DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Freitag, 15.09.2009 Redaktion: Hermann Theißen 19.15 ? 20.00 Uhr Der Sozialist und das Saxofon Ein Porträt des Privatgelehrten Hans G Helms Von Kurt Kreiler URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. ? Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - Ansage Der Sozialist und das Saxofon Ein Porträt des Privatgelehrten Hans G Helms Ein Feature von Kurt Kreiler Hans G Helms: Lesung aus Fa:m' Ahniesgwow (Köln 2008) Galavorstellung: heLènefamilf stampstill ! Häng-klatscht ! Hemdchen vallut ! Bodynspektion papaliche, GRÖNAZder, immer- denktdran. Näbel rein ?! Ausgekratzt ?! Sennhijor, pimpf die Furzelwürschte ! Obischrippen dös Välsche Untsüchtige d'umdeitsche Schmutzlicht Gliderblichversommene ! Pfann klar zum Gewäsch ? Jumpt rin ! Strammelt ! Sleift ! Stangulieren ! Atmo: Stimme, MUSIK O-Ton Mary Bauermeister: Was können wir sonst noch zur Kunst erklären, war damals unser Motto. - Und wir Künstler brauchten uns gegenseitig, die anderen verstanden uns sowieso nicht. Also haben wir uns zusammengerottet, in der Lintgasse, in diesem Atelier 1960/61 und haben uns gegenseitig sozusagen überhöht. Autor: Kölner Kunstverein, 23. August 2008. Die Feier von Karl-Heinz Stockhausens achtzigstem Geburtstag, ein halbes Jahr nach dem Tod des Komponisten. Auf der Bühne eine von Stockhausens Frauen, die Künstlerin Mary Bauermeister. Und ein mir unbekannter älterer Mann, der mit noblem Understatement auftretende Dichter einer joyceanisch verrätselten Sprachkomposition Fa:m' Ahniesgwow, entstanden Ende der 50er-Jahre. Hans G Helms: Lesung aus Fa:m' Ahniesgwow (Köln 2008) "Jubelt, ihr dumpftollen Völkergewächs' aus Odinns Schoß, denn euch wird ein Fühler erscheinßen, junglitziger Parzenphahl, der euch führen wird durch die stinkende Judfuhrt ins ge- lobete Land : ins Ballhalla... Autor: Hans G Helms? Kenne ich den Namen nicht doch? Wie das Programm ausweist: mit einem freischwebenden G zwischen Hans und Helms, einem G ohne Punkt? Gustav - Günter ? Gabriel -- oder Gershom? Helms. Ist er nicht der Autor eines Büchleins, das mich bis heute ungelesen begleitet hat? FETISCH REVOLUTION. Das aus den späten sechziger Jahren stammen dürfte, ich hatte es mir als Schüler des schönen Titels wegen gekauft, war an seinem Inhalt aber bald gescheitert oder ermüdet. MUSIK (Stockhausen, 23.8. 2008) Autor: Der Dichter dieser heftigen Wortmixtur fasziniert mich: der alte junge Avantgardist von 1959, Stockhausenfreund und unverblichenes "Original". In der Pause gehe ich auf den alten Herrn zu, der, von zwei Damen freundlich belagert, in einer der leeren Stuhlreihen sitzt und raucht. Und nach einigen Sätzen ist klar: Ja, er lädt mich zu sich ein nach Berlin. Autor: Am Ende des Kunstvereinabends, zwischen zehn und elf, schaue ich mir einen der beiden Fernsehfilme an, die Helms über und mit Stockhausen gedreht hat: Sprecherin: Stockhausen Beethoven Opus 1970. Oder: Kurzwellen mit Beethoven. MUSIK: Stockhausen, Beethoven (1970) Autor: Stockhausen, vierzigjährig, sitzt am Mischpult, spielt Achtspurbänder mit elektronisch bearbeitetem Beethoven-Material ein und gibt den Musikern - Kontarsky, Fritsch, Bojé, Gehlhaar ? die Einsätze zu ihren Improvisationen. Höchste Konzentration - Lippen und Augen gespannt - federnder Flug der Hände - Kurz-Wellen-Artistik - wirbelnde Kreuzungen, Schnitte, Fusionen. Die Kamera pirscht sich von unten an Stockhausens Gesicht, Aufnahmen von bestürzender Nahsicht, Blicke auf die Einsätze der Musiker, indezente Beobachtungen: wie im Publikum getuschelt wird, wie ein Mann aufsteht und geht, ein anderer mit verschränkten Beinen sich windet, wie eine Frau, ein Paar, ein Mann, noch eine Frau aufstehen und gehen ? MUSIK: Stockhausen, Beethoven (1970) Autor: Solche Filme werden heute nicht mehr gedreht. Schon gar nicht fürs Fernsehen. Um mich für unser Gespräch vorzubereiten, lese ich mir einige Weisheiten an über Helms, den Vielfältigen, Vielseitigen, Vielwissenden. Sprecherin: Als Jugendlicher spielte er, wie es bei Wikipedia heißt, Saxofon mit den Größen der Jazzwelt, als junger Rundfunkautor publizierte er über Neue Musik und amerikanische Literatur, als Freund von Stockhausen und Ligeti schuf er avantgardistische Sprachpartituren. Sein 1959 erschienenes, von Adorno rühmlich besprochenes opus 1 "Fa:m' Ahniesgwow" brachte Helms nicht ab vom Vorsatz der Vielseitigkeit: er schrieb über Max Stirner als den Ideologen kleinbürgerlicher Selbstermächtigung, wandte sich der marxistischen Gesellschaftsanalyse zu, kritisierte die Studentenrevolte und widmete sich mit Leidenschaft der Städtebaugeschichte. Zwischen 1967 und 77 hielt er Fernsehvorlesungen über "Kapitalistischen Städtebau" und analysierte während seiner Zeit in den USA ? 