COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 3.9.2012, 19 Uhr 30 Helikopter-Eltern: Werden unsere Kinder überbehütet? von Peter Podjavorsek Atmo Spielende Kinder auf Spielplatz Mutter 1: "Linuus, warte! Ich helfe Dir hoch!" Mutter 2: "Achtung Mara. Das ist wackelig!" Sprecher Ein Spielplatz irgendwo in Deutschland. Die Kinder scheinen in großer Ge- fahr. Atmo Vater 1: "Leon, pass auf, dass du nicht runterfällst!" Sprecher Die Zahl der Kinder in Deutschland ist so niedrig wie nie zuvor. Das Maß an Aufmerksamkeit und Fürsorge, das sie genießen, scheint dagegen so hoch wie nie. Sie werden umsorgt und gehätschelt, mit Geschenken und Spiel- sachen überhäuft, Schwierigkeiten werden ihnen aus dem Weg geräumt, der Karriereweg penibel geplant. Atmo Leises Hubschraubergeräusch, näher kommend Sprecher Helikopter-Eltern nennen Experten solche Eltern. Unaufhörlich kreisen sie über ihrem Nachwuchs, um jederzeit eingreifen zu können - und allzeit wol- len sie nur das Beste für ihr Kind. Atmo Eltern Mutter 3 (durch Megaphon): "Kaya, lass mich mal machen. Sonst schneidest du dich noch." Vater 2: (durch Megaphon): "Achtung Robert. Pass auf den Ball auf!" Sprecher Bekommen Kinder so einen optimalen Start ins Leben - oder drohen Ver- wöhnung und Unselbständigkeit? Atmo Hubschraubergeräusch kommt näher Musik Sprecher vom Dienst Helikopter-Eltern: Werden unsere Kinder überbehütet? Von Peter Podjavorsek. Atmo Die ersten Takte von der Winnetou-Titelmusik erklingen. Darüber Kindergejohle. "Angriff!" Kinderstimmen imitieren Gewehrschüsse, Stöcke schlagen aufeinander. "Autsch! Au!" "An den Marterpfahl mit ihm!" "Nein. Lasst mich los!" "Schnell weg hier! Wir brauchen Verstärkung." Haustürklingel, Türe öffnet sich Mutter: "Ach du grüne Neune. Wie siehst Du denn aus, Andreas? Deine Knie sind ja ganz blutig." Kind: "Wir haben Indianer und Cowboy gespielt." Sprecher Natürlich war früher immer mehr Lametta und der Sommer länger. Die Welt der Kinder, so scheint es, war wirklich etwas freier. Die Schule endete gegen Mittag, spätestens am frühen Nachmittag. Danach begann das schöne Le- ben. O-Töne von Eltern Mann 1: Wir hatten uns als Jungen, den Weg zum Bus, um zur Schule zu fahren, über die Bäume erarbeitet. Dass wir nicht den Weg berühren an der Stelle, wo diese 10 oder 12 Bäume nebeneinander standen. Und diese Pappeln stehen so dicht aneinander, dass sich die Kronen berühren. Und von Baum- krone zu Baumkrone zu gehen, war für uns eine Selbstverständlichkeit. Und zwar ohne Hilfsmittel, Seile. Im Winter war es übrigens auch schwerer, un- gesehen über diese Baumkronen zu kommen. Aber auch ne Aufgabe. Dass wir nicht den Weg berühren an der Stelle, wo die 10 oder 12 Bäume standen. Diese Pappeln stehen so dicht aneinander, dass sich die Kronen berühren. Und von Baumkrone zu Baumkrone zu gehen, war für uns eine Selbstver- ständlichkeit. Und zwar ohne Hilfsmittel, Seile und dergleichen mehr. Es ist nicht immer gelungen, muss ich dazu sagen. Frau: Ich bin hier groß geworden. Ich war aufm Kreuzberg. Wir haben sonstwo ge- spielt. Unsere Eltern wussten nicht mal, wo wir gespielt haben. Die hatten ja gar keine Zeit. Die waren arbeiten. Mann 2: Wir haben uns dann aus einem alten Leiterwagen eine Seifenkiste gebaut und die die Weinberge hochgeschoben. Sind oben eingestiegen, runter- gefahren. Und erst beim Fahren fiel uns auf, dass da keine Bremse dran war. Kein Witz. Das ging dann natürlich volle Kanne in den Graben. Und auch mit dem Feuer... Es