DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Feature Dienstag, 02.09.2008 Redaktion: Karin Beindorff 19.15 - 20.00 Uhr Koranschüler Mein Aufenthalt in einer pakistanischen Madrasa Ein Feature von Christian Brüser Co-Produktion ORF/DLF/WDR URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. ? Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - Madrasa-Atmo & Sound Autor Ich stelle meine Sandalen zu dem Dutzend anderer Schuhe vor der Türe und betrete mit meinem Koffer den Empfangsraum der Koranschule. "asSalam Alaikum" grüße ich "Friede sei mir Dir." "Wa Aleikum Asalam", antwortet man mir gelangweilt "Und mit Dir der Friede. Setz Dich!". Im Empfangszimmer der Dschamia Binoria gibt es keine Stühle. Ich setze mich auf den hellblauen Teppichboden, der nach Fußschweiß stinkt. Briefe und Papiere liegen ungeordnet herum. "Mufti Naeem hat mir vorgestern die Erlaubnis gegeben, hier zu wohnen." Sage ich, als der Mitarbeiter kurz zu mir aufschaut. "Ja, ja, ich weiß." Er telefoniert. Dann nimmt lange niemand mehr Notiz von mir. Sound Zitat Pakistans Kadeschmieden des Extremismus. Mehrere Hundert Koranschulen predigen Hass und bilden gewaltbereite Islamisten aus. Die Presse, 16. Juli 2005 Autor Ich bin sicher, dass Mufti Naeem - oder Mufti Sahib, wie der Rektor hier von allen genannt wird, längst gesehen hat, dass ich angekommen bin. Zwei Tage zuvor war ich in seinem Büro. Er saß im Eck auf dem Boden und blickte immer wieder zu den Bildschirmen der Überwachsungskameras, er beobachtete den bewaffneten Polizisten vor dem Tor, die Unterrichtsräume und wer das Empfangszimmer betritt. Vor drei Jahren wurden zwei Lehrer vor der Madrasa, der Koranschule, erschossen und kurz darauf kamen hier zehn Studenten bei einem Bombenanschlag ums Leben. Vermutlich stecken rivalisierende islamische Gruppen dahinter. Seitdem ergänzt man Gottvertrauen mit ein wenig High Tech. Sound Zitat Verbotene Jihadi-Gruppen, die von einem Netzwerk von Moscheen und Madrasas unterstützt werden, operieren weiterhin offen in Pakistans größter Stadt Karatschi. International Crisis Group, März 2007 Autor Die Dschamia Binoria liegt in einem großen Industriegebiet, inmitten von Textilfabriken und Färbereien. Meterlange Stoffbahnen hängen von Bambusgerüsten. Schutt und Abfall säumen den Straßenrand. Mit geschätzten 20 Millionen Einwohnern ist Karatschi die größte Stadt Pakistans. Glaubt man einem Ranking des Economist, so bieten von 132 untersuchten Städten nur 3 noch weniger Lebensqualität als Karatschi. Sound Zitat Wird es uns gelingen, jeden Tag mehr Terroristen zu fangen, zu töten oder abzuschrecken, als die Madrasas und die radikalen Geistlichen rekrutieren, trainieren und gegen uns einsetzen? Donald Rumsfeld, US-Verteidigungsminister, 16. Oktober 2003 Atmo Gästezimmer, Gesang Thais Autor Ein Bürodiener zeigt mir das Gästezimmer - ein großer Raum mit dunklem Teppichboden und schweren Vorhängen, ein Stapel Matratzen an der Wand. keine Möbel. Einige Thailänder sitzen im Zimmer. Sie werden nachts nach Bangkok fliegen und singen ein Abschiedslied. "Wenn Gott will, kehre ich lebend zurück, doch falls ich sterbe, vergieße keine Träne, sondern denk an mich in Deinem Gebet." Ansage: Koranschüler Mein Aufenthalt in einer pakistanischen Madrasa Ein Feature von Christian Brüser Atmo: Gebetsruf Sprecher Übersetzung - Text Gebetsruf Eilt zum Gebet Eilt zur Seligkeit Eilt zur besten Handlung Autor Ein großer älterer Mann mit Turban, rotem Bart und Brille betritt den Raum. "Musst du Wusu machen?" fragt er mich. "Immer wenn etwas deinen Körper verlassen hat", erklärt er mir, "Urin, Kot oder Luft" bist du nicht mehr im reinen Zustand, der für das Gebet vorgeschrieben ist, und musst dich waschen. Wenn du Sex