1978 bis 89 - die gesellschaftliche Auswirkung der neuen Computer- und Kommunikationstechnologien. Fand in den neunziger Jahren zurück zum Schreiben literarisch-musikalischer Partituren. LESUNG Helms: Fa:m' Ahniesgwow (1959) stripwhipp tease me nockoff med gehave; heff diú not soo Sprecher Hans G Helms: Berlin, Frankfurter Allee, ehemals Stalinallee. ? Mit der U-Bahn vom Alexanderplatz kommend in Fahrtrichtung rechts austeigen, bis zum vorderen Ausgang gehen, oben in der selben Richtung bis zum Matratzengeschäft. Sechster Stock. O-Ton: Kurt Kreiler ? Hans G Helms HGH: Die ursprünglichen Bewohner waren die Proletarier, die den Wiederaufbau hier tatsächlich durchgeführt haben. Es gibt im Westen nichts Vergleichbares. Das hat die Neue Heimat nie geschafft. Aber dass ich diese Wohnung gefunden habe, war eher ein Zufall der Suche. KK: Seit wann wohnen Sie hier? HGH: Also ich weiß es nicht genau, man sagt mir, ich wohne hier seit sechs Jahren. Das wird wohl in etwa stimmen. Autor: Ein nostalgisches Moment mag zur Wahl dieser Wohnung mit beigetragen haben. Nicht, dass Helms die alte DDR so überaus geschätzt hätte, aber als Sozialist hatte er Wert darauf gelegt, sich mit ihr gut zu stellen. Es hätte, wider alles Erwarten, aus diesem faulen Ei vielleicht doch noch der Vogel eines libertären Arbeiterstaats schlüpfen können. Sprecherin: Anfang der siebziger Jahre hat Helms seinen Freund und Lehrer, den Sozial- und Wirtschaftshistoriker Jürgen Kuczinsky, um Rat gefragt, ob er in die DDR übersiedeln solle. O-Ton: Hans G Helms Er warnte mich davor und sagte. "Wie willst Du denn in den USA recherchieren? Den Kapitalismus muss man in den USA recherchieren." Das leuchtete mir ein, also blieb ich in Köln, und hab das von Köln aus gemacht. Und später von New York aus. MUSIK: Schlagzeugsolo von Gene Krupa O-Ton: KK ? Hans G Helms KK: Sie sind Jahrgang 1932, aufgewachsen im Dritten Reich mit jüdischen Eltern ? HGH: Mit jüdischer Mutter. ? Ja, wir haben überlebt aufgrund von irgendwelchen Kirchenbuchfälschungen. Ich hab nie nach diesen Dokumenten gesucht. Meine Mutter hat nach 45 so gut wie nie über das Dritte Reich gesprochen, die kriegte dann immer hysterische Anfälle ? und mein Vater hat sich nicht geäußert, weil er manches vielleicht auch gar nicht so genau gewußt hat. Ich konnte auch nach nichts suchen, weil unser Haus von der russischen Kommandantur in Terterow beschlagnahmt wurde. Wir wurden rausgeschmissen und konnten im Grunde auch nichts mitnehmen. Autor: Es war der Großvater mütterlicherseits, der Germanist und Historiker Albert Lange, der bereits vor 1933 die Einträge über seine jüdische Herkunft im Kirchenbuch von Teterow ausmerzte ? und damit, in weiser Voraussicht des Kommenden, sich und seine Familie schützte. O-Ton: Hans G Helms HGH: Dass ich überhaupt nur in geschichtlichen Dimensionen denken kann, kommt von ihm. KK: Als Sie als Kind in dieser Zeit lebten, hatten Sie also keine Ahnung dieses Versteckspiels oder dieser historisch problematischen Identität? HGH: Doch das wusste ich, das hat man mir früh beigebracht, dass ich über unsere Familiengeschichte mit keinem zu reden hatte. Da war ich wahrscheinlich so fünf, sechs Jahre alt, als mir das erklärt wurde. Viel mehr wurde mir nicht erklärt. - Ich bin nie Hitlerjunge gewesen oder soetwas. Da half irgendein Gesundheitsattest unseres Hausarztes. ? Und selbst in einer kleinen Stadt wie Teterow gab es Judenverfolgung und manche Teterower Juden kamen zu uns, um nach Rat zu fragen, vor allem nach dieser sogenannten Reichsprogromnacht. Ich hatte deshalb auch nicht viele Freunde unter den Teterower Jungs meines Alters. Sprecherin: Zuhause erhielt Helms von einer weißrussischen Lehrerin Unterricht in Klavier und Musiktheorie, während sein Großvater ihn in die Geschichte der Sprachwissenschaft einführte. Von der Mutter lernte er englisch, vom Großvater jiddisch. O-Ton: Hans G Helms Ich bekam gleichzeitig