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Auf dem Tisch, gleich neben dem Fenster liegen Fotos und ein Handy bereit, die Mutter möchte zeigen, was die fünfjährige Tochter schon kann. Pia* ist noch im Kindergarten. Atmo Mutter/Pia ... Ein kleines Äffchen sitzt jetzt auf dem Baum. Ein kleines Äffchen sitzt jetzt auf dem Baum. Ärgert es ein Krokodil: Du bist so faul, mit deinem großen Maul... Autorin: Der Handyfilm zeigt ein blondes zierliches Mädchen, das einen Kinderreim aufsagt. Pia dreht ihren Körper hin und her, ihre Hände ziehen dabei am Rock, so dass er an den Seiten auseinandersteht. Das sieht ganz schüchtern und brav aus, meint Mutter Lisa lächelnd. Doch Pia kann auch anders: Lisa Schmidt: Sie hat auch Wutausbrüche, wenn wir jetzt beispielsweise im Supermarkt sind und sie hat so einen Wutausbruch, ist es natürlich immer so, dass die Leute gucken. Pia lässt sich sehr schwer beruhigen, schmeißt sich dann auf dem Boden. Reden bringt dann bei ihr sehr wenig oder sie weist dann auch diesen Körperkontakt ab, wenn ich sie dann in den Arm nehmen will. Sie möchte es nicht. Autorin: So eine Szene im Supermarkt hat sicherlich jeder schon erlebt. Genervt dreht man sich weg, zweifelt an der Erziehungskompetenz der Mutter, ist peinlich berührt. Lisa Schmidt: Man bekommt dann auch oft Kommentare, beispielsweise: Möchten Sie das Kind nicht einmal beruhigen? Solche Situationen sind immer schwierig. Aber mittlerweile nehme ich das gar nicht mehr so wahr, dass die Leute dann gerade gucken. Ich kenne Pia so, sie ist so und in dem Moment konzentriere ich mich nur noch darauf, die Situation irgendwie wieder ins Reine zu bringen. Autorin: Das kleine Mädchen verhält sich oft sonderbar und extrem anders als Gleichaltrige. Es ist krank und seine Mutter sagt: Lisa Schmidt: Ja, ich bin schuld an Pias Erkrankung. Autorin: Pia leidet am Fetalen Alkoholsyndrom, kurz FAS. Lisa Schmidt: (stöhnt) Ich habe schon Hochprozentiges getrunken, sprich Wodka, Schnaps halt, und wie oft, ist schwer zu sagen. Jedes Wochenende, nachher jeden Tag- also das war sehr unterschiedlich. Je nachdem, wann dann auch Geld da war. Ich habe getrunken und habe gedacht: Haste jetzt Mist gemacht. Was genau dann mit meinem Kind passieren kann, oder wie es sich auch später entwickeln kann, was es für Schäden haben könnte, war mir so nicht bewusst. Autorin: Ethanol, so der chemische Begriff für den Trinkalkohol, ist leicht plazentagängig. Alles, was die Schwangere an "Muntermachern und Stimmungsaufhellern" in sich hineingoss, gelangte direkt über den Blutkreislauf zu der noch ungeborenen Tochter und hat so das Gehirn von Pia irreparabel geschädigt, erklärt Reinhold Feldmann. Der Psychologe ist Experte für FASD, so die internationale Bezeichnung für alle mit dem fetalen Alkoholsyndrom verbundenen Störungen. Feldmann: Alkohol ist ein Zellgift. In allen Zeiten der Schwangerschaft entstehen und wachsen Organe und Alkohol als Zellgift kann zu jederzeit angreifen. In der frühen Schwangerschaft entstehen Augen, Mund, Nase, das gesamte Gesicht, die Ohren und wenn da Alkohol der Fall war, sieht man es am deutlichsten beim Kind im Gesicht. Im weiteren Verlauf der Schwangerschaft wächst aber vor allem das Gehirn sehr stark und wenn ein Zellgift dazukommt, dann ist dieses Organ besonders stark betroffen. Autorin: Pia hat das typische Aussehen eines FAS-Kindes: kleiner Kopf, schmale Oberlippe, das Philtrum, die kleine Falte zwischen Nase und Mund fehlt. Ihre Augen sind kleiner, etwas schräger und haben eine Falte im Augenwinkel. Nicht jedes alkoholgeschädigte Kind muss so aussehen, also ein Vollbild der Erkrankung zeigen. Feldmann: Bei den meisten Kindern und Jugendlichen sind diese körperlichen Anzeichen meistens sogar sehr gering, sodass man erst einmal gar nicht denkt, dass da ein Mensch ist, der in der Schwangerschaft vergiftet wurde. Aber es gibt noch andere Folgen: das