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Ihr Zeigefinger war gut vierzig Zentimeter lang und die große Zeh, die aus der Sandale ragte, so breit wie ein Kinderarm. Eine Hochschule für Taschenspielkunst? Natürlich gibt es die in Berlin!? Musik Sprecher: So fern, so nah, so funkelnd... Literarische Reportagen Musik Sprecherin: Im Jahr 1936 begegnete die junge Lenka Reinerova dem berühmten ?rasenden Reporter? Kisch im Hinterzimmer eines Prager Cafés. Da war sie 19 und Anfängerin bei der Arbeiter-Illustrierten-Zeitung und Kisch eine journalistische Legende, die durch ganz Europa und halb Russland, Amerika und China geabenteuert war und es bereits auf elf Reportagebände gebracht hatte - alle auf Deutsch und mit rasanten Titeln versehen: ?Der rasende Reporter?, ?Hetzjagd durch die Zeit?, ?Zaren, Popen, Bolschewiken?, ?Wagnisse in aller Welt? 1 O-Ton Lenka Reinerova Ich hatte das Gefühl doch, dass ich es mit einem älteren Herrn zu tun habe, vielleicht deshalb, weil ja der Kisch in keinerlei Weise, überhaupt nicht sportlich war, überhaupt nicht. Er ging kaum spazieren, das war, glaub ich, das Höchste der Gefühle an sportlicher Betätigung Er rauchte wahnsinnig Zigaretten, das ist ihm ja dann auch nicht bekommen, er trank unendliche Tassen schwarzen Kaffees und schrieb und erzählte und beobachtete, das also weiß Gott... Sprecherin: Egon Erwin Kisch - das war in den 20er und 30er Jahren der sympathische, rundliche Kleine, der rasend rauchte und rasend viel schrieb; kein Photo, auf dem er nicht lässig mit der Kippe im Mundwinkel oder zwischen zwei Finger geklemmt, irgendwo sitzt oder lehnt, eine Hand in der Hosentasche. Musik In seinen Reportagen beschwor er das Tempo und die bunte Vielfalt seiner Zeit und nahm sich die flotten Geschosse der Mobilität zu Wasser, zu Land und in der Luft vor, aber auch das Leben der armen Teufel und Leute am Abgrund und all die kuriosen kleinen Nebensachen dazwischen. Musik kurz hoch Dass der Titel seines ersten großen Sammelbandes ?Der rasende Reporter?, 1924 in Berlin erschienen, für alle Zeiten an ihm kleben blieb, ärgerte ihn. Dabei hatte er, wie er später zugab, selbst in seinen Büchern das Tempo und die Kontraste noch gesteigert, indem er die Texte im fliegenden Wechsel der unter-schiedlichsten Schauplätze und Entstehungszeiten arrangierte. ?Die Leser?, schrieb er... Zitat-Sprecher: ...sahen sich verblüfft einem Autor gegenüber, der heute in Cuxhaven den Rekord-Personendampfer ?Vaterland? zur Stapelfahrt besteigt und morgen ohne Übergang als Hopfen-pflücker ins böhmische Land zieht ? auf Seite 20 nächtigt er im Londoner Nachtasyl und auf Seite 24 überfliegt er mit einem Hydroplan Venedig - all das ohne Verbindung, als spränge er von Raum und Zeit, von Hindernissen und Kosten unabhängig, kreuz und quer. 2 O-Ton Lenka Reinerova In seiner Arbeitsweise dann, war er alles andere, als rasend. Beim Heranholen oder beim Herangehen an die Themen, die er für wichtig hielt, nicht nur für interessant, sondern für wichtig hielt, da war er, glaube ich, rasend - das ist ein ziemlicher Unterschied. Er saß dann und feilte und feilte und schrieb und schrieb dachte nach, wie sag ich es, damit ich meine Erfahrung oder mein Erlebnis dem Leser ziemlich stark übermitteln kann. 2a O-Ton Lenka Reinerova Vor allem hat er mich gelehrt, dass, wenn man schreibt, dass man arbeiten muss, dass das nicht eine Gottesgabe ist, dass man da nicht so einfach was hinschludern kann und erledigt, dass man wirklich mit der Sprache, mit der Wahrheit umgehen zu lernen muss. Sprecherin: Kisch - das war auch der exzellente Stilist, der an jeder Reportage ein, zwei, drei Monate und länger arbeitete. Der für soziale Gerechtigkeit und die Sache des Weltkommunismus brannte, ohne beim Schreiben ?banal?, ?demagogisch? oder ?phantasielos? zu werden, wie er es nannte. Die Wahrheit, ?präzis hinzustellen, ohne Schwung und Form? zu verlieren, das war für ihn die Kunst. Seiner Zunft schenkte er faszinierende Leitsätze, darunter das berühmte Credo im Vorwort des ?Rasenden Reporters?: Zitat-Sprecher: Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts ist exotischer als unsere Umwelt, nichts ist phantasievoller als die Sachlichkeit. Und nichts Sensationelleres gibt es in der Welt, als die Zeit, in der man lebt! Sprecherin: Und Kisch ? das war die unverwechselbare Größe unter den Lokalreportern und Feuilletonisten seiner Zeit, von denen es in den 20er und 30er Jahren in Prag, Berlin und Wien nicht wenige Große gab: C. F. Weiskopf, Joseph Roth oder Alfred Polgar, Kurt Tucholsky oder Franz Hessel. Nach dem Krieg wurde er im Osten weiter gelesen und im Westen vergessen, was vielleicht auch daran lag, dass er nicht nur Tscheche und Jude war, sondern auch ein unverbesserlicher Kommunist geblieben war. 1977 stiftete Henri Nannen einen deutschen Journalistenpreis in seinem Namen, der 2005 in Henri-Nannen-Preis umgetauft wurde und mittlerweile auch großzügig im journalistischen Mittelfeld vergeben wird. Wer aber kennt von Kisch heute wirklich mehr als den Beinamen ?rasender Reporter? und ein paar von seinen über 300 Reportagen? Musik Zitat-Sprecher: Die zusammengewachsenen Schwestern ?Die himmelblaue Halbfee Rosa hat ein aufwärts gerichtetes Näschen ?in das es hineinregnet? wie man hierzulande sagt. In ihrem Kinn hat der Finger des Schöpfers ein Grübchen hinter-lassen, als er auf sie wies: ?Die da ist ganz nett.? Dunkelblond sind ihre Locken. Ihre Pupillen schimmern wie das helle Grün eines Dorfweihers. ?Gibt?s einen Teich, in Skrejchov?? frage ich. Rosa weiß es nicht, so lange war sie nicht mehr daheim; ihr Daheim heißt jetzt Unterwegs. Sie ist kein Landmädchen geworden, wie die Nachbar-kinder, sie tanzt nicht bei der Dorfmusik mit den Bauernburschen, aber dafür hat sie gelernt, englisch zu sprechen und Whiskey zu trinken statt Pilsener Bier. Sie rät mir, nicht soviel Soda zum Whisky zu nehmen und noch ein Glas zu trinken und wieder ein Glas. Wir fangen an, zu flüstern, Rosa neigt sich zu mir, wobei sie nolens volens den Kopf Josefas mit herüberzieht, und ich streichle Rosas Hals ? spürt es auch Josefa? Nein, sie spürt es nicht. ?Gemeinsam ist die Sensibilität nur im Gebiete...? habe ich gelesen. Seltsam, sich einem Mädchen zu nähern, von dem man einen Situationsplan mit Grundriß und Aufriß in der Tasche hat.? Musik Sprecherin: Zu nichts, sagt Karl-Markus Gauß, tauge er charakterlich weniger als zum ?rasenden Reporter?, der ?