hattest, musst du den ganzen Körper reinigen." Wichtig sei, sich immer mit dem richtigen Vorsatz zu reinigen, indem man innerlich die Worte spricht: "Ich reinige mich nun für das Gebet!" "Ich habe vorhin im Hotel geduscht," gebe ich zur Antwort, "aber ohne Vorsatz. "Na, gut, du musst dich jetzt nicht waschen, aber denk nächstes Mal an den Vorsatz!" Atmo Gebet Autor "Merk' dir immer, wo du deine Schuhe ablegst." schärft mir der ältere Mann ein. Im Moscheehof stehen mehrere Eisengestelle mit Hunderten von Plastiksandalen. Die Wände der Moschee sind aus weißem Marmor, der Boden aus Stein. Für den Mufti breitet man einen Gebetsteppich aus. Ich stelle mich neben den älteren Mann und folge seinen Bewegungen. Einige Monaten habe ich mich auf diesen Aufenthalt vorbereitet. Bei einer pakistanischen Moschee in Wien habe ich meine Urdu-Kenntnisse aufgefrischt und mich kundig gemacht, wie man sich wäscht und betet. Ich ließ mir einen Bart wachsen, wie es in den Koranschulen Vorschrift ist, und trage wie alle Koranschüler Shalwar-Kamiz, eine Pluderhose und ein knielanges Hemd. Dazu eine weiße gehäkelte Kopfbedeckung. Wenn die Haare frisch gewaschen sind, rutscht sie mir immer vom Kopf, sobald ich mich beim Gebet niederknie. Nach dem Gebet kommt Fahad auf mich zu. Er ist in San Francisco aufgewachsen, doch seine Eltern stammen aus Pakistan. 18 Jahre ist er alt, hat große schöne Augen mit langen Wimpern und trägt einen Turban. Seine Wangen bedeckt ein zarter Flaum. Mit 12 Jahren ist er das erste Mal nach Pakistan gekommen. OT-Ü Fahad 1 (englisch) Ich wollte den Koran auswendig lernen, deshalb bin ich hierher gekommen. Später wollte ich auch den Sinn verstehen. Ich will Alim werden - ein Gelehrter. Autor Innerhalb von zwei Jahren hat Fahad den gesamten Koran auf Arabisch auswendig gelernt. Er darf sich jetzt Hafiz nennen. "Hafiz-e-Koran" bedeutet "Bewahrer des Korans". In San Francisco, erklärt er mir, hätte er das kaum geschafft. OT-Ü Fahad 2 (englisch) Dort hätte ich jeden Tag viele Sünden begangen. Was, wenn ich etwas mit einem Mädchen angefangen hätte? Das ist im Islam wirkliche eine schwere Sünde. Allah bewahre mich! Ich hätte das dort auf alle Fälle gemacht. Jeder macht das dort. Manche Mädchen werden schon in der High School schwanger, mit 16 oder noch früher. Dann schickt man sie auf eine andere Schule. Hier kann ich den Islam lernen und lernen, was Allah von mir will. Ich kann lernen, was ich auf dieser Welt tun soll. Atmo Hof Autor Die Koranschule besteht aus mehreren, auf einem verwinkelten Grundstück verstreuten Gebäuden. Immer wenn genügend Spenden eingehen, wird gebaut. Auf den freien Flächen lagert Abfall und Bauschutt, dazwischen kämpfen ein paar halbvertrocknete Palmen mit Hitze und Staub. 4300 Studenten und Schüler studieren an der Dschamia Binoria. 3000 sind im Neubau untergebracht, einer Art Wohnanlage mit Klassenzimmern im Erdgeschoss und Schlafsälen für jeweils 20 Studenten in den Stockwerken darüber. Für die 1000 Mädchen gibt es ein eigenes Gebäude - ein bunkerartiger Betonbau mit kleinen Fenstern. Für mich ist dieser Bereich tabu. Ich wohne im ältesten Teil, der sich um eine kleine Moschee mit ihrem Vorplatz gruppiert. Neben dem Verwaltungstrakt mit Büros und dem Gästezimmer finden sich hier weitere Klassenzimmer und Schlafsäle. Man nennt diesen Teil "Ausländer- Abteilung". Von den 300 Studenten, die hier leben, kommt etwa die Hälfte aus dem Ausland. Aus Thailand, Malaysia, Burma, Sri Lanka, Bangladesch, aus Kasachstan, Tadschikistan, Afghanistan, Turkmenistan, Niger, Nigeria, von den Fidschi-Inseln und aus den USA. Unterrichtet wird auf Urdu der Staatssprache Pakistans und Arabisch. Wie an allen Koranschulen sind Unterricht, Unterkunft und Verpflegung