COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Sendung: Zeitreisen Redaktion: Kim Kindermann Sendedatum: 15.02.12 Autorin: Lydia Heller Titel: Der verborgene Feind - Die Geschichte der Seuchen Musikrahmen/Zitat: (zeitgenössisch Antike) ZITATOR: Aus Zorn über Prometheus - der sich angemaßt hatte, den Menschen das Feuer zu bringen - ließ Zeus, der Göttervater, die Jungfrau Pandora erschaffen. Er führte sie zu den Menschen, die auf der Erde lebten, frei von Übel, ohne beschwerliche Arbeit, ohne quälende Krankheit. Pandora aber trug ein Gefäß in den Händen und kaum angekommen, schlug sie den Deckel zurück. Da entflog dem Gefäße eine Schar von Plagen - und das Elend füllte Erde, Luft und Meer. Krankheiten irrten umher, heimlich und schweigend, eine Schar von Fiebern hielt die Erde belagert, und der Tod, früher nur langsam die Sterblichen beschleichend, beflügelte seinen Schritt." Sprecher: Die Angst vor tödlichen, ansteckenden Krankheiten - vor Seuchen - gehört zu den Ur- Ängsten der Menschheit. Schon im Altertum, als der griechische Dichter Hesiod den Mythos der Pandora niederschrieb, fürchten die Menschen diese geheimnisvollen Übel. Die - scheinbar aus dem Nichts kommend - in regelmäßigen Abständen über Land ziehen und innerhalb kurzer Zeit oft tausende Menschen dahinraffen. Atmo: Flughafen/Fernsehen/Verkehr (kurz frei, dann unter Sprecher / OT) Sprecher weiter: Und noch heute - rund 3000 Jahre später - versetzen sie uns in Aufregung: 1. O-Ton/Collage: Zusammenschnitt OT&Meldungen EHEC/SARS/Vogel-, Schweinegrippe 2. O-Ton, Leven, dt.: (39:51, 41:36) "Die Medizin ist heute durchaus in der Lage, Seuchen zu bekämpfen, im Unterschied zur Vormoderne. Aber - die Ängste sind im Grunde dieselben: ein unkontrollierbares Geschehen kommt auf uns zu, es ist schon ganz nah, in den Flughäfen der Welt, was wird als nächstes geschehen? Die Geschäfte werden sofort leer gekauft. Das ist so eine Reaktion: sichern, was zu sichern ist. Es werden sofort auch Verschwörungsgedanken geäußert, dass bestimmte Kreise mit einem anderen Impfstoff geimpft werden, als die Normalbevölkerung. Das ist eine ganz dünne Schicht von rationaler Wahrnehmung und darunter ist ein Ozean von Gefühlen und Ängsten." Autorin: Der Medizinhistoriker Karl-Heinz Leven erforscht an der Universität Erlangen die Geschichte der Seuchen des Altertums und des Mittelalters. Seit der Antike prägen sie Kultur und Politik, Wissenschaft und Wirtschaft von Gesellschaften. Ihr Ausbruch ist immer wieder eng verknüpft mit dem Schicksal ganzer Völker, Länder - sogar Kontinente. Sprecher: Einer der frühesten Augenzeugen einer Seuche ist der griechische Geschichtsschreiber Thukydides. Um 430 vor Christus, so berichtet er, während die Spartaner Athen belagern, grassiert in der Stadt eine furchtbare Krankheit: Musikrahmen/Zitat: (zeitgenössisch) ZITATOR: "Die bei voller Gesundheit waren, wurden plötzlich von ihr ergriffen. Zuerst spürten sie starke Hitze des Kopfes und Brennen in den Augen. Schlund und Zunge wurden blutig und der Atem nahm einen üblen Geruch an. Der Körper war bedeckt von Blasen und Geschwüren. Die Krankheit zog sich durch den ganzen Körper, warf sich auf die Schamteile, die Finger und Füße, und mancher ging ihrer verlustig, einige