überall schon wieder weg ist, bevor er noch richtig da gewesen ist?. Der Schriftsteller und Essayist reist seit Jahren zusammen mit dem Fotografen und Freund Kurt Kaindl durch gottverlassene Regionen am südöst-lichen Rand Europas und nimmt sich dabei viel Zeit für das Ankommen und Warten Musik Zitat-Sprecher: Wir sind zwei Wochen unterwegs zwischen Kosice und Presov, wir sitzen in kalten Dorfwirtshäusern und bei Bushaltestellen an Landstraßen ? und warten; wir ziehen durch kleine, schmutzige Orte, die im Frühjahr wie eingesunken sind im Morast ? und warten; wir warten darauf, dass die Leute, die uns dabei beobachten, wie wir sie beobachten, von sich aus Kontakt zu uns aufnehmen, uns ansprechen und Einlass in ihre Welt gewähren. 3 O-Ton Karl Markus Gauß Wir kommen in ein Dorf hinein, er geht links, ich geh rechts, er geht mit der Kamera, ich geh mit meinem Notizblock. Und das Interessante ist, dass er mit weniger Misstrauen betrachtet wird, denn selbst bis ins letzte Dorf, ins abgelegenste Tal, ist eigentlich das Fotografieren schon vorgedrungen und da werfen sich eigentlich sehr schnell auch Leute in Positur. Während mir, der ich mit meinem Notizblock herumgehe, am Anfang eigentlich oft relative Skepsis entgegengebracht wird, weil, wer schreibt in ein Notizbuch was auf, der durch ein Dorf geht? Also, da wird oft vermutet, ich sei irgendwie ein Abgesandter der Staatsmacht, Finanz- oder Gebietskörperschaft, Verwaltung oder ähnlich. Und dann kommt immer ein Punkt, wo das Warten fast schon schmerzhaft wird, aber das ist genau dieser Moment, den ich noch durchhalten muss... Sprecherin: Karl-Markus Gauß interessiert sich für die unbekannten oder vergessenen kleinen Volksgruppen im Südosten Europas. Für die Verlierer der Geschichte, die sich im Chaos der Grenzver- schiebungen und erzwungenen Völkerwanderungen behaupten konnten oder dabei sind, unterzugehen. Er hat die sephardischen Juden in Sarajewo, Aromunen in Mazedonien und Gottscheer Deutschen in Slowenien erkundet und sich bei den ?Wolfskindern? und letzten Deutschen in Litauen, in der slowakischen Zips und im Schwarzmeergebiet umgesehen. Und er ist bis zu den Ärmsten der Roma im Osten der Slowakei vorgedrungen. 4 O-Ton Gauß: ...wo immer ich unterwegs war, kommt etwas, dass einen da eine alte Frau anredet und fragt: Was machen Sie denn da? Und dann kommt über diese eine alte Frau, die auch ein älterer Herr sein kann, auf einmal fast ein Schwall Leute auf uns zu und dann kippt dieses Verhältnis des Wartens zu einem ganz intensiven Aus-tausch mit den Leuten, die ja meistens von sich selber etwas erzählen und berichten wollen. Sprecherin: Seine Bücher mit Reisereportagen haben den Untergang oder das Elend im Titel: ?Die sterbenden Europäer?, 2001, ?Die Hundeesser von Swinia?, 2004, ?Die versprengten Deutschen?, 2005. Aber wenn man sie aufschlägt, möchte man nichts lieber als hier verweilen: Musik Zitat-Sprecher: Ja, waren sie eigentlich Deutsche, frage ich. Da ging ein Disput los, so heftig, dass ich ihm nicht zu folgen vermochte. Alle im Wohnzimmer redeten durcheinander, und sie taten es in einer Sprache, die mit dem Deutschen, wie ich es kannte, selbst mit dem Mittelhochdeutschen, das ich vor langer Zeit an der Universität kennen gelernt hatte, nichts zu tun hatte. Um den Tisch saßen die 92 jährige, ihr Sohn, ein gutaussehender, älterer Herr mit weißem Haar und samtner Stimme, dessen Frau unentwegt Teller mit Würsten und Gläser mit Schnaps sowie andere Teller mit Kuchen und Tassen mit Milchkaffee vor einen stellte, damit man alles zugleich essen und trinken sollte; weiters eine vielleicht 60jährige Nachbarin in Festtagstracht, die um die Hüfte zwei Mann breit war einen kräftigen Oberlippenbart und eine glockenhelle Stimme hatte (...) Wenn über irgendeine Sache Uneinigkeit herrschte, schwatzten sie aufgeregt Hopgartnerisch durcheinander bis Herr Kozak mir den Beschluss der Familie würdevoll auf deutsch übermittelte. 5 O-Ton Gauß: Mich interessiert zum Beispiel, wie sich so etwas wie eine, ich muss das jetzt unter Anführungszeichen setzen, wie sich so etwas wie eine ?Identität? behauptet, worin sie sich manifestiert. Und da kommt man auf die seltsamsten Dinge drauf: dass man mit Deutschen zu tun bekommt, die nicht einmal mehr rudimentäres Deutsch sprechen aber trotzdem sich als Deutsche empfinden. Sprecherin: Karl-Markus Gauß, Jahrgang 1954, ist geborener Salzburger mit donauschwäbischer Abstammung, seine Familie kommt aus der Woiwodina. Er hat Essays über literarische Außenseiter in Südosteuropa verfasst und Anthologien ediert, ist Herausgeber der Zeitschrift ?Literatur und Kritik? und schreibt Literaturkritiken für die ?Süddeutsche Zeitung?, ?FAZ? und ?Zeit?. Und er ist in seinen drei jüngsten essayistischen Tagebüchern als geistreicher, politischer Scharfschütze und Kuriositätensammler aufgetreten. Das alles sind beste Voraussetzungen für den Umgang mit einem Thema, das in eine verzwickte Vergangenheit hineinreicht und eine vertrackte Gegenwart hat. Das, was er aus Gesprächen mit Straßen- und Wirtshausbekanntschaften, kleinen Vereinsvor-sitzenden und hochgelehrten alten Herrn zusammenfügt, aus Beobachtungen, Reflexionen, Zahlen und Ausflügen in die Geschichte, hat Spannung, Dichte und Rhythmus. Und dazu Sinn fürs Paradoxe und einen leisen, subversiven Humor. 6 O-Ton Gauß Ich glaub, dass die Bücher, wenn ich die anders geschrieben hätte, eigentlich niemanden bewegen würden. Es gibt so wahn-sinnig viele Minderheiten, arme Menschen, skandalöse Vorfälle, von denen mitunter in der Zeitung berichtet wird. Das sind dann Informationen. Und mit Informationen ist es so: die Leute, manche merken sie sich, andere vergessen sie sofort. Und ich glaub, dass es vor allem auch eine sprachliche Gestaltung, aber auch eine formale, gelingt, Menschen, Leser für das, ja eigentlich abseitige Thema, über das ich schreibe, sie auch zu bewegen. Sprecherin: Karl-Markus Gauß wohnt mit seiner Familie in einem hübschen gelben Haus aus dem Fin de Siècle, ein Werk des Triester Baumeisters Cecconi, der in Salzburg ein paar Dutzend solcher Häuser hingestellt hat. Die Wohnung liegt im obersten Stockwerk. Im Wohnzimmer teilen sich Bücher und Bilder die Wände bis zur Decke, dazwischen gemütliche Leseecken mit Lampen; vom Fenster blickt man auf die anthrazitgraue Felswand des Mönchbergs. Der Autor ist höflich und äußerst liebenswürdig. Ein mittelgroßer Mann mit grauen Locken, Brille und weichen Zügen. Wenn man ihm Fragen stellt, nickt und lächelt er aufmunternd, selbst bei den schon hundert mal gehörten. Und dann gibt er eine schön gegliederte Definition der literarischen Reportage: 7 O-Ton Gauß Wenn man eine literarische