhalt. Leser fragen sich nämlich: Was ist für Melville Dichtung? Was ist für ihn Wahrheit? Es ist die Mischung aus Dichtung und Wahrheit, die am Anfang den Reiz seiner Bücher ausmacht! Um die Provokation zu verschärfen, schreibt er nach den Erlebnisromanen „Taipi“ und „Omo“ einen voluminösen Phantasieroman. Das Thema von „Mardi“ ist die Suche nach einem verlorenen Mädchen: nach Yillah. Auf seinen Verfolgungsreisen durch die Insellandschaften des imaginären Archipels „Mardi“ erlebt der Erzähler „Taji“ eine Enttäuschung nach der anderen. Gegen Ende bricht es aus ihm heraus: Herman Melville: „Oh, Leser höre! Ich bin ohne Weg und Steg herumgereist, so als ob nach all den fürchterlichen, ohnmächtigen Träumen die Entscheidung fiele, dass ich den goldenen Hafen nie erreichte; ach wäre es doch besser auf der kühnen Suche in grenzenloser Tiefe zu versinken als auf vulgären Untiefen dahinzutreiben; schenkt Ihr Götter mir ein Wrack, wenn ich scheitere“. Erzähler: In „Mardi“ lässt Melville seiner Phantasie freien Lauf. Zugleich brechen Ängste, Sehnsüchte und Träume, die er nicht länger unterdrückt, aus ihm heraus. So findet er zu einer poetischen Form wie in der Inselutopie von „Nora Bamma“: Herman Melville: „Wer wohnt in Nora-Bamma? Träumer, Hypochonder, Schlafwandler, die auf der Flucht vor Kummer und Sorgen des äußeren Mardi im schweren Duft des Klatschmohns Vergangenes vergessen wollen und künftige Ekstasen suchen. Mit offenen Augen schlafen und träumen sie und auf ihr Dachgebälk fallen unbeachtet die Trauben. In Nora-Bamma wird Geflüster lauten Rufen gleich; und auf des Zephirs Hauch vom Wald her rauschen die Blätter gleich einem Schwarm Kolibris“. Erzähler: In „Mardi“ kommt sein unbändiges Erzähltalent zur vollen Entfaltung. Melville will sich nicht bloß bei Tatsachen aufhalten. Er will seine Gefühle und Sehnsüchte artikulieren. Gleichzeitig zapft er philosophische Quellen an und bringt sie zum Sprudeln. Der Erzähler stellt wilde Spekulationen an, so wie es ihm beliebt. In dem Augenblick, als er sein enormes Potential erkennt, kann er in einem Handstreich die Romane „Redburn“ und „Weißjacke“ vollenden, die sich noch einmal akribisch an Erlebnissen und Tatsachen orientieren. - Seinem Freund Evert Duyckinck gesteht er, wie er in Zukunft schreiben will (Brief vom 3. März 1849): Herman Melville: „Ich liebe alle Männer, die ‚tauchen’. Jeder Fisch kann nahe der Oberfläche schwimmen, aber es verlangt einen Wal, um fünf oder mehr Meilen hinabzusteigen; und wenn er nicht den Grund erreicht, dann kann alles Blei in Galena das Lot nicht bilden, das so tief hinabgeht. Ich spreche jetzt nicht von Mr. Emerson - sondern von der ganzen Schar der ‚Gedankentaucher’, die getaucht und mit blutunterlaufenen Augen wieder nach oben gekommen sind seit Anbeginn der Welt. Trotz seiner Verdienste habe ich an Emerson einen klaffenden Makel bemerkt. Ich meine, seine Art zu unterstellen, dass er - hätte er zur Zeit der Erschaffung der Welt gelebt - gewiss wertvolle Anregungen hätte geben können. Solche Leute haben doch alle einen Sprung in der Schüssel“. Erzähler: Mit diesem Bekenntnis setzt sich Melville in Opposition zum Zeitgeist, der von den Schriftstellern Ralph Waldo Emerson (1803-1882) und Henry David Thoreau (1817-1862) repräsentiert wird. Anders als diese transzendentalistischen Philosophen glaubt er nicht, dass sich höhere Einsichten erwerben oder für immer gültige Wahrheiten vertreten lassen. Für ihn ist die Welt kein bequemer Ort. Es gilt die menschlichen Schwäche und die existenzielle Ungewissheit zu begreifen, die manchmal nah am Wahnsinn liegen (Brief an Duyckink vom 5. April 1849): Herman Melville: „Verrücktwerden eines Freundes oder Bekannten muss jedem Menschen unmittelbar vertraut vorkommen, der seine Seele in sich spürt - was nur wenige Menschen tun. Denn in uns allen lagert der gleiche Brennstoff, um das gleiche Feuer zu nähren. Und der, der niemals gefühlt hat, was Wahnsinn ist, hat keine sonderliche Portion Verstand. Was für eine Empfindung andauernder Wahnsinn ist, kann man sich sehr gut vorstellen – gerade so wie wir uns vorstellen, was wir empfanden, als wir Kleinkinder waren, obschon wir es uns nicht ins Gedächtnis rufen können. In beiden Zuständen sind wir unverantwortlich und toben uns aus wie die Götter, ohne Angst vor dem Schicksal“. Erzähler: Im Herbst 1849 - nach fünf Jahren an Land und fünf Romanen in Folge - geht Melville erneut an Bord eines Schiffes. Dieses Mal führt ihn die Reise nach Europa. Von jetzt an führt er auf seinen Fahrten Tagebuch. Er hat bemerkt, wie ihm das in der Vergangenheit fehlte. An Bord der „Southhampton“ lernt er einen Mann kennen, mit dem ihn eine Lebensfreundschaft verbindet: George Adler (1821-1868) ist ein deutsch-amerikanischer Sprachwissenschaftler. Herman Melville: „Samstag, 13.Oktober. Der gestrige Abend war sehr angenehm. Mit dem Deutschen, Mr. Adler, bis spät in die Nacht an Deck promeniert, über ‚vorbestimmtes Schicksal, freien Willen, absolute Vorausbestimmung’ etc. gesprochen. Er akzeptiert die Heilige Schrift als göttlich und nimmt sich dennoch die Freiheit, die Natur zu erforschen. Er glaubt, dass es Dinge außerhalb Gottes und von Ihm unabhängig gibt - Dinge, die auch existieren würden, wenn es keinen Gott gäbe; - wie etwa zwei und zwei vier ergibt; denn es ist nicht Gott, der dies mathematisch verfügt, sondern es liegt in der reinen Natur der Dinge, dies ist ein Faktum“. Erzähler: Auf seinen Reisen wird Melville hin und her geworfen, gerät von einem Extrem ins andere. Seine ersten fünf Bücher verweben die Fäden seiner zum Zerreißen gespannten Existenz in einer Art von Fortsetzungsroman. Nahtlos knüpfen die „Reisetagebücher“ daran an. Nach dem nächtlichen Gespräch kommt es am anderen Morgen an Bord der „Southampton“ zu einem dramatischen Zwischenfall: Herman Melville: „Ich war an Deck und sah einen der Zwischendeck-Passagiere über die Reling spähen; ich spähte in dieselbe Richtung und erblickte einen Mann im Wasser, seinen Kopf vollständig über die Wellen gereckt – etwa zwölf Fuß von der Schiffswand entfernt, gleich neben dem Fallreep. Einen Augenblick glaubte ich zu träumen; denn niemand sonst schien zu sehen, was ich da sah. Im nächsten Moment schrie ich: ‚Mann über Bord!’ und wandte mich nach achtern. Ich warf den Läufer von der Talje des Quarterboots über Bord und schwang es dem Mann zu, der inzwischen nah an der Bordwand trieb. Er bekam es nicht zu fassen, und ich kletterte über die Reling und hinunter bis auf ein oder zwei Fuß über den Wellen und schwang das Seil noch einmal auf ihn zu. Jetzt bekam er es zu fassen. Inzwischen drängte sich eine Traube von Menschen an der Reling; aber niemand schien sehr bemüht, ihn zu retten. Dafür warnten sie mich, nicht selber über Bord zu fallen. Nachdem der Mann sich etwa eine Viertelminute an dem Seil festgehalten hatte, ließ er los und trieb nach achtern unter die Besanrüsten. Vier oder fünf Seeleute sprangen in die Rüsten und warfen ihm weitere Seile zu. Aber sein Verhalten war unerklärlich; er hätte sich retten können, wäre er dazu willens gewesen. Ich war erschüttert vom Ausdruck seines Gesichts im Wasser. Es wirkte heiter. Schließlich trieb er ab und alle Seeleute riefen: ‚Er ist weg!’ Kein Boot wurde weggefiert, kein Segel gekürzt, kaum Aufhebens gemacht. Der Mann versank wie ein Ochse“. Herman Melville: In den „Reisetagebüchern“ tritt der Schriftsteller in Aktion. Er wird von innerer Anspannung und rückhaltloser Teilnahme geleitet. Er unterschlägt kein Moment und Motiv. An die erschütternde Schilderung des Selbstmords schließt die Suche nach den Ursachen an: Herman Melville: „Hinterher stellte sich heraus, dass er an Wahnvorstellungen litt und über Bord gesprungen war. Er hatte dies schon mehrmals angekündigt; kurz bevor er dann wirklich sprang, hatte er versucht sein Kind an sich zu reißen, um ins Meer zu springen, das Kind in den Armen. Seine Frau lag, erbärmlich seekrank, in ihrer Koje. Der Kapitän sagte, dies seit das vierte oder fünfte Mal, dass er es erlebe, wie jemand über Bord springe. Er erzählte uns die Geschichte eines Manns, der dies getan hatte, als seine Frau an Deck neben ihm stand. Als man ihn zu retten versuchte, sagte die Frau, es habe keinen Zweck; und als er ertrunken war, sagte sie, ‚es seien noch genug andere Männer zu haben’. Liebenswertes Geschöpf!“ Erzähler: Der Autor taucht in Wirklichkeit ein. Sie ist erfüllt von Geschichten. Wir lernen, dass in jeder Geschichte, die von der Wirklichkeit erzählt, ein Gran Wahrheit steckt. Allerdings gewiss ist das nicht. Schließlich gibt es keine Gewissheit. Sie bleibt eine Sache des Blickwinkels. Es weicht der Blickwinkel des anderen von der eigenen Sicht zum Teil weit ab. So kommt es auf den Grad der inneren Beteiligung an. Sie bildet einen Glutkern. Was der Autor schreibt und festhält - es trägt das Glühen der Wirklichkeit in sich. Am nächsten Tag setzt er seine Notizen fort: Herman Melville: „Ich vergaß zu erwähnen, dass kurz nach dem Untergang des Wahnsinnigen (übrigens ein Holländer) einige Zwischendeckpassagiere nach achtern kamen und dem Kapitän erzählten, es gäbe einen weiteren Verrückten, einen Engländer. An diesem Morgen, als ich an Deck kam, sah ich einen Mann gegen das Schanzkleid lehnen, den ich sofort für einen Zwischendeckpassagier hielt. Er hielt mich an und sagte, ich solle Ausschau halten: ‚nach den Dampfschiffen sehen!’ Also schaute ich ungefähr fünf Minuten, strengte meine Augen ziemlich an, sah aber nichts. Ich fragte den 2. Maat, ob er die Dampfschiffe sehen könne, da sagte er mir, mein Informant wäre der verrückte Engländer. Den ganzen Morgen über war der arme Bursche an Deck und schrie nach Dampfern und Booten. Ich dachte sein wahnsinniges Gemüt fände eine Entsprechung im Aufruhr der tobenden See. Am Abend verschaffte er sich gewaltsam Zugang zum Speisesalon und schlug den Steward, der ihn mit einem Schlag niederstreckte und fort trug. Es stellte sich heraus, dass der Verrückte ein Delirium tremens hatte, eine Folge dessen, dass er in den letzten zwei Monaten ununterbrochen betrunken war“. Erzähler: Die Europareise führt Melville nach London, wo er Agenten und Verleger trifft. Bei Rundgängen lässt er selten eine Galerie und Sehenswürdigkeit, kaum einen Buchladen oder eine Kneipe aus. Mitte November wird er Zeuge der öffentlichen Hinrichtung des Ehepaars Manning, das den Liebhaber der Frau ermordete und sich in der Haft wechselseitig für die Tat verantwortlicht machte. Herman Melville: „Wie gestern vereinbart brachen der Doktor und ich um sieben Uhr morgens auf und gingen über die Hungerford Bridge zur Horsemonger Lane, um das Ende der Mannings mit anzusehen. Bezahlten eine halbe Krone für einen Stehplatz auf dem Dach eines benachbarten Hauses. Auf allen Straßen eine unbeschreibliche Menge. Hunderte von Polizisten. Männer und Frauen, die in Ohnmacht fielen. Der Mann und sein Weib wurden nebeneinander aufgehängt – noch immer nicht miteinander ausgesöhnt. Wie anders als damals, da sie gemeinsam vor den Traualtar getreten waren! Rohes Benehmen des Pöbels. Alles in allem eine befremdliche, grauenhafte, unbeschreibliche Szene!“ Erzähler: Szenen und Stoffe, die Melville in seine Werke einbaut, entspringen der Realität. Er schreibt, was er mit seinen eigenen Augen sieht, was er fühlt und erlebt. Die grauenhafte Szene der Hinrichtung kehrt erst Jahrzehnte später in anderem Gewand in der Novelle „Billy Budd“ wieder. Auf seiner Reise geht es nach Paris, anschließend nach Belgien und weiter nach Deutschland. Erst nach einer Fahrt auf dem Rhein kehrt er um: Herman Melville: „Um 3 Uhr legte das Boot aus Düsseldorf in Richtung Köln ab. Es war ordentlich kalt. Trank Rheinwein auf dem Rhein. Sah den Drachenfels und das Siebengebirge und das Rolandseck und die Nonneninsel. Die alten Ruinen und Brücke sind großartig – doch der Rhein ist nicht der Hudson!“ Erzähler: Auf dieser Reise vermisst Melville seine Familie sehr. Lizzie hat im Februar 1849 ihren Sohn, Malcolm, zur Welt gebracht. Zum ersten Mal wird ihm der Zwiespalt bewusst, in dem er seitdem existiert. Auf der einen Seite brennt in ihm die unstillbare Sehnsucht nach grenzenloser Welterkundung, auf der anderen Seite ist der dringende Wunsch nach einem Zuhause in ihm laut geworden. Kurz vor Weihnachten 1849 notiert er sich in London: Herman Melville: „Ich habe mir ein Feuer anfachen lassen und rauche eine Zigarre. Wünschte, die Eine, die ich kenne, wäre hier. Wünschte auch der Kleine wäre hier. Ich bin in einem schmerzlichen Stadium der Unsicherheit. Ich bin ungeheuer begierig darauf heim zu kommen – meine Abwesenheit verursacht mir Unruhe an einem Ort, an dem ich den Himmel anflehen muss, um Ruhe zu bekommen. Doch habe ich hier eine freie Aussicht, um einige bemerkenswerte Vorstellungen von Lebensart zu entdecken, die ich aller Wahrscheinlichkeit nie mehr haben werde“. Erzähler: Bald nach seiner Rückkehr von der Europareise wird Melville 31 Jahre alt. Da beschließt er im Sommer 1850 sesshaft zu werden. Er nimmt einen Kredit von Lizzies Vater, von Lemuel Shaw, der ihnen erlaubt in der Nähe des Orts Pittsfield in den Berkshire Hills, im westlichen Teil von Massachusetts, ein Farmhaus und ein 65 Hektar großes Grundstück zu erwerben. Das Anwesen tauft er auf den Namen „Arrowhead“, weil er im Garten auf Pfeilspitzen stößt, die Zeugnisse vergangenen indianischen Lebens sind. Im ersten Stock des Hauses, wo er sich ein Arbeitszimmer einrichtet, blickt er auf das Massiv des Mount Greylock. Der höchste Berg des Bundesstaats erscheint ihm an grauen Tagen wie ein riesiger Wal. Mit seiner Frau Lizzie und ihrem Sohn Malcolm ziehen die Mutter Maria und drei unverheiratete Schwestern ein. Hinzu kommen in den nächsten Jahren drei Kinder: der Sohn Stanwix (1851) sowie die Mädchen Elisabeth (1853) und Frances (1855). Die Farm „Arrowhead“, wo er in der Folge wie ein Besessener arbeitet, ist alles andere als die Wirkungsstätte eines Eremiten, der an seinen Büchern schreibt. Er schildert einem befreundeten Literaturagenten in New York seinen Tagesablauf (Brief an Duykinck vom 13. 