auch der Augen. Andere verloren nach ihrer Genesung die Erinnerung an alles und kannten weder sich noch ihre Angehörigen." Sprecher: Rund ein Viertel der Athener sterben während der Epidemie, die heute als "Attische Seuche" oder: "Pest des Thukydides" bekannt ist. Am Ende unterliegt Athen den Spartanern - und nicht wenige Historiker sehen in dieser Niederlage den Anfang vom Ende der antiken griechischen Kultur. Ob die "Pest des Thukydides" allerdings wirklich eine Pest war - so wie Mikrobiologen sie später anhand des Pesterregers Yersinia pestis diagnostizieren werden - gilt heute als unwahrscheinlich. Forscher halten inzwischen mindestens zwei Dutzend andere Krankheiten für möglich, darunter Tuberkulose oder Fleckfieber, Ebola oder Pocken. Autorin: "Pestis" - lateinisch für: Seuche - nennt man im Altertum und noch bis in die frühe Neuzeit hinein alle Krankheiten, an denen in kurzer Zeit massenhaft Menschen erkranken und sterben. Man glaubt, dass sie von den Göttern, oder von Gott, geschickt werden: als Prüfung des Glaubens oder als Strafe für sündhaftes Verhalten. Daneben existiert eine naturwissenschaftliche Erklärung, die Miasmalehre. Sie geht auf Hippokrates von Kos zurückgeht und besagt: 3. O-Ton, Leven, dt.: (5:48 u. 2:53, 4:27) "..dass in der Luft, die wir atmen, bestimmte Stoffe sind, die einen giftartigen Charakter haben. Man nannte diese Stoffe "Verunreinigungen", auf Griechisch: Miasmata. Von denen glaubte man, die stiegen auf aus faulender Substanz, aus organischen Resten, aus Leichen von Tieren. Auch aus Sümpfen. Und sie hatten die Eigenart, dass man sie als übelriechend empfand. Die Idee war sehr weitreichend: Wenn die Atemluft vergiftet ist, dann atmen alle gleichzeitig diese Miasmata ein und deshalb treten Massenerscheinungen auf. Und in dem Körper selbst, des Menschen dann, entsteht wiederum Fäulnis." Autorin: Die Miasmalehre bietet den Zeitgenossen ein wissenschaftliches Konzept, das auch viele andere Faktoren plausibel erscheinen lässt, die man mit dem Auftreten von Seuchen in Verbindung bringt: Unrat in den Städten, Klimaveränderungen, Sternen- und Planetenkonstellationen. All das, so meint man, wirke auf die Atmosphäre ein und bringe Miasmata hervor. Noch im 19. Jahrhundert, als Bakterien als Krankheitserreger nachgewiesen wurden, halten Wissenschaftler wie Max von Pettenkofer und Rudolf Virchow in Teilen an der Miasmalehre fest. Ihr Einsatz etwa für eine öffentliche Trinkwasserversorgung und den Bau von Kanalisationen in Städten hat hier seine Wurzeln. MUSIKAKZENT Sprecher: Mitte des 6. Jahrhunderts beginnt die Ära der Pest. Von Ägypten aus zieht zuerst die Justinianische Pest durch Europa. Zu ihren Hochzeiten tötet sie zehntausend Menschen pro Tag - rund ein Viertel der Bevölkerung des Mittelmeerraums werden ihr am Ende zum Opfer gefallen sein. Mitte des 14. Jahrhunderts folgt die zweite Pestwelle: Der Schwarze Tod. Rasend schnell zieht er von Asien bis in den Nahen Osten, nach Nordafrika und Europa - bis hinauf in den Norden Skandinaviens und Russlands. Mindestens 25 Millionen Menschen - vermutlich ein Drittel der Bevölkerung Europas - sterben. Nie wieder danach sollte eine Seuche eine ähnliche Spur an Tod und Verwüstung hinterlassen. Musikrahmen/Zitat: (zeitgenössisch) ZITATOR: "Es gab viele, die bei Tag oder Nacht auf offener Straße verschieden, viele, die ihren Geist in den Häusern aufgaben und ihren Nachbarn erst durch den Gestank, der aus ihren faulenden Leichen aufstieg, Kunde von ihrem Tode brachten." Sprecher: ...schreibt der italienische Dichter Giovanni Boccaccio im "Decamerone" über die Pest in Florenz. In Häusern und Gassen liegen Sterbende, übersät mit eitrigen Beulen und schwarzen Flecken. Ihr Atem stinkt, sie husten Schleim und erbrechen Blut. Unzählige Tote werden in Pestgruben geworfen, auf den Straßen der Verwesung überlassen oder von Schweinen und Hunden gefressen. In Venedig lässt man die Pestleichen in Gondeln aufs Meer hinaus treiben. Wer kann, der flieht. Musikrahmen/Zitat: (zeitgenössisch) ZITATOR weiter: "Andere versicherten, gut zu leben, in allen Dingen seine Lust zu befriedigen und über jedes Ereignis zu spaßen, sei das sicherste Heilmittel für ein solches Übel. Bei Nacht und Tag zogen sie bald in diese, bald in jene Schenke, tranken ohne Maß und taten dies in fremden Häusern noch ärger. Jeder hatte sich und alles, was ihm gehörte, aufgegeben. So waren viele Häuser herrenlos geworden und der Fremde bediente sich ihrer. In solchem Jammer war das Ansehen der göttlichen und menschlichen Gesetze fast ganz zerstört, denn ihre Vollstrecker waren krank oder tot. Darum konnte sich jeder erlauben, was immer er wollte." 4. O-Ton, Leven, dt.: (37:08) "Was macht eine Seuche mit einer Gesellschaft? Wir haben da in der Vormoderne erstaunlich scharfsinnige Beobachtungen. Man kann hier das Stichwort der Anomie nennen, "Anomia" heißt griechisch "Gesetzlosigkeit" oder "Sittenlosigkeit". Niemand kümmert sich mehr um seine Familie, alle staatlichen Funktionen erlöschen, es gibt keine Gemeinschaft mehr. Der Zerfall aller gesellschaftlichen Beziehungen ist eine direkte Folge der Seuche." Sprecher: Inmitten des Chaos des Schwarzen Todes beginnen die Städte aber auch, Maßnahmen zu treffen, um Ausbruch und Verbreitung von Seuchen künftig zu verhindern. Italienische Seestädte schaffen Magistrate - erste Gesundheitsbehörden, die sich um die öffentliche Hygiene kümmern sollen. Lazarette werden eingerichtet, um Kranke und Gesunde zu trennen, "Seuchenordnungen" werden erlassen: 5. O-Ton, Leven, dt.: (33:22, 15:17) "Also bestimmte Vorschriften, die auch eine Art Disziplinierung der Öffentlichkeit anstreben. Dass die Straßen gereinigt werden und die Nachttöpfe nicht ungeregelt auf die Straßen entleert werden. Oder Vorschriften für die Abschließung von importierten Waren bzw. die sogenannte Quarantäne. ,Quaranti giorni' heißt das auf Italienisch - 40 Tage - dass man ein verdächtiges Schiff 40 Tage auf einer vorgelagerten Insel festhält, weil man glaubte, 40 Tage sei eine Zeit, in der das vermutete Gift sich irgendwie abbaut. Das beginnt alles im späten 14. Jahrhundert, das ist ein langer Prozess, der 200-300 Jahre geht." MUSIKAKZENT (zeitgenössisch, kurz frei, dann unter nächsten Text) 6. O-Ton, Leven, dt.: (43:02, 54:00) "Welche Epoche kommt nach dem Spätmittelalter? Wir sind auf einmal in der Renaissance. Eine Epoche der kulturellen Schöpfungen ungeahnter Art, wissenschaftlicher Durchbrüche, die Zahl der Universitätsgründungen nimmt enorm