sind eben die im Verhalten und die sind deutlich belastender als das veränderte Aussehen. Atmo (Gespräch zwischen Mutter, Vater, Tina* und Autorin) Tina: ... Guck mal, macht... Autorin: Zeig mal. Sind das Tintenflecke? Tina: Nein, Nuni gemacht ... Autorin: Deine Hand ist viel kleiner als meine. Guck mal. Ich habe eine große Hand... Tina: Papa hat auch so eine ... Autorin: Zu Gast bei Familie Kopf. Gabrielle und Tino haben vier eigene Kinder großgezogen, kümmern sich nun um drei Pflegekinder. Sowohl die 7-jährige Tina*als auch die 17- jährige Paula* haben FASD. Atmo Paula Hallo, hallo. Guten Tag. Darf ich Du sagen...hier setz Dich... Autorin: Paula war schon als Kleinkind furchtbar zappelig, konnte einfach nicht stillsitzen, sich nicht konzentrieren. Als Paula 3 Jahre alt war, wurde die Diagnose ADHS gestellt. Reinhold Feldmann kennt das. Kinder, denen man die Alkoholschädigung rein äußerlich nicht gleich ansieht, bekommen öfter diese Diagnose. Feldmann: Bei diesen Kindern ist es so, dass sie häufig Vordiagnosen haben: die heißen Autismus oder ADHS, also Aufmerksamkeitsstörung oder auch Bindungsstörung. Die Eltern oder meistens sind es Pflege-oder Adoptiveltern merken allerdings recht schnell, dass das nicht sein kann, dass das vielleicht doch nicht die Diagnose ist, zumal die Therapieformen, die dann gewählt werden, nicht wirksam sind. Autorin: So war es auch bei Paula, sie nahm Medikamente, doch geholfen haben die nicht. Ebenso wenig wie pädagogische Maßnahmen, die bei anderen Kindern durchaus Wirkung zeigen. Ein hohes Frustpotential entsteht, auf beiden Seiten. Gabrielle Kopf: Bevor ich die Diagnose hatte, da habe ich manchmal gedacht, was machst du denn falsch? Du hast doch deine großgezogen und du hast auch mit anderen Kindern zu tun gehabt und Mensch, was machst du falsch? Und wenn man weiß, was die Kinder haben, wie man damit umgehen sollte, muss, dann ist vieles schon leichter. Feldmann: Diese Kinder machen immer wieder den gleichen Mist, den gleichen Unsinn und fallen damit ganz unangenehm auf als schwererziehbar, weil man denkt, das machen die absichtlich. Die Alkoholschädigung führt aber dazu, dass die Kinder und Jugendlichen sich tatsächlich an Abmachungen nicht mehr erinnern. Sie haben ein ganz, ganz kurzes Gedächtnis und da passiert immer wieder das Gleiche. Autorin: Auch Paula vergisst immer noch so gut wie alles, leider auch ihre Körperhygiene, obwohl sie nun schon 17 ist. Zähne putzen, Haare kämmen, waschen - alles muss ihre Pflegemutter kontrollieren. Feldmann: Das Andere eben ist, diese Naivität, die auch dazu führt dass die Kinder sich selber nicht gut schützen können. D.h. sie erkennen nicht, dass sie von anderen sozusagen gebraucht oder missbraucht werden. Autorin Als Paula 15 war, erzählt ihre Pflegemutter, fand sie bei der täglichen Schultaschenkontrolle Schokoladenpapier. Ein 70-jähriger Mann hatte dem Teenager die Süßigkeiten geschenkt. Geduldig erklärte Gabrielle Kopf ihrer Tochter, dass sie das nicht annehmen darf, sich von dem Mann fernhalten soll. Die Ermahnungen vergaß Paula leider regelhaft sobald sie das Haus verließ. Gabrielle Kopf: Es war für mich ein Ding der Unmöglichkeit, das eine 14-Jährige sich Schokolade schenken lässt und immer wieder zu dem Mann in die Wohnung geht. Aber sie war sich da gar nicht bewusst, was sie da macht. Feldmann: Die Kinder und Jugendlichen sind relativ arglos, sie können fremde Absichten nicht gut durchschauen, sie können Ironie nicht gut erkennen. Da haben wir eine sehr hohe Verleitbarkeit. Autorin: Besonders kritisch wird das in der Pubertät. Da Betroffene oft anders aussehen, sich anders, auch aggressiv verhalten, werden sie von den Gleichaltrigen gehänselt, ausgegrenzt und finden keine echten Freunde. Paula: Also jetzt richtige Freunde nicht wirklich. Ich weiß nicht, ich verstehe mich nicht so gut mit allen. Also am Anfang funktioniert es, aber