kostenlos. Nur die Ausländer bezahlen 50 Dollar pro Monat. Atmo Abendessen Fahad begleitet mich zum Abendessen in einen dunklen Gang mit zwei langen Tischreihen. Die Tische sind nur 20 Zentimeter hoch. Links und rechts davon sitzen die Studenten auf einem löchrigen PVC-Belag. Fahad holt einen Teller Linsen von der Essensausgabe und einige Fladen, die er einfach auf den Tisch legt. "Macht es dir etwas aus, mit mir aus einem Teller zu essen?" fragt er mich. Auch der Prophet habe stets mit seinen Gefährten von einem Teller gegessen. Mit den Händen tauchen wir die Fladenstücke in die Linsen. Auf dem Tisch stehen Wasserkrüge und Blechbecher. Ein Becher wird jeweils von einem Dutzend Studenten gemeinsam benützt. Sound Zitat Nicht alle Madrasas der Stadt sind aktive Zentren des Dschihad, doch selbst jene ohne direkte Verbindung zu Gewalt, fördern die Ideologie, die solchen Anschlägen die religiöse Rechtfertigung bietet. Karatschis schnelles, ungeplantes und unreguliertes Wachstum, das Massen von jungen, unzufriedenen und verarmten Bewohnern hervorbringt, bildet den Nährboden für den Madrasa-Sektor, der in den letzten beiden Jahrzehnten explosionsartig gewachsen ist. International Crisis Group, März 2007 Autor Offiziell registriert sind in Pakistan etwa 12 000 Koranschulen mit mehr als 1,5 Millionen Studenten. Davon ein Drittel Mädchen. Während des Krieges der Mujaheddin gegen die Sowjetunion in Afghanistan waren es vor allem die Deobandi-Madrasas, die von den USA und dem pakistanischen Geheimdienst großzügig gefördert wurden. Die Führungsspitze der Taliban hat an Deobandi-Madrasas in Pakistan studiert. Mit 4000 Madrasas dominieren sie heute das religiöse Bildungssystem in Pakistan. Der International Crisis Group-Bericht nennt vier Deobandi-Madrasas, die besonders zur Förderung der Gewalt beitragen sollen. Eine davon ist die Dschamia Binoria. Atmo Hifz-Klasse Autor Gleich nach dem Frühstück um halb Sieben beginnen die Kinder mit dem Auswendiglernen des Korans. Auf der Galerie der Moschee sitzen sie in Gruppen um ihre Lehrer herum. Vor sich haben sie kleine Eisengestelle. Sie sollen das verehrte Buch weder in der Hand halten noch auf den Boden legen. Die jüngsten Kinder sind 5, 6 Jahre alt, die ältesten etwa 16. OT-Ü Kinder, etwas durcheinander Ich bin Murtaza. Ich bin 8 Jahre alt, das da ist mein Bruder. Es gefällt uns gut hier. Das Lernen ist ganz leicht. Der Lehrer ist gut. Ab und zu schlägt er uns, wenn wir uns etwas nicht merken. Ich heiße Salman, ich wohne hier in der Madrasa. Meine Eltern wohnen auch hier. Autor Ein Teil der Kinder lebt im Internat. Der Rest wohnt mit den Eltern auf dem Madrasa- Campus oder in der Nachbarschaft. Einige Kinder schaffen es, in zwei bis vier Jahren den gesamten Koran auswendig zu lernen. Immer und immer wieder lesen sie den jeweiligen Abschnitt. Den Sinn des Textes verstehen sie nicht. Dazu müssen sie später Arabisch lernen. Atmo Kind rezitiert Autor Als ich die Kinder verlasse, beobachte ich durch die Tür, wie ein Lehrer einem Burschen die Ohren lang zieht und kräftige Schläge auf Kopf und Rücken verpasst. Als ich Fahad später davon erzähle, meint er: "Ach, das ist gar nichts. Wenn einer nicht ordentlich lernt, muss der Lehrer ihn ein bisschen schlagen." Der Bub kauert leidend am Boden, der Lehrer spielt mit dem Handy. Atmo Gebetsruf Mittagsgebet und Waschen Autor Vor dem Mittags-Gebet um 14 Uhr herrscht immer besonderer Andrang beim Waschen. Seit 5 Uhr Morgens waren alle irgendwann auf der Toilette und haben sich dadurch verunreinigt. Ich habe mir angewöhnt, mich vor jedem Gebet zu waschen - egal ob ich nun unrein bin oder nicht. Es ist sehr erfrischend. Neben der Moschee befindet sich eine lange Reihe mit Wasserhähnen und gemauerten