gab da so Brachflächen. Und im Sommer, wenn das Gras trocken war, haben wir dann entdeckt, dass man, wenn man Plastiktüten um Stöcke wickelt und die anzündet, dass man prima Fackeln hat. Und aus diesen Fackeln tropfte das heiße Plastik immer raus und man hinterließ eine Feuerspur hinter sich. Und das brannte lichterloh, die Wiese. Und irgendwann kam dann tatsächlich die Polizei. Und ich weiß, ich fand das ganz schrecklich. Sie hat dann aber nur den Namen von dem Jungen auf- geschrieben, der die Streichhölzer hat. (lacht) So sind wir noch mal davon- gekommen. (lacht) Tja. Abenteuer Kindheit. Sprecher Aus und vorbei. Viele Kinder und Jugendliche wachsen heute in einem Um- feld auf, das dominiert ist von einem engen Zeitkorsett, elterlicher Kontrolle und allumfassender Fürsorge - die mitunter absurde Züge annehmen kann wie in den USA, wo der Begriff der Helikopter-Eltern in den 90er Jahren ge- prägt wurde. Atmo Frauenstimme: "Five, four, three, two, one." Stimmengekreisch von Kindern und aufgeregten Eltern. Sprecher 23. April 2011. Wie jedes Jahr findet im Bancroft Park in Colorado Springs die traditionelle Ostereierjagd für Kinder statt. Innerhalb einer Absperrung aus Bändern haben die Organisatoren hunderte bunte Ostereier ausgelegt. Die Kinder versuchen so viele Eier wie möglich zu ergattern. Dann geschieht Unerwartetes. Atmo Gekreisch von aufgeregten Eltern (englisch) O-Ton Dave Van Ness "It sort of got out of hand. There were disgruntled people, because there we- re not enough eggs around or some kids didn't get one." Sprecher Der Organisator Dave Van Ness ist fassungslos. Mehrere Dutzend Eltern springen die Absperrung, weil sie Angst haben, ihre Kinder könnten nicht genug Eier abbekommen. Ein heilloses Durcheinander entsteht, in dem die Erwachsenen so viele Eier wie möglich einsacken. Innerhalb von Sekunden ist die Suche beendet - und die Kinder bleiben enttäuscht zurück. Die einen, weil sie nichts selber sammeln konnten. Die anderen, weil sie leer ausgehen, da ihre Eltern sich zurückgehalten haben. Musik Atmo Schulhort Spielende Kinder Sprecher Im Hort einer Berliner Grundschule. Mehrere Dutzend Kinder turnen auf Schaukeln und Klettergerüsten. Andere spielen Fußball oder Verstecken. Zwischen Büschen tauchen vereinzelt Kinderköpfe auf und verschwinden wieder unter Gekicher. Die ersten Eltern kommen, um ihre Kinder abzuholen. Atmo "Mara, wo bist Du?" Sprecher Heile Kinderwelt, so scheint es. Doch die Zeiten haben sich geändert, so die Hortleiterin, die ihren Namen sowie den der Schule lieber nicht genannt ha- ben möchte. O-Ton Hortleiterin Ich mache diesen Beruf jetzt seit 40 Jahren. Und die Entwicklung ist so, dass sich alles nur noch ums Kind dreht. Sie von vorne bis hinten... Wir sehen's ja hier. Die Kinder werden abgeholt. Nicht die Kinder holen ihren Ranzen. Nein, Mama holt den Ranzen. Mama nimmt auch noch den Ranzen vom Freund Joachim mit. Mama macht die Schuhe zu. Vielleicht merken die Eltern das auch gar nicht, dass sie ihren Kindern Alltagssachen abnehmen, die gar nicht nötig wären. Weil mit 6, 7 Jahren können die ihren Ranzen alleine tra- gen. Können auch alleine zur Schule gehen. Manche Schulen machen's ja auch so. Die haben vorne einen Zettel: Bis hierhin! Dann gehe ich alleine." Sprecher Helikopter-Eltern wollen sicher nur das Beste für ihr Kind - und schießen doch übers Ziel hinaus. Sie können ihren Kindern keinen Wunsch ab- schlagen. Sie stellen Regeln auf und knicken sofort ein, wenn