Reportage schreibt, dann ist man zwei verschiedenartigen Dingen gleichermaßen verpflichtet: erstens, den Menschen, Dingen, Ereignissen, denen man begegnet oder die man erlebt und von denen man Zeuge wird, die muss man so schildern, dass schon diese Dinge und Ereignisse wahrhaftig, sagen wir mal etwas pathetisch, dargestellt sind, und auch die Menschen sich in dem, was man über sie schreibt, selber wieder-entdecken können und nicht denunziert werden. Das andere ist aber, dass man der Literatur verpflichtet ist und jetzt nicht eine Statistik oder einen kruden Bericht nur abgeben kann, sondern, dann muss ich gleichzeitig literarische Mittel sehr bewusst einsetzen. Also, ich bekenne mich zu jener literarischen Reportage, die von sich sagen kann, hier wird Wirklichkeit und gesellschaftliche Wahrheit aufgedeckt oder berichtet, aber sie wird nicht eins zu eins abgespiegelt. Musikbrücke 8 O-Ton Lenka Reinerova Es gab in den 30er Jahren, in den späten 30er Jahren, eine ständige Diskussionsfrage: Ob Reportage als solche zur Literatur gehört oder zum Journalismus. Und es wurde viel über dieses Problem diskutiert... Sprecherin: Sie braucht gar nicht erst in den Rang einer ?Kunstgattung? erhoben werden, meinte Joseph Roth 1925 in der ?Frankfurter Zeitung?: Zitat-Sprecher: Sie hat die künstlerische Form, ihre eigene ? eben, weil sie ?nur Tatsachen? berichtet. Was Kisch mitteilt, ist Wirklichkeit von sensationellem Rang. Wie viel ?Kunst? gehört dazu, eine nackte Realität zu einer künstlerischen zu machen? Sprecherin: Kisch selbst lieferte viele Jahre später in ?Marktplatz der Sensationen? eine schwungvolle Verteidigung der Reportage als Kunstform. Oft, schreibt er, hätten ihm Freunde und Kritiker geraten, sich nicht Reporter und seine Produkte nicht Reportagen zu nennen: Zitat-Sprecher: ?Lassen Sie doch Daten und Namen weg und schreiben Sie als Untertitel ?Novelle? hin. Dann werden Sie literarisch beurteilt werden, als Mann von Phantasie.?? ?Von Phantasie!? Bedarf die Gestaltung der Wahrheit keiner Phantasie? Es ist wahr, die Phantasie darf sich hier nicht ent- falten, wie sie lustig ist, nur der schmale Steg zwischen Tat- sache und Tatsache ist zum Tanze freigegeben und ihre Bewegungen müssen mit den Tatsachen im rhythmischen Einklang stehen. Und selbst diesen beschränkten Tanzboden hat die Phantasie nicht für sich allein. Mit einem ganzen Corps de Ballet von Kunstformen muss sie sich im Reigen drehen, auf dass der sprödeste Stoff, die Wirklichkeit, in nichts nachgebe dem elastischsten Stoff, der Lüge. Sprecherin: Wie weit aber darf die Imagination gehen, um die Wahrheit nicht zu verraten? Man weiß mittlerweile, dass auch Kisch seine Geschichten gelegentlich mit hübschen Erfindungen verbesserte. Erfinderisch war er beispielsweise bei den Partien, die erzählen, wie er zu seinem Material kam oder bei eigenen Auftritten. Hart an den Tatsachen blieb er immer dort, wo er wiederzugeben versuchte, was er mit eigenen Augen gesehen hatte. Bei Karl-Markus Gauß ist das Verhältnis zwischen Fiktion und Fakten so... 9 O-Ton Gauß ?... dass bei mir die Fakten und die Recherche der Ausgangspunkt ist und dass alles, was an literarischer Gestaltung, auch an manchmal fiktionalen Elementen dazu kommt, nur die Aufgabe hat, die Fakten besser für sich sprechen zu lassen. Und ich verwende die Fiktion, die Erfindung oder die literarische Raffung und Umstellung der Chronik und bestimmter Ereignisse nur, um die reale erforschte, erkundete, recherchierte Welt der Fakten, klarer, deutlicher für sich sprechen zu lassen?. Sprecherin: Ein gutes Beispiel dafür ist die Beschreibung des Slums von Svinia, wo die, selbst von den anderen Roma verachteten Degesi, die ?Hundeesser?, leben Musik Zitat-Sprecher: Keine drei Meter vor mir, in einer grünschimmernden Pfütze, in der ich einen aufgeweichten Pappkarton, rostige Konservendosen und welke Gemüseblätter treiben sah, saß ein nackter Bub von höchstens zwei Jahren, auf dessen kahlrasiertem Kopf eine große Wunde verschorfte. Er saß im eiskalten Wasser, auf das er vor Begeisterung mit der flachen Hand klatschte und fing, zitternd vor Kälte, laut zu jauchzen an, kaum dass er mich, den Fremden erblickte. Schon sprangen seine Geschwister herbei, hoben ihn, der über und über von Lehm verklebt war, in die Höhe und stürmten mit ihm zu mir. 10 O-Ton Gauß: Jetzt bin ich tatsächlich nach Svinia aber nicht einmal nur hinein-gekommen, sondern 15 mal und es war zufälligerweise so, dass, als ich das erste Mal hineinging, Schönwetter war und sehr wenig Bewohner des Ghettos da waren, weil die Kinder waren am Vormittag in der Schule und die Erwachsenen waren auch irgendwo anders. Und ich nehme mir die literarische Freiheit mit gutem Gewissen, dass ich diese 15 Besuche in diesem Ghetto, dass ich die umgruppiere, zusammenfasse, stilisiere, zumal es bei den nächsten Besuchen geregnet hat und ich beim 5. Besuch genau dieses Kind dort in der Pfütze sitzen sah, dass ich aus dem, einen großen Hineingang in dieses Dorf gestaltete. Musik Zitat-Sprecher Ich stand im tiefen Morast, der jedes Mal, wenn ich von einem Fuß auf den anderen trat, ein schmatzendes Geräusch von sich gab, ich stand im Zentrum dieser vor Schmutz starrenden, von undurchdringlichem Gestank eingehüllten Siedlung, in diesem unaufhörlichen Regen, dessen Nässe alles durchdrang und war von lauter lachenden Menschen umgeben. Von jungen Männern, deren Gesichter vom Alkohol verwüstet waren, von abgezehrten Frauen, ein Kind an der Brust, zwei am Kittel und schon wieder eins im gewölbten Bauch, von feixenden Jugendlichen, die mir stolz und verstohlen zeigten, wie sie einen Klebstoff aus einem Plastiksäckchen einsaugten, von Alten ohne Zahn im Mund... Ich war von Gezeichneten umgeben ? und traf auf keinen einzigen, der dem Fremden, der sie besuchte, nicht zugelacht und ihm freundschaftlich auf die Schulter geklopft hätte. Sprecherin: ?Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit. Nichts ist exotischer, als unsere Umwelt...?. Gauß ist der klassische Reisereporter, der genau hinsieht, um zu verstehen, zu erleben und zu berichten. Aber seine Reportagen sind immer auch politische Texte, die nach den Lebensverhältnissen fragen, nach den Ursachen für eine hoffnungslose Lage. Das kommunikative Herumstehen der Roma in ihren morastigen Slums zum Beispiel, erscheint bei ihm wie ein Sinnbild für die verfahrene Existenz einer Volksgruppe, die ihre Traditionen verloren, ihre Vergangen-heit vergessen und den Anschluss an die moderne Gesellschaft nicht geschafft hat. Was seine Bücher aber besonders auszeichnet, ist seine skurrile Personenzeichnung, die ganz beiläufig das spiegelt, was Kriegs-gewalt und zwei Diktaturen mit Menschen alles anstellen können: Musik Zitat-Sprecher ?Absurd, sagte Erwinas, absurd wie das ganze 20. Jahrhundert in dieser verdammten Region. 