Sitzgelegenheiten, so dass man leicht seine Füße waschen kann. In den ersten Tagen schiele ich immer verstohlen zu meinen Waschnachbarn, um nichts zu vergessen. Man beginnt mit den Händen, spült den Mund, die Nase, wäscht das Gesicht, die Arme, erst rechts dann links, fährt sich mit den nassen Händen über die Haare und reinigt die Ohren. Zum Schluss wäscht man sich die Füße und ist für das Gebet bereit. Einige Studenten bestreichen sich auf dem Weg in die Moschee mit Parfüm. Atmo Beten Autor Rund 400 Personen fasst die Moschee. Am anderen Ende des Campus bietet eine zweite Moschee mehreren Tausend Betern Platz. Atmo Zum Gebet stellen wir uns Schulter an Schulter auf. Die Abfolge von Verbeugungen und Niederwerfungen ist immer gleich, nur die Anzahl variiert von Gebetszeit zu Gebetszeit. Atmo Nouman bringt mir die Gebete bei Autor Ich habe mich mit Nouman angefreundet. Er ist 26 und kommt aus Peschawar im Norden von Pakistan. Wie die meisten Paschtunen ist er ziemlich groß. Er hat ein freundliches Gesicht. Sein Vater, erzählt er mir, sei Manager in einer Fabrik. Ich habe ihn gebeten, mir die arabischen Gebetstexte beizubringen, die jeder Moslem lernen muss. Es ist genau vorgeschrieben, welche Worte man spricht, wenn man sich verbeugt, sich niederwirft oder hinkniet. Nouman betet dafür, dass ich Moslem werde, denn er würde mich gerne im Paradies wiedersehen. OT-Ü Nouman (Urdu, gelegentlich Englisch) Wenn ein Moslem sündigt, wird ihn Allah dafür zur Rechenschaft ziehen. Aber letztlich wird er ins Paradies eingehen, weil er das Glaubensbekenntnis gesprochen hat. Die Ungläubigen hingegen werden in die Hölle kommen, selbst wenn sie Gutes getan haben, wenn sie Krankenhäuser oder Schulen gebaut haben. Den Lohn dafür haben sie bereits in diesem Leben erhalten. In der Ewigkeit haben sie nichts davon. Atmo Hifz-Klasse Erzähler Abends gehe ich in noch einmal zu den Kindern, um mir in der school den Englisch- Unterricht anzusehen. Als mich der Lehrer im hintersten Eck erblickt, nimmt er ein Blatt Papier und schreibt auf Englisch. "I have hearing problems - Ich habe Probleme mit dem Hören. Bitte schreiben Sie auf, was Sie möchten!? "Sorry for the disturbance!? schreibe ich. Ich möchte wissen, ob die Kinder hier in Englisch unterrichtet werden. "Ich unterrichte Englisch" schreibt der schwerhörige Lehrer. Die Schüler schauen unserer Zettel-Konversation fasziniert zu. Sie zeigen mir ihre Englisch-Hefte, in die sie mit unbeholfener Schrift Sätze kopiert haben. Sprechen lernen sie hier nicht. Atmo auf der Dachterrasse Autor Nachts sitze ich mit Karimullah auf der Dachterrasse. Eine leichte Brise verschafft uns etwas Kühle. Der Mond kämpft mit dem Smog der Stadt. Karimullah kommt aus den Bergen im Norden des Landes und arbeitet hier als Hausmeister. Er trägt einen eindrucksvollen schwarzen Vollbart, nur um den Mund hat er sich rasiert. Jedes Mal wenn er mich sieht, preist er die Vorzüge des Islam. Die einzigen, die auch als Nicht- Muslime ins Paradies kämen, seien Kinder unter 15 Jahren. Aber sie müssten dort auf einer niedrigen Stufe stehen. Die Flugzeuge der pakistanischen Armee lenken unser Gespräch auf die Themen Krieg und Terrorismus. OT-O Karimullah (Urdu) Ein Moslem, der einen anderen Moslem tötet, wird auf ewig in die Hölle kommen. Sie als unser Gast stehen unter unserem besonderen Schutz. Allah hat uns aufgetragen, unsere Gäste zu schützen und ihnen zu essen zu geben. Der Islam gibt nicht die Erlaubnis, irgendjemanden zu töten. Wer das macht, steht außerhalb des Islam. Sagt es auch auf Englisch: "which people kill to other people - no Muslim!? Atmo Koranunterricht der 3. Klasse. Autor Maulana Abdur Raziq, ein ruhiger, introvertierter Lehrer, gibt im dritten Studienjahr