12.1850): Herman Melville: „Ich stehe um acht auf - so ungefähr - und gehe in meinen Stall, sage dem Pferd guten Morgen und gebe ihm sein Frühstück. (Es greift mir ans Herz, ihm ein kaltes zu geben, aber es ist nicht zu ändern). Dann statte ich meiner Kuh einen Besuch ab - schneide ihr einen oder zwei Kürbisse auf und bleibe, um sie essen zu sehen, denn es ein erfreulicher Anblick, eine Kuh ihre Kiefer bewegen zu sehen - sie tut es so sanft und mit solcher Frömmigkeit. – Fertig mit meinem eigenen Frühstück gehe ich in mein Arbeitszimmer und zünde mein Feuer an, - breite meine Manuskriptseiten auf dem Tisch aus - mustere sie mit einem geschäftsmäßigen Blick und falle gierig über sie her. Um halb drei Uhr nachmittags höre ich ein vereinbartes Klopfen an meiner Tür, das auf Ersuchen andauert, bis ich mich erhebe und zur Tür gehe, es dient dazu mich mit Nachdruck von meiner Schreiberei abzubringen, gleichgültig, wie interessiert ich sein mag. Meine Freunde Pferd und Kuh fordern jetzt ihr Abendessen. Fertig mit meinem eigenen takele ich meinen Schlitten auf und fahre mit meiner Mutter oder meinen Schwestern ins Dorf“. Erzähler: Noch aus einem anderen Grund ist „Arrowhead“ keine Einsiedelei. Ganz in der Nähe, in Lenox am Stockbridge Lake, hat sich der Schriftsteller Nathaniel Hawthorne mit seiner Frau Sophie und seinen beiden kleinen Kindern in einem Landhaus niedergelassen. Hawthorne ist 15 Jahre älter und kann bereits auf eine erfolgreiche Laufbahn als Schriftsteller zurückblicken. Gerade ist der Roman „Der scharlachrote Buchstabe“ in England und den USA erschienen und hat große Anerkennung gefunden. Seine Werke schildern das puritanische Milieu der Ostküste. Sie leuchten Abgründe aus, indem sie die Hysterien der Verfolgung bloßlegen, die zu Hexenprozessen und Hinrichtungen führen. In Hawthorne findet Melville einen Freund, mit dem er sich zwanglos austauschen kann. Sophia, Hawthornes Frau, charakterisiert ihren neuen Nachbarn: Sophia Hawthorne (Sprecherin): „Mr. Melville ist ein Mensch von großer Leidenschaft und Schlichtheit. Er brennt vor Begeisterung für die Dinge, die ihn interessieren. Sie lässt sein ganzes Wesen wie eine Domglocke schellen. Seine Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit erstrahlen aus allen Winkeln. Er hat eine starke Vorstellungskraft, doch was mich erstaunt ist, dass seine Augen nicht groß und tief sind. Seine Nase ist gerade und recht hübsch, sein Mund drückt Sensibilität und Gefühl aus. Er ist groß und hält sich aufrecht, wirkt freimütig, kühn und männlich. Beim Sprechen ist er voller Energie, gestikuliert heftig, verliert sich in seinem Thema. Gelegentlich weicht seine Unruhe einem einzigartigen stillen Ausdruck, ein nach Innen gekehrter dämmriger Blick, der dich dennoch spüren lässt, dass er im selben Augenblick seine Umwelt auf das genaueste wahrnimmt. Es ist ein seltsamer Blick, der eine einzigartige Kraft in sich trägt. Er scheint dich nicht zu durchdringen, sondern in sich aufzunehmen“. Erzähler: Während Nathaniel Hawthorne am Stockbridge Lake „Das Haus der Sieben Giebel“ schreibt, sitzt Melville seit dem Spätsommer 1850 im Dachzimmer von „Arrowhead“ an einem Buch über den Walfang. Seine Erfahrungen auf See und seine Vorstellungskraft fließen in das Werk ein. Sein unbändiger Ehrgeiz will, dass es alle Bücher, die schon existieren, in den Schatten stellen soll. Im Winter 1850, als er mitten in der Arbeit an „Moby Dick“ steckt, schreibt er: Herman Melville: „Jetzt da der Boden mit Schnee bedeckt ist, kommt es mir auf dem Land beinahe so vor wie auf See. Wenn ich morgens aufstehe, sehe ich aus meinem Fenster wie aus dem Bullauge eines Schiffs im Atlantik. Mein Zimmer gleicht einer Kajüte und wenn ich nachts einmal aufwache und das Kreischen des Windes vernehme, bilde ich mir ein, das Haus stehe unter zuviel Segel und ich sollte besser aufs Dach steigen und den Schornstein abtakeln“. Erzähler: In einem Essay über und für den Freund mit dem reizenden Titel „Hawthorne und sein Moos“ spricht er von der Kunst des Erzählens, wie sie ihm vorschwebt. Herman Melville: „In dieser Welt der Lügen ist die Wahrheit zu fliehen gezwungen wie eine erschreckte weiße Hindin im Waldland; und lediglich durch listige kurzes Auftauchen wird sie sich offenbaren, wie bei Shakespeare und anderen Meistern der großen Kunst des Erzählens der Wahrheit, - in aller Heimlichkeit freilich und bloß dann und wann“. 2. Stunde Erzähler: Die Lange Nacht ist dem amerikanischen Schriftsteller Hermann Melville gewidmet. In der ersten Stunde hörten wir, wie er nach einem umtriebigen Leben als Seemann begann, seine Erfahrungen zu Papier zu bringen und mit seinen Abenteuerbüchern einigen Erfolg hatte. In dieser zweiten Stunde lernen wir sein berühmtes Hauptwerk kennen. Es gehört heute zu den Klassikern der Weltliteratur. Die eintausend Seiten erscheinen im Herbst 1851 in zweierlei Gestalt und unter zwei verschiedenen Titeln. In New York heißt die opulente einbändige Ausgabe „Moby Dick“. In London firmiert das dreibändige Werk als „The Whale“. Beide Titel werden in modernen Ausgaben zu „Moby Dick; or The whale“ zusammengeführt. Bei Erscheinen des Romans erhält der Autor von dem Literaturagenten Evert Duyckink aus New York einen Zeitungsartikel zugesandt, der vom Untergang zweier Walfangschiffe aus Neuengland berichtet. Das erste Schiff ist in der nördlichen Beringsee verschollen: Auf der „Acushnet“ hat Melville vor 10 Jahren als einfacher Matrose selbst gedient. Von ihr ist er auf den Marquesas-Inseln desertiert. Das Schicksal des anderen, der „Ann Alexander“, berührt sich unmittelbar mit dem Buch, das er gerade in Druck gegeben hat. Der Walfänger wurde im Südpazifik von einem Pottwal gerammt und ist untergegangen. Postwendend antwortet er: Herman Melville: „Dein Gestern eingetroffener Brief hat mich schier umgehauen. Nachdem ich die letzten Tage mit Axt, Spaltkeil und Schlegel im Wald gearbeitet hatte, war mir der Wal fast vollständig entglitten und ich war froh drum, und Krach! kommt Moby Dick höchst selbst herbei und erinnert mich daran, was ich in den letzten ein oder zwei Jahren getrieben habe. Das ist wirklich und wahrhaftig ein erstaunliches Zusammentreffen – vorsichtig ausgedrückt. Kein Zweifel, es ist Moby Dick höchst selbst, denn seit dem traurigen Schicksal der ‚Pequod’ vor ungefähr 14 Jahren hat niemand berichtet, dass man ihn erlegt hat. – Ihr Götter! Was für ein Kommentator ist dieser Wal der ‚Ann Alexander’. Was er zu sagen hat, klingt kurz und bündig und punktgenau. Ich frage mich, ob meine böse Kunst dieses Ungeheuer aufgestört hat. Dazu das Unglück in der Beringstraße und die Dutzenden und Aberdutzenden von Fischerbooten, aufgereiht an der Küste Neufundlands, und die Stürme auf den Binnenseen. Wahrlich, der Topf siedet innen und außen. Wehe uns, wenn wir nur in den Tag leben“. Erzähler: Zum ersten Mal berichtete das New Yorker „Knickerbocker“- Magazine 1839 von dem weißen Walbullen, der vor der chilenischen Insel „Mocha“ aufgekreuzt war und von den Seeleuten gefürchtet wurde, weil er ihre Schiffe angriff. Mit „Mocha Dicka“ oder „Moby Dick“, wie er seither genannt wurde, bringt die Geschichte der Seefahrt in der Mitte des 19. Jahrhundert mehr als 20 Schiffsuntergänge in Verbindung. Die Arbeit am Roman „Moby Dick“ ist getan, gleichzeitig gehen weiterhin Berichte von dem Schrecken um die Welt, den der weiße Wal verbreitet. Wir werden hören, welche Vorstellungen Melville mit seinem Auftauchen und seinen Zerstörungskräften verbindet. Im Herbst 1851, als das Buch erscheint, überstürzen sich zunächst in seiner Nähe im Berkshire County die Ereignisse, die freudigen wie die schmerzlichen. Grund zur Freude ist, dass Lizzie Melville den zweiten Sohn Stanwix zur Welt bringt. Hingegen verlässt der Freund Nathaniel Hawthorne die Gegend schon wieder und zieht mit seiner Familie nach West Newton bei Boston. In einem Abschiedsbrief kehrt Melville sein Innerstes nach Außen: Herman Melville: „Dass Sie das Buch verstanden haben, gibt mir in diesem Augenblick das Gefühl einer unbeschreiblichen Sicherheit. Ich habe ein böses Buch geschrieben und fühle mich makellos wie ein Lamm. Ich verspüre unaussprechliche Geselligkeiten in mir, möchte mit Ihnen und sämtlichen Göttern im Pantheon des alten Rom ein Festmahl halten. Es ist ein seltsames Gefühl – keine Zuversicht ist darin, keine Verzweiflung. Zufriedenheit – das ist es; und Verantwortungslosigkeit, doch ohne liederliche Neigungen. Ich rede jetzt von meinem innersten Daseinsgefühl, nicht von irgendeiner beiläufigen Anwandlung. Solange wir noch irgend etwa zu tun vor uns haben, haben wir noch nichts getan.“ Erzähler: Wenden wir uns dem Buch „Moby Dick; oder Der Wal“ zu, stoßen wir nach dem Titel sogleich auf die Widmung für Nathaniel Hawthorne. Als nächstes führt eine weitausholende Enzyklopädie über den „Leviathan“ in den Roman ein. In den Büchern der Bibel wie der „Genesis“ oder bei den Propheten „Hiob“ und „Jona“ tritt das Tier aus der Tiefe auf. Der „Leviathan“ verkörpert die Macht des Chaos, die Gottes Schöpfung gegenüber tritt und sie bedroht. Melville gewährt den meereskundlichen Nachrichten über das älteste und größte Säugetier des Planeten einen gebührenden Raum. Schritt für Schritt sollen Leser die Symbolik des „Leviathan“ mit der Realität des industriellen Walfangs verknüpfen können. 60 Kapitel - von 135 Kapiteln - sind ihm gewidmet. Nur 40 Kapitel spinnen am Faden der Erzählung. Die restlichen 30 Kapitel schildern den Endkampf mit „Moby Dick“. Aus reinen Erzählsträngen ist nicht selten ein Jugend- und Abenteuerroman mit dem gleichen populären Titel gestrickt worden. Mit der epischen Dichte des Werks hat das nichts zu tun. Schon in den ersten Worten des Erzählers bekommen wir sie zu spüren: Herman Melville: „Nennt mich Ismael. Ein paar Jahre ist’s her - unwichtig, wie lang genau -, da hatte ich wenig bis gar kein Geld im Beutel, und an Land reizte mich nichts Besonderes, und so dachte ich mir, ich wollt ein wenig herumsegeln und mir den wässerigen Teil der Welt besehen. Das ist so meine Art, mir die Milzsucht zu vertreiben und den Kreislauf in Schwung zu bringen. Immer wenn ich merke, dass ich um den Mund herum grimmig werde, immer wenn in meiner Seele nasser, nieseliger November herrscht; immer wenn ich merke, dass ich vor Sarglagern stehenbleibe und jedem Leichenzug hinterher trotte, der mir begegnet; und besonders immer dann, wenn meine schwarze Galle so sehr überhand nimmt, dass nur starke moralische Grundsätze mich davon abhalten können, mit Vorsatz auf die Straße zu treten und den Leuten mit Bedacht die Hüte vom Kopf zu hauen – dann ist es höchste Zeit für mich, so bald ich kann auf See zu kommen. Das ist mein Ersatz für Pistole und Kugel. Mit einer stoischen Sentenz stürzt Cato sich in sein Schwert; ich gehe still an Bord. Daran ist nichts Überraschendes. Von Zeit zu Zeit hegen fast alle Menschen, ob sie’s wissen oder nicht, in etwa dieselben Gefühle für das Weltmeer wie ich“. Erzähler: „Call me Ismael“ – dieser berühmte Romananfang bringt einen sprechenden Namen ins Spiel. Er geht zurück auf den Sohn, den der biblische Urvater Abraham mit der Magd Hagar zeugte, weil ihm Sara, seine Frau, im Alter keine Kinder mehr schenken konnte. Auf der Flucht brachte Hagar ihn an einem Brunnen in der Wüste zur Welt. Dort wurde ihm der hebräische Name „Yischmael“ verliehen. Er bedeutet: Gott hat gehört, er wird hören oder er möge hören. Entsprechend ist der Erzähler mit einem untrüglichen sensitiven Vermögen ausgestattet. Er bleibt weite Strecken unsichtbar und ist doch Mitspieler der Handlung. Er gewinnt als verborgener Akteur eine so intensive Ausstrahlung, dass sie unmittelbar auf Leser überspringt. Gleich zu Beginn findet Ismael einen Bundesgenossen mit ebenso klingendem Namen. Das ist „Queequegg“, ein Südseeinsulaner und Harpunier. Er beobachtet den von Kopf bis Fuß tätowierten Fremden aus einem Versteck heraus, wie er sein magisches Gottesbild Jojo anbetet und ihm opfert, bevor er zu Bett geht. Herman Melville: „Zuerst nahm er ungefähr zwei Handvoll Holzspäne aus seiner Manteltasche und legte sie sorgfältig vor dem Götzenbild aus; dann tat er etwas Schiffszwieback obendrauf und entfachte mit Hilfe der Kerzenflamme ein Opferfeuer. Nach mehreren hastigen Griffen in die Flammen und noch hastigerem Zurückziehen der Finger, gelang es ihm schließlich den Zweiback herauszuziehen; er pustete Hitze und Asche ein wenig weg und reichte ihm dem Negerlein als höfliche Opfergabe“. Erzähler: Der Melancholiker Ismael und der Kannibale Queequegg werden innige Freunde. Gemeinsam heuern sie in Nantucket auf dem Walfänger „Pequod“ an. Außer ihnen gehören der Indianer Tashtego, der Schwarze Dagoo, der Afrikanerjunge Pip, der Parse Feddallah sowie eine wilde Horde malaiischer Matrosen zur Besatzung. Ferner sind die Schiffseigner Bildag und Peleg sowie die Steuerleute Stubb und Flask an Bord. Die Neuengländer sind Puritaner bis auf den ersten Steuermann: Starbuck ist Quäker. Die „Pequod“ ist nach einem Indianerstamm benannt, der den Siedlern Neuenglands lange erbitterten Widerstand leistete und von ihnen 1632 vernichtend geschlagen wurde. Das Schiff und seine Mannschaft gewähren also in jeder Hinsicht ein Abbild der Gesellschaft. Ismael ruft „den großen demokratischen Gott“ an, in dem sich die Menschen seit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 wieder erkennen (im 26. Kapitel): Herman Melville: „Menschen mögen im Verbund von Aktiengesellschaften und Nationen abscheulich wirken; es mag Schurken, Narren und Mörder unter ihnen geben; Menschen mögen gemeine und mickrige Visagen haben, aber der Mensch ist seinem Ideal nach ein so edles und funkelndes Geschöpf, dass alle seine Mitmenschen herbeieilen sollten, um einen etwaigen Schandfleck mit ihren kostbarsten Gewändern zu bedecken. Diese erhabene Würde aber, von der ich hier handle, ist nicht die Würde von Königen und Roben. Du wirst ihren Glanz in dem Arm erblicken, der eine Hacke schwingt oder einen Nagel einschlägt: jene demokratische Würde, die ohne Unterlass von Gott auf alle strahlt! Die selbst der der große und allmächtige Gott ist! Die Mitte und der Umkreis aller Volksherrschaft! Seine Allgegenwart, unsere göttliche Gleichheit! Du gerechter Geist der Gleichheit, der Du den ungeteilten Königsmantel des Menschentums über mein ganzes Geschlecht gebreitet hast! Ach, steh mir bei, Du großer demokratischer Gott!