zu. Also, eine der glänzendsten Epochen der Menschheit beginnt wenige Jahrzehnte nach der größten Katastrophe, von der Europa je heimgesucht wurde. Das heißt nicht, dass eine Pest auch gute Seiten haben kann, das wäre ganz skurril, diese Ansicht. Aber: Durch die Erfahrung des Schwarzen Todes, die vielfältigen Abwehrstrategien, die vielleicht im Einzelfall nichts gefruchtet haben - aber insgesamt haben sie dazu geführt, dass Europa, gegen 1850, in ein neues Zeitalter eintrat. Nämlich das der naturwissenschaftlichen Medizin." MUSIK Sprecher: Doch bis dahin durchlebt Mitteleuropa eine weitere Epoche der Seuchen. Im 15. Jahrhundert entstellt die Syphilis hunderte Opfer durch Furunkel und Abszesse. Führt zu Blindheit, Wahnsinn und Tod. Masern, Scharlach, Pocken, Keuchhusten und Diphterie sorgen dafür, dass landauf, landab weiterhin mehr Menschen begraben als geboren werden. Überall dort, wo Menschen dichtgedrängt in schwerer Kleidung, Schmutz und Elend leben müssen, bricht das Fleckfieber aus: In Gefängnissen, Lazaretten und Lagern, unter Seeleuten und Soldaten. Im Dreißigjährigen Krieg Mitte des 17. Jahrhunderts und während der Napoleonischen Kriege 200 Jahre später sterben mindestens ebenso viele Soldaten an Fleckfieber wie an Kriegsverletzungen. Von Napoleons 600.000 Mann starker Armee leben nach dem Russlandfeldzug von 1812 noch 30.000 Soldaten. Der Rest erliegt der Kälte - und dem auch "Kriegstyphus" genannten Fleckfieber. MUSIKAKZENT Autorin: Zugleich gibt es Fortschritte: 1798 veröffentlicht der britische Arzt Edward Jenner seine Erkenntnisse über ein Verfahren zur Herstellung von Immunität gegen Pocken. Zu dieser Zeit sterben rund 400.000 Menschen im Jahr an der Seuche - vor allem Kinder. Jenner hatte entdeckt, dass Menschen, die sich mit Kuhpocken angesteckt hatten, offenbar immun gegen die gefährlicheren menschlichen Pocken waren. Er ritzte Kuhpocken-Sekret in die Haut eines Jungen und infizierte diesen später mit Pockenviren. Der Junge erkrankte nicht. Drei Jahre später waren in England 100.000 Menschen geimpft - um 1820 war die Pockenimpfung auf der ganzen Welt verbreitet. MUSIKAKZENT Sprecher: Urbanisierung und Industrialisierung ab Mitte des 19. Jahrhunderts bringen neue Seuchen mit sich: In den engen, dunklen, feuchten und meist völlig überfüllten Wohnungen der neu entstehenden Arbeiterviertel grassieren Cholera und Tuberkulose. Hygieniker wie Max von Pettenkofer führen die Cholera in der Tradition der Miasmatiker auf schlechte Bodenverhältnisse zurück - Sozialmediziner wie Rudolf Virchow fordern allgemein bessere Wohnungen, eine Kanalisation und die öffentliche Versorgung mit sauberem Trinkwasser. Jedoch: Sie finden zunehmend weniger Gehör. Es beginnt der Siegeszug der Bakteriologie: 7. O-Ton, "Koch", dt.: (Archiv) "Meine Herren - ich werde Ihnen beweisen, dass die Tuberkulose eine parasitische Krankheit ist. Der von mir entdeckte Erreger, den ich den Tuberkelbazillus nenne, ist die Ursache. In Zukunft wird man es im Kampf gegen diese schreckliche Plage des Menschengeschlechts nicht mehr mit einem undefinierbaren 'Etwas' zu tun haben, sondern mit einem fassbaren Parasiten, dessen Lebensbedingungen bekannt sind." Autorin: Robert Koch - hier dargestellt in einem Film von 1939 - präsentiert 1882 vor der Berliner Physiologischen Gesellschaft das Tuberkelbakterium als Erreger der Schwindsucht, der "Weißen Pest", die zu der Zeit jährlich rund 90.000 Todesopfer fordert. Koch hat dabei mehr zu bieten als eine Theorie: Er kann das Bakterium zeigen! Er hat es sichtbar gemacht, mit den modernsten Mikroskopier-, Färbe- und Fotografiertechniken seiner Zeit. Er hat es erstmals in sogenannter Reinkultur gezüchtet - und mit den gezüchteten Bakterien in Versuchstieren wiederum Tuberkulose erzeugt. Eine Sensation! Wenig später gelingt ihm Ähnliches mit dem Cholera-Erreger. 8. O-Ton, Gradmann, dt.: (9:40) "Die Bakterien wurden damit schnell zu etwas, was man als Verkörperung der Krankheit ansehen konnte. Und diese Vergegenständlichung der Krankheit im Erreger war es, die die Bakteriologie so populär machte." Autorin: Professor Christoph Gradmann, Medizinhistoriker an der Universität Oslo und Autor mehrerer Bücher über Medizin und Bakteriologie im Deutschen Reich. 9. O-Ton, Gradmann, dt.: (12:47, 14:10) "Diese Ursachenbeziehung: das Bakterium ist die notwendige Ursache der Krankheit - das scheint einen Weg zur Bekämpfung der Krankheit zu eröffnen, den die anderen Erklärungen nicht bieten. Wenn sie aber eine notwendige Ursache für die Krankheit haben, dann haben sie die Möglichkeit, den Kranken zu heilen, indem sie den Erreger beseitigen. Sie brauchen ihre Aufmerksamkeit nur noch auf das Bakterium zu fokussieren." Sprecher: Und genau das tut man: 1884 ist der Typhus-Erreger identifiziert, 1894 das Pestbakterium, 1908 der Erreger des Fleckfiebers. Man putzt und impft, man sterilisiert und desinfiziert, man entwickelt Methoden, die Keime in Lebensmitteln abtöten. Man entdeckt die bakterientötende Wirkung bestimmter Schimmelpilze der Gattung Penicillium - und entwickelt in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts die ersten Antibiotika. In atemberaubender Geschwindigkeit verlieren die jahrhundertealten Seuchen ihre Schrecken. MUSIKAKZENT Autorin: Doch je mehr das Bakterium in den Fokus rückt - desto mehr verschwinden der kranke Mensch und seine Lebensumstände aus dem Blick. Der kranke Körper wird - ausgedrückt in der martialischen Sprache des militaristischen Deutschen Kaiserreichs - zum Schlachtfeld. Hier kämpfen die Forscher soldatengleich gegen die feindlichen Heere der Mikroben, die nur ein Ziel haben: den Menschen wie fremdes Territorium zu erobern und zu vernichten. ZITATOR: "...drum scheide ich / das Herrschen war so schön. / Ich will, sind Götter gegen mich / nur kämpfend untergehen. / Drum öffne, Koch, jetzt das Visier! / Wir sind zum Kampf bereit. / Gebührt die Palme Dir ob mir / das lehret erst die Zeit." Autorin: ...singen beispielsweise personifizierte Tuberkel-Bakterien in einem zeitgenössischen Loblied auf Robert Koch. Die Kranken werden nicht mehr als Opfer von Krankheiten wahrgenommen, sondern als Wirte der Erreger. Als Überträger von Seuchen - und Eindringlinge in einen als gesund und rein gedachten Volkskörper. 