die Kinder sich quer stellen. Sie packen ihre Kinder in Watte beim kleinstem Unwohlsein und lösen alle Aufgaben und Konflikte an Stelle ihres Sprösslings. Und wer kennt nicht die Kindergeburtstage, die von der Schnitzeljagd bis zum Kinobesuch komplett durchgeplant sind. Für die Wünsche und Bedürfnisse der Kinder bleibt dabei selten Raum. Dass sie alleine - ohne jegliche Erwachsene - spielen, wird kaum noch erwartet. Doch: Viele Kinder wollen so viel Fürsorge und Bevormundung gar nicht. O-Ton Hortleiterin Wir merken's hier ja zum Beispiel, dass unsere Kinder sehr gerne draußen im Hof sind. Und sich am liebsten Ecken aussuchen, wo sie 100 Prozent wissen, da ist jetzt kein Erzieher. Aber wie wenig Möglichkeiten haben die eigentlich? Die Kinder werden hier auch schon überbehütet. In jedem Raum ist ein Erzieher. Im Hof sind mindestens drei Leute. Die sind immer unter Aufsicht... Und machen wir's nicht. Wird ein Kind nicht sofort gefunden, wenn das Elternteil kommt, dann ist hier Panik. Wir hatten schon Mütter, die woll- ten nach zehn Minuten die Polizei rufen. Und das Kind hat einfach in einem Gebüsch gesessen und hat gespielt. Musik Sprecher Die meisten Menschen sind es heute gewohnt, Informationen aus allen Ecken der Erde in Sekundenschnelle abzurufen und zu verarbeiten, alles ist immer und jederzeit verfügbar. Doch Kinder werden langsam groß und brau- chen Zeit, sich zu entwickeln. So manchen Eltern scheint die Geduld dafür aber abhanden gekommen. Sie stehen selbst unter Zeit- und Leistungsdruck und geben diesen an ihre Kinder weiter. O-Ton Hortleiterin Spielen, Freispiel ist in der heutigen Gesellschaft für viele Eltern nicht mehr so angesagt. Ich hab ne Mutter hier erlebt, die sagte: Ich glaub, ich meld mein Kind hier ab. Die spielt ja nur draußen. Musik Pippi Langstrumpf Sprecher Pädagogen und Psychologen betrachten diesen Trend mit Skepsis. Freies Spiel, so die vorherrschende Meinung, ist für die Entwicklung eines Kindes von fundamentaler Bedeutung. Denn dieses bildet die Grundlage für kogniti- ve und sprachliche, soziale und motorische Bildungsprozesse. In ihrem Buch ,Kindheit - aufs Spiel gesetzt' nimmt die Mannheimer Kindertherapeutin Gabriele Pohl die Bedeutung des Spielens unter die Lupe. O-Ton G. Pohl Ein Kind hat beispielsweise ja nicht die Möglichkeit, die Dinge in der Weise zu reflektieren wie Erwachsene. Das einzige Mittel für ein Kind ist das Spiel. Denn es kann Dinge nachfühlen, oder antizipieren im Spiel. Aber es kann die Dinge nicht reflektieren. Ich hatte kürzlich eine Mutter da. Die sagte: Mein Kind hat sich gewünscht zum Geburtstag etwas, wobei man nichts lernen kann. die Eltern glauben ja immer: Es muss für irgendwas gut sein, das ich irgendwie definieren kann. Spielen allein ist so ein Zeitvertreib, den ich bes- ser ausfüllen könnte. Und das, glaube ich, ist wirklich ein Trugschluss. Sprecher Spielerisch, im wahrsten Sinne des Wortes, erschließen Kinder sich die Welt. Sie ahmen Erwachsene nach, erkunden in Rollenspielen ihr Verhältnis zu sich und zu ihren Mitmenschen. Im Spiel drücken sie aus, was sie bewegt, hier sammeln und verarbeiten sie Erfahrungen. Ein kleines Kind, das hinfällt und sich das Knie aufschlägt, verarztet etwas später dann zum Beispiel sei- ne Puppe. O-Ton G. Pohl Wenn ein Kind alle möglichen Versuche macht, zu balancieren, Dinge umzu- schütten. Etwas zu tragen oder was auch immer, legt es Erfahrungsgrund- lagen, auf die es später aufbauen, worauf dann die intellektuellen