Musikunterricht und eine Schreibmaschine. Und es gab immer diese Alternative zu schreiben oder Musik zu machen. Und das erklärt wahrscheinlich auch, warum meine künstlerischen Arbeiten alle in diesem Zwischenbereich zwischen Sprache und Musik entstanden sind. Von Fa:m' Ahniesgwow angefangen bis zu den Konstruktionen übers Kommunistische Manifest. MUSIK: John Cage, Music of Changes, Klavier O-Ton: KK - Hans G Helms Für mich fing die Befreiung an, als ich amerikanische Soldatensender hören konnte, das muss irgendwann 1944 gewesen sein, natürlich unter Obwaltung höchster Vorsichtsmaßnahmen, weil in unserem Haus sehr viele Krankenschwestern untergebracht waren ? und das Befreiendste an diesem Sender war eben die Jazzmusik. Und dass das eine Musik war, die durch rassische Unterdrückung überhaupt erst entstanden war, das hab ich erst viel später gelernt. KK: Die Unterdrückung hatten Sie ja auch erfahren. HGH: Na ja, wir haben uns ja auch zur Wehr gesetzt. Die HJ wollte Teterow verteidigen wie die Nachbarstadt Malchim ? und es gab einige Flüchtlingskinder aus dem Ruhrgebiet, die fast alle kommunistischer oder sozialistischer Herkunft waren - wir haben das Waffenlager der Teterower HJ eines Nachts ausgeraubt und die Sachen im See versenkt. MUSIK: Hans Koller, Hans Is Hip (1952) O-Ton: Hans G Helms Wir waren aus Mecklenburg verdrängt worden und nach Westdeutschland gegangen. Schwarz über die Grenze. Dann hab ich das Glück gehabt, einen amerikanischen CIC-Offizier kennenzulernen, der mir entsprechende Ausweise beschaffte, die mich sehr viel älter machten als ich war, aber mit dem Aussehen wohl ziemlich übereinstimmten, ich war damals wohl, ich vermute in Folge all dieser Ereignisse, sehr schnell gealtert ? und diese Ausweise gestatteten mir dann, Deutschland zu verlassen. - Ich hab sozusagen mein Exil dann 46 begonnen. Wenn man sich überlegt, dass es überall diese DP-Camps, also diese Lager für vertriebene Menschen jüdischer oder anderer Herkunft, gegeben hat, die ja auch zum großen Teil in den ersten Jahren aus Deutschland nicht rauskamen ? wenn man sich das alles überlegt, war ich ein verhältnismäßig gut gestellter Flüchtling. - Ja, und hab dann in den ersten Jahren im wesentlichen von Schwarzmarktgeschäften gelebt. MUSIK: Saxophonsolo von Charlie Parker Sprecherin: Helms wandert als "Warenbegleiter" durch Italien und auf den Balkan. In Wien lernt er Tenorsaxophon bei Hans Koller, dem Gründer des Hot Club Vienna. Zieht weiter nach Stockholm, wo er in den Jahren 1950 bis 53 unter anderem zusammen mit dem Klarinettisten Buddy deFranco, dem Schlagzeuger Gene Krupa und (als Vertreter in einer Bigband) mit dem Saxofonisten Charlie Parker auftritt. Bei Besuchen in New York lernt er im Studio des Pianisten Lenny Tristano. O-Ton: KK ? Hans G Helms KK: Wann haben Sie Ihr Saxophon verkauft? HGH: Sagen wir zweites Halbjahr 53. - Also erstens mal war mir klar, bin kein Charlie Parker oder Stan Getz, das werd ich auch nie sein, soviel hatt ich schon kapiert. KK: Sie hätten ja nicht mit den gößten Nummern konkurrieren müssen - HGH: Na, sonst machts ja keinen Spaß. - Und dann war mir klargeworden, man braucht fürs Saxophon, wenn man einigermaßen in Übung sein will, pro Tag zwischen sechs und acht Stunden. Die Hälfte der Zeit, um zu üben, und die Hälfte, um Blätter zu schneiden. Die halten ja nicht lange. Das war mir einfach zuviel. Und mir war klar, ich kann nicht schreiben und das auch noch machen. Autor: Helms schreibt einen Roman über seine Liaison mit einer Finnin, der Tochter eines SS-Generals, die er in Stockholm kennen gelernt hatte. Im Roman nennt er sie Hélène. Ab Mitte der 50er-Jahre beginnt er für den Rundfunk zu arbeiten, zuerst für die beiden Wiener Sender in der amerikanischen und sowjetischen Besatzungszone, später für den WDR und Radio Bremen. Er schreibt über Literatur, Architektur und Neue Musik, zum Beispiel über den 1954 verstorbenen Charles Ives. O-Ton: Hans G Helms Es gab, ich glaub bei der Firma Dial, eine Platte mit Ives'schen Liedern und dann etwas später kam, von Kirkpatrick interpretiert, die Concord-Sonate auf Langspielplatte. Und da bei Ives die Improvisation eben auch eine ziemlich große Rolle spielt, lag das irgendwie dem Jazz sehr nah. Ich muss so ungefähr 50 Texte über Ives geschrieben haben. Ich war lange Zeit der Einzige, der überhaupt über