irgendwann kracht es dann doch und dann läuft es nicht mehr so gut und dann gerät man doch öfter schon mal aneinander. Na ja, wenn man eine Meinungsverschiedenheit hat, dann eskaliert das immer mehr und dann redet man irgendwann nicht mehr miteinander. Gabrielle Kopf: Und um sich dann einzukaufen, ist sie für andere klauen gegangen. Die hat Zigaretten geklaut, die hat Parfüm geklaut, durchweg. Autorin: Im Erwachsenenalter werden FASD- Erkrankte aufgrund ihrer Anhänglichkeit und Naivität oft Opfer von Straftaten, besonders häufig von sexuellem Missbrauch, gefolgt von Gewalt und Erpressung. Und sie werden wegen ihrer Verführbarkeit zu Tätern. Pflegefamilien wissen das: aus Beratungsgesprächen, aus Internetforen, aus Selbsthilfegruppen. Nicht selten landen FASD- Betroffene sogar im Gefängnis, weil aus Zigaretten oder Parfüm immer mehr geworden ist. Familie Kopf wollte für Paula ein anderes soziales Umfeld schaffen, mit Freunden, mit neuen Schulkameraden, die sie nicht zum Klauen anstiften. Sie planten den Umzug in ein größeres Haus, wo vielleicht auch ein Hund, den Paula sich wünschte, hätte mit einziehen können. Gabrielle Kopf: Und dann haben wir uns das Haus angeschaut und sie blieb im Auto sitzen, war total verstockt und an dem Abend hat sie dann ihr Bett angesteckt und noch mehrere Sachen. Autorin: Auf die Frage, was sie damit bezweckt habe, antwortet Paula emotionslos: Paula*: Weiß nicht. Das ist Langeweile, Wut, gerade ein Feuerzeug zur Hand, keine Ahnung. Das war so alles in einem halt. Da kam alles zusammen und dann ja... Das hat dann so geschmort und das habe ich dann ausgemacht und habe das Fenster aufgemacht, das der Geruch gleich wieder rauszieht. Autorin: Zunehmend zur Belastung der gesamten Familie wird ihr übersexualisiertes Verhalten. Nicht nur, dass Paula häufig ihre Freunde wechselt, ihr "Eroberungswille" macht weder vor dem Mann ihrer großen Schwester, noch vor ihrem Pflegevater halt. Das hat Konsequenzen im Alltag, erzählt Tino Kopf: Tino Kopf: Eine besondere Regel ist, dass ich zu ihr ins Zimmer nie alleine gehe. Wenn dort irgendetwas ist, dann warte ich bis entweder meine Frau dabei ist oder meine andere Tochter und dann gehen wir gemeinsam ein, weil allein in das Zimmer- das, nein das vermeide ich. Mache ich nicht. Autorin: Dass die Kinder im Alltag oft schwer zu ertragen sind, ist keine Erkenntnis der Neuzeit, erklärt Reinhold Feldmann. Für den FASD-Experten ist das erste "Bildnis" eines Jungen mit fetalem Alkoholsyndrom der rothaarige Moritz aus den "Max und Moritz" - Geschichten von Wilhelm Busch, die 1865 erschienen sind. Der Dichter und Zeichner beschreibt die Delikte der beiden Jungen und unterscheidet dabei zwischen dem initiativ handelnden Max und dem Mitläufer Moritz. Gleich beim ersten Streich, dem Hühnerdiebstahl bei der Witwe Bolte, hat Max - wir erinnern uns - "schon mit Vorbedacht eine Angel mitgebracht." Max handelt geplant, während Moritz sich zum Mitmachen verleiten lässt und nicht über die Konsequenzen seines Verhaltens für sich selbst oder andere nachdenkt. Und vor allem: aus der Erfahrung nicht schlau wird. An diesen typischen Verhaltensmustern von FASAD-Betroffenen hat sich bis heute nichts geändert. Reinhold Feldmann sieht darin eine große Gefahr, gerade wenn die Jugendlichen strafmündig sind. Das Jugendstrafrecht baut darauf, dass man sich bessert. Bei einer Alkoholschädigung ganz besonders schwierig. Atmo Ambulanz Vater/Adoptivtocher Autorin: In der FAS-Ambulanz der Tagesklinik Walstedde im Münsterland. Reinhold Feldmann untersucht eine 13-Jährige, die immer wieder aneckt und massive Schulprobleme hat. Ihr Adoptivvater möchte helfen, weiß aber nicht wie. Zur Diagnostik gehört nicht nur die körperliche Untersuchung: Das Mädchen hat zuvor mit Psychologen, Heilpädagogen, Erziehern gesprochen. Ein Intelligenztest wurde gemacht, Berichte von Lehrern ihrer Schule gelesen. Atmo aus