1947 hatte Erwin ein traumatisches Erlebnis. Er und sein Bruder, die sich auf der Straße deutsch unterhalten hatten, wurden von jungen russischen Soldaten als ?Hitlerinkai? beschimpft und im Kreis herumgestoßen, bis sie sich selber lauthals als kleine Hitler bezeichneten. Als sie blutend und weinend nach Hause kamen, nahm ihre Mutter sie in die Arme und sie mussten schwören, nie wieder ihre Muttersprache zu sprechen. Die Mutter starb zwei Jahrzehnte später und hat mit ihnen kein Wort deutsch mehr gesprochen, nicht einmal auf ihrem Totenbett. Das alles, sagte Edwinas, war ?schon ein bissel traurig.? Sprecherin: Gauß ist mit renommierten Auszeichnungen überhäuft worden und bekommt jedes Jahr neue dazu. Mit seiner Reportage ?Die Hundeesser von Svinia? verfehlte er 2006 knapp einen Hauptpreis des ?Lettre Ulysses Award?, des Weltpreises für Literarische Reportage und bekam stattdessen einen Sachpreis, einen Berlin-Aufenthalt. Dass der angesehene ?Lettre Ulysses Award? nach vier Jahren, mangels weiterer Finanzierung, schon wieder sterben musste, ist sehr zu bedauern. In den Statuten stehen ein paar bemerkenswerte Sätze zur Bedeutung der literarischen Reportage: Zitat-Sprecher: In einer Epoche spannungsreicher Globalisierungsprozesse kommt es darauf an, kulturelle Unterschiede und ungleichzeitige soziale Entwicklungen in ihrer Komplexität ernst zu nehmen, zu erforschen und jenseits von Stereotypen zu beschreiben. Sprecherin: heißt es da mit Blick auf die Berichterstattung der audiovisuellen Medien. Die nämlich hätten, gerade bei Katastrophen wie von Ruanda, Jugoslawien, Afghanistan oder dem 11. September vor Augen geführt, wie ?vordergründig und trügerisch die suggerierte Vertrautheit mit Kulturen und Konflikten? sein könne. Zitat-Sprecher: Schriftsteller, die die Neugier und den Mut des guten Journalisten mit der Kunst des Schreibens verbinden, können zum Verständnis lokaler und globaler Entwicklungen Entscheidendes beitragen. Sprecher: Zu den originellsten Vertretern jener ?guten Journalisten?, die in ihren Texten eine verblüffend neue Anschauung der fernseh- gewohnten Bilder aus Kriegs-und Krisengebieten liefern, gehört der amerikanische Satiriker und Essayist Patrick J. O´Rourke. Seine Reportagen entführen in die kriegsversehrten Städte und Gewaltlandschaften des Nahen und Fernen Ostens und in Länder des wirtschaftlichen Alles und Nichts in Asien und Afrika. Sie sind zum Teil über 20 Jahre alt, wirken aber so frisch, als wären sie von heute: Musik Zitat-Sprecher: ?Baasboot.? ?Bissport.? ?Paßburt.? ?Pisspott.? Jeder Libanese kennt das Wort, aber keiner kann es aussprechen. Der erste, tiefste und dauerhafteste Eindruck von einem Besuch in den Libanon ist der einer endlosen Reihe von Gesichtern, die sich zusammen mit dem Lauf einer Maschinenpistole durchs Wagenfenster hereinschieben und einem die Reisedokumente falsch aussprechen. Einige von diesen Gesichtern gehören zur libanesischen Armee, andere zur christlichen Phalange, wieder andere gehören zornigen Schiiten oder aufbrausenden Drusen oder syrischen Wehrpflichtigen mit mürrischen Mienen oder israelischen Reservisten, die alle aussehen, als stammten sie aus Scarsdale, New York. Wer im Libanon eine Schusswaffe besitzt, der hat auch einen Kontrollpunkt. Und man muss schon ziemlich verrückt sein, im Libanon ohne Schusswaffe rumzulaufen. Aber ich kann Ihnen versichern, auch die Verrückten laufen dort alle mit einer Schusswaffe herum. Also kramt man Pässe und Papiere hervor und fragt sich: ?Bin ich jetzt auf dem Gebiet der Sozialistischen Fortschrittspartei oder auf dem Territorium der Syrischen Sozialistischen Nationalpartei? Ob mich die Amal-Miliz erschießt, wenn ich ihnen einen Presse-ausweis der libanesischen Armee zeige? Und was heißt eigentlich auf arabisch:´Amerikaner? Ich? Dass ich nicht lache!´?? Sprecher: Das alles klingt very British. ?But I´m Irish?, würde Patrick Jake O´Rourke sagen, der 1947 in Toledo, Ohio geboren wurde und gerne auf seine irische Abstammung verweist. Seine Essays und Reportagen erschienen früher in Zeitschriften, wie ?Vanity Fair?, ?Esquire? oder ?Rolling Stone? und werden heute in ?The Atlantic Monthly? publiziert. Seine Bücher, fast alle Bestseller, verraten ihren satirischen Geist schon im Titel: Zitat-Sprecher: ?Republican Party Reptile?, Give War a Chance? , ?Eat the Rich ?Parliament of Whores?, ?Peace Kills: America´s Fun New Imperialism,? ?On the Wealth of Nations? Sprecherin: 2006 stellte Hans Magnus Enzensberger, der große Förderer der Chronisten, eine Auswahl von O´Rourkes Texten in der ?Anderen Bibliothek? vor, unter dem Titel: ?Reisen in die Hölle - und andere Urlaubsschnäppchen?; gefolgt von der zweiten Auflage 2007. Elf große Reisereportagen aus dem Libanon, Irland, Korea, Israel oder Bosnien, aus Albanien, Hongkong oder Tansania, entstanden zwischen 1984 und 2005 ? alles literarisch versierte Reiseberichte die mit einer Fülle von schrägen Beobachtungen und ihrem lapidaren Witz entzücken. Die Wahl eines Zitats zu treffen, ist die reinste Qual: Musik Zitat-Sprecher: Hongkong ist eine Stadt der Vertikalen, die vom Zentrum bis zum Victoria Peak, auf einer Strecke von kaum anderthalb Kilometern, 600 Meter Höhe gewinnt, so vertikal, dass es anstatt Bürger-steigen an manchen Stellen Rolltreppen gibt und einzelne Stadt-viertel nach ihrer Höhenlage benannt werden: ?Mid-Levels?. Auch Hongkongs Architektur geht in die Vertikale, und zwar nicht bloß die glitzernden Wolkenkratzer. Jedes Mietshaus und jeder Stapel Werkstätten und Lofts schickt eine Erektion in den Himmel. Stellen Sie sich die Wall Street am Hang des Kilimandscharos vor oder, bei Regen, ein abschüssiges Venedig. Sprecherin: O´Rourke ist der Typ des journalistischen Abenteurers und Kettenrauchers, der im Taxi oder Bus durch schwerbewaffnete Viertel und Landschaften im Libanon oder Israel fährt und im Splittergraben mal hinter bosnischen, mal hinter serbischen Linien das Kampfgeschehen verfolgt. Der sich als Araber verkleidet unter die Gläubigen der Al-Aksa-Moschee in Jerusalem mischt, unter Steine werfende Palästinenser-Jungs in einem Flüchtlings-lager im Westjordanland oder mit der Gasmaske unter demonstrierende koreanische Studenten in Seoul. In seinen Texten glänzt er mit allem, was sehr gute