Ives schrieb. MUSIK: Charles Ives, Concord-Sonate Sprecher Hans G Helms Ives erwartete von Musikern, sich so zu verhalten, als lebten sie bereits in einer künftigen Gesellschaft, weil er überzeugt war, sie könnten dadurch die Idee einer besseren Gesellschaft vermitteln. Autor: Helms' ruheloses Wanderleben war seine Form der Emigration aus Deutschland. Als Jude und glühender Antifaschist beklagte er das Ausbleiben eines tiefgreifenden Wandels nach 1945. O-Ton: Hans G Helms Mir ist sehr schnell klar geworden, dass diese sogennante westdeutsche Demokratie ja getragen wurde von einer außerordentlich großen Zahl Ex-Nazis, die eben bedauerlicherweise von den Allierten nicht verfolgt worden war. ? Es gab ja hier am Oderbruch in Brietzen diese Arbeitsgruppe "Friedensbau", ich weiß nicht, ob sie wirklich so hieß, jedenfalls eine Gruppe von Speer-Architekten, die eben den "Friedensbau" nach 45 vorbereiteten. Und fast all diese Architekten sind dann nach 45 auch in verschiedenen Städten ? wie Hannover oder Hamburg oder Düsseldorf, Köln tätig gewesen. Alles alte Naziarchitekten aus dem Speerschen Bereich. Autor: Wann er Sozialist wurde, frage ich Hans G Helms. O-Ton: KK - Hans G Helms HGH: Ja, das kann ich nicht sagen. Ich hab wahrscheinlich immer mehr oder weniger sozialistisch gedacht - und bewusster wurde das erst in der zweiten Hälfte der 50er-Jahre. Und die ersten sozialistischen Arbeiten, das war das Stirnerbuch, die Auseinandersetzung mit der kleinbürgerlichen Ideologie. Ich hab den Stirner durch Zufall in die Finger gekriegt und das mit Interesse gelesen und dachte mir: Das kommt dir bekannt vor, so ist es doch im Kleinbürgertum. Und dann hab ich dazu die Deutsche Ideologie gelesen, also den großen Stirner-Teil, der die Hauptsache dort ausmacht. Dann fing ich eigentlich erst richtig an, die Dinge auch politisch zu verstehen. KK: Aber das war Mitte der 60er-Jahre? HGH: Nein, das war Ende der 50er-Jahre. Das lief parallel zu den Endarbeiten an Fa:m' Ahniesgwow. Sprecherin: 1955 begann Helms zu komponieren. Seit 1957 arbeitete er in Köln zusammen mit dem Komponisten Gottfied Michael Koenig im Studio für Elektronische Musik im Westdeutschen Rundfunk. Er beteiligte sich an den Versuchen elektronischer Klangerzeugung unter der Leitung des Physikers und Informationstheoretikers Werner Meyer-Eppler, durch den er mit Karlheinz Stockhausen bekannt wurde. O-Ton Mary Bauermeister Stockhausen hat ja übrigens in den "Originalen" die Szene, wo er die Schauspieler dirigiert, die ganz verschiedene Texte sprechen - das hat er sicher auch von der Synchronsprache in Fa:m Ahniesgwow. Da war er sicher inspiriert. Das heißt es war ein gegegnseitiges sich Inspirieren. So wie Helms auch die elektronischen Techniken, aus einzelnen Tönen mit einem Sinusgenerator ein ganzes Werk aufzubauen ? das war ne gegenseitige Befruchtung: das hat er dann literarisch ausgelegt. Er hatte vor allem die Gabe des Sowohl-als-auch. Nicht entweder Cage oder Stockhausen, sondern sowohl als auch. O-Ton: Hans G Helms Zum Beispiel gibt es einen Bericht, wie wir an Wochenenden im Besitz von ungefähr fünfzehn verschiedenen Sprachen Finnegans Wake zu lesen versucht haben. Und im Laufe von über einem Jahr immerhin die ersten dreißig Seiten schafften. ? Dazu gehörte als Stammbesetzung Koenig, Evangelisti, Ligeti, Wolf Rosenberg, Heinz-Klaus Metzger ? ich hab zum Beispiel extra versucht, mich mit der Walliser Sprache zu beschäftigen ? und Metzger hat sich mit Normannisch beschäftigt. Wir haben uns nicht wöchentlich, aber an Wochenenden, wo alle Zeit hatten, zusammen getroffen in meiner Wohnung, und dann hat Evangelisti Spaghetti gekocht zusammen mit meiner Frau, und das war immer sehr lustig und hat unterschiedlich lange, vier, fünf, sechs Stunden gedauert. Wir haben auch versucht, das entsprechend unserer Analyse laut zu lesen. LESUNG: Gisela Saur-Kontarsky Lèneundaysninedag Miqvidèle Autor: Im Rückgriff auf seinen autobiographischen Roman über "Michael" und "Hélène", den jüdischen Jungen und die Tochter eines finnischen SS-Generals, und anknüpfend an seine Erfahrung als Schwarzhändler in den DP Camps, arbeitet Helms in den Jahren 1957 bis 59 an seiner multilingualen Sprachkomposition Fa:m' Ahniesgwow, in der eine Fülle von Sprachen und Sprechpartikeln eingehen in ein völlig neues, sinnlich-konstruktivistisches