Koranunterricht: Er lässt einen Abschnitt auf Arabisch vortragen, anschließend liest er die Urdu-Übersetzung vor und erklärt sie. Kaum jemand stellt Fragen. Der Lehrer hat es sich auf seinem Podest mit weichen Kissen bequem gemacht, die Studenten sitzen vor ihren Schreibpulten auf dem Boden. Die meisten haben sich Teppiche mitgebracht. Stets überlassen sie mir eine Sitzgelegenheit. Nach einigen Tagen auf dem Boden schmerzen meine Knie und Füße. Das Studium dauert acht Jahre. Danach darf man sich Maulana oder Mullah nennen. Wer sich weitere zwei Jahre spezialisiert, zum Beispiel auf islamisches Recht, erhält den Titel Mufti. Atmo Hassan Autor Nach der Stunde bleibt Hassan im Zimmer zurück, um für den nächsten Lehrer die Lautsprecheranlage vorzubereiten. Er ist 16 Jahre alt, wirkt mit seinem zarten Körper jedoch jünger. Hassan OT-Ü (englisch) Koran ist meine Lieblingsstunde. Es ist jeden Tag interessant. Heute hat der Lehrer über Joseph und seine Vorfahren gesprochen. Jeden Tag erklärt er uns einen kleinen Abschnitt des Korans. Autor Hassan kommt aus Sri Lanka. Nach dem Studium will er an einer Madrasa unterrichten. Ich möchte von ihm wissen, wie er die knappe Freizeit verbringt. Hassan OT-Ü (englisch) Die Lehrer haben gesagt, wir sollen nicht Fernsehen. Es ist nicht gut. Wir haben auch keinen Fernseher zuhause. Autor Haben die Lehrer erklärt, warum Fernsehen nicht gut ist? Hassan OT-Ü (englisch) Im Islam soll man außer seiner Mutter oder seiner Schwester keine Frauen ansehen, das ist nicht gut für einen. Und im Fernsehen sieht man dauernd Frauen. Außerdem gibt es da nichts, was für uns wichtig wäre. Die Nachrichten können wir uns auch im Radio anhören. Autor Radiohören ist also ok? Hassan OT-Ü (englisch) Radio ist ok, aber Musik dürfen wir da auch nicht hören. Autor Und Zeitungen? Hassan OT-Ü (englisch) Wenn man nur die Nachrichten liest, ist es in Ordnung, aber man darf sich nicht die Bilder anschauen. Autor Haben eure Lehrer begründet, warum man keine Bilder ansehen soll und keine Frauen? Hassan OT-Ü (englisch) Der Islam sagt, man soll sie nicht ansehen. Das genügt. Autor Also keine Erklärung. Hassan OT-Ü (englisch) Nein, wenn es heißt, der Islam verlangt das, dann brauchen wir keine Erklärung. Wenn der Prophet gesagt hat, wir sollen etwas nicht ansehen, dann muss etwas dahinter sein. Selbst wenn wir es nicht verstehen. Atmo Handy-"Musik" Autor Fast alle Studenten haben ein Handy. Eifrig werden mp3-files getauscht oder aus dem Internet heruntergeladen. Das ist erlaubt, denn die rhythmischen Lobgesänge auf Allah und seinen Propheten gelten nicht als Musik. Atmo Im Unterricht bei Fahad Autor Fahad, der Student aus San Francisco, nimmt mich mit in seine Klasse. Alle Studenten stehen auf und reichen mir die Hand. In den Pausen verlässt manchmal einer den Raum, um nach 10 Minuten mit Keksen und Cola wiederzukommen, die er in einem der kleinen Läden außerhalb der Madrasa gekauft hat, und nun mir, dem Gast, anbietet. Oft wollen die Studenten mir sogar meine Sandalen tragen oder meinen Rucksack. Der Lehrer lässt auf sich warten. Der Schwerpunkt des Studiums liegt auf dem Koran und dem Hadith, den Überlieferungen der Taten und Aussprüche des Propheten. Aus diesen beiden Quellen leiten die Gelehrten für jede Lebenssituation ab, was erlaubt und was verboten ist. Für Fahad steht jetzt das Buch Quduri auf dem Programm - ein Standardwerk des islamischen Rechts aus dem 11. Jahrhundert. OT-Ü Fahad (englisch) blättert dabei im Buch Wir lernen darin alles, was im Islam wichtig ist. ZUM BEISPIEL welches Wasser als rein gilt oder wie viel Wasser man aus einem Tank schöpfen soll, wenn eine Ratte hineingefallen ist. Hier ist ein Abschnitt über den Gebetsruf, dann einer über das Gebet. In