“ Erzähler: Wenn die „Pequod“ die amerikanische Zivilisation und den Geist der Demokratie verkörpert, so weist ihr Fahrtziel, der Pazifik, auf den ökonomischen Komplex, dem sie dienen. Um 1850 bildet der Walfang eine der größten Exportindustrien der Vereinigten Staaten, aber es zeichnet sich bereits ab, dass das Walöl als Energieträger bald durch das Petroleum abgelöst wird. Der Dichter Charles Olson erklärt die Hintergründe: Charles Olson (Sprecher 3): „Wir vergessen, welche Rolle die Jagd auf den Wal in der amerikanischen Wirtschaft gespielt hat. Es begann mit einem Mangel an Fetten und Ölen. Die Indianer hatten keine Rinder, die Kolonisten nicht genug. Genauso war es mit Schweinen und Ziegen. Rothäute wie Weiße mussten sich mit Ersatz behelfen. Daher das massenhafte Hinschlachten der Wandertaube und des Brachvogels und das Blutbad unter den Büffeln. Der Walfang breitete sich zu einer Zeit aus, als Ackerbau und nicht Industrie die Grundlage der Arbeit war, und als Außen- und nicht Binnenhandel, die Grundlage der Wirtschaft war. Um 1833 steckten 70 000 Menschen und 70 Millionen Dollar in der Walfangindustrie und angegliederten Gewerben wie Schiffsbau etc. Um 1844 ist die Zahl auf 120 Millionen Dollar gestiegen. Die Yankees hatten entdeckt, dass der Pottwal das beste Öl hatte und den höchsten Preis erzielte. Sie verfolgten ihn, er führte sie in alle Meere. Er gab dem Walfang die führende Rolle, die den Pazifik zum amerikanischen Teich erklärte“. Erzähler: Charles Olson (1910-1964) beleuchtet in seinem Essay „Call me Ismael“ die Motive der amerikanischen Zivilisation, die Melville in seinem Epos darstellt: Charles Olson (Sprecher 3): „Wenn man also wissen will, warum uns Melville mit „Moby Dick“ fesselt, dann muss man sich den Walfang ansehen. Den Walfang als FRONT und als INDUSTRIE. Ein Produkt wird gebraucht, Männer schaffen es heran: Großes Geschäft. Der Pazifik als Knochenmühle. Der Mensch wird gegen das gewaltigste Ungetüm geführt, das die Natur hervorbringt. Das Walfangschiff als Fabrik, das Walfangboot als Präzisionsinstrument. Die 1840er Jahre: Der Neue Westen wird im Sattel erobert. Melville ist eine Nummer im Rassengemisch einer rüden Crew“. Erzähler: Wir kennen die Crew der „Pequod“: Ismael und Queequegg, die Harpuniere, Steuerleute und Schiffseigner. Einer aber fehlt noch. Vermutlich ist seine Figur auch erst, als das Buch längst fertig war, eingefügt worden. Es handelt sich um den Kapitän: um „Ahab“. Melville schwebte eine solche Gestalt vor, wie sie Shakespeare mit „King Lear“ und „Macbeth“ und Goethe mit „Faust“ schufen. Der Name geht wiederum auf die Hebräische Bibel zurück, auf das „Buch der Könige“. Mit „Ahab“ ist eine historische Figur aus dem 8.Jahrhundert v. Chr. assoziiert: der König des Nordreichs, der die Phönizierin Isabel heiratete und als gottlos galt, weil er es seiner über alles geliebten Frau gestattete, den Opferkult des Baal in Samaria einzuführen. Nachdem Melville ihn über 200 Seiten und viele Wochen lang im Verborgenen unter Deck ließ, tritt er zum ersten Mal auf (im 29. Kapitel): Herman Melville: „Er wirkte wie ein Mann, den man vom Scheiterhaufen zerrt, nachdem das Feuer blitzschnell all seine Glieder versengt hat, ohne sie zu verzehren oder ihnen ein Jota ihrer über Jahre gewachsenen Kraft zu rauben. Seine hohe, breite Gestalt war wie aus harter Bronze gegossen; in eine unveränderliche Form, gerade wie Cellinis Perseus aus Erz. Ein gertenschlankes Mal, weißlich und leichenfahl, stach aus seinem grauen Haar hervor und lief seitlich über sein lohbraun verbranntes Gesicht und seinen Hals hinab, bis es in seiner Kleidung verschwand. Ob er dieses Mal seit seiner Geburt besaß oder ob es die Narbe einer grässlichen Wunde war, das konnte niemand mit Gewissheit sagen. Die ganze grimmige Erscheinung Ahabs setzte mir so stark zu, dass ich im ersten Augenblick kaum bemerkte, wie viel sich von diesem alles beherrschenden Ingrimm sich dem barbarischen weißen Bein verdankte, auf dem er zur Hälfte stand. Mir war schon zu Ohren gekommen, dass dieses walbeinerne Bein auf See aus dem Kieferknochen des Pottwalls geschnitzt worden war. Beiderseits des Achterdecks war ein Loch einen halben Zoll in die Planken gebohrt. Kapitän Ahab stand aufrecht da, sein Knochenbein in das Loch gestützt, einen Arm erhoben und blickte voraus. Unendliche, unerschütterliche Kraft und ein entschlossner, unbeugsamer Wille lagen in der starren und furchtlosen, vorwärtszielenden Unbedingtheit dieses Blicks“. Erzähler: Ahab ist ein Willensmensch. Er ist gezeichnet wie Odysseus, der tragische Held und der biblische Kain. Die Geschichte der grauenhaften Verwundung, die sich über seinen Körper zieht, lässt tief in sein Wesen und ins Zentrum des Buchs blicken. Gleich bei Antritt der Reise muss ihm der Zimmermann der „Pequod“ eine neue Prothese hobeln, weil die alte seine Wunde entzündete. Der Wochen lange Aufenthalt unter Deck dient der Wundheilung wie der Anpassung des Holzbeins. Rückblickend bringt ein Dialog zwischen dem Schnitzer und Ahab dessen Hass ans Licht (im 107. Kapitel): Herman Melville: „Wie lange dauert es noch mit dem Bein? - Wohl eine Stunde, Sir. – Also stümpere weiter dran herum und bring es mir. O Leben! Hier steh ich, stolz wie ein griechischer Gott, und steh doch in dieses Schafskopf Schuld wegen eines Knochenbeins, auf dem ich stehen kann! Verflucht sei diese Erde, die den Menschen dem Menschen verpflichtet und auf das Schuldbuch nie verzichten wird! Frei wie die Luft, so will ich sein, und steh doch bei der ganzen Welt im Soll“. Erzähler: Ahab ist ein Monomane. Gottlos hält er sich für gottgleich. Er kennt nur ein Ziel: er will Rache üben, deshalb setzt er die Gesetze des Walfangs außer Kraft. Er schwört die Mannschaft der „Pequod“ auf einen Rachefeldzug ein. Bald nach seinem Erscheinen auf Deck versammelt er alle Matrosen achtern und verspricht dem unter ihnen eine Dublone aus Gold, der als Erster den weißen Wal zu Gesicht bekommt. Herman Melville: „‚Es war der verfluchte weiße Wal, der mir den Mast abgeschlagen hat, der aus mir bis ans Ende meiner Tage einen erbärmlichen Krüppel gemacht hat!’ Darauf schüttelte er die Fäuste gen Himmel und schrie seine maßlosen Verwünschungen hinaus: ‚Ich werde ihn ums Kap der guten Hoffnung hetzen und ums Horn herum und um Norwegens Mahlstrom und durch die Flammen der Verdammnis, eh ich die Jagd verloren gebe. Männer, das ist es, wofür ihr angeheuert habt! Diesen weißen Wal zu jagen, auf beiden Ozeanen, in allen Winkeln der Welt, bis er schwarzes Blut bläst und tot im Wasser treibt. Was meint ihr Männer, wollen wir darauf die Hände spleißen?’“ Erzähler: Die Mannschaft stimmt bereitwillig in den Schwur ein, den Ahab ihr aufnötigt. Nur Sturbuck, der erfahrene Steuermann, lässt sich nicht blenden. Als Einziger widerspricht der Quäker. Er nennt die Dinge bei ihrem Namen. Herman Melville: „Ich bin hierher gekommen, um Wale zu jagen, nicht um meinen Kapitän zu rächen. Wie viele Fässer wird dir deine Rache bringen, wenn sie dir denn gelingt, Kapitän Ahab? Rache an einem stummen Tier, das einfach dich aus blindem Trieb getroffen! Ein Wahnsinn! Zu wüten gegen ein stummes Ding, erscheint mir grad wie Gotteslästerung“. Erzähler: Starbucks Widerspruch reizt Ahab zu einem Wahnsinnsmonolog, der den ersten dramatischen Höhepunkt bildet: Herman Melville: „Mann, alles, was du siehst, gleicht einer Pappenmaske. Wenn der Mensch schlagen will, so schlage er durch die Maske! Wie kann der Häftling ins Freie, wenn er die Mauer nicht durchbricht! Für mich ist dieser weiße Wal die Mauer, dicht vor mich hingestellt. Dahinter, denke ich manchmal, ist nichts mehr. Sprich du mir nicht von Gotteslästerung, Mann, ich würde selbst die Sonne schlagen, wenn sie mich beleidigt. Denn könnte dies die Sonne tun, so könnte ich es auch – darin liegt immer eine Art Gerechtigkeit. Wer steht denn über mir? Wahrheit kennt keine Grenzen. Starr mich nicht so an! Starbuck, sieh, was in der Hitze des Gefechts gesagt wird, das ist wie ungesagt. Um was geht’s? Es gilt gemeinsam einen Wal zu töten, weiter nichts. Was ist denn schon dabei?“ Erzähler: Sturbuck kann sich Ahab nicht widersetzen. Wagte er es, stünde er allein. Ismael verleiht der Stimme der Mannschaft Ausdruck. Er hört ihr Inneres. Herman Melville: „Ich, Ismael, war einer aus dieser Mannschaft; mein Schwur war mit dem ihren verschweißt, und ich schrie um so lauter und hämmerte und nietete meinen Schwur um so fester an ihren ob der Furcht in meiner Seele. Ein wildes, geheimnisvolles, sympathetisches Gefühl hatte sich meiner bemächtigt; Ahabs unerbittliche Fehde schien die meine geworden“. Erzähler: Die „Pequod“ ist in den Händen eines verwundeten Monomanen. Doch was hat es mit dem legendären weißen Wal für eine Bewandtnis? Nachdem wir über die Umstände an Bord genau unterrichtet sind, reißt Melville endlich die Vorhänge zur Bühne weit auf. Zum Vorschein kommt nicht das Tier aus der Tiefe, wie es die Exkurse über den „Leviathan“ erwarten lassen sondern die weiße Leinwand: „Das Weiß des Wals“ (im 42. Kapitel). Der Autor erklärt sowohl die Farbe Weiß als auch „Moby Dick“ zum Symbol. Er zieht alle Register des mythologischen Auftauchens von Albinowesen: vom weißen Elefanten über das weiße Pferd zum weißen Hai und kreisenden Albatros in der Höhe. Am Ende will er zum Mysterium hinter der sichtbaren Welt vorstoßen. Liegt ein Zauber von Weiß über einem Werk des Grauens und Schreckens? Wir lernen die Fragen eines Schriftstellers kennen, der nie Ruhe gibt. Herman Melville: „Ist es so, dass das Weiß durch seine Unbestimmtheit die herzlose Leere und unermessliche Weite des Weltalls andeutet und uns so den Gedanken an Vernichtung wie einen Dolch in den Rücken stößt, wenn wir in die weißen Tiefen der Milchstraße blicken? Oder ist es so, dass das Weiß seinem Wesen nach nicht so sehr eine Farbe als vielmehr die sichtbare Abwesenheit von Farbe und zugleich die Summe aller Farben ist, dass deshalb eine weite Schneelandschaft dem Auge eine so öde Leere bietet, die doch voller Bedeutung ist – eine farblose Allfarbe der Gottlosigkeit, vor der wir zurückschrecken? So starrt sich der elendige Ungläubige blind, da er den Blick nicht vom endlosen weißen Leichentuch wenden kann, das alles, was er ringsum sieht, verhüllt. Und für dies war der Albinowal das Symbol“. Erzähler: Zwei Vorbilder hat Melville zu Rate gezogen. Für Issak Newton ist das weiße Licht „die Summe aller Farben“. Für Goethe ist es „die sichtbare Abwesenheit von Farbe“. Einerseits geht Melville über diese Vorbilder hinaus, wenn er „die farblose Allfarbe der Gottlosigkeit“ ins Spiel bringt. Andererseits weiß der Seemann, der sich als „Weißjacke“ im gleichnamigen Roman beschrieb, nur all zu gut, dass Weiß eine Farbe ist. Melville, der früh geübt hat mit Zweideutigkeiten zu jonglieren, treibt das Balancespiel zur Perfektion. Weiß - das Farbe und Nichtfarbe oder Farblosigkeit ist - bringt schillernde Formen hervor, deshalb erklärt er es zum Symbol ebenso den weißen Wal, den Ahab jagt. Ihn erklärt er zum Symbol der Tiefe. Das Epos kreist um einen weißen Wal, den keiner je zu Gesicht bekommen wird. Es erzählt von der Suche nach einem Wesen, das sich für immer entzieht. So lange die Jagd durch den Pazifik dauert, bleiben Leser die Zeugen der Suche: „Moby Dick“ ist ein Sinnbild des Unfassbaren und Unheimlichen. Kehren wir zum Bericht über die Reise der „Pequod“ zurück. Melville vermittelt eine Vorstellung von der Schönheit der offenen See wie der Brutalität des Walfangs. Ismael erzählt, was er sieht, als er das Beiboot in die Mitte einer friedlichen Herde von Walen rudert: Herman Melville: „In den tiefen Gewölben der See schwebten, trieben die Körper der säugenden Walmütter und jener Kühe, deren enorme Leibesfülle verriet, dass sie bald Mutter werden würden. Es schien, als schauten die Jungen dieser Walkühe zu uns hinauf, gerade wie Menschenkinder beim Säugen still und starr etwas anderes betrachten als die Mutterbrust, als führten sie zwei Leben zu einer Zeit und als schwelge ihre Seele noch in überirdischen Erinnerungen, während ihr Leib irdische Nahrung aufnimmt. Manch tiefes Geheimnis des Meeres schien uns dieser verwunschene Teich zu offenbaren. Wir erblickten in der Tiefe den jungen Leviathan beim Liebesspiel. So gaben sich denn diese unerforschlichen Geschöpfe, umgeben von Verwirrung und Entsetzen, hier in der stillen Mitte frei und furchtlos allem friedlichen Tun und Trachten hin, sie tändelten und scherzten“. Erzähler: Nur wenige Bootslängen von den Kindes- und Liebesspielen entfernt tobt der Todeskampf der Wale, die von Harpunen erlegt wurden. Frieden und Grauen existieren nebeneinander. Das zeigt das Schicksal von Pip, des Afrikanerjungen. Im Boot sitzend wird er von der Leine, die in einem harpunierten Wal steckt, umschlungen und mitgerissen. Daraufhin kappt der Steuermann Stubb das Tau und gibt den Kleinen dem Meer preis. Herman Melville: „Es war purer Zufall, dass er schließlich von der ‚Pequod’ gerettet wurde, doch seit dieser Stunde wandelte der kleine Neger wie ein Schwachsinniger über Deck; jedenfalls erklärten alle, er habe den Verstand verloren. Die See hatte seinen endlichen Leib wie zum Hohn verschont, das Unendliche seiner Seele aber war in ihr untergegangen. Er sah, wie Gottes Fuß den Webstuhl trieb und sprach davon, und deshalb nannten ihn die Kameraden toll. So ist des Menschen Wahn des Himmels Sinn, jenseits aller irdischen Vernunft gelangt der Mensch zuletzt zu jenem himmlischen Gedanken, welcher der Vernunft als wirrer Wahn erscheint“. Erzähler: Ahab adoptiert den Verstörten, der glaubt, Gott gesehen zu haben. Er beschützt ihn und nimmt ihn in seine Kajüte auf. Dies ist die einzige Regung, die er sich gestattet. Bevor die „Pequod“ ihre Fahrt fortsetzt, lässt er sich vom Schmied des Schiffs eine besonders gehärtete Harpune fertigen. Es kommt zu einer Taufzeremonie der Waffe. Herman Melville: „‚Ich will, dass die Harpune die wahre Todeshärte hat! Tashtego, Queequegg, Dagoo! Was meint ihr Heiden: Gebt ihr mir soviel eures Blutes, dass es die Spitze hier bedeckt?’ Er hielt sie hoch. Die drei nickten finster: Ja. Drei Schnitte in heidnisches Fleisch und die Spitze für den Weißen Wal war abgelöscht. ‚Ego non baptizo te in nomine patris, sed in nomine diaboli!’ heulte Ahab wie im Delirium, als das bösartige Eisen das Taufblut verzehrte”. Erzähler: „Ich taufe dich nicht im Namen des Vaters sondern im Namen des Teufels.“ - Dies ist das geheime Motto von „Moby Dick“. Im Sommer 1851, als Melville mit dem Buch beinahe fertig ist, schreibt er an Nathaniel Hawthorne: Herman Melville: „Soll ich Ihnen eine Flosse des Wals schicken, einen Happen zum Vorkosten? Der Schwanz ist noch nicht gar - obwohl das Höllenfeuer, über dem das ganze Buch gegrillt wird, es eigentlich schon längst durchgegart haben müsste. Dies ist das Motto (das geheime) des Buchs: ‚Ego non baptizo te in nomine’ - aber finden Sie den Rest selbst heraus“. Erzähler: Die Tragödie Ahabs, die in der diabolischen Taufzeremonie zum Ausdruck kommt, kann nicht anders als in einer Katastrophe enden. Wir überspringen die Kapitel von „Moby Dick“, die dem Endkampf gewidmet sind. Als der weiße Wal gesichtet wird, kommt es zur Jagd auf ihn und zum Untergang der „Pequod“ und ihrer Mannschaft. Allein Ismael überlebt. Er klammert sich an den Sarg, den sein geliebter Freund Queequegg mit weiser Voraussicht für sich vom Schiffszimmermann anfertigen ließ. Das dramatische Meeresepos endet mit einem Schiffbruch, der ihn als den einzigen Überlebenden zum Zuschauer hat. Herman Melville: „Das Stück ist aus. Warum tritt dann hier noch einer hervor? Weil einer den Schiffbruch überlebte. So trieb ich am Rande der Szene und konnte alles mit ansehen. Um und um kreiste ich, ein zweiter Ixion, enger und enger um die kopfrunde schwarze Blase in der Achse dieses langsam rotierenden Rades, bis ich seine Mitte erreichte – da barst die schwarze Blase und der lebensrettende Sarg, befreit durch seine sinnreiche Schnappfeder, schoss mit mächtigem Auftrieb hochkant aus dem Wasser, fiel auf die Seite und trieb neben mir in der See. Auf diesem Sarg trieb ich beinah einen Tag und eine Nacht dahin, auf einem weichen Meer, so lind wie eine leise Totenklage. Die Haie, sie glitten harmlos nun vorüber, als wären ihre Rachen fest verschlossen, die wilden Habichte der See sie schwebten mit verhüllten Schnäbeln über mir. Am zweiten Tage kam ein Segel auf mich zu, kam näher und näher und nahm mich schließlich auf. Es war die umherirrende „Rachel“. Auf der Suche nach ihren verlorenen Kindern fand sie nun eine weitere Waise“. Erzähler: Die „Rachel“ ist das zweite Schiff aus Nantucket. Sie ist auf der Suche nach dem Sohn des Kapitäns, der während der Waljagd im Beiboot saß und verschwand. – Am Schluss überlassen wir einem modernen Dichter das Urteil über „Moby Dick“. In den Jahren des Faschismus in Italien unter Benito Mussolini fand der Turiner Schriftsteller Cesare Pavese eine Zeit lang Zuflucht bei der italienischen Übersetzung des Romans. Er schrieb im Vorwort: Cesare Pavese (Sprecher 3): „Der Zusammenhang des Buchs äußert sich in der Spannung, mit der der flüchtige Schatten des mystischen „Moby Dick“ seine Verfolger erfüllt. Wir wollen das Fingerspitzengefühl rühmen, das Melville bewies, als er den Leser über die Bedeutung seiner Allegorie im Ungewissen ließ. Moby Dick stellt den Antagonisten in seiner reinsten Form dar, deswegen bilden er und Ahab ein paradoxes Paar. Nach soviel Leidenschaft bleibt das Ausgelöschtwerden die einzig mögliche Form einer Gemeinschaft zwischen den beiden“. Erzähler: Mit Absicht lässt Melville die Bedeutung seiner Schöpfung im Ungewissen. So wird es möglich, immer wieder aktuelle Bezüge herzustellen. Nach dem Erscheinen von „Moby Dick“ im Herbst 1851 legt er den Stift keineswegs aus der Hand. Allerdings ist er über die Ablehnung erschrocken, die ihm so mächtig entgegenschlägt. Das Buch wird in Bausch und Bogen abgelehnt, als „Schund aus der schlimmsten Schule der Irrenhausliteratur“ und „übel zusammengeschusterte Mischung aus Abenteuerroman und Tatsachenbericht“ abgetan. Die Zeitgenossen sind nicht in der Lage, den Kompositionsreichtum und Tiefsinn zu erkennen. Doch da sitzt Melville bereits an seinem nächsten Werk. In einem Brief an Hawthorne macht er erste, kryptische Andeutungen: Herman Melville: „Geben wir nun also auch Moby Dick unseren Segen und tun wir den nächsten Schritt. Leviathan ist nicht der größte Fisch – es soll auch Kraken geben“. Erzähler: Melvilles Werke sind mit Eindrücken und Wahrnehmungen, Bildern und Symbolen der Welt so geladen, dass sie zu bersten scheinen. Von Mal zu Mal vermag er seine Schreibenergien zu steigern. Je mehr sich die Kunst der Wahrheit, für die er eintritt, mit Ungewissheit konfrontiert sieht, umso größer ist die Spannung, die er darstellen und aufrecht erhalten will. Er wird von einer an manische Besessenheit grenzenden Schreiblust getrieben. Aus der Feder von Sophia Hawthorne, der Frau seines Freundes, stammt ein zweites einfühlsames Portrait. Es entsteht in den Jahren, als er mitten in der Arbeit an dem neuen Roman steckt (Brief vom Oktober 1852 an die Mutter): Sophia Hawthorne (Sprecherin): „Herman Melville ist ein ganz unberechenbarer Mensch, voller Kühnheit und voller Fragen, und im Schmelztiegel seines Geistes treiben alle möglichen, gewichtigen Erwägungen umher. Er wirft sie hinein und heizt sein Feuer siebenfach auf und kocht und rührt und wartet mit geradezu königlicher Gelassenheit, welche Verbindungen sich daraus ergeben, versessen nur auf die Wahrheit, ohne Vorbedacht und Vorurteil. Seine ozeanischen Erfahrungen haben seinem Verstand weiten Raum für alle Arten von Manövern eröffnet und er befindet sich noch in der Kindheit seiner Möglichkeiten. Dennoch ist er schon sein eigener Kapitän und geht auf seine eigene Abenteuerfahrt und was er entdecken wird, wird er in seinen eigenen Worten erzählen. Im Gespräch ist er so anschaulich, wie in seinen Schriften und wenn er etwas viva voce beschreibt, sieht man es vor sich, hier oder dort, just, wie er es sagt und er selbst verkörpert jede einzelne Figur seiner Geschichte“. Erzähler: Ein Autor soll die Figuren in seinen Werken verkörpern. Das ist in dem Roman „Pierre oder Die Doppeldeutigkeiten“ spürbar, in dem Melville mit der Hauptfigur ein Selbstportrait wagt. Nach sechs Büchern, die auf See spielen, hat er beschlossen, einen Landroman zu schreiben. Einige Schauplätze verlegt er in den Umkreis der Farm „Arrowhead“ in den Berkshire Hills, wo er in seiner Dachkammer sitzt und fabuliert. Vom Schreibtisch sieht er durchs Fenster auf den höchsten Berg der Gegend. So lautet die Widmung des Buchs: Herman Melville: „Der Allerhöchsten Majestät Mont Greylock gewidmet. In alten Zeiten rühmten sich die Dichter des Vorrechtes, ihre Werke Seiner Majestät zueignen zu dürfen; ein wahrhafter edler Brauch, den wir in Berkshire wieder aufnehmen sollten. Denn ob wir dies tun oder nicht, rund um uns herum hier in Berkshire thront die Majestät wie in einem gigantischen Wiener Kongress inmitten erhabener Berggipfel und fordert unablässig unsere Huldigung heraus“. Erzähler: Auf Streifzügen durch die Wälder am Fuß des Mont Greylock gelangt er nicht selten an ein von Legenden umwobenes Monument. Er skizziert das steinerne Naturdenkmal, das aus der Eiszeit stammt. Der über 160 Tonnen schwere Felsblock ist 7Meter 50 hoch, 4Meter 50 breit und 3 Meter tief: Herman Melville: „Er hatte ungefähr die Gestalt eines länglichen Eis, doch abgeflachter und an den Enden zugespitzter, und doch nicht wirklich spitz, sondern unregelmäßig keilförmig. Irgendwo an der Unterseite, nahe der Mitte war eine Seitenkante; ein verborgener Punkt dieser Rippe ruhte auf einem zweiten längs geschliffenen Felsen, der ein wenig aus dem Boden ragte. Außer diesem geheimen und winzigen Kontaktpunkt berührte die höchst wichtige Last nichts in der weiten irdischen Welt. Es verschlug einem den Atem, wenn man das sah. Ein breites keulenförmiges Ende schwebte einen Zoll über dem Erdboden die ganze Länge hin bis zur schwankenden Kante und doch berührte es nirgends den Boden“. Erzähler: Der steinerne Block trägt den Namen „Balance-Rock“. Schon die Indianer hielten hier ihre rituellen Zusammenkünfte ab. Pierre, der Held, kriecht in die Spalte, die sich zwischen dem schwebenden Stein und dem Erdboden auftut. In dem engen Schlund hebt er zu einer Klage an, die ins Zentrum des Buchs weist und seine Doppeldeutigkeiten enthüllt. Herman Melville: „Wenn das Elend der Dinge, die nicht zu enthüllen sind, mir die Zügel in meiner Brust je entreißen sollte; wenn das Gelübde zur Tugend und Wahrheit aus mir nur einen zitternden, ängstlichen Sklaven machen sollte; wenn das Leben mir zur Last wird, die man nur unter schwächlicher Kriecherei ertragen kann; wenn wirklich all unser Tun vorherbestimmt ist und wir bloß Sklaven des Schicksal sind; wenn unsichtbare Teufel uns verhöhnen, wo wir uns am Tapfersten wehren; wenn Leben ein trügerischer Traum und Tugend sinnlos ist; wenn selbst die Pflicht nichts weiter als ein Mummenschanz ist und der Mensch alles darf und dabei straflos ausgeht; - dann falle Du, stumme Masse, auf mich nieder! Jahrhunderte lang hast Du gewartet. Wenn aber all dem so ist, dann warte nicht länger! Denn Du könntest keinen Besseren zermalmen als mich, der hier liegt und Dich beschwört!“ Erzähler: Diese Anrufung an die Magie des Steins versetzt Leser erneut in ein unzeitgemäßes Buch. Was mit idyllisch-satirischen Untertönen einsetzt, entpuppt sich als ein exzessiver Liebes- und Schauerroman. Erzählt wird die Geschichte von Pierre, der mit seiner Mutter auf einem Gutshof lebt und mit einem Mädchen namens Lucy verlobt ist. Da taucht unter mysteriösen Umständen eine feenhafte Frauengestalt auf: Isabel, die sich als seine Schwester ausgibt. Sie behauptet, die uneheliche Tochter aus einer früheren Verbindung von Pierres verstorbenem Vater mit einer Französin zu sein. Isabel und Pierre gehen eine Liebesbeziehung ein. In der Erzählung greift Melville die puritanische Welt der Ostküste frontal an und konfrontiert sie mit einem Tabu: mit dem Inzest. Pierre flieht mit Isabel vom Land in die Stadt. Hier nimmt er die Existenz eines Schriftstellers auf. Bald gesellt sich Lucy, seine frühere Verlobte, zu ihnen und sie führen eine „Ménage à trois“ in New York City. Einige Zeit bilden sie in der tobenden Großstadt eine Liebesgemeinschaft: Herman Melville: „Pierre, Isabel und Lucy wohnten beisammen. Die häusliche Gegenwart Lucys hatte begonnen, einen starken Einfluss auf Pierre auszuüben. Lucy schien gänzlich abgeneigt, irgendeinen Platz bei ihm für sich zu beanspruchen. Trotzdem war es Stunde um Stunde mehr und mehr, als gleite sie irgendwie doch unerklärlich zwischen sie, ohne sie zu berühren. Pierre fühlte einen eigentümlichen überirdischen Einfluss in seiner Nähe, der ihn vor der höchsten Gefahr schützte; Isabel verspürte eine gewisse unbestimmbare verdrängende Wirkung. Obgleich, wenn alle drei beisammen waren, die wunderbare Heiterkeit und Sanftmut und äußerste Unbefangenheit Lucys noch die geringste Verlegenheit zerstreute, so gab es doch zuweilen so etwas wie Verlegenheit unter diesem Dache, wenn Pierre mit Isabel allein war, nachdem Lucy sie in aller Harmlosigkeit verlassen hatte“. Erzähler: Unter den Umständen dieser Liebesgemeinschaft, deren Mittel für Nahrung und Miete langsam zur Neige gehen, schreibt Pierre wie ein Besessener an seinem Buch. Melville zeichnet ein ungeschminktes Selbstportrait: Herman Melville: „Mit der Seele eines Gottlosen schrieb er die göttlichsten Dinge nieder; mit dem Gefühl des Elends und des Todes in sich, schuf er Vorbilder der Freude und des Lebens. Je länger und mehr Pierre schrieb und je tiefer und tiefer er drang, desto eindeutiger durchschaute er die universelle Unaufrichtigkeit der größten und reinsten Gedanken, die je niedergeschrieben wurden. So dass es nichts gab, was er verächtlicher behandelte, als seine Bemühungen. Doch der Mensch gibt sich nie so ganz preis wie ein tür- und fensterloses Haus sich den vier entfesselten Winden des Himmels darbietet. Vie häufiger als früher lehnte sich Pierre in seinem Stuhl zurück mit dem gefährlichen Gefühl der Erschöpfung. Seine ununterbrochene Arbeit griff seine Augen an. Sie wurden so geschwächt, dass er an manchen Tagen mit nahezu geschlossenen Augenlidern schrieb, da er sich fürchtete, sie ganz dem Licht auszusetzen. Durch die Wimpern blinzelte er auf das Papier, das wie mit Drähten durchzogen schien. Zuweilen schrieb er blind, die Augen vom Blatt abgekehrt“. Erzähler: Während der Endkampf in „Moby Dick“ tragische Züge trägt, ist der Schluss von „Pierre“ melodramatisch kaum zu überbieten. Der Held erschießt in New York auf offener Straße seinen Cousin Glen, der ihn beerbt hat und Lucy zurück in den Kreis der Familie holen soll. Daraufhin wird er verhaftet. Pierre landet im berüchtigten Stadtgefängnis, wo ihn die Frauen besuchen. Während ihm Lucy in der Zelle leblos zu Füßen sinkt, findet er bei Isabel, die ihn umarmt, das Fläschchen mit dem Pulver, das ihren Tod herbeiführt. Die Kritik Melvilles richtet sich gegen die Doppelmoral des Puritanismus. Gleichzeitig zielt sie auf die Romantik und die transzendentalistische Philosophie von Emerson und Thoreau. Er wirft ihnen allen vor, dass sie die Wahrheitssuche fingieren und auf faulen Kompromissen basieren. Für ihn ist der Krake, das größte Ungeheuer der Welt: „die universelle Unaufrichtigkeit“. Wie kann er diesem Kraken begegnen? Durch Rebellion oder durch Verweigerung? Lange ist der Freund Hawthorne für ihn ein Vorbild gewesen. Von ihm heißt es in einem Brief (vom April 1851): Herman Melville: „Das ist die große Wahrheit über Nathaniel Hawthorne. Mitten im Donner sagt er NEIN! Und selbst der Teufel kann ihn nicht bewegen, Ja zu sagen. Denn wer Ja sagt, lügt; und wer Nein sagt - nun, der befindet sich in dem glücklichen Zustande jener klugen, unbeschwerten Reisenden in Europa; sie überschreiten die Grenzen in die Ewigkeit mit nichts als einer Reisetasche - soll heißem ihrem Ego. Wohingegen jene Ja-Sager mit Bergen von Gepäck reisen - und die Pest über sie! - sie werden nie durch den Zoll kommen“. Erzähler: Die Wahrheit über Herman Melville lautet: Er ist bereit und willens, alle Schwierigkeiten des Nein Sagens zu erkunden. Er ist fähig, Nein zu sagen, wo er es aus Gründen der Erfahrung für nötig erachtet. Nach „Moby Dick“ wird der Roman „Pierre“ von der literarischen Welt als Kitsch und als Schund verurteilt. Trotzdem arbeitet Melville unbeirrt weiter, um seine Familie ernähren zu können, aber auch, weil er es der Welt und den Menschen beweisen will, dass er schreiben kann. Erneut wechselt er den Schreibstil. Jetzt greift er auf Formen der Erzählung zurück, wie sie in Monatschriften des New Yorker Verlegers Putnam gerade stark nachgefragt sind. In rascher Folge entstehen eindutzend Erzählstücke, die er Jahre später als „Piazza-Erzählungen“ (1856) zu einem Buch vereint. Das Titelmotiv der „Piazza“ wirft Licht auf seine eigenwillige Sicht der Welt. Er berichtet, wie er an das Haus in den Berkshire Hills eine Veranda anbaut. Wider alle Ratschläge plant er sie an der Nordseite. Herman Melville: „Unvergessen sind die blauen Nasen der Zimmerleute und wie sie spotteten über die Einfalt des Städters, der seine einzige Piazza nach Norden bauen wollte. Selbst im Dezember ist diese nördliche Piazza nicht abstoßend, so schneidend kalt und stürmisch sie ist. Wenn der Nordwind wie ein Müller den Schnee zu feinstem Mehl durchsiebt, dann beschreite ich mit gefrorenem Bart das schneebestreute Deck im Sturm vor Kap Horn. Auch im Sommer wird man hier an die See erinnert. Nicht nur rollt das Getreide schräg liegend in langer Dünung heran und es schlagen die niedrigen Graswellen auf die Veranda wie auf den Strand. Ein stiller Augusttag brütet über den Wiesen in der Tiefe wie eine Flaute über dem Äquator; Weite und Einsamkeit sind so ozeanisch wie die Stille und Eintönigkeit“. Erzähler: Auf der Piazza fixiert der Erzähler eine funkelnde Stelle in den fernen Bergen. Von der Sehnsucht geleitet gelangt er auf verschlungenen Wegen dorthin. Doch er erreicht kein Elfenreich, wie er erwartet, sondern eine ärmliche Hütte, wo eine einsame Frau haust. Die Piazza-Loge, die auf die Morgenröte gerichtet ist, erweist sich als Ort der Resignation. Herman Melville: „Jeden Abend, wenn der Vorhang fällt, kommt Wahrheit herein mit dem Dunkel. Auf und ab wandere ich auf dem Piazza-Deck, heimgesucht von einer wirklichen Geschichte“. Erzähler: Aus den „Piazza-Erzählungen“ ragen zwei Stücke heraus: „Benito Cereno“ und „Bartleby“. Die erste Erzählung geht auf den historischen Bericht von einem Sklavenaufstand zurück. In einer Bucht an der Küste Chiles stößt die „Perserverance“ des amerikanischen Kapitäns Delano auf ein unbeflaggtes Schiff: die „San Dominick“ unter dem Kommando von Benito Cereno. Zunächst begreift der Amerikaner nicht, was vor sich geht. Zug um Zug erweist sich, dass der spanische Kahn in die Hände schwarzer Sklaven gefallen ist, die an Bord gefangen gehalten wurden. Babo, der Sklave des Kapitäns Benito Cereno, ist in Wahrheit der Herr des Schiffs und die Mannschaft ist in Geiselhaft der Schwarzen. Auf spannende Weise kann Melville die Geschichte der Rebellion rekonstruieren, indem er das juristische Protokoll der Meuterei erstellt und sie aus Sicht der Spanier erzählt. Gleichzeitig schildert er das Schicksal eines jungen Schwarzen, der aus dem Senegal entführt und als Sklave verkauft wurde. Am Ende wird die „San Dominick“ den Aufständischen von den Amerikanern wieder entrissen. Aber die Schwarzen mit Babo an der Spitze gehen als moralische Sieger aus der Geschichte hervor. Wenige Jahre vor dem amerikanischen Bürgerkrieg, in dem es um die Abschaffung der Sklaverei geht, dokumentiert das Finale Melvilles klare politische Haltung: Herman Melville: „Einige Monate darauf erlebte der Schwarze, am Schwanz eines Maultiers zum Galgen geschleift, wortlos sein Ende. Den Leib verbrannte man zu Asche; der Kopf, aber dieser Bienenstock an Scharfsinn und List, ward an einer Stange befestigt und trotzte viele Tage lange auf der Plaza uneingeschüchtert den Blicken der Weißen“. Erzähler: Die „Piazza-Erzählungen“ sind Lehrstücke der Desillusionierung und Rebellion. Als Parabel der Passivität und Verweigerung ragt die Erzählung „Bartleby“ heraus, von der wir bereits zu Beginn hörten. Für moderne Interpreten ist Bartleby Repräsentant einer extremen Negativität geworden, die sich absolut jeder Vernunft und Logik entzieht. Melvilles illustriert hingegen eine passive Haltung, wie sie der Titelfigur zum Verhängnis wird. Es sind Züge des Vaters und des Bruders, die aus Erschöpfung und an Geldsorgen starben, sowie Motive des eigenen Scheiterns in sie eingeflossen. Der Ich-Erzähler, ein Anwalt, stellt Bartleby in seiner Kanzlei als Schreiber ein. Schon am dritten Tag weigert er sich, seine Arbeiten auszuführen und Akten zu kopieren. Trotz mehrfacher Aufforderungen will er auf keinen Fall die Kanzlei verlassen. Die stehende Redewendung, zu der er greift, lautet: Herman Melville: „I would prefer not to – Ich möchte lieber nicht“. Erzähler: Um den Verweigerer endgültig loszuwerden, kündigt der Anwalt das Büro an der Wallstreet. Als auch das nicht hilft, entfernt die Polizei ihn aus dem Gebäude. Am Ende landet Bartleby genauso wie vor ihm Pierre im berüchtigten Stadtgefängnis von New York. Dort wird der Erzähler, der ihn besucht, zum Zeugen seines Endes. Der Kopist weigert sich zu essen und zu sprechen. Er lehnt es sogar ab, sich zu bewegen. Der Anwalt und sein Schreiber verhalten sich wie unheimliche Doppelgänger. Der Erste verkörpert die aktiv-rationale und der andere die apathisch-melancholische Seite des Doubles. Melville hält die enorme Spannung aufrecht, die zwischen dem Erzähler-Anwalt und seinem Schreiber-Kopisten bis zum Ende durchgehend besteht. Jeder der Protagonisten verkörpert subtile Aspekte aktiven und passiven Erlebens, die miteinander verquickt sind. Das zeigt sich exemplarisch im Epilog. Nach dem Tod von Bartleby betreibt der Erzähler Spurensuche. Er will wissen, wie es zur radikalen Haltung seiner Verweigerung gekommen ist. Herman Melville: „Die Nachricht besagte, Bartleby sei ein untergeordneter Angestellter im ‚Amt für tote Briefe’, das heißt für unzustellbare Postsendungen in Washington, gewesen und sei dort plötzlich infolge eines Wechsels in der Verwaltung entlassen worden. Wenn ich über dies Gerücht nachdenke, vermag ich kaum die Bewegung zu schildern, die mich ergriff. Tote Briefe! Klingt das nicht wie tote Menschen? Man stelle sich einen Mann vor, den schon Natur und Missgeschick zu schierer Hoffnungslosigkeit bestimmt haben. Kann irgendein Beruf ihn in seiner Anlage mehr bestärken als der dauernde Umgang mit unzustellbaren Briefen, die er zum Verbrennen aussortiert?“ Erzähler: Dürfen nicht seit Moby Dick“ auch die Werke von Melville als „unzustellbar“ gelten? Auch seine Romane werden „aussortiert“. Sie werden komplett verrissen, als Schund deklariert. Einkünfte kann er schon länger nicht mehr mit ihnen erzielen. Das Schreiben ruiniert ihn körperlich und seelisch. Die Parabel von den Nachrichten in den unzustellbaren Briefen trifft auf ihn höchst selbst zu. Wie jeder Bankrotteur und Deserteur kann er nur an die Anteilnahme der Menschen und ihr Mitgefühl appellieren! So hält der Ich-Erzähler am Ende ein Plädoyer für Bartleby. Es ist ein leidenschaftliches Plädoyer für das Recht zu scheitern. Der Erzähler-Anwalt appelliert, jenen Menschen die Würde nicht zu verweigern, denen sich aus leidvoller Erfahrung alles Streben als vergeblich erweist. Die Zuhörer im Gerichtsaal - das ist die Menschheit. Das sind die Leser. Melville erinnert daran, dass die Würde jedes Einzelnen ein unersetzliches und ein unteilbares Gut ist. Herman Melville: „Verzeihung für den, der aus Verzweiflung starb; Hoffnung für den, der ohne Hoffnung verschied; frohe Botschaft für den, dessen Leben ohne Not erlosch. Briefe, die vom Leben in Auftrag gegeben wurden, eilen dem Tod entgegen. Oh Bartleby! Oh Menschheit!“ 3. Stunde Erzähler: Die Lange Nacht ist dem amerikanischen Schriftsteller Herman Melville gewidmet. In der ersten Stunde lernten wir ihn als Matrosen kennen, der auf Walfang- und Kriegsschiffen diente und sich als Strandläufer auf den Inseln der Südsee herumtrieb. Jahre später nach Hause zurückgekehrt, brachte er seine Erlebnisse zu Papier und ließ er seine Irrfahrten in einige Abenteuerbücher einfließen. Die spannenden Romane waren recht erfolgreich und trugen ihm den Titel ein: „Der Mann, der unter Kannibalen lebte“. - In der zweiten Stunde hörten wir, wie er nach den ersten Büchern seinen Erzählstil in dem Meeresepos „Moby Dick“ auf dramatische Weise so verdichtete, dass es vom Publikum seiner Zeit nicht verstanden wurde. Nach seinem Misserfolg erhöhte Melville, der von Fabulierlust getrieben wurde, die Schwierigkeiten seiner Darstellungskunst trotzdem von Buch zu Buch weiter. - In der dritten Stunde erfahren wir, wie er unter den Belastungen des Schreibens zusammenbricht. Er ist gezwungen, aus dem Scheitern seiner Laufbahn als Schriftsteller Konsequenzen zu ziehen. In dem Roman „The Confidence-Man“ (1857) unternimmt er ein letztes Mal, den Versuch, Lesern zu zeigen, was er kann, was er ihnen zumuten will. Der Roman beginnt bei Sonnenaufgang an einem ersten April auf dem Mississippi: Herman Melville: „An einem ersten April, bei Sonnenaufgang, erschien, plötzlich wie Manco Capac am Titicaca-See, ein Mann in kremfarbenem Anzug am Flussufer der Altstadt von St. Louis. Er hatte frische Wangen, Flaum um das Kinn, flachsblondes Haar und trug eine Kopfbedeckung aus weißem Fell mit langen wolligen Locken. Er hatte weder Koffer noch Mantelsack bei sich, weder eine Reisetasche noch ein Paket. Kein Gepäckträger folgte ihm, keine Freunde begleiteten ihn. Aus dem Achselzucken, dem Kichern, dem Geflüster und Staunen der Menge ging hervor, dass er ein Fremder war, ein Fremder im wahrsten Sinne des Wortes. Er kam und schritt unverzüglich an Bord des Dampfers ‚Fidèle’, der im Begriff stand, gerade nach New Orleans auszulaufen“. Erzähler: Der Roman ist als reine Erfindung angelegt. Auf alles, was passiert, werden wir wie durch einen Aprilscherz vorbereitet. Der taubstumme Vertrauensmann verwandelt sich auf der „Treue“, - das ist der sprechende Name des Rad-Dampfers -, unablässig und erweist sich als so hellhörig wie gesprächig. Als Menschenfreund erwirbt er das Vertrauen der Passagiere, um sie im Gegenzug äußerst trickreich zu betrügen. Als Philanthrop mimt er die Gestalt eines Werbers für ein Waisenheim wie die eines Missionars und Kosmopoliten. Seine Maskeraden zeigen, wie sich Menschen die Wirklichkeit nach Gutdünken und zu ihrem eigenen Vorteil zurechtlegen. Auf doppelsinnig-vertrackte Weise wird Scheinheiligkeit und Illusionismus vorgeführt: Herman Melville: „Da im tatsächlichen Leben Herkommen und Sitte den Menschen nicht gestatten, sich rückhaltlos zu geben, suchen sie in erdichteten Büchern nicht nur mehr Abwechslung sondern im Grunde auch mehr Wirklichkeit, als das wirkliche Leben ihnen bieten kann. Obwohl sie also das Ungewöhnliche wünschen, wünschen sie doch auch Natur, aber befreite, heitere, letztendlich geläuterte Natur. Entsprechend sollen die Menschen in einer Dichtung gleich den Menschen auf dem Theater sich kleiden, wie sich in Wirklichkeit niemand kleidet, sollen sprechen, wie niemand in Wirklichkeit spricht und handeln, wie niemand in Wirklichkeit handelt“. Erzähler: Der Vertrauensmann soll nicht bloßgestellt werden, im Gegenteil: Es wird stets von Neuem demonstriert, wie er sich das Vertrauen anderer Menschen erschleicht, um sie zu täuschen und auszunehmen. Er ist der Prototyp der universellen Unaufrichtigkeit, für die Melville die zivile Gesellschaft verantwortlich macht. Diese bekennt sich zwar, wie es in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung fixiert ist, einerseits zur Freiheit des Individuums. Andererseits leistet sie Egoismus und Eigennutz mächtigen Vorschub, die durch die Vorspiegelung falscher Tatsachen in Szene gesetzt werden. Es wird ein Portrait des modernen Selfmademans gegeben, der alle Mittel für erlaubt hält. Melvilles episches Können kommt im „Confidence-Man“ auf ebenso brisante Weise zur Geltung wie in den