Idiom. LESUNG: Gisela Saur-Kontarsky Chllll tlaptrapdownstailcasekatee Dloomswaide außifer. What will ya lovey? Discradionplowsh mid me ? Ohh jewth o'rfool Brute, queetch Szaesarre. Stoppequutl ! O-Ton: KK - Hans G Helms HGH: Es ist ja auch eine künstlerische Reflektion über die Erfahrung, die ich während des Dritten Reichs und danach gemacht habe. Und die Sprachen, die dort vorkommen, sind fast ausnahmslos Sprachen, die ich in DP-Camps gehört habe, die ich zum Teil verstand wie jiddisch oder englisch oder ich weiß nicht was, und zum Teil verstand ich sie eben auch nicht. KK: Aber als Sie Fa:m' Ahniesgwow schrieben, haben Sie nicht an Musik gedacht? HGH: Das hab ich bestimmt. Denn es gibt ja auch serielle Partien in Fa:m' Ahniesgwow, die ich damals durch die Arbeiten im Elektronischen Studio und die Umgebung dieses Studios dort kennengelernt hatte. Mit Stockhausen, mit Evangelisti, mit Ligeti, mit Kagel usw. usw.. LESUNG: Gisela Saur-Kontarsky Quo dlu det ami cab ila tut tis dam nat O res zu! Autor: Gisela Saur-Kontarsky, Vokalistin und Interpretin Neuer Musik, Frau des Stockhauseninterpreten Aloys Kontarsky, die seit den sechziger Jahren mit Helms befreundet ist und viele Lesungen gemeinsam mit ihm bestritt, liest Fa:m' Ahniesgwow. O-Ton: Gisela Saur-Kontarsky bddjíchdschtuiphhiijtchprmm.. Rheinkoma n ob N bisp unkt . Déntsuig na Noinkirk phphstrchuoff krixnick blachdírnn (mit Trëmor ? O-Ton: Hans G Helms Sie liest jeden Text ganz anders als ich. Es liegt im Wesentlichen daran, zu welchem der in Fa:m' Ahniesgwow verwendeten Hauptsprachen man das engere Verhältnis hat. Allein dadurch unterscheiden wir uns schon grundsätzlich. O-Ton: Gisela Saur-Kontarsky tribitt tir ligitt suis ui-ng chatsm babadeejappadu papaff dites whatsa cook O-Ton Mary Bauermeister Ich mein' das fängt an: lein leinigen alvarsam fortamen twiter iriter presemtsuma ? Sprecherin: Mary Bauermeister. O-Ton Mary Bauermeister ? da hörst du schon den Professor soundso, da hörst du den Griechen, da hörst du das, dann hörst du die Worte, dann assoziierst du, und dann hast du schon die Hälfte: Helenchen, und allein war sie, und Fa:m Ahniesgwow ? ja, "Ami go home" ? du assoziierst ja die ganze Zeit ? und dann denkst du: das ist ja politisch, aber ist eigentlich auch romantisch ? und lein und Lenchen ist so alleine, du begreifst im Grunde sofort: halt, das hat was mit Liebe zu tun, aber auch mit Politik, es ist ein brisantes Thema, und es ist so wunderschön verpackt, dass du dich erst mal an dem Klang erfreust, bis du dahinterkommst, dass es oftmals ganz schön böse sarkastische und ganz schön heftige Kritik ist: Gesellschaftskritik. Autor: Helms empfindet jede der in Fa:m' Ahniesgwow enthaltenen "Strukturen" als eine politische, weil sie Teil seiner damaligen Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen ist. Für ihn war, wie er sagt, das Politische die treibende Kraft, aus einem normalen Romanmanuskript zu dieser Gestaltungsform hinzufinden, auch wenn der Text dadurch zu einem avantgardistisch "elitären" geworden ist. Musik John Cage O-Ton Mary Bauermeister Wir haben gefordert: nicht nur ästhetisch andere Kunst ? wir wollten eine andere Gesellschaft: eine geldfreie Gesellschaft, bzw. wo das Geld nur Tauschmittel ist und wo man für das Horten von Geld Strafe zahlen muss, statt Zinsen zu bekommen. Und das kam aus uns allen. - Es war also nicht nur ein Atelier des Ästhetischen, sondern auch des Sozialen. Und das kam sicher sehr viel auch von Helms. Autor: Von Anfang an politisch intendiert war die Helmssche Polemik für 9 Vokalsolisten, betitelt GOLEM. Die Aversion des sozial- und sprachkritischen Komponisten gilt in diesem Fall Martin Heidegger, den er als Geistesriesen auf tönernen Füßen karikiert und dessen philosophische Zauberformeln er als faschistoid zu decouvrieren sucht. MUSIK: GOLEM, 1964 Autor: Allerdings, so will mir scheinen, könnte man jedem beliebigen Text, ob im Jargon der Eigentlichkeit oder Uneigentlichkeit gehalten, eine ähnlich artistisch polemische Behandlung widerfahren lassen. Und es fragt sich, ob die kompositorische Alchimie am Ende nicht ein Ergebnis zeitigt, dessen Ästhetik den kritischen Anlass bis zur Unkenntlichkeit überformt. Jedenfalls sorgte der GOLEM bei seiner Darmstädter Zweitaufführung 1964 für gewaltigen Aufruhr. Theodor W. Adorno, der bereits Fa:m' Ahniesgwow