Reportagen von den guten unterscheidet: mit originellen Ausschnitten und Perspektiven, dem Blick für kleine Nebensachen, die das große Ganze spiegeln, mit dem Talent, knapp und pointiert den Geist eines Ortes, Charakter eines Menschen einzufangen. Sein Markenzeichen aber ist der souveräne, ironische Stil, der jeden seiner Texte beherrscht. Seinen Aufenthalt im zerbomb- ten Libanon 1984 schildert er beispielsweise im unschuldigen Tonfall eines Reiseführers mit Geheimtipps für Erlebnisurlaub: Musik Zitat-Sprecher: In Beirut gibt es noch eine ganze Reihe Hotels, die geöffnet haben. Am besten ist das Commodore in El Hamra, einem Distrikt von West-Beirut. Hier hat das internationale Pressecorps sein Hauptquartier. Wenn die Gefechte vorübergehend abflauen, sind immer reichlich Zimmer zu haben. In Zeiten heftiger Kampftätig- keit reservieren Sie am besten per Telex unter Beirut 20595. Der Keller des Commodore ist als Bunker hervorragend geeignet. Das Personal ist freundlich und tüchtig und wird stets bemüht sein, Sie zurückzuholen, wenn Sie entführt wurden. Weiter unten am Kai, völlig unversehrt inmitten von Ruinen, wartet Chez Temporal mit vorzüglichen Speisen auf. Nach einem kurzen, bitte wachsamen Spaziergang durch ein schwer bewaff- netes Drusenviertel gelangt man zum Grenier. (...) Nebenan im Quo Vadis gibt es eine erstklassige italienische Küche. Vergessen Sie nicht das Trinkgeld für den Mann, der mit vorgehaltener Pistole darauf besteht, ihr Auto zu bewachen. Sprecherin: Mit Ironie und Sarkasmus nähert sich 0´Rourke jeder Hölle, spart nicht mit aberwitzigen Wendungen und satirischen Spitzen. Sein frecher Witz scheint keine Grenzen zu kennen - was man bei uns irgendwie irritierend findet. Finden Sie es richtig, wurde er von einem Interviewer der Schweizer Weltwoche gefragt, in den Libanon, nach Nord-Irland oder Ex-Jugoslawien zu reisen, während sich die Leute dort umbringen und dann nach Hause zurückkehren und über das Gesehene Witze reißen? O´Rourke gab zur Antwort: Zitat-Sprecher: Ich habe mich nie über Opfer lustig gemacht. Ich würde auch nie etwas Witziges über die Folgen von Schlammlawinen oder Erdbeben schreiben. Ich schreibe immer über menschliche Unzulänglichkeit, über Schlechtes, das sich die Menschen selber antun, über tragische Situationen, die auf das Verhalten der betroffenen Leute zurückzuführen sind. Der schwarze Humor ergibt sich da von selbst. (...) Allerdings begehen die Leute oft den Fehler, Humor mit sich Wohlfühlen zu verwechseln. Das ist völlig falsch. Mark Twain sagte: ?Die heimliche Quelle des Lachens ist das Leid. Sprecherin: In den beiden großen Reportagen: der über Tansania ?Wie man aus allem nichts macht? und der über Hongkong ?Wie man aus nichts alles macht? tritt 0´Rourke als Forschungsreisender in Sachen Wirtschaft auf. In ihnen mischt er virtuos seine Beobachtungen von Menschen, Tieren und steilen Architekturen mit Reflexionen rund um die Frage: Weshalb eine friedliche, mit Naturschätzen reich gesegnete Gegend, wie Tansania, ewig arm bleibt, während eine andere, überbevölkerte ohne irgendwelche Ressourcen, wie Hongkong, reich wird. Musik Zitat-Sprecher: Es ist kein Platz in Hongkong, nicht für alle Liebe und alles Geld, wenn man damit nur in gewöhnlichem Umfang gesegnet ist. Eine Dreizimmerwohnung im Zentrum kostet 1000 Dollar im Monat, aber in diesen Zimmern ist so wenig Platz, dass man nicht mal mit sich selbst Sex haben kann ? alles in allem 65 Quadratmeter und die Fenster sind mit Papier verklebt, weil gleich davor, in Reichweite, die Fenster der Nachbarwohnung sind. Und wenn man sich in der Küche etwas zu Essen macht, dann am besten etwas, das man hochkant halten kann ? wie eine Banane. In solchen Verhältnissen lebt die Mittelschicht. Arme Leute leben zu drei Generationen in einem Zimmer von 4,50 mal 6 Meter. Aber wenn die Leute dieses Zimmer verlassen, tragen sie Versace und Dior - und manchmal sind die Sachen auch echt. Sprecherin: Im Fall von Tansania ist der Reisebericht mit Fakten, Zahlen und Ergebnissen von sozioökonomischen Studien durchsetzt, die seine Überlegungen über die Ursachen der Armut und Möglichkeiten ihrer Veränderung stützen - und dennoch bleibt der Text luftig, abwechslungsreich, spannend. Ein schönes Beispiel für den entspannten Umgang mit einem komplizierten und anstrengen-den Thema und ein weit gespannter Tatsachenbericht, der die Sympathien des Autors für die Bewohner des Landes deutlich durchscheinen lässt. Wirklich hinreißend aber sind die Passagen, in denen sich 0´Rourke Tansanias Tierwelt vornimmt: Musik Zitat-Sprecher: In Tansanias Tierwelt ist rund um die Uhr Rush-Hour. Kaffern-büffel drängeln, Zebras verstopfen den Weg, Gnus stauen sich. Die Thomsongazellen springen mit einem seltsamen schwarzen Streifen auf beiden Seiten herum, der dem Logo on Nike so ähnlich sieht, dass man sich fragt, wer hier wen sponsert. Warzenschweine stöbern mit hocherhobenen Schwänzen herum, als wollten sie in alle Ewigkeiten ein Foul beim Schweineball anzeigen. Überall sind Hyänen unterwegs. Unbekümmert und doch verschlagen streifen sie in kleinen Gruppen nicht ganz ziellos umher ? wie Leute die im Shopping Center abhängen und auf ihre Chance warten. Nilpferde liegen dicht an dicht in Wasserlöchern und schnarchen, schlafen, stinken den ganzen Tag. Die korrekte Übersetzung des griechischen Wortes Hippopotamus ist nicht ?Flusspferd?, sondern ?erster Ehemann des Flusses?. Löwen dösen, wo es ihnen passt, und wachen nur alle paar Tage mal auf, um der Ökologie jenen bekannten Gefallen zu tun, der darin besteht, Schwache, Alte und Kranke auszumerzen. (Ob sich Löwen je darüber unterhalten, was für die Schwachen und gegen die Kranken spricht oder umgekehrt?) Musikende Sprecherin: Marie-Luise Scherer war 24 Jahre lang die Exotin unter den Spiegel-Reportern. Eingehüllt in Rauchwolken, saß sie in ihrem Zimmer und nahm sich Zeit, sehr viel Zeit, zum Recherchieren und Formulieren ihrer Artikel. Und sie durfte es. Denn das, was sie schließlich ablieferte, war außergewöhnlich gut. 11 O-Ton Marie Luise-Scherer Ich hatte ja diesen untilgbaren Ruf der Langsamkeit, das hab ich auch zugelassen, das war mir irgendwie egal. Ich war mal von der Adenauer-Stiftung eingeladen in Cadenabbia und Jochen Hieber von der FAZ, war der Moderator, und der sagte: ?Also, wenn man jetzt zurückrechnet, haben Sie jeden Tag einen Satz geschrieben?, - stimmt gar nicht, viel weniger. Sprecherin: Von ihren Reportagen für den ?Spiegel? hatten die Besten in zwei Büchern Platz: ?Ungeheurer Alltag?, erschienen 1988 und ?Der Akkordeonspieler? 