Fähig- keiten aufbauen können. Es heißt nicht umsonst: Begreifen. Greifen. Das heißt, ein kleines Kind erlebt die Welt mit allen Sinnen. Und es braucht alle Sinne. Wenn es nur intellektuell gefördert wird, dann hat es vielleicht viele Informationen im Kopf. Aber hat es dann Wissen? Sprecher Ein Kind kann nur durch Ausprobieren und Wiederholen lernen. Bis etwa ein Bewegungsablauf klappt - sei es Gehen, Balancieren oder Radfahren -, muss er immer wieder geübt werden. Greifen Eltern aber immer wieder unter die Arme oder verbieten etwas, weil sie es dem Kind nicht zutrauen oder Angst vor Unfällen haben, verhindern sie elementare Erfahrungen. O-Ton G. Pohl Ich erlebe in meiner Praxis sehr viele Kinder, da hat man einen Eindruck, da kommt ein Kopf durch die Tür. Die sind überhaupt nicht mit ihrem Körper ver- bunden. Da gibt es Schulkinder, die können kein Streichholz anzünden. Die haben ganz wesentliche Erfahrungen nicht machen können. Atmo Hubschraubergeräusch (Mehrere Stimmen, durchs Megaphon gerufen) "Achtung Kinder! Passt auf die Pfütze auf!" "Kommt bloß von dem Baum runter!" "Macht euch nicht schon wieder so schmutzig!" Sprecher Natürlich können Eltern ihre Kinder nicht sich selbst überlassen. Kinder be- nötigen Fürsorge, Schutz und Kontrolle. Doch es gibt einen Unterschied zwischen echter Gefahr und potenziellem Risiko. Kleine Kinder können etwa bestimmte Gefahren nicht erkennen, sie können aus einem geöffneten Fenster fallen oder in einem Teich ertrinken. Aber nicht alles, was eine Ge- fahr darstellen könnte, muss gleich unterbunden werden. Wem immer alles abgenommen wird und wer sich nichts selbst erarbeiten muss, kann auch nur schwer ein gesundes Selbstvertrauen entwickeln und die nötige Aus- dauer, um später bei schwierigen Aufgaben nicht gleich das Handtuch zu werfen. O-Ton G. Pohl Ich brauche das Scheitern. Ich brauche Fehler, weil ich nur über Fehler be- merke, wo ich weitermachen muss. Die Kinder lernen ja, wenn man sie lässt, sehr gut damit umzugehen, wo sind meine Grenzen. Was kann ich über- haupt. Sprecher Wer nie die Chance bekommt, seine Grenzen zu erkennen, Risiken und Ge- fahren zu meistern, kann auch nicht lernen, damit umzugehen. Nur wer aus- probiert hat, wie enge Kurven er auf dem Fahrrad schafft, wird ein Gefühl für das Fahrzeug entwickeln. Und dazu gehört eben auch mal ein Sturz. O-Ton G. Pohl Wenn sich ein Erwachsener ständig einmischt und meint, das dirigieren zu müssen, werden die Kinder verunsichert und Kinder, die immer ausgebremst werden, sind viel gefährdeter für Unfälle als die Kinder, die ausprobieren können. Ich habe Kinderzimmer erlebt, da waren alle Ecken mit Schaum- gummi abgepolstert. Und so ist manche Kindheit. Musik O-Ton U. Holsten Wir kennen Eltern, die sich zu hundert Prozent nach ihrem Kind richten. Und da ist das Rollenverhältnis umgekehrt. Da hat das Kind das Sagen. Und nicht mehr die Mutter oder der Vater. Sprecher Ulf Holsten, Schulpsychologe beim Regionalen Beratungs- und Unter- stützungszentrum in Bremen, hat täglich mit Eltern zu tun, die mit ihren Kindern nicht mehr zurecht kommen. Auf der einen Seite steht die wachsende Zahl der Eltern, die sich zu wenig um ihre Kinder kümmern. Auf der anderen Seite gibt es aber zahlreiche Eltern, die durch übertriebene Für- sorge die Probleme, die sie eigentlich vermeiden wollten, erst verursachen. O-Ton U. Holsten Das äußert sich dann auch in Phänomenen wie Schulvermeidung. Zum Bei- spiel das Kind sagt morgens, ach, mir