als "zu sich selbst gekommenen" Joyce gelobt hatte, war von der Darmstädter Aufführung sehr angetan und hielt Helms' Art der Heideggerpolemik für künstlerisch überzeugend. Im gleichen Jahr verwandte BrUNO Maderna eine Phonem-Partitur von Helms, um zusammen mit Cathy Berberian seine Komposition "dimensione II" einzuspielen. Musik (dimensione due) Sprecherin: Unter dem Titel Die Ideologie der anonymen Gesellschaft erschien 1966 Hans G Helms' kritische Auseinandersetzung mit dem Pseudophilosophen Max Stirner. Dessen Apotheose der kleinbürgerlichen Selbstvergewisserung und Selbstgefälligkeit hatte Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts (mit einiger Verspätung) Eindruck gemacht auf die politisch Radikalen jeder Couleur. Stirners Paukenschlag: er ersetzt Gott durch ICH, großgeschrieben, und gründet auf dieser Banalität den Zirkus seiner Einzigkeitsgedanken. "Das Demagogische", bemerkt Helms - Sprecher Hans G Helms Das Demagogische an Stirner ist sein Appell an den Leser, sich mit dem Einzigen zu identifizieren, sich unterm Eindruck der Lektüre in einen "Einzigen" zu verwandeln, bis man etwas "auf derselben Ebene Existentes" ist. Dann hat man sich im "Einzigen" wiedergefunden, hat numinose "Ganzheit" erreicht. Alles ist klar wie der Himmel bei Kaiserwetter. O-Ton: KK ? Hans G Helms KK: Stirner selbst hatte doch gar keine Vision von Gesellschaft, keine Perspektive. HGH: Nein, es fehlt alles. Das ist aber vielleicht auch das gewesen, was dann im 20. Jahrhundert die Leute im zu Stirner gezogen hat, dass es diese Vision nicht gab, sodass sie ihre eigene Vision dem aufpfropfen konnten. Auch ein einfaches Mitglied in SA-Uniform braucht das genauso wie der oberste Chef. Autor: Im gleichen Maß, wie die Lektüre Stirners ihn abstieß, fühlte Helms sich angezogen von der Stirner-Kritik in Marx-Engels' Deutscher Ideologie. Aus dem Antifaschisten und Antispießer wurde der Marxist Helms. Seinem Bedürfnis nach sozialer Gerechtigkeit und einer besseren - das heißt sozialistischen - Gesellschaft aber wollte er nicht nur als Publizist, sondern auch als Künstler Ausdruck verleihen. Sprecherin: 1968, rechtzeitig zum 150. Geburtstag von Karl Marx, entsteht eine Partitur zum Kommunistischen Manifest für 16-stimmigen Chor, die aber nicht zur Aufführung kommt, weil der Dirigent musikalischer (vielleicht auch politischer) Bedenken wegen absagt. MUSIK: O-Ton Mary Bauermeister Er ist ein Pazifist, er lebt es durch und durch. Sie werden Helms nicht aggressiv erleben, Sie werden ihn manchmal traurig und enttäuscht erleben, das ist das Maximum. Er wird nicht irgendetwas fordern von einem andern, nur von sich selber. Also da ist er - fast weise. Cage war ähnlich. Das ist fast eine Form von Weisheit, dass man nur sich selber was abfordert, aber nicht den anderen. Dass man zwar ein Ideal hinstellt. so könnte die Gesellschaft funktionieren, aber es nicht fordert. Autor: Das Stirnerbuch beschert Helms zwei Freundschaften in der DDR ? zu den Sozialhistorikern Jürgen Kuczinsky und Auguste Cornu. Mit der antiautoritären Revolte von 1968 aber hat er nichts im Sinn. Die Idee, eine Revolution vom "Überbau" her einfädeln zu können - mit dem Ziel einer Neudefinition der individuellen und gesellschaftlichen Bedürfnisse ?, lehnt Helms rundweg ab. Und fährt in seiner Essaysammlung "Fetisch Revolution" mit schwerem Geschütz gegen die studentische Linke auf. Sprecher Hans G Helms Man darf unterstellen, dass die neue Attraktivität des spezifisch Bakunin'schen Anarchismus von jenen Theorien ausgeht, die in einer geheimen Bruderschaft der Revolution gipfeln: in einer Art Mafia der "Weltrevolution", mit der Bakunin die 1. Internationale hatte unterwandern wollen. Es ist nicht zu verkennen, dass nicht wenige Linksradikale sich bereits jetzt als potentielle Brüder einer solchen non-existenten geheimen Bruderschaft ansehen. Die Gewaltmaßnahmen der staatlichen Schutzinstanzen der Bourgeoisie könnten die Entwicklung dahin und zu einer "Propaganda der Tat" mit Dynamit und Molotow-Cocktails vorantreiben. Autor: Helms sieht in den jungen Antiautoritären nicht die Idealisten und politischen Romantiker, die einen Neuanfang ersehnen, sondern vorrangig die verwöhnten und hochmütigen Kinder des Dritten Reichs, die das Fest der doktrinären Selbstberauschung feiern, um ihre revolutionären Wünsche am Ende an