diesem Teil geht es um die Almosengabe. Wenn man 200 Kamele hat, soll man 4 Kamele den Armen geben. Der Islam ist doch wirklich einfach! Autor Mit einer halben Stunde Verspätung kommt der Lehrer. Er lässt Tee für mich bringen. Im Unterricht erörtert er die Frage, wie man sich verhalten soll, wenn man mit einer Pilger-Karawane nach Mekka unterwegs ist und von Räubern überfallen wird. Der Lehrer räumt ein, dass das heutzutage eher selten vorkommt, aber man könne die Vorschriften auch anwenden, falls man im Flugzeug nach Mekka unterwegs ist und das Flugzeug entführt wird. Man soll dann einen Bekannten per Handy beauftragen, ein Schaf für einen zu schlachten und die Pilgerfahrt möglichst im nächsten Jahr nachholen. Atmo Gebetsruf Autor Als ich aus der Klasse komme, sind meine Sandalen gestohlen. Nach dem Nachmittagsgebet versammelt sich eine Gruppe Studenten um den Vater von Mufti Sahib, der in der Moschee an einer Säule lehnt. Er lässt auch mich hinzu rufen. 80 Jahre ist er alt, hat einen weißen Bart, einen gebeugten Rücken, eine Hakennase und wässrige Augen. Ein Bürodiener hat ihm ein Kissen zwischen Rücken und Säule geklemmt und massiert nun die Beine des alten Mannes. OT-Ü Kazi Abdul Haleem, Vater von Mufti (Urdu) Ein Autokonstrukteur kennt das Auto, das er entworfen hat, am besten. In die Gebrauchsanweisung schreibt er, wo man Benzin einfüllen soll, wo Öl oder Wasser. Wenn man sich nun denkt: "Mit meinem Auto kann ich machen, was ich will!" und dort, wo Benzin rein soll, Wasser hineinschüttet, wird das Auto nicht fahren. Genauso ist es mit den Menschen: Allah hat sie erschaffen und er sorgt für Essen und Trinken. Aber er hat dem Menschen auch Vorschriften gegeben. Wir sollen fünf Mal am Tag beten, fasten, Almosen geben und die Pilgerfahrt machen. Allah hat uns nur das vorgeschrieben, was wir auch erfüllen können. Er überfordert uns nicht. Allah weiß genau, was Menschen vermögen. Er weiß alles. Autor Predigten wie diese haben nichts mit dem Lehrplan zu tun, sondern sind Teil der Aktivitäten einer innerislamischen Missionsbewegung, die sich Tablighi-Jamaat nennt, zu deutsch "Predigervereinigung". Es die größte globale Erweckungsbewegung des Islam mit geschätzten 15-20 Millionen Anhängern. Atmo Predigtgang mit Tabligh-e-Jamaat Autor Viele Studenten widmen ihre gesamte Freizeit der Predigervereinigung. Dreimal am Tag versammeln sie sich zum Vortrag und zwischen dem Nachmittags- und dem Abendgebet, während andere Studenten Kricket oder Fußball spielen, gehen sie auf die Straße, um dort Passanten zu predigen. Mir fällt auf, dass viele Menschen die Predigt eher über sich ergehen lassen, als aufmerksam zuzuhören. "Weißt Du, " erklären mir mehrere Studenten mit den gleichen Worten, "es geht gar nicht um die anderen. Das eigene Ohr ist der Zunge am nächsten. In dem wir anderen predigen, stärken wir als erstes unseren eigenen Glauben!" Atmo Unterricht bei Maulana Abdul Hazarwi, etwas aus der Distanz Autor Maulana Abdul Hazarwi ist ein Hitzkopf. Obwohl Mufti Sahib in der Madrasa politische Diskussionen verboten hat, liebt es der Lehrer, mit politischen Äußerungen zu provozieren. Als er mich in einer der hinteren Reihen erblickt, kann er sich eine Frage nicht verkneifen. "Wer sind die Terroristen - die Moslems oder die Amerikaner?" Die Antwort gibt er gleich selbst. "Die Amerikaner! Im Irak bringen sie 100 000de Menschen um. Und warum sind die Amerikaner in Afghanistan? Da gibt es keine Bodenschätze! Nichts, nicht einmal eine Eisenbahn gibt's dort. Warum führen sie also dort Krieg? Wegen der Religion! Wenn man angegriffen wird, hat man die Pflicht, sich zu verteidigen. Aber diese Studenten hier sind viel zu schwach für den Jihad. Sie können nicht kämpfen." Einige Tage später