ist unwohl. Ich hab keine Lust zur Schule. Und die Mutter ist besorgt um den Sproß und versucht, jeglichen Schaden von ihm zu halten. Und sagt, ganz natürlich kannst Du zuhause bleiben. Und ein Kind merkt, dass es das gezielt einsetzen kann. Und die Mutter manipulieren kann, es in der Hand hat. Sprecher Wer im Elternhaus vermittelt bekommt, dass sich andere nach einem richten, dass man im Zweifelsfall immer die Oberhand behält, der transportiert dieses Verhalten auch nach außen. Wer nicht gewohnt ist, Grenzen gesetzt zu be- kommen, fügt sich meist schwerer ins soziale Gefüge ein. Ulf Holsten kennt aus seiner Arbeit etliche Fälle, in denen die Kinder unter den Folgen von Überbehütung leiden. O-Ton U. Holsten Wir wissen, wie sich Vernachlässigung auswirken kann. Was das für psychi- sche Schwierigkeiten und Auffälligkeiten mit sich bringen kann. Und letztlich kann auch das Überbehütende, dem Kind keine Entwicklungmöglichkeit zu lassen, dazu führen, dass das Kind merkt: Ich bin ohnehin ohnmächtig. Und über dieses Gefühl der Ohnmacht kann es zu Depressionen kommen und im schlimmsten Fall zu suizidalen Gedanken... Ja, ich hab vorher zehn Jahre lang beim Kinderschutzbund gearbeitet. Und man findet da alle Aus- prägungen. Atmo Ein Kind übt Beethovens ,Für Elise'. Es klappt nicht so recht. Das Kind schlägt entnervt mit den Händen auf alle Tasten. Sprecher Ist der Begriff der Helikopter-Etern auch neu - das Phänomen ist es keines- wegs. Schon Anfang des letzten Jahrhunderts gab es Eltern, vor allem in der bürgerlichen Mittelschicht, die sich über alle Maße um das Wohlergehen und Fortkommen ihrer Kinder sorgten. Hans Brügelmann, emeritierter Professor für Grundschulpädagogik und -didaktik an der Universität Siegen, hat seine Kindheit noch gut vor Augen. O-Ton H. Brügelmann Es gab auch damals viele ängstliche Eltern. Wenn man dann heute davon schwärmt, wie die Kinder sich damals frei bewegen konnten, erinnere ich mich immer an die Situation, wo ich groß geworden bin. Wo es sehr klare Normvorstellungen gab, was Kinder tun sollten. Und wo es abends sozusa- gen dann die Abrechnung gab, wenn man nachhause kam und irgendein Nachbar sich beschwert hatte oder etwas anderes passiert war. Es gab da doch auch einen starken sozialen Druck, der Konformität erzwungen hat. Sprecher Schon in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts formulierte der polnische Reformpädagoge Janusz Korczak: Zitator Aus Furcht, der Tod könnte uns das Kind entreißen, entziehen wir es dem Leben. Um seinen Tod zu verhindern, lassen wir es nicht richtig leben. O-Ton H. Brügelmann Was ja einen erschreckt - wie kann ein Pädagoge so etwas sagen. Das ging aber dagegen, dass diese Kinder in der Mittelschicht zum Teil keimfrei ge- halten wurden, weil die Eltern unheimliche Angst hatten, dass die Kinder sich anstecken, sich ne Krankheit holen. Also da wurden Kinder auch behütet in einer Art und Weise, die wir heute kaum mehr kennen. Atmo Kind übt lustlos Beethovens ,Für Elise'. Sprecher Gleichwohl sind sich die meisten Beobachter einig: Überbehütung hat in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich zu-, der Freiraum für Kinder abgenommen. Ein Report des britischen ,Children's Play Council' stellte schon in den neunziger Jahren fest, dass der sogenannte Streifradius von Grundschul- kindern, also der Umkreis, in dem sie sich bewegen, innerhalb von zwanzig Jahren auf ein Fünftel geschrumpft ist. Eine Befragung von Irene Herzberg und Michael