10. O-Ton, Gradmann, dt.: (19:40, 15:45, 21:37) "Die Bakteriologie denkt sich einen Krankheitsprozess als eine Invasion. Der gesunde Körper ist frei von krankheitserregenden Bakterien und das Eindringen solcher Bakterien führt zur Krankheit. Die Krankheitsabwehr findet an der Körperoberfläche statt. Die Vorstellung der Gefährdung des Deutschen Reiches zum Beispiel durch die Cholera ist ähnlich: Hier wird das Reich als hygienischer Raum gedacht. Die Cholera ist die Geißel aus Asien und ihre Abwehr findet an den Grenzen statt. Nicht zufällig hat man vor dem Ersten Weltkrieg entlang der östlichen Grenzen des Reiches eine Reihe von bakteriologischen Laboratorien errichtet, zur Abwehr von Seuchen, die aus dem Osten eindringen." Sprecher: Zwar hat die Bakteriologie die Vorstellung, wonach Seuchen über Land ziehen und so immer auch "von außen" kommen, nicht begründet. Und auch, dass Kranke ansteckend sein können, weiß man seit der Pest. Aber: die Bakteriologie hebt beide Vorstellungen auf eine neue Grundlage - auf das Niveau der Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts. Von dort wiederum kehren ihre Begriffe schließlich in die Politik zurück: Die Rede vom Feind als Bazillus, vom Menschen als Schädling eines Volkskörpers wird möglich. 11. O-Ton, Sarasin, dt.: (21:58, 8:20) "Das ist das dramatischste an diesem Denkschema der frühen Bakteriologie mit Wirkungen allergrößter Art: Die Identifikation eines Bakteriums mit seinem Träger, mit der sogenannten Rasse dieses Trägers - wenn diese Kette hergestellt wird, dann geht es darum, den eigenen Körper gegen den Eindringling zu schützen. Das ist das, was mit den Juden passiert ist, die im Dritten Reich als Bazillen imaginiert wurden, als krankmachende Fremdkörper im Volkskörper der Deutschen. Und sie kennen die Geschichte, die in Auschwitz geendet hat, wo man bezeichnenderweise die jüdischen Menschen in Gaskammern umbrachte, die als Duschen inszeniert waren. Als Reinigung hat man das verstanden." Autorin: ...sagt der Schweizer Historiker Philipp Sarasin. Die Geschichte der Bekämpfung der Seuchen im ausgehenden 19. Jahrhundert ebnet so zugleich den Weg für die Geschichte der Ausrottung von Menschen im 20. Jahrhundert. 12. O-Ton, Sarasin, dt.: (23:24, 24:09) "Es gibt ähnliche Beispiele aus der Sowjetunion. Also die "Säuberung", die die Partei oder das Vaterland reinigen soll von krankmachenden "Parasiten", "Insekten" usw.. Man spricht seit den Jugoslawienkriegen von "ethnic cleansing". Wiederum: Reinigung, Herstellung von Homogenität, von Nicht-Vermischung. Die Fiktion einer reinen was auch immer: Rasse, Klasse, Volk, Ethnie, Kultur - das ist wirklich des Teufels!" MUSIKAKZENT (zeitgenössisch, auch als Rahmen für Zitat) Sprecher: In den 1950er und 60er Jahren sind viele Mediziner - zumindest in den Industrieländern des Westens - der Ansicht, dass Infektionskrankheiten von epidemischen Ausmaßen der Vergangenheit angehören. 1962 schreibt der australische Immunologe und Medizin- Nobelpreisträger Frank MacFarlane Burnet in seinem Buch "Die Naturgeschichte der Infektionskrankheit": ZITATOR: "Man kann die Mitte des 20. Jahrhunderts als das Ende einer der wichtigsten Revolutionen der Geschichte betrachten: der Eliminierung der Infektionskrankheiten als bedeutenden Einflussfaktor auf das Leben einer Gesellschaft." Autorin: Er irrte. Zwar gelten die Pocken seit 1979 als ausgemerzt. Doch schon seit den 1950er Jahren tauchen weltweit immer wieder unbekannte tödliche Krankheiten