Figuren „Ahab“ und „Bartleby“. Er verfügt über eine Sprache, die alle Register des Ausdrucks zieht und alle Bedeutungen in der Schwebe lässt. An Leser gewandt sagt er: Herman Melville: „I write precisely as I please – ich schreibe genau, wie es mir gefällt“. Erzähler: Die schöpferische Freiheit, die er sich im Schreiben erobert, ist beispielhaft und lehrreich, aber sie ist mit Opfern erkauft und mit Leiden verbunden. Wir hörten bereits, wie er sich im Roman „Pierre oder Die Doppeldeutigkeiten“ selbst beobachtete: Herman Melville: „Seine ununterbrochene Arbeit griff seine Augen an. Durch die Wimpern blinzelte er nur noch auf das Papier, das wie mit Drähten durchzogen schien. Zuweilen schrieb er blind, die Augen vom Blatt abgekehrt“. Erzähler: Neben einer bedrohlichen Trübung der Augen setzen in den Jahren 1855 und 1856 Rheuma- und Ischiasleiden ein. Die körperlichen Symptome deuten auf eine nervöse Erschöpfung hin, die der Behandlung, Schonung und Kur bedarf. Schließlich ergreift sein Schwiegervater, Richter Lemuel Shaw, die Initiative. Der Richter beschreibt die näheren Umstände (Brief an seinen Sohn Samuel vom 1.9.1856): Lemuel Shaw (Sprecher 3): „Wenn Herman in eine seiner literarischen Arbeiten vertieft ist, sitzt er viele Stunden des Tages ausschließlich am Schreibtisch und schuftet, bewegt sich kaum oder gar nicht und das besonders im Winter oft viele Tage hintereinander. Auf diese Weise überarbeitet er sich und zieht sich ernste Nervenschäden zu. Man hat ihm dringend geraten, diese Arbeit für eine Weile zu unterbrechen und sich auf eine Seereise oder eine Landreise zu begeben und zu versuchen, wieder zu Kräften zu kommen. Es steht kein endgültiger Plan fest, aber ich denke, es wird darauf hinauslaufen, dass er im Herbst für vier oder fünf Monate fortgehen, Elizabeth mit den Kindern hierher kommen und ihr Haus in Pittsfield zugeschlossen wird. Ich denke, er benötigt einen solchen Wechsel, dass er ihm höchst gut täte und er ihn vermutlich wieder herstellt“. Erzähler: Melville ist nicht nur körperlich und seelisch erschöpft, er hat sich auch finanziell ruiniert. Beinahe scheint es, als sollte auch er das Schicksal des Vaters und Bruders wiederholen. In dieser Situation übernimmt Richter Shaw sowohl einen Teil seiner Schulden als auch die Kosten für eine Reise in den Orient. Der Schriftsteller soll auf andere Gedanken kommen. Von der Reise ins Heilige Land hat er seit den Tagen der Kindheit geträumt. Im Oktober 1856 geht er an Bord eines Schraubendampfers, wie sie seit ein paar Jahren auf der Atlantikroute verkehren. Der Zielhafen ist Glasgow. Von da fährt er nach Liverpool, wo er ein Schiff nach Konstantinopel nehmen will. In der englischen Hafenstadt hofft er Nathaniel Hawthorne wiederzusehen, der hier Konsul ist. Der Freund lädt ihn ein, ein paar Tage bei seiner Familie zu wohnen. Im Notizbuch, das Melville während der Reise wieder zur Hand nimmt, heißt es über den Besuch etwas knapp: Herman Melville: „In Southport. Ein freundlicher Tag. Wir machten einen langen Spaziergang am Meer entlang. Sand und Gras. Wild und verlassen. Ein starker Wind. Gutes Gespräch. Am Abend Stout und Fuchs und Gänse. Julian ist zu einem guten Jungen herangewachsen, Una ist größer als ihre Mutter. Mrs. Hawthorne ist nicht bei guter Gesundheit. Mr. Hawthorne blieb wegen mir Zuhause“. Erzähler: Aus der Feder von Hawthorne gibt es umgekehrt einen recht ausführlichen Bericht über den Aufenthalt. Mit Sympathie beschreibt er seinen Freund Melville und die Haltung der Balance, die ihn auszeichnet. Nathaniel Hawthorne (Sprecher 3): „Vor einer Woche, letzten Montag, suchte Herman Melville mich im Konsulat auf, äußerlich nahezu der alte, ein wenig blasser, und vielleicht ein wenig trauriger, in einem derben Wintermantel und mit seiner charakteristischen, ernsten und zurückhaltenden Art. Ich empfand anfangs einige Verlegenheit, weil es das erste Mal ist, dass ich ihn treffe seit meinem vergeblichen Versuch, ihm einen Konsulatsposten zu verschaffen. Indes, ich scheiterte nur mangels wirklicher Macht ihm zu helfen; so gab es keinen Grund beschämt zu sein, und bald fanden wir so ziemlich zu unserem früheren ungezwungenen und vertrauensvollen Verhältnis zurück. - Melville war nicht wohlauf, unlängst; es haben ihn neuralgische Beschwerden im Kopf und in den Gliedmaßen befallen und er hat zweifellos unter zu anhaltender literarischer Tätigkeit gelitten, betrieben ohne viel Erfolg in letzter Zeit. So hat er sein Heim bei Pittsfield verlassen und seine Frau und Familie bei seinem Schwiegervater untergebracht und befindet sich hier auf seinem Weg nach Konstantinopel. Ich wundere mich nicht, dass er es notwendig fand, die Luft der weiten Welt zu atmen, nach so vielen Jahren mühsamer Schriftstellerei und häuslichen Lebens, im Anschluss an eine so wilde und abenteuerliche Jugend, wie es die seine war. - Er blieb bei uns von Dienstag bis Donnerstag: am dazwischen liegenden Tag gingen wir recht lange zusammenspazieren und setzten uns in einer Mulde zwischen den Sandhügeln nieder, um uns vor dem heftigen, kühlen Wind zu schützen und rauchten eine Zigarre. Melville, wie er es immer tut, begann von Vorsehung und künftigen Zuständen zu sprechen, von allem was außerhalb des menschlichen Gesichtskreises liegt. Er teilte mir mit, dass er sich ‚weitgehend damit abgefunden habe, ausgelöscht zu werden’. Aber er scheint in dieser Erwartung dennoch nicht zur Ruhe zu kommen und wird, denke ich, niemals zur Ruhe kommen, bis er einen festen Glauben gewonnen hat. Es ist seltsam, wie er darauf besteht, - und seit ich ihn kenne, darauf bestanden hat, und vermutlich schon lange zuvor -, hin und zu wandern in diesen Wüsten, so trostlos und eintönig wie die Hügel, zwischen denen wir saßen. Er vermag weder zu glauben noch es sich in seinem Unglauben bequem zu machen; und er ist zu redlich und beherzt, um nicht das eine wie das andere zu versuchen“. Erzähler: Hawthornes Aufzeichnung der Stimmung in den Sanddünen von Southport nimmt vorweg, wohin Melville unterwegs ist. Wir folgen ihm auf einige Stationen der Reise, die zu den Basaren Konstantinopels, den Pyramiden Ägyptens und in die Steinwüsten Palästinas führt. Seine Notizen lesen sich erneut wie ein Fortsetzungsroman. Von Liverpool geht es mit dem Passagierschiff „Egyptian“ durch die Straße von Gibraltar und entlang der nordafrikanischen Küste, über Malta und Saloniki nach Konstantinopel. Die Hauptstadt des Omanischen Reiches spielt in der Mitte des 19. Jahrhunderts als kultureller Dreh- und Angelpunkt eine bedeutende Rolle. Eine prägnante Notiz charakterisiert den Herzschlag der Stadt: Herman Melville: „Dreimal Sabbat in einer Woche in Konstantinopel. Am Freitag, Türken. Samstag, Juden. Sonntag, Katholiken, Griechen, Armenier“. Erzähler: Zwei Wochen lang unternimmt Melville Streifzüge durch Gassen, Moscheen und Friedhöfe. Wieder erweist er sich als wacher Beobachter. Wie gewohnt ist er voll Mitgefühl für das, was er wahrnimmt: Herman Melville: „Ufer des Bosporus. Von einer Stelle aus eine wundervolle Aussicht aufs Marmarameer und Prinzeninsel und Skutari. Armenische Beerdigungszüge winden sich durch die Straßen. Der Sarg mit Blumen bedeckt wird auf einer Bahre getragen, Wachskerzen auf jeder Seite, im Tageslicht getragen, Jungen und Männer im Wechselgesang. Eindrucksvoll wie sich der Zug durch die engen Gassen windet. Sah bei einem Begräbnis zu. Armenisch. Sah in der Nähe eine Frau über einem frischen Grab, noch kein Gras darüber gewachsen. Die selbstvergessene Verzweiflung ihres Elends! Rief den Toten, neigte ihren Kopf so weit wie möglich zu ihm hinab, als riefe sie in eine Luke oder in ein Kellerloch hinunter. Sie flehte: ‚Warum sagst du nichts? Mein Gott! - Ich bin’s! - Oh sprich doch! - Nur ein Wort!’ Alles umsonst, taub. Soviel zu Trost und Zuspruch. Diese Frau und ihre Schreie lassen mich nicht los“. Erzähler: Melville richtet seine Aufmerksamkeit auf einzelne Menschen wie auf allgemeine Bräuche. Er studiert, wie Natur und Kultur verwoben sind, und was ihn unmittelbar berührt: Herman Melville: „Festtagscharakter der Szenerie am Bosporus. Maßliebchen mit hellroten Spitzen besetzt, sogar das Erdreich aus dem sie sprießen, hat rötliche Färbung. Kioske und Brunnenhäuser. Der Anblick derart filigraner, zarter und märchenhafter Bauwerke unter freiem Himmel setzt einen in Erstaunen. Die Buchten dehnen sich wie weite Amphitheater. - Stand nach der Rückkehr vom Bosporus auf der ersten Brücke. Merkwürdiges Gefühl, sich inmitten dieser Millionen von Mitmenschen zu befinden, von denen zwar einige nicht abgeneigt scheinen unsere Zivilisation anzunehmen, die aber einmütig den Großteil unserer Moralvorstellungen und unsere Religion als Ganzes zurückweisen. Brücke sieht aus wie ein großer Maskenball. Wie ein riesiger Perserteppich. 150 000 Menschen als Darsteller. Händler und Hausierer jeder Sorte. Zuckerwerk auf dem Kopf getragen. Eine Reihe von Sträflingen mit Eisenringen um den Hals im Gänsemarsch. Träger mit ungeheuren Lasten. Hirn übernimmt die Arbeit der Muskeln“. Erzähler: Er vergleicht Konstantinopel mit New York City, seiner Geburtsstadt. In dem pulsierenden Durch -, Mit- und Nebeneinander der Menschen erkennt er ein Schauspiel, das die Brüche der Zivilisation maskiert. Er registriert die Widersprüche, fasst seine Erregung und sein Staunen in Worte. Beim Reisen fließen die Gefühle wieder und finden ihren Ausdruck in seinen Vorstellungen. Von Konstantinopel fährt er weiter nach Smyrna, das heutige Izmir, und gelangt durch die Ägäis nach Alexandria. Schließlich in Ägypten und in Kairo hält es ihn nicht im Hotel. Unbedingt will er zu den Pyramiden. Die zurückhaltenden Notizen bekommen einen neuen Tonfall: Herman Melville: „Pyramiden aus der Ferne purpurn wie hohe Berge. Hier, in diesen Pyramiden entstand die Vorstellung von Jehova. Grauenhafte Mischung aus Erhabenheit und Scheußlichkeit. Moses gelehrt in allen Künsten der Ägypter. Solange die Erde besteht, wird etwas von den Pyramiden bleiben. Nichts außer Erdbeben oder andere geologische Umwälzungen kann sie auslöschen. Sehe die Pyramiden immer noch vor mir: riesig, unendlich, unbegreiflich und furchtbar. Dies die Stufen, unter denen sich Jakob schlafen legte. Gras wächst in der Nähe der Pyramiden, will sie aber nicht berühren wie aus Furcht oder Scheu. Die Wüste - ein weit aus Furcht einflössender Anblick als der Ozean“. Erzähler: Melville, der Autor des monumentalen Meeresromans „Moby Dick“, findet als Reisender im Orient, der von nervösen Leiden genesen will, angesichts der ägyptischen Pyramiden einen neuen Gegenstand: die Furcht einflössende Wüste mit ihren Steinen. Was sich als ein erster ergreifender Eindruck manifestiert, kehrt oft wieder, als er sich von Januar 1857 an für einige Wochen in Jerusalem und im Heiligen Land aufhält. In den Morgenstunden streift er durch die Straßen der Stadt. Er sucht ihre Atmosphäre einzufangen und Umgebung zu erwandern. Im Gewirr aus Häusern, terrassenartigen Hainen, felsigen Hügeln und bei ansteigender Hitze geht er auf die Suche nach der Vergangenheit. Herman Melville: „Ganze Schichten von Städten liegen unter der gegenwärtigen Oberfläche Jerusalems begraben. Vierzig Fuß tief befinden sich Bruchstücke von Säulen. In den heiligen Schriften lesen wir viel von Steinen. Monumente und Sockel von Denkmälern werden aus Steinen errichtet. Menschen werden zu Tode gesteinigt. Der Same im Gleichnis fällt auf steinigen Boden. Judäa ist eine Ansammlung von Steinen: steinige Berge und Ebenen, steinige Flussbette und Straßen, steinige Häuser und Gräber, versteinerte Blicke und Herzen. Vor dir und hinter dir: Steine zur Rechten und zur Linken“. Erzähler: In Jerusalem und auf den Geröllhalden Judäas fragt sich der Reisende: Wie entstanden die Religionen? Warum lokalisieren sie ihre Ursprünge in der Wüste? 