Ledig unter mehr als tausend Eltern jüngerer Schulkinder in Deutschland ergab, dass selbst auf dem Land die Aktivitäten im Freien drastisch eingeschränkt sind. Ganze 45 Prozent der Eltern sprachen sich für ein Spielverbot auf Straßen aus, 32 Prozent für ein solches im Wald, zehn Prozent würden gerne Bäche und Flüsse zur Verbotszone erklären. Verlässliche Zahlen darüber, wie viele Eltern ihre Kinder überbehüten, sind allerdings rar und methodisch schwer zu definieren. Der US-Psychologe Neil Montgomery vom Keene State College in New York kam 2010 in einer Studie zu dem Schluss, dass rund zehn Prozent aller Eltern ständig um ihren Nachwuchs kreisen. Atmo Das Kind schlägt entnervt mit den Händen auf alle Tasten. Sprecher Woher kommen aber diese Ängste und Sorgen der Eltern? Tatsächlich sind die Gefahren für Kinder ja nicht größer geworden sind. Im Gegenteil. Früher gab es weder Kindersitze im Auto noch Helme fürs Radfahren. Unfall- statistiken zeigen auch, dass trotz erheblichen Verkehrswachstums die Zahl der im Straßenverkehr getöteten Kinder deutlich gesunken ist. Auch schwere Krankheiten wie Kinderlähmung und Pocken sind praktisch ausgestorben. Und Entführungen oder Gewaltverbrechen werden zwar stärker von Medien an die Öffentlichkeit transportiert. Ihre Zahl nimmt aber keineswegs zu. Hans Brügelmann. O-Ton H. Brügelmann Es gibt sicher unterschiedliche Motive, warum jemand zum Helikopter für sein Kind wird. Eins sind sicher die Personen, die eh immer wissen, was rich- tig ist. Also auch in ihrem beruflichen Alltag, in ihrer Partnerschaft. Das ande- re sind sicher auch Eltern, die Angst haben. Die selber mit ihrem Leben nur begrenzt klar kommen und Angst haben, dass es ihrem Kind auch geht. Und die deshalb ihr Kind überbehüten, weil sie ihm nicht zutrauen, das selber zu bewältigen. Sprecher Gesellschaftliche Entwicklungen verstärken diese Eigenschaften. So ist die Zahl der Kinder massiv zurückgegangen und viele Neugeborene sind langer- sehnte Wunschkinder später Eltern. Fürsorge und elterlicher Ehrgeiz fokus- sieren sich so fast zwangsläufig stärker auf das einzelne Kind. Gleichzeitig sind viele Eltern verunsichert. Sie machen sich mehr Gedanken zur Erziehung ihrer Kinder als die meisten Generationen vor ihnen. Doch es gibt keinen gesellschaftlichen Konsens mehr, der vorgibt, wie man sich ver- halten soll, was richtig und was falsch ist. Wie viel Freiheit lasse ich meinem Kind? Wo setze ich Grenzen? Soll ich autoritär sein oder eher Kumpel? Die Hortleiterin der Berliner Grundschule beobachtet fast täglich Situationen, in denen sich diese Unsicherheit ausdrückt. O-Ton Hortleiterin Eine Mutter will ihr Kind hier abholen und das Kind will nicht nachhause ge- hen. Und sie ist nicht in der Lage, das Kind zu überzeugen. Sie steht heulend vor uns und sagt: "Sie will nicht mitgehen!"... Man kann als Erwachsener schwach sein. Aber in solchen Situationen kann ich mich doch nicht als Mut- ter hinstellen und heulen. Musik "Bei KUMON steht Ihr Kind im Mittelpunkt. Wir berücksichtigen seine indivi- duellen Bedürfnisse und fördern seine Talente gezielt, so dass Ihr Kind sei- nen eigenen Lernweg findet und schließlich die Verantwortung für ein eigen- ständiges Lernen übernimmt." "Ihr Kind kann bei uns schon ab dem Babyalter beginnen und bereits sechs Jahre Englisch sprechen gelernt haben, bevor es dann auch noch Englisch lesen und schreiben lernt." "FasTracKids verbindet bewährte Lernmethoden mit neuesten wissenschaft- lichen