die Dritte Welt zu delegieren. Sprecher Hans G Helms Antiautoritär vermummt tritt die alte ideologische Praxis der Revisionisten und Rechtsradikalen wieder hervor, den Klassenfeind lieber jenseits der Landesgrenzen zu orten. Verwandelt freilich in der Weise, dass nun auch die Revolution lieber jenseits der Landesgrenzen stattfinden möge. O-Ton Hans G Helms Mich irritierte, dass sie von den realen Klassenverhältnissen völlig falsche ideologische Vorstellungen hatten. Und dass sie jedenfalls in der Hauptzeit sich überhaupt keine Mühe gemacht haben, mit dem westdeutschen Proletariat sich in irgendeiner Weise zu verständigen. Im großen Ganzen haben sie sich dafür gar nicht interessiert. Autor: Freilich hat sich auch Helms nicht mit dem westdeutschen Proletariat verständigt. Und der "real existierende Sozialismus" war, wie er sagt, in "Fetisch Revolution" nicht sein Thema. Obwohl er an anderer Stelle den Stalinismus kritisiert hat, findet Stalin in "Fetisch" ? als der wahre Mafiosi der Weltrevolution ? keine Erwähnung. Das hat später zu Wolfgang Kraushaars unsinnigem und in der Sache widerlegbarem Vorwurf beigetragen, Helms "Fetisch" sei von der DKP finanziert worden. LESUNG Helms, Fam glow sainte merde, nebbich ? bichbe-bai beaubich; angaus ? Autor: Helms hat zu keinem Zeitpunkt eine Parteizugehörigkeit oder Parteinähe angestrebt ? auch nicht zur KP. MUSIK: Jazz (Art Tatum plays Dvorak) Autor: Neben zahlreichen Rundfunkarbeiten dreht Helms zwischen 1966 und 1988 rund 30 Fernsehdokumentationen: hoch konzentriert, sachlich, kritisch, schnörkellos. Sprecherin: Städtebau im Ruhrgebiet. ? Satellitenstädte. ? Canaletto und der Wiederaufbau Warschaus. - In memoriam Ludwig Mies van der Rohe. ? Stockhausen/Beethoven, Opus 1970. ? Die Weltschau des Karlheinz Stockhausen. ? Charles Ives. ? Boulez in Bayreuth. Die Evolution schwarzer Musiker in den USA. ? Die allzu-ferngesehenen Städte. - Stadtentwicklung im Industriezeitalter. ? Unter den Straßen von San Francisco ? Houston, auf Öl gebaut. ? Seele und Computer. ? Intelligente Finanzpaläste. Das World Financial Center in New York. Autor: Elf Jahre lang, von 1978 bis 1989, lebte Hans G Helms in New York und berichtete von Amerika aus nach Deutschland über Entwicklungen in der Computer- und Automationstechnik, über automatisierte Fabriken und computergesteuerte Geldflüsse, über gigantische Spekulationen und Profitarchitekturen. Sprecher Hans G Helms: Kultur wird zum bloßen Bestandteil, quasi zur raffiniert enthüllenden Reizwäsche des großkapitalistisch organisierten totalen Konsumangebots. Sprecherin: "Schöne neue Binnenwelten des Konsums", ein Essay von 1982. Sprecher Hans G Helms: Während die Waren durch den Laserstrahl wandern, bedeutet die Kasse dem Konsumenten, was er sie, nämlich die Waren, kostet, und am Ende der Transaktion bucht sie von seinem Konto den Gesamtbetrag elektronisch ab. Um diesen Betrag haben die Waren den Käufer entwertet, um diesen Betrag haben sie seinen vom Arbeitgeber bestimmten Handelswert reduziert. Gegen Ultimo ist er so wertlos wie eine Zigarettenpackung. Autor: Helms analysiert die nach den Bedingungen des Markts in zynischer Funktionalität aufgezogene Stadtarchitekur der Moderne ? und beschreibt, nach einem Wort Siegfied Kracauers, die "Dämonen der Geschäftigkeit" in einer zunehmend verunsicherten Arbeitswelt. Sprecher Hans G Helms Das als Vergnügungslokal notdürftig maskierte Großraumbüro hat seine Nachfolger in den Spielhallen und Diskos gefunden. Hier wie dort trainieren die Tastaturjockeys männlichen wie weiblichen Geschlechts das geforderte gedankenlose Funktionieren in Isolation und Anonymität, ihre wollüstige Akklimatisation an die Lärmpegel und grellen Lichtfluten: ihre funktionale Effizienz steigernd, in der Hoffnung, die nächste am Horizont heranrollende Entlassungswelle möge sie gnädig verschonen. Autor: Helms, der Künstler und Gesellschaftskritiker, wehrt sich gegen jede Form der Entmündigung durch Staat, Kapital, Technik und Medienmonopole ? gegen Ausbeutung, Entindividualisierung, Gleichschaltung. Was ist es, frage ich Helms, was er von der Zukunft erhofft? O-Ton: KK ? Hans G Helms HGH: Im Grunde ist es schon eine Form der sozialistischen Gesellschaftsordnung, über deren Gestaltungsweisen wir bis heute sehr wenig wissen, auch nicht wissen können, weil sie sich eben erst entwickeln