20 Jahre später wird er die Fragen in dem Versepos „Clarel. Gedicht und Pilgerreise im Heiligen Land“ (1876) wieder aufnehmen. Die Rückreise nach Europa führt ihn ein zweites Mal durch die Ägäis. Als das Schiff vor der Insel Patmos ankert, notiert er sich: Herman Melville: „Wurde hier wieder vom großen Fluch modernen Reisens verfolgt - dem Skeptizismus. Konnte mir genauso wenig vorstellen, dass der Heilige Johannes hier seine Offenbarungen hatte, wie ich vor Juan Fernandez nicht an den Robinson Crusoe von Defoe glauben konnte. Als mein Auge auf den kahlen Höhen ruhte, ergriff mein Gemüt dieselbe Öde“. Erzähler: Desillusionierung verfolgt Melville auf Schritt und Tritt wie ein Schatten. Nur die Neugier kann sie vertreiben. Die Lust auf Entdeckungen spornt ihn an wie eh und je: Wie verleihen die Werke der Vergangenheit der menschlichen Sehnsucht Ausdruck? Auf der Rückfahrt, die von Smyrna über Athen nach Neapel erfolgt, wird er zu einem Kunstreisenden. Er durchstreift Italien von Rom bis Venedig und Mailand, er lässt kaum ein Museum und selten eine Sehenswürdigkeit aus. Er nimmt sich viel Zeit, als er den Gotthard überquert und auf der Rheinroute von Basel bis Köln nach Rotterdam zurückreist. Als er im Mai 1857 in London eintrifft, verabredet er sich ein letztes Mal mit dem Freund Hawthorne in Liverpool, wo er den Dampfer nach New York nehmen will. Als er wieder zu Hause bei der Familie auf der Farm „Arrowhead“ ankommt, ist er sich endgültig darüber klar geworden, dass er zu dem exzessiven Leben am Schreibtisch nicht zurückkehren kann. Im folgenden Herbst nimmt er eine Tätigkeit als Vortragsreisender auf, der mit beachtlichem Repertoire durch die Clubsäle des Landes tingelt. Er spricht über „Die Statuen Roms“ wie über „Die Südsee“ und findet Anklang bei seinen Zuhörern. Gesundheitlich bleibt er leicht angeschlagen. Im Schreiben, das er nicht aufgeben kann und im Geheimen praktiziert, verlegt er sich auf Gedichte. Sie wandern in die Schublade, weil er es ablehnt weiterhin zu publizieren. Darüber brechen unruhige Zeiten an. Wir schreiben das Jahr 1860. Die Vereinigten Staaten stehen vor einem Bürgerkrieg. Vorher ist Wahlkampf. Der Kandidat der Republikaner ist ein redegewandter Mann und ein erklärter Gegner der Sklaverei. Seine Name: Abraham Lincoln. Da erhält Melville noch einmal die Gelegenheit zu reisen. Sein Bruder Thomas wurde zum Kapitän des Klippers „Meteor“ befördert. Er hat ihn eingeladen, an einer Weltumsegelung teilzunehmen. Unterwegs schreibt er einen Brief an seinen Sohn Malcolm, um ihm Eindrücke von Kap Hoorn zu vermitteln: Herman Melville: „Am nächsten Tag waren wir vor Kap Hoorn, dem südlichsten Punkt ganz Amerikas. Das Schiff rollte und nahm mitunter soviel Wasser an Deck, dass es die Leute von den Beinen riss. Einige Matrosen waren nahe dran, über Bord gespült zu werden. Es war gegen Tagesanbruch, Onkel Tom befahl die Marssegel (das sind große Segel) festzumachen. Während die Matrosen hoch oben auf einer der Rahen waren, rollte und stampfte das Schiff fürchterlich, es stürmte mit Graupel und Hagel und es war beißend kalt. Plötzlich sah Onkel Tom etwas durch die Luft fallen und hörte einen dumpfen Schlag und dann sah er vor sich einen armen Matrosen auf dem Deck liegen. Er war von der Rah gefallen und augenblicklich getötet worden. Seine Schiffskameraden hoben ihn auf und trugen ihn in Deckung. Als Zeit dafür war, nähte der Segelmacher den Körper in ein Stück Segeltuch ein zusammen mit ein paar Eisenkugeln - Kanonenkugeln - am unteren Ende. Als alles fertig war, wurde der Körper auf eine Planke gelegt und in Gegenwart aller Mann zur Schiffseite getragen. Dann las Onkel Tom als der Kapitän ein Gebet aus dem Gebetbuch und auf ein bestimmtes Kommando kippten die Matrosen, die die Planke hielten, sie hoch und sofort glitt der Körper in den stürmischen Ozean und wir sahen ihn nicht mehr. So wird ein armer Matrose auf See begraben. Der Name des Matrosen war Ray. Er hatte einen Freund unter der Mannschaft“. Erzähler: Unverstellt tritt die Wirklichkeit mit ihren Schrecken in Erscheinung. Einen Brief an seinen elfjährigen Sohn Malcolm schreibt Melville genauso, wie er es für angebracht hält. Seine Teilnahme an der Weltumsegelung bricht er im Oktober 1860 in San Francisco ab. Auf schnellstmöglichem Wege kehrt er nach Hause zurück. Abraham Lincoln ist in diesen Tagen zum Präsidenten gewählt worden. Mit seiner Wahl stehen die Vereinigten Staaten vor der Spaltung. Binnen Wochen treten die Südstaaten aus der Union aus. „Die Konföderierten“ wählen im Februar 1861 Jefferson Davis zum Präsidenten. Richter Shaw an der Spitze von Melvilles Familie verbindet mit der Wahl Lincolns die Option, der erfolglose Schriftsteller könne von der Neuverteilung der Ämter unter dessen Präsidentschaft profitieren und einen Posten als Konsul in Florenz erhalten. Melville soll sofort nach Washington eilen, um seine Fühler auszustrecken. Er berichtet seiner Frau Lizzie von einem Empfang im Weißen Haus. Herman Melville: „Am Abend war ich zum zweiten Empfang im Weißen Haus. Eine große Menschenmenge füllte die Säle und es war ein glänzendes Schauspiel. Hunderte von Damen in vollem Staat. Ein steter Strom von Paaren wand sich durch die Zimmerfluchten, um ‚Old Abe’ die Hand zu schütteln und gleich wieder weiterzuziehen. Dies zog sich ohne Unterbrechung anderthalb Stunden lang so hin. Natürlich war auch ich einer der Schüttler. ‚Old Abe’ sieht viel besser und jünger aus, als ich erwartet hatte. Er schüttelte Hände wie ein braver Kerl, arbeitete hart daran, wie einer, der im Akkord Holz sägt. Mrs. Lincoln sieht ziemlich gut aus, fand ich. Alles in allem ein prächtiges Schauspiel. Wunderbare Möbel - üppige Beleuchtung - herrliche Blumen - komplette Musikkapelle“. Erzähler: Die Vereinigten Staaten steuern auf einen Bürgerkrieg zu. Die Bewerbung in Washington für eine Konsulatsstelle im fernen Italien verläuft im Sand. Kurz nacheinander sterben 1861 die Männer, die Melville in Notlagen unterstützt haben: sein Schwiegervater Richter Shaw und der Patenonkel Gansevoort Melville. Im folgenden Jahr verletzt er sich so schwer bei einem Unfall mit einem Pferdegespann, dass man um sein Leben fürchten muss. Nach der langsam verlaufenden Genesung sehen sich seine Frau und er gezwungen eine Entscheidung zu treffen. Schweren Herzens verkaufen sie nach 13 Jahren die ihnen liebgewordene Farm „Arrowhead“ und ziehen in die Stadt. Mitten in Manhattan erwerben sie mit dem Erbe des Schwiegervaters ein Wohnhaus, die Nummer 104, East an der 26. Straße. Mit rasender Geschwindigkeit ist die Geburtsstadt von Melville in nur wenigen Jahrzehnten zur Großstadt gewachsen, die vielleicht eine Millionen Einwohner zählt. Aus der Idylle der Berkshire Hills, wo er im Dachgeschoss schreiben konnte, wie er wollte, zieht er in eine hektische Metropole, die in die Wirren des Bürgerkriegs einbezogen ist. Gerade in den Tagen des Umzugs richten sich rassistische Übergriffe irischer Einwanderer gegen Schwarze, die dort in Freiheit zu leben hoffen. Der Schrecken des Kriegs lässt die Schatten der Desillusionierung Realität werden. In einem Gedicht aus dieser Zeit heißt es: Herman Melville: „All jene bürgerliche Sitte Und fromme Lehr, die einst die Herzen banden – In Ehrfurcht einer besseren Herrschaft hörig Als der des eigenen Ich – verweht als Traum; In einem Nu verkommt der Mensch zum Tier. Gegrüßt sei das leise dumpfe Rumpeln, Das dumpfe Dröhnen, das das Haus erschüttert. Der weise Draco kommt in tiefer Nacht Mit donnernden Geschützen; spät kommt er Und strafend gibt er Calvins Lehre recht, Der zynischen Tyrannei gerechter Herrscher“. Erzähler: Melville, der seit vielen Jahren gegen seine Schatten schreibt, versinkt in Resignation. Ende Mai 1864 erfährt er aus den Zeitungen, dass sein Freund Nathaniel Hawthorne mit sechzig Jahren an einem Herzinfarkt gestorben ist. Ein Gedicht mit dem Titel „Monodie“, das unter seinen Papieren entdeckt wird, verleiht der Trauer über den Tod Ausdruck: Herman Melville: „Monodie Ich kannt’ ihn wohl, ich liebt ihn sehr Nach langer Einsamkeit; Dann wurden wir uns lebensfremd, Doch beide ohne Schuld. Jetzt hat der Tod sein Ziel gesetzt – - Still du den Schmerz, o Lied! Im Winterland vom Schnee verhüllt Ragt einsam auf sein Grab, Und heimatlos der Schneefink flitzt Von Ast zu Ast im Flor: Von Eis verglast liegt jetzt der Spross Mit seiner keuschen Frucht“. Erzähler: Am 26. April 1865 endet der blutige amerikanische Sezessionskrieg mit der Kapitulation der Südstaaten. Nach der Ermordung Abraham Lincolns durch einen Fanatiker zwei Wochen zuvor gehört Melville einer Minderheit an, die für die Aussöhnung der Parteien eintritt. Wider alle einmal gefassten Vorsätze publiziert er seinen Lyrikband „Battle-Pieces and The Aspects of War“. In seinen Gedichten gewinnt er dem Grauen des Kriegs Vorstellungen von Tragik und Toleranz ab. Im Nachwort plädiert er für Güte und Gerechtigkeit. Erneut erntet er bloß Kopfschütteln. Auch als Dichter ist Melville jetzt wie zehn Jahre zuvor als Romancier durchgefallen. Es kommt, was kommen muss und sich anbahnte. Anfang Dezember 1866 tritt er eine Stelle als Zollinspektor im Hafen von New York an, um sein Auskommen zu haben. Seinen Dienst verrichtet er in den Piers am Ostufer des Hudson River zwischen der 11. und der 34. Straße. Das Zollhaus liegt an der West Street, Nummer 470. In „The House-Top“, einem Gedicht aus den „Battle-Pieces“, steht Melville über den Dächern der Stadt, in der er geboren wurde und die jetzt zu einer Millionenmetropole angewachsen ist, in der er in den kommenden Jahren als einer unter vielen sein nacktes Dasein fristet: Herman Melville: „Unter den Sternen die endlose Wüste aus Dächern, Menschenleer wie Libyen. Rings ist alles stumm. Nur von ferne sporadisches Branden Dumpfen Gebrülls, Aufruhr der Atheisten. Die Stadt wird erobert von ihren Ratten – Schiffs- und Hafenratten. Bürgertugenden, Priesterworte, jüngst noch in hohem Ansehen, Jetzt angstgelähmt und unterworfen besserem Einfluss Als dem des eigenen Ich; zerstoben wie ein Traum, Äonenweit fällt der Mensch in der Natur zurück“. Erzähler: Der äußerste Tiefpunkt in Melvilles Existenz ist erreicht, als sich sein ältester Sohn Malcolm am 10. September 1867 in seinem Zimmer in der elterlichen Wohnung erschießt. Es bleibt ungeklärt, ob der 18-Jährige, der im Umgang mit Waffen sehr geübt war, sich aus Versehen tötete oder ob er Selbstmord beging. Elizabeth Shaw und Herman Melville begraben ihren Erstgeborenen auf dem Woodlawn Cemetery in der Bronx. Die Grabinschrift bilden vier Zeilen aus einem Gesangbuch: Elizabeth Melville (Sprecherin): „So gut, so jung, So zart, so rein, Geliebt und früh verloren, Muss man Dich beweinen“. Erzähler: Der Tod seines ältesten Sohns lähmt ihn über alle Maßen. Doch auch jetzt er ergibt sich nicht restlos ins Schweigen. An den Abenden nach der Arbeit im Hafen beginnt er ein gewaltiges Gedicht zu schreiben. Er geht in seinem Zimmer auf und ab und skandiert die monotonen Rhythmen eines Gesangs, der langsam Gestalt annimmt. Seine literarische Laufbahn ist beendet. Die Leidenschaft des Schreibens glimmt im Verborgenen, aber sie hält ihn weiterhin am Leben. Im Geheimen feilt er wie ein Besessener an „Clarel“, an einem monumentalen Versepos über seine Reise in den Orient. Am Ende umfasst das Manuskript rund 18 000 Verse. Als seine Fertigstellung naht, geht es im Hause Melville in Manhattan so hektisch zu wie einst im Farmhaus in den Berkshire Hills, wenn wieder ein Buch vor der Drucklegung stand. Seine Frau berichtet der Kusine: Elizabeth Melville (Sprecherin): „Herman, der arme Teufel, ist in einer solch entsetzlich nervösen Verfassung und zumal jetzt unter einer solchen zusätzlichen Belastung seines Gemüts, dass ich zur Zeit wirklich ängstlich bin, irgend jemanden hier zu haben, in der Befürchtung, dass es ihn völlig stören würde und außer Stande setzen, mit der Drucklegung fortzufahren. Er war nicht einmal bereit, seine eigenen Schwestern hier zu haben. Wenn dieser grauenvolle Inkubus von einem Buch (ich nenne es so, weil es all unser Glück untergraben hat) jemals von Hermans Schultern genommen sein wird, mache ich mir Hoffnungen, dass es um seine geistige Gesundheit besser gestellt sein mag – aber gegenwärtig habe ich Grund, um sie die größte Sorge und Angst zu empfinden, um es milde auszudrücken. Bitte sprich nicht darüber. Du weißt, wie solche Dinge aufgebauscht werden, und ich werde Dir mehr erzählen, wenn ich Dich sehe“. Erzähler: Melville will seinem Romanepos „Moby Dick“, das in den endlosen Weiten des pazifischen Ozeans spielt, ein vergleichbares Versepos an die Seite stellen, das von der Reise durch die Wüste ans Tote Meer handelt. 1300 Dollar, ein Geschenk seines Onkels Peter Gansevoort, steckt er in den aufwendigen Privatdruck, der eine Auflage von 350 bibliophilen Exemplaren hat. Eine Zeit lang spielt er ernsthaft mit der Idee, als Autor anonym zu bleiben. Lizzie schreibt an die Kusine: Elizabeth Melville (Sprecherin): „Herman hat sich nach dem überaus starken Drängen des Verlags bereit erklärt seinen Namen doch auf die Titelseite setzen zu lassen“. Erzähler: Nur 3 Jahre später, 1879, ersucht der gleiche New Yorker Verlag, Putnam & Co., den Autor förmlich die restlichen 224 Exemplare des Buchs bei Gelegenheit im Lagerhaus abzuholen. Daraufhin lässt Melville die verbliebenen Exemplare von einer Papiermühle einstampfen. Es hat sich bis heute in der literarischen Welt kaum herum gesprochen, welch ein gewaltiges Werk „Clarel“ ist. Das Versepos beruht auf einer äußerst verdichteten rhythmischen Sprache. Es verwickelt Leser in schier endlose philosophische und theologische Reflexionen. In die labyrinthische Struktur gehen poetische Schilderungen der engen Gassen von Jerusalem genauso ein wie solche der Steinwüsten Judäa. Wir können die faszinierenden Figuren des Buchs, die ein Ensemble von rationalen und religiösen Haltungen bilden, nicht im Einzelnen vorstellen, aber wir wollen trotzdem einige Zugänge zu dem Werk herstellen. Melville benutzt noch nach 20 Jahren die Impressionen seiner Orientreise als Steinbruch. Er löst daraus Bruchstücke und verdichtet das Motiv der Steine zur Litanei („Clarel“, Buch 2,10): Herman Melville: „In mannigfach abwechslungsreicher Weise Finden in Heil’ger Schrift Steine Erwähnung: Steine, gerollt von Quellmündern, Altarsteine, Steinerne Götzenbilder, Gedächtnis-Steine, Schleudersteine, steinerne Tische: das hohe Bethel Sah Jakob seinen Kopf unter bestirntem Himmel Auf Steine betten – Wüstengebeine; Steine versiegelten die Gruften – riesige Kegel, Dort in Massen aufgetürmt; Tod auch durch Steine Verfügte das Gesetz für Missetat; im Groll Gleichfalls, zum Hohn oder zur Verwünschung, Warf man sie auf den Ort oder den Menschen; Oder auf Kampfplätzen gehäuft, tadelten Oder schmähten sie die Erschlagenen: So wurde im Wald von Ephraim Der große Haufen über Absalom gelegt“. Erzähler: Die schier nicht enden wollende Litanei führt Stein und Streit am Altar zusammen: Herman Melville: „Erstes Geschoss des Menschen war der Stein; Kain hat ihn geschleudert oder beschwerte seine Unheilvolle Hand mit ihm. Gebt zu, dass Kain Ein Wilder war, obwohl seinen Altar er plante“. Erzähler: Melville kommt auf die Fragen der Orientreise zurück: Warum lokalisieren Religionen ihre Ursprünge in der Wüste? Was intendieren ihre Heilsversprechen? Mitten in New York City lebend und arbeitend, spitzt er die Fragen auf die moderne Situation hin zu: Was hält die Zivilisation zusammen? Kann unter diesen Verhältnissen überhaupt von Erlösung die Rede sein? - Die Geschichte der Pilgerfahrt durch das Heilige Land ist schnell erzählt: Clarel, ein Student der Theologie, natürlich ein Namensvetter von Ismael