2004 in der ?Anderen Bibliothek?, gefolgt von der Taschenbuchausgabe 2006; ein Teil der Texte im ersten Buch ist auch im zweiten zu finden. Insgesamt 21 Reportagen und ?wahre Geschichten?, entstanden zwischen 1974 und 2004, darunter allerdings lange epische Stücke von 50 und mehr Seiten, die das Spiegel-Standardmaß weit überschritten. Die Titel- geschichte ?Der Akkordeonspieler?, eine Erstveröffentlichung, nimmt allein 130 Seiten ein. Musik Zitat-Sprecher: Die Musik muss zur Tages- und Jahreszeit passen, mitunter auch zum Bahnhof und zur Gegend, die sich über ihm erstreckt. Im Bannkreis einer Einkaufsmeile, wo die Leute schon im Sog von Billigposten den Waggons entsteigen, sollten die Melodien kräftig sein. Hier wäre also keineswegs der Ort zum Vortrag eines Jessenin-Gedichtes zur Gitarre. So wie ganz allgemein die Frühe es verbietet, mit sehr beschwingten Stücken aufzuwarten. Denn kaum dem Schlaf entrissen und mit vor Müdigkeit noch derangierten Zügen macht Frohsinn reizbar. Gegen 10 Uhr sind schon Müßiggänger unterwegs, darunter stark vertreten die Seniorenschaft, deren Überschuss an freier Zeit sie gern zu selbsternannten Ordnungshütern macht. Manche sogar, darunter nicht die Allerrüstigsten, verhehlen ihre Vorfreude auf kleinere Konflikte nicht. Zum Beispiel zieht Kolenkos Nische im Unterdeck des Bahnhofs Kaiserin-Augusta-Straße Personen dieses Zuschnitts an. Sprecherin: Über Marie-Luise Scherer gibt es nur ein paar biographische Eckdaten: geboren 1938 in Saarbrücken, Spiegel-Autorin, lebt heute zurückgezogen in einem kleinen Dorf an der Elbe. Und so gut wie keine Zeitungsinterviews oder Portraits - was nicht an der mangelnden Aufmerksamkeit der Journalisten liegt. 12 O-Ton Marie-Luise Scherer ...das missrät auch immer. Dann kam der nette Mann von der Süddeutschen, das wäre was gewesen. Aber ich war schuld, ich hab immer gesagt: das schreiben Sie nicht, das schreiben Sie nicht. Ja, es war ein wunderbarer Kollege, aber mit dem Verzicht. So ein Porträt, das fürchte ich, das verscherze ich, ich fürchte mich mehr vor den Tönen, als dass ich da eine Werbung habe. Sprecherin: Damnatz ist ein kleines Dorf an der Elbe, in der Nähe der ehe- maligen Grenze. Die Landstraße dorthin führt durch strotzend grüne Wiesen und Wälder, überall blüht und summt es. Am Straßenrand schmucke ziegelrote Häuser. Marie Luise Scherer wohnt im umgebauten Haus eines Tischlers, im Garten wilder Jasmin und Malven und ein kleiner Holzpavillon. Und es gibt auch einen Hund, eine über den Besuch hocher- freute Rottweiler-Mischlingshündin, die von ihrer Herrin aus dem Gemeinde-Käfig erlöst wurde. (Pause) Auf das Thema Grenzhunde stieß Scherer, nachdem die Grenze schon gefallen war. Das Manuskript lag damals beim ?Spiegel? lange im Korb, bis es Rudolf Augstein las: 13 O-Ton Scherer Augstein, der las das und sagte, ich hörte das über diese Haus-sprechanlage, ich war beim Chefredakteur oben gerade, und der sagte: Titel nur, Scherer, Titel. Und wenn dann so ein Chef-redakteur, der was gegen Hunde hat, es waren zwei Chefredak-teure damals da, der eine war vom Manager-Magazin, der sagte: Hunde auf dem Titel nur, wenn?s um deren Vergasung ging. Das ist jetzt kein kynologischer Artikel, kein Liebhaberartikel in einer Pudelzeitung gewesen, das ist ja letzten Endes das Panorama einer Grenze gewesen, das war eine Sittengeschichte. Und Augstein hatte aber, ja ich muss sein Lied singen, ich muss sein Lied singen, Augstein, der auch jetzt kein Hundenarr ist, der konnte aber trennen, der erkannte den guten Satz. Sprecherin: Wir gehen für das Interview ins Haus. Eine niedrige Decke, darunter ein großzügiger Wohnraum mit vorgelagerter Küche, früher der Stall mit Futterküche. Holländische Kacheln und alte Möbel, an den Wänden Aquarelle und Gemälde. Überall hoch- beinige Tischchen mit Stapeln von Büchern. Sie trägt einen weiten hellblauen Rück und eine hellblaue Bluse, das üppige, hell gesträhnte Haar halblang, tiefrot geschminkte Lippen. Immer noch hat sie diesen schön geschwungenen Mund, der ihr etwas jugendlich Trotziges gibt, mit dem sie auf dem Umschlagphoto ihres ersten Buches so einsam und stolz wie die junge Jeanne Moreau wirkte. Und immer noch raucht sie. Sie hat es sich auf dem Sofa bequem gemacht. Und wenn man denkt, sie würde nur sparsam Auskünfte geben, hat man sich getäuscht 14 O-Ton Scherer: Also Augstein, war eigentlich der Betreiber meiner Spiegel-Anstellung. Ich hab jahrelang, als ich bei der Berliner ?Morgen-post? war, frei für die ?Zeit? geschrieben. Und dann war ich bis etwas über ein Jahr beim Stern, ja da war ich anderthalb Jahre nicht gut aufgehoben. Auf jeden Fall war Augstein der, ich würde sagen der Entdecker, das hört sich jetzt groß an, ich bin ja nicht der Mount Everest, aber er hat es gewollt... Sprecherin: Augstein stand ihr auch während des peinigenden Einstellungs- gesprächs beim ?Spiegel? 1974 zur Seite: 15 O-Ton Scherer: Anstellungsgespräch mit Chefredakteur und Augstein in einem Chinarestaurant gegenüber des ?Spiegel?. Ich: sehr nervös, aß diese Suppe aus diesem Porzellanlöffel und rauchte schon in den Löffel rein, irgendwie vor Aufregung. Chefredakteur Engel. Und der fragte mich jetzt grade aus: Abitur wann? Und Augstein wusste ja von mir, dass ich eine...ich hatte die Schule, wie ich immer nur sage, Schule, das heißt mittlere Reife...der Spiegel hatte keine Leute ohne Abitur. Und dann also der Chefredakteur, der wollte dann so die lange Liste des Werdegangs, der hätte dann so: mein Jahr in Yale... Und dann hat der Augstein das Ganze abgeschnitten mit der Bemerkung: Bildung ist nicht ? gucken kann se ... Obwohl das mit der Bildung nicht stimmt, er hätte sagen müssen: Ausbildung ist nicht... Sprecherin: Sie schrieb für den ?Spiegel? über Themen, die nicht an Termine gebunden waren, diese eher ?windstillen Sachen?, wie sie es nennt, ohne die Anziehungskraft prominenter Protagonisten. Geschichten oft mit anonymen Helden, in denen sie zeigen konnte, wie man über die Darstellung fesselt. Über Friseure, Roulettespieler, ein altes Paar von Herr und Hund oder die tödliche Leidenschaft eines Rentners aus der Provinz zu einer Berliner Peep-Show-Königin. Musik Zitat-Sprecher: Als Stammgast der Peep-Show versucht Meinberg, sich an die Vergeblichkeit seines großen Gefühls zu gewöhnen, diese Vergeblichkeit sogar zu genießen. Obwohl er Abend für Abend sexuell zu Rande kommt, bleibt er in einem Hungerzustand. Anzunehmen ist, dass Meinberg nichts von einem Frauenliebling hat, dass, außer seiner Beständigkeit, einer Frau