Erkenntnissen und ist somit weltweit ein einzigartiges pädagogisches Programm für Kinder." Musik Jingle klingt aus Sprecher Fürsorge und Bevormundung des Kindes gehen häufig Hand in Hand mit der Vision von einem perfekten, tollen Kind. Da werden die Kleinen, kaum dem Wochenbett entsprungen, zum Babytuning gekarrt. Zweijährige erhalten Frühförderung beim Early-Englisch, für Dreijährige werden Potenzialana- lysen erstellt. Die Wahl der richtigen Schule gerät regelrecht zur Schicksals- frage - denn der Karriereweg des heranwachsenden Kindes soll in Zeiten internationalen Konkurrenzdrucks optimal geebnet sein. Natürlich ist es wünscheswert, dass Kinder gefördert und gefordert werden. Doch wie finden Eltern die richtige Balance? Atmo Gewusel von Kinderstimmen (englisch) "Fabii. Come this way, we go outside again." Sprecher Andrea Mouton holt ihren Sohn Fabian von der Schule, der International School in Bremen, ab. Diese Privatschule, räumlich und personell bestens ausgestattet, unterrichtet vor allem Kinder von ambitionierten Eltern mit kos- mopolitischem Hintergrund. Andrea Mouton ist geborene Tschechin und ver- heiratet mit einem Franzosen. Ihre beiden sieben- und neunjährigen Kinder wachsen viersprachig auf. Mit den Eltern reden sie tschechisch und franzö- sisch, in der Schule englisch, außerdem noch deutsch. Atmo Dialog mit Sohn auf tschechisch. (ohne Übersetzung) Sprecher Andrea ist in Eile. Fabian muss direkt von der Schule zum Tennisunterricht in der Stadt. Atmo "A ostanes? Du muss hier bleiben. Ok?" "Mhm." "Und danach kannst Du zum Spielplatz. Tako?" "A potem na Spielplatz. Ahoi?" "Ahoi." Sprecher Danach geht es zurück zur Schule im Norden Bremens, um Tochter Lea zum Ballett in die Innenstadt zu fahren. Atmo "Are you gonna be able to go alone and change? Yeah?" "Yes." Sprecher In der Zwischenzeit hat die Mutter eine Stunde Zeit für Erledigungen, bevor sie die Kinder dann wieder einsammelt und schließlich nachhause fährt. Die anderen Tage der Woche sehen kaum anders aus. O-Ton A. Mouton Montag hat Fabian Fußball. Und Lea hat Französisch-Kurs, wo sie schreiben lernt. Sprechen kann sie, aber schreiben, ein bißchen Grammatik. Am Diens- tag hat Fabian Schwimmkurs, aber das ist nur über den Sommer. Mittwoch Tennis für Fabian, Ballett für Lea. Donnerstag ist frei und Freitag ist frei. Und Sonntag ist dann Reiten für Lea, Schwimmkurs für Fabian. Und um 12 Ballett für Lea. Sprecher Trotz des ehrgeizigen Programms und des anspruchsvollen Schulunterrichts, der bis weit in den Nachmittag reicht, versucht die Mutter immer wieder, den Druck aus dem Kessel zu nehmen. Schule und Freizeit sollen nicht zur Be- lastung werden. Und wenn ihre Kinder auf etwas partout keine Lust haben, versucht sie auch nicht, sie dazu zu nötigen. O-Ton A. Mouton Dass die Kinder sich verabreden, bei einem Freund. Und das schaffen wir weniger. Diese Freundschaftsbindungen. Meistens, wenn sie frei haben, sind die dann oben im Zimmer und spielen, was sie wollen. Und das finde ich auch wichtig, dass der Kalender nicht zu voll wird. Weil die Zeit, wo sie Zeit nur für sich haben, finde ich sehr wichtig. Und dass sie lernen, dass Lange- weile normal ist. Und nicht nur immer: Jetzt machst du das und jetzt machst du das. Sprecher Fabian und Lea machen jedenfalls keinen unzufriedenen Eindruck. Mit der Schule kommen sie gut zurecht, die Hobbys machen ihnen Spaß. Gleichwohl stellt sich immer wieder die Frage: Wo fördere ich mein Kind noch, wo über- fordere