aus „Moby Dick“, verliebt sich in Jerusalem in Ruth, eine Jüdin. Als ihr Vater von Arabern erschlagen wird, begibt er sich mit einer Gruppe aus intellektuellen Abenteuern und religiösen Fanatikern auf eine Rundreise durch Judäa. Sie führt nach Jericho und ans Tote Meer. Die Stationen sind das Felsenkloster Mar Saba und Bethlehem. Vom Geburtsort des Jesus von Nazareth geht es in der Karwoche zurück nach Jerusalem. Hier erfährt Clarel, dass Ruth gestorben ist. Der Tod der Geliebten fällt mit den Feierlichkeiten anlässlich der Auferstehung des Erlösers zusammen. Am Ende bleibt Clarel zurück wie der Schiffbrüchige Ismael in „Moby Dick“: ratlos - einsam. Sein Scheitern bringt der Autor im Epilog in Verbindung mit den Erlösungsversprechen der Religionen und dem modernen Fortschrittsglauben: Herman Melville: „Wenn Luthers Tag zu Darwins Jahr sich dehnt Wäre dann Hoffen ausgeschlossen – Angst gebannt? Wir kennen Fortschritte, die waren früher unbekannt; Das Licht ist größer, daher auch größere Schatten; Und der gequälte und Angst beladene Mensch Ruft flehend: Warum uns reifen lassen zur Pein? Scheint da er der Sprecher zu sein der stummen Ordnung der Natur? Aber durch solche seltsamen Täuschungen sind die gegangen, Die in des Lebens Pilgerreise genarrt sich mühten – So wahre Deinen Mut, ob wohl Du doch nur Dich fügst – Clarel, bei Deinem Mut denke nur an die Ausgänge; Dass Du aus dem letzten übermächtigen Meer auftauchen Und erfahren mögest, dass Tod das Leben in den Sieg nur treibt“. Erzähler: In verwickelten Dialogen diskutiert Melville das Pro und Contra von religiösen und rationalen Doktrinen. Jede einzelne Doktrin führt er ad absurdum, weil er meint, dass Religion und Wissenschaft die Ängste der Menschen nicht mehr wirklich ernst nehmen. Wie die Politik manipulieren sie menschliche Schwächen für ihre Zwecke. Dagegen richtet er den Stachel des „Stirb und Werde“ in „Clarel“. Gewissheiten gibt es für ihn keine. Der Wahrheitssucher ist ein leidgeprüfter Realist, der den Dingen auf den Grund geht und auf temporäre Belehrung pocht. Für ihn haben die folgenden Zeilen, die er einst dem Freund Hawthorne schrieb, ihre Gültigkeit behalten: Herman Melville: „Wir sind geneigt, anzunehmen, dass Gott seine eigenen Geheimnisse nicht erklären kann, und dass er selbst für etwas Belehrung über gewisse Punkte ganz dankbar wäre. Wir Sterblichen setzen ihn ebenso in Erstaunen wie er uns. Hier geht es um das Sein. Da liegt der Knoten, mit dem wir uns selbst erwürgen können. Sobald wir sagen ‚Ich’, ein ‚Gott’, die ‚Natur’ stoßen wir von unserem Schemel in die Höhe und hängen herab vom Balken. Ja, das Wort ist der Henker. Man streiche Gott aus dem Wörterbuch, dann kann er uns auf der Straße begegnen“. Erzähler: So erzählt das Pilgergedicht „Clarel“ im Rekurs auf die Wüstenreise von einer Suche nach Gott, die einzig und allein unterwegs - auf der Straße - stattfinden kann. Alle Romane und Erzählungen Melvilles sind von dieser kompromisslosen Haltung geprägt: Die Liebe zur Wahrheit erlaubt keine Einschränkung noch Zurückhaltung. Sie fordert Aufmerksamkeit für Menschen und Dinge sowie unbedingte Aufrichtigkeit der Darstellung. Der Autor schreibt genau, wie es ihm gefällt. Das sollen seine Leser wissen und akzeptieren. Von 1866 bis zur Pensionierung 1885 verrichtet Melville den Dienst als Zollinspektor an den Hudson-Piers im Hafen von Manhattan. Zum Schreiben findet er nur noch an den Abenden und in den Ferien Gelegenheit. Seine Gedichte publiziert er als Privatdrucke in Kleinstauflagen von höchstens 25 Exemplaren. Obgleich er sich auf lyrische Formate verlegt hat, sitzt er in seinen letzten Lebensjahren doch wieder an dem Stoff für eine Erzählung, die ihn heftig herausfordert. Der Titel der Erzählung, die mit seinem Namen bis heute eng verknüpft ist, lautet: „Billy Budd, Sailor“. Eine Oper des Komponisten Benjamin Britten hat sie nach dem Zweiten Weltkrieg weltberühmt gemacht. Erst Mitte der 1920er Jahre wurde das schmale Papierkonvolut von seiner Enkelin in einem alten Brotkasten auf dem Dachboden entdeckt. Die existenziellen Konstellationen von Rebellion und Resignation erhalten in „Billy Budd“ ein letztes Mal Konturen. Eine Widmung geht dem Buch voran, das der Verfasser „an inside narrative - eine innerliche Geschichte“ nennt: Herman Melville: „Dem Engländer Jack Chase gewidmet, ob dieses große Herz nun noch auf Erden weilt oder in den Hafen des Paradieses eingelaufen ist – im Jahre 1843 Vormann am Großmast auf der amerikanischen Fregatte ‚United States’“. Erzähler: In dem charmanten und gebildeten Matrosen Jack Chase sah der junge Melville seinen Lehrer, sein Vorbild. Im Roman „Weißjacke“ schildert er ihn als einen Mann, der ebenso gut zu packen und austeilen wie Geschichten erzählen konnte. Die Erinnerung an ihn lebt in der Figur des britischen Seemanns Billy Budd wieder auf, erhält aber jetzt eine tragische Note. Der engelgleiche Billy wird von Claggart, einem schurkenhaften Waffenmeister, öffentlich des Verrats bezichtigt. Dagegen kann der stotternde Seemann nur mit den Mitteln der Sprache protestieren, die er beherrscht. Er streckt den Denunzianten mit einem einzigen Fausthieb nieder. Daraufhin landet er vor dem Kriegsgericht. Eines der Motive der Wahrheit, die Billy Budd leiten, trägt Melville in seinen Vornamen ein: Herman Melville: „Will i am – Ich bin Wille“. Erzähler: Seit „Moby Dick“ wissen wir, dass Melvilles Figuren durch Eigennamen ins Leben treten. So trägt „William“ genannt „Billy“ zudem das Kürzel für den Religionsstifter „Buddha“ im Namen. Früh ist er auf „Die Welt als Wille und Vorstellung“ gestoßen, das Hauptwerk von Arthur Schopenhauer, das von buddhistischen Vorstellungen geprägt wird. Er teilt die Klage des deutschen Philosophen über den heillosen Zustand des Menschengeschlechts und auch seine Annahme von der Freiheit des Willens. Die Parabel von „Billy Budd“ ist die Probe aufs Exempel. Sie beschreibt einen Engel der Freiheit und Unschuld, der von aller Welt angefeindet wird: von der boshaften Welt des Denunzianten Claggart ebenso wie von der gerechten Welt des Kapitäns Vere, die ihn vor Gericht stellt und zum Strang verurteilt. Die Szene der Hinrichtung offenbart, was der Held der so unsagbar vertrackten, aus Gut und Böse gemischten Welt entgegenhält. Herman Melville: „Ein zartes, scheues Licht erschien im Osten, wo sich ein durchscheinendes Vlies von weißen Dunststreifen ausbreitete. Es war vier Uhr morgens. Sofort hörte man das silberne Pfeifen, das alle Mann herausrief, um der Hinrichtung beizuwohnen. Auf hoher See erfolgt sie durch Erhängen. Jetzt wurde der Gefangene unter das Wetter- und Luvende der Großrahe geführt. Billy stand mit dem Gesicht nach achtern gewandt. Seine Worte im allerletzten Augenblick, seine einzigen, waren der spontane Ausruf: ‚Gott segne Kapitän Vere!’ Diese Worte waren von einer unerhörten Wirkung, die noch gesteigert wurde durch die seltene Erfahrung der vergeistigten Schönheit des jungen Matrosen. Unwillkürlich erscholl, als ob die Mannschaft tatsächlich von dem Ruf wie von einem elektrischen Schlag getroffen sei, von oben und unten ein widerhallendes Echo: ‚Gott segne Kapitän Vere!’ - Der Rumpf des Schiffes hatte sich aus dem gleichmäßigen Rollen nach Lee gerade wieder zur waagerechten Lage aufgerichtet, als das verabredete stumme Zeichen gegeben wurde. In demselben Augenblick geschah es, dass der niedrig im Osten hängende Wolkendunst wie das Vlies des Gotteslamms in einer mystischen Vision von einem sanften Glanz durchbrochen wurde. Zur gleichen Zeit stieg Billy empor, verfolgt von der gedrängten Masse der nach oben gewandten Gesichter, und im Aufsteigen empfing er die volle Röte des anbrechenden Tages“. Erzähler: Der Schlussakkord mutet phantastisch an. Er verknüpft zwei Leitmotive: die Morgenröte und die Erlösung, die in Auferstehung übergehen. Aber ein weitaus stärkerer Akzent liegt auf dem Akt der Vergebung für Captain Vere, der Billy Budd an den Galgen brachte. Der zum Tode Verurteilte initiiert den Gnadenakt für den Kapitän selbst, in den spontan alle Matrosen mit einstimmen. Hier tritt der Realismus Hermann Melvilles deutlich zu Tage, der alle religiösen Doktrinen - seien sie christlicher oder buddhistischer Provenienz - sprengt. Niemals verliert er die Menschenwürde aus den Augen. Im April 1891 vollendet er das Manuskript von „Billy Budd“. Ein halbes Jahr später, am 28. September erliegt er in seinem Haus in Manhattan einem Herzinfarkt. Neben seinem Sohn Malcolm auf dem Woodlawn Cemetery in der Bronx wird er begraben. Auch seine Frau Lizzie, die 15 Jahre später stirbt, findet hier ihre Ruhestätte. Als Schriftsteller ist er nicht erst seit seinem Tod in Vergessenheit geraten. Ein bedeutender Autor der Zeit wie Henry James hat nie etwas von ihm gehört oder gelesen. Es vergehen mehr als 30 Jahre, ehe Raymond Weaver (1888-1948), ein New Yorker Lehrer, in den 1920er Jahren die Basis zur Wiederentdeckung der Romane legt. Weaver schreibt eine erste Biographie und ediert eine Werkausgabe. Auf ihn folgt ein Enthusiast, dem wir viel verdanken. Jay Leyda (1910-1988) arbeitet als Film- und Literaturhistoriker in New York. In Jahrzehnte langer akribischer Sammelarbeit stellt er das zweibändige „Melville-Log“. (New York 1951) zusammen, das Material zu Leben und Werk enthält. Aus dem weitgefächerten Ensemble der Dokumente sollen sich die Leser ein eigenes Bild erstellen. Die freiheitlichen Intentionen des Papierarchäologen Leyda korrespondieren mit den Papierallegorien Melvilles. Dieser schrieb einmal an Hawthorne: Herman Melville: „Würdigung! Anerkennung! Wird Jupiter gewürdigt! Warum auch, denn wer seit Adam hat den Sinn jener großen Allegorie - der Welt - erfasst? Also müssen wir Pygmäen zufrieden sein, dass unsere Papierallegorien nur schlecht verstanden werden“. Erzähler: Als Schriftsteller sieht sich Herman Melville dem göttlichen Schauspiel der Welt gegenüber, an dem er mit Erregung und Staunen teilnimmt. Unablässig macht er sich seine Gedanken über das heillose Drama und kleidet es in Worte. Je intensiver ihn die Kunst der Darstellung packt, umso mehr wird er sich klar darüber, dass er nie zu einer Form der Gewissheit finden kann. Hin und hergerissen zwischen Rebellion und Resignation fühlt er sich einer Einstellung von früh an verpflichtet. Es gilt den Menschen, jeden Einzelnen, unter allen erdenklichen Umständen ins Recht zu setzen und seine Würde zu wahren. Nur eine bis zum äußersten getragene humane Haltung ist fähig, in Frieden zu träumen. Unter seinen Papieren findet sich das folgende Traumgedicht. Ein Mann schläft in der Kirche ein, nachdem der Prediger vorne das Wort ergriff. Der Schläfer im Kirchenraum träumt sich der Morgenröte entgegen. Herman Melville: „Der Priester zog aus Salomons Sang Vier Worte als Text, von Bedeutung schwer: DIE ROSE VON SARON – das Wort war ER, Das Leben, dem Auferstehung gelang. Er wies auf manche Urne im Rund. Wie süß rann ihm die Rede im Mund! An jenem schläfrigen Nachmittag, Im Münster grau, ich im Dunkeln lag, Vom Rum gelähmt, die Glieder schwer, Halb schlummernd, die Hände ich gefaltet ließ, Bis der Schlaf mir die Gnade des Traums erwies. Ich sah, wie ein Engel mit Rose schwebt’ Aus des Morgens blühendem Tor hervor; Wie ein Licht hielt er die Rose empor Und schritt hinein in ein schmales Grab. Ich folgt’ ihm und sah, wie die Rose zerstob Als Blätterflut auf den Toten hinab. Die Linnen und Laken, von Feuer umloht, Sind gewürfelt wie Plaid und wie Tartan, so rot. Aufwacht’ ich, die Feuerrose da Als Flammenrad im Giebel sah, Übergossen mit warmem, goldenem Schein Wie Aurora und Iris, himmlisch versöhnt. Ein Strahlenbündel schoss schräg herein Von der Scheibe Rosettenform getönt, Warf Verklärungslichter auf dunklen Pfuhl, Wie die Stäubchen tanzten im staubigen Stuhl“. Werke von und über Herman Melville: (aus denen im Manuskript zitiert wird) I. Werke von Herman Melville in deutschen Übersetzungen: Taipi. Abenteur in der Südsee. Übertragung und Nachwort von Ilse Hecht. Leipzig 1953. Omu. Wanderer in der Südsee. Deutsch von Martin H. Richter. Leipzig 1955. Redburn. Seine erste große Fahrt. Deutsch von Barbara Cramer-Nauhaus, Leipzig 1965. Redburn und Sämtliche Erzählungen. Deutsch von Richard Mummendey. München 1967. Weißjacke. Deutsch von Walter Weber. Zürich 1948. Moby Dick oder Der Wal. Deutsch von Matthias Jendis. München 2001. Pierre oder Im Kampf mit der Sphinx. Deutsch von Walter Weber. Hamburg 1965. Ein sehr vertrauenswürdiger Herr. Deutsch von Walter Hilsbecher. Hamburg 1958. Briefe. Deutsch von Eugen Gürster. Hamburg 1964. Der Rosenzüchter und andere Gedichte. Deutsch von Walter Weber. Hamburg 1969. Ein Leben. Briefe und Tagebücher. Deutsch von W. Schmitz und D. Göske. München 2004. Die große Kunst, die Wahrheit zu sagen. Deutsch von Alexander Pechmann. Salzburg 2005. Die Reisetagebücher. Deutsch von Alexander Pechmann. Hamburg 2001. Clarel. Deutsch von Rainer G. Schmidt. Salzburg 2006. II. Werke über Herman Melville: Charles Olson, Nennt mich Ismael. Deutsch von Klaus Reichert. München 1979. Milton R. Stern, The Fine Hammered Steel of H.M. Urbana 1957. Michael Paul Rogin, Subversive Genealogy. The Politics and Art of H.M. New York 1983. Hershel Parker, Herman Melville. A Biography Volume I, 1819-1851. Baltimore 1996. Hershel Parker, Herman Melville. A Biography Volume II, 1851-1891. Baltimore 2002. Alexander Pechmann, Herman Melville. Leben und Werk. Wien - Köln 2003. Andrew Delbanco, Melville. Biographie. Deutsch von Werner Schmitz. München 2007. Jay Leyda, The Melville-Log. A Documentary Life of Herman Melville 1819-1891. 2 Bände. New York 1951. Uwe Nettelbeck, More Light And The Gloom Of That Light. More Gloom, And The Light Of That Gloom. Die Republik, Nr. 82-85. Salzhausen - Luhmühlen 1988.