nichts schmeichelt. Seine Unterhaltungen sind seinen Gedanken nicht gewachsen. Während der mühsamen Anbetung bringt Meinberg sein Geld ins Spiel. Er deutet an, dass er kein ganz Armer ist. Er könne, sagt er, Regina Schnee durch das Käfiggitter, sie aus ihrer billigen Existenz erlösen. Er fühlt sich von ihr nicht zurückgeliebt und muss sie durch Sicherheit erledigen. Sprecherin: Sie konnte mit der Sprache aus grauen Sozialthemen Funken schlagen. Für ihre Reportagen über die Trinkerin Sofie Häusler und über einen Fixer und seine Familie bekam sie die ersten Egon-Erwin-Kisch Preise 1978 und 1980. Aber auch ihre Stücke aus glanzvolleren und exotischeren Milieus leben von ihrer stilistischen Feinarbeit und vibrierenden poetischen Wahrnehm-ung: ?Dinge über Monsieur Proust? über Volker Schlöndorffs Proust-Verfilmung oder ?Der letzte Surrealist? über Philippe Soupault, ?Der unheimliche Ort Berlin? über einen Mordfall im wilden Kreuzberg der 70er Jahre oder ?Die Bestie von Paris? über eine Mordserie an alten Frauen durch ein homosexuelles Männer-Paar ? das alles sind Texte mit exakt sitzenden Beobachtungen und wunderbar ausgefallenen Bildern, mit einem Wörteraufgebot, das aus einem reichen literarischen Fundus stammt: Zitat- Sprecher: Den Swann spielt jetzt der Engländer Jeremy Irons, der von so empfindlicher Schönheit ist, dass er auf dem Satinpolster eines dicht schließenden Etuis zu Hause sein könnte. Die sich stufen-weise verschärfende Traurigkeit seines Blickes gelangt manchmal an einen Punkt, an dem sich die Einstichstelle des Weltunglücks zu befinden scheint. Sprecherin: Die Kritiker werfen sich vor ihrer Prosa auf die Knie, obwohl sie natürlich genau wissen, wie ungelenk diese Kniefälle im Vergleich mit ihren Formulierungen wirken müssen: Zitat-Sprecher: ?Die edelste Feder?, ?Sanft schwermütige Jägerin der verlorenen Wahrheit?, ?Bedeutende Literatur, die zeigt, was diese journalisti-sche Kunstform auch heute noch leisten kann?, ?Ihre Reportagen sind besser, als alles, was es auf deutsch zu lesen gibt.? Sprecherin: Schon beim ?Spiegel? gab es Lob vor Kollegen, das sie als prekär empfand, als genant geradezu. Jede Hervorhebung setzte sie unter Erwartungsdruck, nahm sie in die Pflicht, die großzügig gewährten Konditionen an Zeit durch besondere Qualität ver-dienen zu müssen. Dabei waren ihre eigenen Maßstäbe ja die strengsten. Jeder Artikel eine Diplomarbeit. Hans Magnus Enzensberger, für dessen ?Andere Bibliothek? sie ihren letzten und längsten Text ?Der Akkordeonspieler? schrieb, war klug genug, sie nur leise anzutreiben. 16 O-Ton Scherer: Enzensberger, der mich immer ermutigt hat, immer gesagt hat: ich habe die Geduld eines Anglers. Er nennt sich selbst den Storch, der schnell ist: da was, das was, da ein Frosch, da ein Frosch, da ein Frosch. Und ich bin der schwitzende Maulwurf natürlich, blind da unten im Gang Sprecherin: Man sollte sich allerdings davor hüten, von Sprachkunst zu sprechen oder Worte wie elegant oder originell fallen zu lassen... 17 O-Ton Scherer Also, originell ist ein Reizwort für mich! Was ich gerne verbinde, ist die Präzision eines Ingenieurs beim Schreiben und gleichzeitig eine literarische Farbe. Ich möchte gerne den Witz oder den Effekt, der soll durch Präzision entstehen und nicht durch Einfälle oder Reflexionen. Das Ingenieurhafte interessiert mich und wer mich ganz in seinen Bann zieht: Joachim Schädlich. Also, wenn ich manchmal schreibe, würde ich gern ihm gefallen.? Sprecherin: Und von den alten Meistern ? Flaubert 18 O-Ton Scherer: also, wenn Sie so ne Hoheit vor sich haben... Flaubert ist diese Akkuratesse, Flaubert weiß, wie ein Schürzenband verläuft, wie ein Hut rutscht, wie ein durchstoßener Fingerhandschuh, das ist gestochen, wie wenn Sie einen Spekulatius ausstechen mit diesem Stahlrand Sprecherin: Schreiben heißt für sie: immer wieder vor der ?hohen Idee?, mit der sie sich anfangs an den Schreibtisch setzt, kapitulieren zu müssen. Sie hat eine zeitraubende, wie sie sagt ?sich spät einstellende Zufriedenheit? mit ihren Sätzen. Sie kann eine ganze Nacht damit verbringen, nach dem einen, einzig gültigen Adjektiv zu suchen, Kette rauchend wie einst Kisch. 19 O-Ton Scherer ...wenn dann so ein Anruf kommt, ich hab mich um 11 Uhr morgens ins Bett gelegt, weil ich um 6 Uhr gerade eine Schaffenskraft für so ne kleine Strecke hatte, dann kommt der Chefredakteur und sagte: ?Frau Scherer, Journalismus kommt von Jour, der Tag!? Sprecherin: Das Schreiben verlagerte sie zunehmend nachhause. Irgendwann wurde ihr dann auch das Bürozimmer gestrichen - sie war ja nie da. Für die großangelegte Reportage ?Die Bestie von Paris? ging sie 1990 in Paris minutiös den Wegen der 21 ermordeten alten Frauen nach und den Lebensstationen ihrer Mörder Thierry Paulin und Jean-Thierry Mathurin, beide farbige, homosexuelle Revuetänzer. 20 O-Ton Scherer: Da geh ich ins Hotel, ich geh da alles ab, ich frage den Portier und der Portier sagt, das war der Student sowieso, und dann such ich den, deswegen bin ich ja sehr lang unterwegs, ich war ja Wochen in Paris. Das ist nicht kürzer zu machen, wenn es stimmt, wenn da eine Bäckerei steht und alles andere sind Musikalienhand- Lungen, dann stimmt eben alles. Eine Straße, wenn jemand ver-meintlich, den Mörder gesehen haben will... Es ist mir nichts zu klein, als viele Wege dafür zu machen. Musik Zitat-Sprecher Während Täter und Komplize die zerstrittenen Köche spielen, einigen sie sich auf Gervaise Petitot. Sie ist Ohrenzeugin des Disputs, den sie gerade zu beschwichtigen im Begriff ist, als die Reihe an sie kommt, bedient zu werden. Sie möchte eine Hand-voll Hühnerherzen und ihre Aufmerksamkeit gilt jetzt nur noch der Pranke des Geflügelhändlers. Für die kleine Summe von vier Franc siebzig muss sie ein Billet von 200 Franc anbrechen, das sie aus einem Kuvert zieht, in dem noch andere Scheine stecken. Diesem ihr unbehaglichen Vorgang gibt sie eine gewisse Auffällig-keit, indem sie wiederholt nach rechts und links sieht. Die beiden immer noch zankenden Männer vergrößern ihre Unruhe nicht. Madame Petitots kranke, blaue Füße stecken in offenen Pantoffeln. Sie macht maschinenhafte, kurze Schritte, als müsse sie einen Pfad zwischen zwei Gartenbeeten treten. Ihr mühsames Vorankommen zwingt die Verfolger zu immer neuen Manövern, eine unverdächtige Langsamkeit einzuhalten. Nach etwa zehn Metern sehen sie Madame Petitot ein halbes Brot kaufen, was ihrem Gespür, in Madame Petitot eine alleinlebende Alte erkannt zu haben, recht gibt. Schließlich gerät die zum Greifen nahe, tappende Beute