auf: Marburg- und Lassa-Fieber, später Ebola, SARS und Vogelgrippe. Endgültig ausgeträumt ist der Traum vom Ende der Seuchen aber spätestens seit 1981. In dem Jahr berichten amerikanische Zentren für Seuchenkontrolle erstmals von einer Krankheit, der sie ein Jahr später den Namen AIDS geben: erworbene Schwäche der Immunabwehr. Aids breitet sich zunächst vor allem unter homosexuellen Männern aus - und entwickelt sich zu den Haupttodesursachen des ausgehenden 20. Jahrhunderts und der Gegenwart. 13. O-Ton, Meurer, dt.: (3:16, 4:00, 25:09) "Das war ein großer Nebel. Wir dachten, das betrifft uns alle nicht. Dann schlug das relativ schnell im näheren Freundeskreis ein und wir merkten, dass die ersten erkrankten und sehr schnell starben. Das sind Zeiten, an die wir uns nur sehr ungern erinnern, weil wir teilweise fünf bis sechs Patienten pro Woche verloren haben. Freunde, Liebhaber, Lebensgefährten, was auch immer." Autorin: Uli Meurer, Vorstand der Berliner Aids-Hilfe, ist einer der ersten, die sich Mitte der 80er Jahre in Deutschland für AIDS-Kranke einsetzen. Unsicherheit und Ablehnung, so erinnert er sich, Ausgrenzung, Stigmatisierung, Schuldzuweisungen, Wut, Hass: das ganze Repertoire an Angst und Irrationaliät, das Seuchen seit Jahrhunderten begleitet, ist auf einmal wieder da: 14. O-Ton, Meurer, dt.: (8:39, 12:00, 18:00, 19:45) "Ich habe Situationen erlebt, in denen Schwestern sich geweigert haben, das Essen in das Krankenzimmer zu bringen. Und Patienten, die schwer krank waren, sich das Essen selber holen mussten, weil sich keiner mehr in dieses Zimmer reintraute. Wir sahen die Häme der Gesellschaft: die Schwulen haben sich das selbst zuzuschreiben, das ist die Strafe Gottes oder was auch da an Fantasien raus kam: Zwangstests der Bevölkerung, Tätowieren - und es gab in der Tat Fantasien, die Infizierten alle zusammenzupacken und die nach Helgoland zu packen." Sprecher: Zum ersten Mal aber organisieren sich die Betroffenen: gründen Hilfsprojekte, gehen an die Öffentlichkeit. Verschaffen sich Wissen. Über die Krankheit, Ansteckung und Vorbeugung. Verbreiten es. Sammeln Geld, spenden Trost. Erzwingen Aufmerksamkeit und Respekt. 15. O-Ton, Meurer, dt.: (15:40, 18:00) "Das war ein ganz langwieriger und schwieriger Prozess, der bis heute nicht abgeschlossen ist. Wir waren schwule Männer, die ja schon eine ganz andere Erfahrung gemacht hatten, eben, sich als Schwuler zu sozialisieren. Was ja in dieser, ich bin Jahrgang 54, Nachkriegsgesellschaft auch nicht so einfach war und aus dieser Diskriminierungserfahrung raus haben wir gekämpft und dann auch reüssiert." Musik Sprecher: Wo aufgeklärt wird, wo Aidskranke und Infizierte sozialen Rückhalt erleben - und nicht zuletzt: wo Geld und ein funktionierendes Gesundheitssystem vorhanden sind - dort sterben weniger Menschen an Aids und weniger infizieren sich neu. Von 2001 bis 2010, schreibt der jüngste Welt-Aids-Bericht, sank die Zahl der Aidstoten in Westeuropa von Zehntausend auf 9.900. In Subsahara-Afrika - eine der am stärksten von Aids betroffenen Gegenden der Welt und Zielregion zahlreicher Aids-Aufklärungskampagnen - gab es 2010 mehr als ein Viertel weniger Neuinfektionen als 1997. In Osteuropa und Zentralasien dagegen hat sich seit 2001 