muss. Und ich bin nie der Ansicht gewesen, dass man Rezepturen dafür schreiben kann. KK: Aber was ist der Grund in Ihnen, sich nach dieser Form zu sehnen, sie zu visionieren, sie zu befördern oder sie erhoffen? HGH: Keine Ahnung. Das war immer so vorhanden. MUSIK: Rapprochements 1996 Autor: Aufgefordert, für einen 1993 angekündigten Sammelband über Mythologie der Aufklärung oder Geheimlehren der Moderne einen Beitrag über die Ästhetik und Praxis des musikalischen Entgrenzers John Cage beizusteuern, verfiel Helms vorübergehend einer Denklähmung. Nicht, dass er über "Jay Cee", seinen Künstlerfreund aus den fünfziger und sechziger Jahren, nichts zu sagen gehabt hätte, aber in welcher Form er schreiben solle, war ihm ein Rätsel. Das in die Maschine eingespannte Papier vergilbte ? Sprecher Hans G Helms Darüber ward es Mai '93, als ich eines Nachmittags mit dennoch herabgestimmter Hoffnung ? falls ich sie überhaupt noch hegte ? ohne jede Vorahnung am Typengerät hockte und, da die Sonne es grell beschien, vom blendenden Papier gleichsam hypnotisiert wurde. Ich fiel offenbar in eine Art Trance. In diesem Zustand begann es, zu diktieren. Will sagen: das noch nicht gänzlich über die Bewußtseinsschwelle Vorgedrungene diktierte mir einen freilich schon logisch durchdachten und ausformulierten Text. RAPPROCHEMENTS à JOHN CAGE, 1996 Dem sterblichen Zweig derer von Münchhausen entsproß in bizarr verschlungener Verbindung der aschkenasisch-blauäugigen sowie der sephardisch-braunblauäugigen Linien mit einer neuenglischen Farmerstochter ein bildhübscher aufgeweckter Knabe, der im frühen Mannesalter den traditionsreichen Clannamen Münchhausen Monkhouse, einem unbewußten Drang folgend, paraphrastisch in Cage abwandelte. Autor: Mit seinen Rapprochements à John Cage oder Hieronymus-John von Muenchhausen beschritt Hans G Helms den Weg zurück zur Kunst. Und zusammen mit Jay Cee wagt Freund Helms den Sprung - und verwandelt den Spuk der Gelehrsamkeit und Ideologie in ein Jean Paulsches Feuerwerk sprudelnd assozierender Bilder. Im Geiste Cages entsteht ein aus Kalkulation und Zufall generierter Text über die Münchhauseniade des Geistes. Denn, wie Cage sagt, "In welchem Käfig man sich auch befindet, man soll ihn verlassen". Sprecherin: In den Rapprochements, im Jahr 1996 umgesetzt als radiophones Kunstwerk mit der integrierten Music of changes von John Cage, begegnen sich Münchhausen, Cagliostro und Casanova als die Taschenspieler der Invention. Eine höchst phantasievolle Dekonstruktion. RAPPROCHEMENTS à JOHN CAGE 1996 Von unsteter Natur (wie die meisten seiner Kompatrioten) und freiheitlichen, anarchischen Wesens, wurde Jay Cee immer wieder Opfer seines revoltierenden Gemüts. Es artikulierte sich als sublime Verhaltungsaberration, die sich als ästhetische Klaustrophobie definieren ließe. - Ihn ergriff eine existenzielle Angst vor dem Immergleichen, eine panische Furcht, von Routine und Repetition wie eine Laus zerquetscht zu werden. Die hierdurch evozierte Fluchttendenz fand durch die All-american challenge, den Westen zu erobern, eine Wandlung ins Positive. Ein Leben lang suchte Jay Cee nach Chancen, an new frontiers wieder von vorn anfangen zu können: "I always want to start from zero and make, if I can, a discovery." Autor: Das Münchhausen-Projekt ist Helms' work in progress. Er stellt sich vor, sagt er, dass das Ganze die Form einer sich über zweihundertfünfzig Jahre spannenden AutoBiografie annehmen könnte. Vom Beginn der Industrialisierung bis zur Gegenwart. Diesem Projekt wünsche ich ausuferndes Gelingen und seinem Autor, dem Grenzgänger zwischen Marx und Venus, Gesundheit und sinnstiftende Kreativität. Atmo MUSIK: Saxophon Absage: Der Sozialist und das Saxofon Ein Porträt des Privatgelehrten Hans G Helms Ein Feature von Kurt Kreiler Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2009. Es sprachen: der Autor, Reinhard Schulat und Marietta Bürger Ton und Technik: Michael Morawietz und Jürgen Hille Regie: Holger Kuhla Redaktion: Hermann Theißen Mary Bauermneister: Das muss ich auch noch sagen, das ist ganz wichtig bei Helms. Er hat uns nie spüren lassen, dass wir Gois sind. Er war ja nun Jude, er hat den Krieg durch die List seines Großvaters überlebt ? und hat daraus kein Kapital geschlagen. Er hat auch nicht nach der Schuld der Väter gefragt. Die waren eh stumm. 25