ihren Jägern aus dem Visier. Madame Petitot ist zwischen den Straßentheken eines Gemüse - und eines Fisch-händlers verschwunden. Als der Täter das dahinter liegende Haus betritt, bleibt der Komplize als Betrachter der Fische und aufklappbaren Schalentiere zurück.? Sprecherin: Eine kleine Zeitungsmeldung über den ?grausigen Fund? eines Skeletts auf dem Dachboden einer Kreuzberger Fabriketage war der Auslöser für die Reportage ?Der unheimliche Ort Berlin?. Auf den Spuren der zu Tode gekommenen Ingrid Rogge hatte Marie-Luise Scherer sich 1986 wochenlang im harten Milieu von SO 36 umgesehen und parallel dazu in der schwäbischen Provinz, aus der das Mädchen 1979 in die große Welt aufgebrochen war. ?Die Spiegel-Schlampe soll abhauen? war damals auf die Mauer gesprüht. Die Tatsachenerzählung, in der sie auf 44 Seiten keinen Mörder präsentiert, aber vielstimmig und virtuos das Klima der 70er und 80er Jahre in Kreuzberg einfängt, ist immer noch ein unerreichtes Zeitdokument über Berlin. Zitat-Sprecher: Das Kottbusser Tor ist kein Ort, an dem die Leute in Übergangs-mänteln herumlaufen, wenn der Winter vorbei ist. Das bisschen Sonne im April legte gleich die Oberarmtätowierungen der Punker frei. Die türkischen Männer hielten nicht mehr frierend das Jackett vor der Brust zusammen und gingen wieder aufrecht. Die Wärme hatte jedes Verhalten gelockert. Die Punker kippten die Bierdosen in ihre struppigen Köpfe hinein und bespritzten einander und bewarfen sich mit Schaum. Sie tänzelten um ein kopulierendes Hundepaar, das unsicher auf sechs Pfoten stand und dabei dreist zu lächeln schien. Sprecherin: An der ?Hundegrenze?, 1994 als Titelgeschichte im ?Spiegel? publiziert, saß sie, mit Pausen, zwei Jahre und wurde dafür mit einem überwältigendem Echo der Leser belohnt. Darüber hinaus mit dem Ludwig-Börne-Preis. Die Leser des Ostens bescheinigten ihr damals eine verblüffend authentische Darstellung der Zustände im Grenzgebiet. 21 O-Ton Scherer: Auf der gegenüberliegenden Seite ist ja der Osten gewesen, da war ich in einer Wirtschaft an der Elbe, in Strachau, und da bellte ein Hund, den ich aber nicht sah. Und dann sag ich, wer bellt denn da, zur Wirtin, dann sagt sie, der ist ganz böse, das war ein Grenzhund. Und das war dann der Hund. Und mit diesem Hund als Polaroid ging ich in den Osten. Sprecherin: Der gelbe Colliemischling Alf ist in dieser episch weitgesponnenen Tatsachenerzählung einer der Unglücklichen, die, angebunden an das Drahtseil einer Hundelaufanlage beim ?Grenzkommando Nord? dienen mussten. Sein ?desolater Lebenslauf? spiegelt den Geist eines planwirtschaftlichen Systems und den seiner Menschen im Sperrgebiet der Grenze, von Grenzaufklärern über Hundebeschaffer bis zu Viehzerlegern. 22 O-Ton Scherer: Das ist ein Schneeballsystem, Sie sitzen in einer Kneipe und dann fragen sie mal an den Nebentischen, wenn Sie Glück haben...Sie haben immer das Mißtrauen, weil zu dieser Zeit waren die ersten, oft niedergelegten Prozesse gegen Mauerschützen, und die dachten, wenn ne Frau mit nem Hundephoto kommt, die will ganz was anderes. Mein heiliges Anliegen, über Tiere zu schreiben, das war unglaubwürdig. Das war sehr schwierig im Morast dieser Ortschaften, ich war da im Winter und im Sommer, das war ne wahnsinnige Arbeit, diese Hundesache, diese kleinteiligen Details, dass ich da in die Schweinetröge gucke... Sprecherin: Von diesen mühsamen oder auch aufregenden Recherchen ist in ihren Texten nie die Rede. Ganz anders als der ?Rasende Reporter?, als die meisten ihrer Kollegen, nimmt sich Marie-Luise Scherer als beobachtende und fragende Person völlig zurück. Es gibt kein ?Ich?, keine Reflexionen, nur die rationale Neugier für ihre Figuren und die Details ihrer Geschichte. Musik Zitat-Sprecher: Das engmaschige Rhombengitter entrückte das dahinterliegende Geschehen etwas. Für den flüchtigen Blick war alles weichge-zeichnet wie durch Gaze, die Hunde einvernehmlich mit der Natur, in gleichmäßigem Eifer ihr Revier ausmessend. Sie liefen ein kleines Oval um ihre Hütte und längs des Drahtseils ein großes, als vollführten sie eine Kür auf Schienen. Sie trugen, als wollten sie Kunststücke zeigen, ihre Näpfe hin und her. Sie gruben Löcher, in denen sie ganz verschwanden. Über Stunden schossen die Sandfontänen hoch. Tewes wusste, dass diese Erdarbeiten Verzweiflungstaten waren. Nicht Possierlichkeit, sondern Verlassenheit schickte den Pott-schlepper und Kürläufer auf seine Bahn. Die ganze Szenerie des Fleißes und der Fertigkeiten war ein Trugbild. Sprecherin: Mittlerweile arbeitet sie an einem Roman, ihrem ersten, ange- siedelt auf dem Land, in der deutschen Provinz. Schon ihr letztes Werk ?Der Akkordeonspieler? war auf 130 Seiten angewachsen. Hier begleitet sie den russischen Straßenmusikanten Vladimir Alexandrowitsch Kolenko durch die Berliner U-Bahnhöfe und auf seinen endlosen Zugfahrten zwischen Berlin, Moskau und Essentuki im Kaukasus, erlaubt sich immer neue Nebengeschich-ten und bleibt doch ganz im Hintergrund. Dort, wo das Dabeisein nicht möglich ist, malt sie aus, fühlt sie sich ein. Spart sich jedes Wort der direkten emotionalen Partei-nahme, aber schenkt ihrem Protagonisten bei seinem bizarren Überlebenskampf dennoch so viele Gesten der Geduld und des Feingefühls, dass man nicht anders kann, als ihn zu mögen. 23 O-Ton Scherer Ja, also ich hab keinen kosenden Umgang mit den Figuren. Mit strenger Wortwahl kriegen Sie diese Figuren trotzdem in ein ... Sie können Sie so betten, mit den Wörtern betten. Aber ich hab keine behauptete Moral, die Anteilnahme dampft anderswo raus, aber ich hab keine - Parteinahme. Und das ist Arbeit, dass Sie parteilich sind, ohne, dass sie parteilich schreiben. Sprecherin: Der Reporter, schrieb Kisch 1924 im Vorwort des ?Rasenden Reporters?, ?hat keine Tendenz, hat nichts zu rechtfertigen und und hat keinen Standpunkt?, um dann in seinen Reportagen doch seine Sympathien und sein Mitgefühl mit den Geplagten und Gestrauchelten mitschwingen zu lassen. Keinen Standpunkt? Das gibt es nicht! widersprach ihm Tucholsky energisch: Musik Zitat- Sprecher: Es gibt keinen Menschen, der nicht einen Standpunkt hätte. (...) Wie sachlich man auch oder wie weit weg vom Thema man auch schreiben mag: es hilft alles nichts. Jeder Bericht, jeder noch so unpersönliche Bericht enthüllt immer zunächst den Schreiber und in Tropennächten, Schiffskabinen, Pariser Trödelmärkten und Londoner Elendsquartieren, die man alle durch tausend Brillen sehen kann ? auch wenn man keine aufhat ? schreibt man ja immer nur über sich selbst. Musik 1