besuche ich ihn beim Unterricht des letzten Jahrgangs. Er behandelt die Strafen bei Diebstahl. OT-Ü Maulana Abdul Hazarwi Wenn jemand das erste Mal stiehlt, soll man ihm die rechte Hand abhacken. Wenn er wieder stiehlt, den linken Knöchel. Und wenn er es dann noch einmal macht, soll man ihn ins Gefängnis stecken, wo er sterben soll. Autor "Wird das in Pakistan angewandt?" frage ich den Maulana. OT-Ü Maulana Abdul Hazarwi (ärgerlich) Nein, ich rede auch nicht über Pakistan, sondern über den Islam. (verächtlich) Was ist denn schon Pakistan? Wir bräuchten eine islamische Regierung. Aber unsere Regierung ist schon so von Europa beeinflusst, dass zu Europa kaum noch ein Unterschied besteht. Autor Wollen Sie, dass diese Strafen eingeführt werden? OT-Ü Maulana Abdul Hazarwi Es geht nicht darum, was ich will. Unsere Religion sagt, dass es so sein soll, und fertig. Oder gefällt es ihnen, wenn jemand stiehlt? Atmo Im Gästezimmer OT-Ü Nouman (Urdu, gelegentlich Englisch) Im Islam ist die Frau wie eine Prinzessin. Sie muss sich nicht um den Lebensunterhalt kümmern. Allah hat die Frau schwach gemacht und den Mann stark. Der Mann ist der Beschützer der Frau. Autor Mit Nouman führe ich lange Gespräche. Immer wieder kommen wir auf das Thema Frauen und Männer zu sprechen. Ich erzähle Nouman, dass viele Frauen in Europa sich ihren eigenen Lebensunterhalt verdienen möchten und nicht von einem Beschützer abhängig sein wollen. OT-Ü Nouman (Urdu, gelegentlich Englisch) Der Islam gibt den Frauen die Erlaubnis zu arbeiten, wenn es im islamischen Umfeld geschieht. Als Frauenärztin oder Lehrerin zum Beispiel darf eine Frau arbeiten. Autor Dass Männer und Frauen zusammen in einem Büro arbeiten, sei aber verboten. OT-Ü Nouman (Urdu, gelegentlich Englisch) Der Teufel liegt stets auf der Lauer. Wenn ein Mann und eine Frau zusammen sind und kein anderer dabei ist, dann sagt der Teufel: "Ich bin zur Stelle. Und ich werde dafür sorgen, dass sie das machen, was sie nicht beabsichtigen." Der Prophet hat gesagt, für Moslems ist diese Welt wie ein Gefängnis, für die Ungläubigen jedoch wie ein Paradiesgarten. Wenn wir unser Leben nach den Gesetzen Allahs führen, wird Allah für uns nach dem Tod reichen Lohn bereithalten. Der Lohn wird so groß sein, wie es noch kein Verstand erdacht, kein Auge je gesehen, kein Ohr je gehört hat. Atmo Kinder Koranrezitation Autor Nach dem Abendgebet kommen die Kinder zu mir in den Moscheehof. Sie führen vor, was sie gelernt haben, und plaudern ein wenig. OT-Ü Kinder 2 In der Madrasa gefällt uns alles, das Lernen, das Essen und unsere Lehrer. Wir möchten auch Gelehrte werden. Ich möchte Mudschahid werden, dann werde ich sterben und Märtyrer sein. Außerdem möchte ich Karate lernen. Autor Warum willst Du denn Märtyrer werden? Kinder 2 Dann kommen wir ins Paradies. Dort kann man den ganzen Tag unter einem schattigen Baum sitzen und Mangos essen. Kinder 2 Hamidullah Inshallah werde ich Mujahid. Ich werde die Ungläubigen töten und Märtyrer werden. Die Hindus werde ich töten, weil sie nicht zu Allah beten. Sie verbrennen den Koran. Sie kommen in die Hölle. Alle, die nicht beten und nicht an Allah glauben, kommen in die Hölle. Atmo Nachtgebet Autor Später frage ich Fahad aus San Francisco, ob er glaubt, dass Madrasa-Absolventen, die jahrelang Respekt, Disziplin und Gehorsam trainiert haben, in ihrer Loyalität missbraucht werden könnten, indem man sie zum Beispiel nach Kaschmir schickt. OT-Ü Fahad 2 (englisch) Die Leute, die dort kämpfen, haben nicht hier studiert. Sie sind nicht einmal Hafiz oder Alim, dort kann jeder kämpfen, auch du, wenn du magst. Von hier aus geht dort niemand hin. Wenn Mufti Sahib das herausfindet, muss der Student die Madrasa verlassen. Atmo Zimmer Autor