die Infektionsrate verdreifacht, die Zahl der Aidstoten war mehr als zehnmal so hoch. Philipp Sarasin: 16. O-Ton, Sarasin, dt.: (36:28) "Mit Aids ist wirklich eine neue Kultur, ein neues Denken in Bezug auf Infektionskrankheiten gekommen. Ich glaube, es hat sich nicht unbedingt vollständig durchgesetzt. Die Möglichkeit des Rassismus im Zusammenhang mit Infektionskrankheiten ist nicht gebannt, aber Aids hat schon gezeigt, dass wir nur mit Integration, nicht mit Ausschluss, solche Probleme bewältigen können." MUSIKAKZENT Sprecher: Aids zählt heute - neben Malaria und Tuberkulose - zu den "drei großen Weltseuchen", ihre Bekämpfung ist eine der Herausforderungen für Mediziner und Gesundheitsbehörden, Pharmazeuten und Politiker der Gegenwart. Vor allem Tuberkulose gilt seit Anfang der 1990er Jahre wieder als globale Bedrohung. Autorin: In 140 Ländern koordiniert und finanziert seit 2002 ein globaler Fonds einen Großteil der Maßnahmen zur Prävention und Behandlung der drei Krankheiten. Von dem Gedanken, die Seuchen endgültig besiegen zu können, haben sich Epidemiologen und Gesundheitsinstitute dabei verabschiedet. Egal, ob es um gefährliche oder weniger gefährliche, um alte oder neue Erreger geht, sagt der Präsident des Robert-Koch-Instituts, Reinhard Burger: 17. O-Ton, Burger, dt.: (29:30, 20:06, 13:57) "Hier geht's jetzt darum herauszufinden, auf welchen Wegen kommen Erreger in die Menschheit? Wir haben industrielle Lebensmittelproduktion, Megacities mit schlechten hygienischen Bedingungen, wir haben Besiedelungen in Bereiche, die vorher nicht besiedelt waren - wo es zu Kontakt mit tierischen Erregern kommen kann. Es muss ein System bestehen, mit dem man ungewöhnliche Ereignisse frühzeitig erkennt: besondere Häufungen, Verläufe. Und das Ziel ist, Infektionsketten zu erfassen und durch präventive Maßnahmen, Ausbreitung zu verhindern, Übertragungsketten frühzeitig zu unterbrechen." MUSIKAKZENT Sprecher: Kontrolle und Überwachung sind der Preis für einen umfassenden Schutz vor den unsichtbaren Bedrohungen unserer Gesundheit und Unversehrtheit. Der Pestzustand, schreibt der französische Philosoph Michel Foucault in "Überwachen und Strafen", der Zustand in dem die Behörden das gesamte öffentliche Leben reglementieren mit dem Ziel, die Pest einzudämmen - das ist auch der Idealzustand einer Regierung, die nach Kontrolle und Überwachung der Bevölkerung strebt. Philipp Sarasin: 18. O-Ton, Sarasin, dt.: (43:52) "Unter der Voraussetzung: es sind Keime, oder eben auch Terroristen, die unerkannt in einer Gesellschaft für Unruhe sorgen, Krankheiten verbreiten oder sonst eine Gefahr bedeuten. Das sieht man in den USA nach dem 11. September, wo versucht wird, einerseits durch staatliche Kontrollmaßnahmen, andererseits durch die Aufforderungen an die Bürger, sich wechselseitig zu beobachten und alles Nicht-Normale sofort zu melden , eine Gesellschaft zu etablieren, die durch Überwachung sich stabilisiert. Und eine liberale Gesellschaft hat offene Flanken. Da ist nicht alles unter Kontrolle. Insofern ist der Freiheitsgrad des Einzelnen größer. Mit der Gefahr, dass vielleicht auch ein, in Anführungszeichen, Terrorist oder, in Anführungszeichen, ein Bakterium, dann Leib und Leben von Leuten bedroht." ENDE 1