ich es? So manches Kind geht bei zu hohen Ansprüchen und ehr- geizigem Terminkalender in die Knie. Auch wenn das auf den ersten Blick vielleicht nicht immer gleich sichtbar wird. Viele Pädagogen sind deshalb der Ansicht, dass für Kinder unter zehn mehr als zwei Termine in der Woche nicht sinnvoll sind. Letztlich müssen Eltern aber lernen, auf ihr Kind zu hören und den Blick dafür schärfen, was für ihr Kind das Richtige ist. Professor Hans Brügelmann: O-Ton H. Brügelmann Ich glaube, ein großes Problem ist, dass wir Erwachsene, und wir Pädago- gen vor allem, denken, wir wüssten am besten, was für ein Kind gut ist. Ent- weder weil wir jetzt meinen, Talente zu entdecken, die man jetzt fördern muss. Oder weil wir diese Talente nicht finden und meinen, wir müssten sie implantieren. Sprecher Eltern sollten Kinder als Gleichberechtigte ernst nehmen, so Brügelmann, nicht als Minderberechtigte, aber auch nicht als Höherberechtigte - die sozu- sagen terrorisieren dürfen. Das sei die hohe Kunst der Erziehung. O-Ton H. Brügelmann Es kommt darauf an, einen Blick zu bekommen, wo braucht das Kind Unter- stützung. Wie kann ich die möglichst gering halten, damit die eigenen An- strengung noch erhalten bleibt. Denn sonst ist das für das Kind natürlich auch kein Vergnügen. Also, wenn ich das hochhebe auf den ersten Ast - es hat ja nichts geschafft. Und diese Balance zwischen Herausforderung schaf- fen oder lassen, auf der anderen Seite aber nicht entmutigen dadurch, dass man von einem Kind erwartet, es müsse das jetzt alles alleine können. Das verlangt von Eltern, die Angst haben, ihre Kinder könnten alles Mögliche ver- passen, ein hohes Maß an Selbstbeherrschung. Sprecher Auch der Bremer Schulpsychologe Ulf Holsten rät Eltern, die bei ihm Rat su- chen, vor allem eins. O-Ton U. Holsten Gelassen zu bleiben. Und ihren Kindern eine möglichst unbeschwerte Kind- heit zu ermöglichen. Sie kennen ja sicher auch das Sprichwort: Kinder brau- chen Wurzeln, je kleiner sie sind. Und brauchen Flügel, je älter sie werden. Das heißt, es ist wichtig den Kindern Halt geben, Sicherheit geben. Ich nehm mir Zeit. Und auf der andern Seite: Ich trau Dir auch was zu. Ich hab Ver- trauen in deine Fähigkeiten und dein Potenzial. Aber ich lasse Dich auch ge- hen. Ich lasse dich auch gehen. Ich kann auch loslassen. Und natürlich er- fordert das auch Mut für Eltern. Sprecher Und überehrgeizigen Eltern sei ein afrikanisches Sprichwort nahegelegt: "Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht." Musik Atmo Hubschraubergeräusch (Mehrere Stimmen, in Megaphon gerufen) "Leon, gibst Du Lara bitte die Schaufel zurück!" "Mara, soll ich Dir helfen, die Schuhe anzuziehen?" Mutter 1: "Linuus, warte, ich helfe Dir runter!" Überblendung in Kinderstimmen und hektische Elternstimmen (englisch) Sprecher Der Übergriff der besorgten Helikopter-Eltern bei der Ostereiersuche im ame- rikanischen Colorado hatte übrigens Folgen. In diesem Jahr blies die Stadt- verwaltung das Ereignis kurzerhand ab - in der Hoffnung, dass die Eltern daraus lernen. Sprecher vom Dienst: Helikopter-Eltern: Werden unsere Kinder überbehütet? Eine Feature von Peter Podjavorsek Es sprach: Thomas Holländer Ton: Barbara Zwirner Regie: Klaus Michael Klingsporn Redaktion: Martin Hartwig Produktion: Deutschlandradio Kultur 2012 Nächste hören sie an dieser Stelle: Im Netz der Interessen - was wird aus der Energiewende? Die Zeitfragen können sie nachhören und nachlesen unter www.dradio.de. - 1 -