Ich bin gerade beim Tagebuchschreiben, als drei Männer ins Gästezimmer kommen. Sie schalten den Ventilator auf höchste Stufe und setzen sich zu mir auf den Boden. Erst sitzen sie ein Weilchen nur so herum. Ob sie sich mit jemandem hier verabredet haben? Dann beginnt einer zu sprechen. OT-Ü Zia-ur Rahman Sie sind jetzt in einer sehr geeigneten Umgebung. Denken sie nicht weiter über den Islam nach. Ob Allah ihnen noch einmal so eine Chance gibt, ist ungewiss. Wir wollen, dass sie sich jetzt für den Islam entscheiden. Wer weiß schon, wann der Tod kommt? Autor Nun ergreift der zweite das Wort: Ich solle mich durch das Verhalten vieler Moslems nicht vom Islam abschrecken lassen. O-Ü zweiter Mann Ich bin Moslem, aber wenn Sie mich anschauen, werden Sie kein Moslem werden. Sie müssen auf den Propheten und seine Gefährten sehen. Autor Schließlich legt sich der Dritte ins Zeug. Er arbeitet in der Textilfabrik gegenüber. Alle drei sind Mitglieder der Predigervereinigung. OT-Ü Tariq Jamil Ich habe eine spezielle Bitte an Sie: Sprechen Sie einfach das Glaubensbekenntnis und gehen Sie dann vier Monate auf Predigttour. Das wird Ihr Herz und Ihr Hirn verwandeln. Autor Ich bin erleichtert, als der Bekehrungsversuch sein Ende findet, und gehe müde zu Bett. Doch ich finde keinen Schlaf. An den Armen, der Hüfte, am Rücken überall juckt es mich. Wanzenbisse. Atmo Autor Nach dem Morgengebet bin ich so müde, dass ich mich wieder hinlege. Die Wanzen schlafen jetzt auch. Um 8.02 Uhr weckt mich mein Handy, eine SMS: Zitat Diejenigen aber, welche Unsere Botschaft als Lüge behandeln, werden wir Schritt für Schritt zu ihrem Untergang führen, ohne dass sie dessen bewusst sind. Sure 7, Vers 182 Autor Soll das eine Drohung sein? Eine Warnung? Die SMS stammt von Majid Mehmood, einem Freund von Nouman. Nach zwei Wochen in der Koranschule packe ich meinen Koffer. Als ich mich von Fahad verabschiede, kommen wir noch einmal auf das Paradies zu sprechen. OT-Ü Fahad 3 (englisch) Dort gibt es Flüsse aus Milch, Honig und reinem Wein. Und Allah hält Frauen für uns bereit. Würde eine von ihnen auf diese Welt spucken, so würde alles Wasser der Erde süß werden. Und wenn eine ihr Nagelbett zeigt, erblasst die Sonne, so weiß und strahlend ist es. Autor Noch etwas fasziniert Fahad am Paradies. OT-Ü Fahad 3 (englisch) Man stirbt dort nicht. Es gibt noch viele andere Sachen. Ein Apfel hat 70 verschiedene Geschmäcker und die Weintrauben sind so groß wie Melonen. Man frühstückt 50 oder 80 Jahre lang, dann steigt nur ein süßer Rülpser auf und alles ist verdaut. Aber da ist noch etwas, warum ich hier bin: Wenn jemand wie ich ein Háfiz, ein Bewahrer des Korans ist, zu dem wird Allah am Tage des Gerichts sagen: rezitiere den Koran! Für jeden Vers darf man im Himmel eine Stufe höher hinauf steigen. Der Koran hat etwa 6000 Verse. Wenn man den ganzen Koran gelernt hat, darf man ganz hinauf steigen und steht dann nur eine Stufe unterhalb des Propheten. Die Eltern eines Kindes, das den Koran auswendig kann, bekommen Kronen aufgesetzt, die heller scheinen als die Sonne. Ich bin manchmal sehr stolz, dass Allah mich hierher geführt hat, mich, und nicht etwa meine Brüder! Das ist eine große Ehre für mich. Und das Größte ist, dass wir im Paradies Allah sehen werden. Absage: Koranschüler Mein Aufenthalt in einer pakistanischen Madrasa Ein Feature von Christian Brüser Autor Als ich mein Aufnahmegerät einpacke, deutet Fahad auf die Aussteuerungsanzeige und fragt mich: "Zeigt dies an, ob ich die Wahrheit spreche?" Gesprochen haben Otto Clemens, Detlev Eckstein, Leon Mühlegger und der Autor. Redaktion: Elisabeth Stratka Sie hörten eine Gemeinschaftsproduktion des ORF mit dem Westdeutschen Rundfunk und dem Deutschlandfunk 2008. 21