Untersuchung / Diagnostik FASD bei 13-jährigen Mädchen Feldmann: Also Realschule: Wie klappt das? Fritzi: Gut. Feldmann: Mit Aufwand habe ich gehört? Fritzi: Ziemlichen Aufwand... Feldmann: D.h.? Fritzi: Ja, also es ist so: Zum Beispiel sind irgendwelche Vokabeln, die ich aufkriege und lernen muss ... Aber wenn ich die abgefragt bekomme, habe ich sie auf einmal alle vergessen wieder ganz schnell ... Und dabei strenge ich mich ja an und bin nicht so faul... Und dann nervt mich das auch immer wieder... Autorin: Am Ende der zweitägigen Untersuchung steht fest: Auch die 13-Jährige hat FASD, eine Erkrankung, von der mehr Menschen betroffen sind als von Trisomie 21, dem Down - Syndrom. Eins von 300 Neugeborenen hat diese Störung, beim Down-Syndrom ist es eins von 700. Allerdings ist FASD kein Gendefekt und wird auch nicht vererbt. FASD ist eine vermeidbare Krankheit, die öffentlich jedoch kaum diskutiert wird. Schnell wird Alkohol in der Schwangerschaft als Unterschichtenphänomen abgetan. Aktuelle Untersuchungen sprechen eine andere Sprache, sagt die Drogenbeauftragte der Bundesregierung Marlene Mortler: Mortler: Was auch deutlich geworden ist, dass wir immer glauben, die Frauen oder die Menschen, die in den sozial unteren Schichten arbeiten und leben, davon mehr betroffen sind. Nein, das Gegenteil davon ist der Fall. Autorin: Das Robert Koch-Instituts stellte in einer Langzeitstudie fest: Jede siebte Schwangere trinkt Alkohol. Bei Frauen aus höheren sozialen Schichten ist der Anteil sogar noch größer. Feldmann: Alkoholkonsum ist kein Unterschichtenphänomen. Es ist allgemein, in der Medizin zumindest bekannt, dass schichtenspezifisch getrunken wird und in den wohlhabenden Schichten am meisten. D.h. die Unterschicht trinkt am wenigsten. Allerdings trinkt sie mehr als die anderen Schichten in der Öffentlichkeit, in sozialen Brennpunkten, also auf der Parkbank oder sonst wo. Die wohlhabenden Schichten trinken zu Hause, trinken hinter ihrer Buchenhecke im Eigenheim und das sieht niemand. Autorin: Viele Kinder aus höheren sozialen Schichten bekommen die Verlegenheitsdiagnose ADHS, da auch sie unruhig, unkonzentriert und latent aggressiv sind. Wer möchte einer Lehrerin, Ingenieurin oder Bankkauffrau schon sagen, dass das Kind Opfer ihrer Trinkgewohnheit geworden ist? Außerdem ist die Diagnose ADHS gesellschaftsfähiger und die Eltern kommen damit besser zurecht. Anders bei FASD. Das mütterliche Fehlverhalten impliziert immer: Du hast Schuld. Feldmann: Das sind Eltern, Mütter, die sich sehr stark schämen für das, was passiert ist. Und die müssen erst einmal sich mit ihrer Geschichte auseinandersetzen, um dann zu uns in die Diagnostik zu kommen. Welche Mutter möchte schon zu hören bekommen, ja, das Kind ist krank und du bist es gewesen. Autorin: Genaue Zahlen, wie viele Kinder unter einer Fehldiagose laufen, gibt es nicht, sagt Gisela Michalowski, Vorsitzende des Vereins "FASD Deutschland" Die Mutter von vier alkoholgeschädigten Pflegekindern weiß aus eigener Erfahrung und aus Erzählungen der Vereinsmitglieder, dass es neben der falsch verstandenen Rücksichtnahme noch viel Unwissenheit über die Erkrankung gibt, auch bei den Ärzten. Michalowski: Unsere Kinder kommen zu einer FASD-Diagnostik, weil die herkömmlichen Autismus- Therapien, die herkömmlichen Therapien bei Aufmerksamkeitsdefizitstörung nicht greifen und nicht ausreichen. Unsere Kinder reagieren anders. Sie reagieren anders auf Medikamente, sie verstehen häufig auch Therapien nicht, die auf Wortverständnis beruhen.Man macht sich auf die Suche, weil die Behinderung nicht so bekannt ist. Man wird weitergereicht, weil der Arzt auch nicht weiß, was mit diesem Kind los ist. Feldmann: Ich bin jetzt diagnostisch unterwegs seit 15 Jahren. Als ich anfing, war das fetale Alkoholsyndrom im Wesentlichen unbekannt. Das hat sich sehr, sehr deutlich in diesen 15 Jahren verändert. Wir haben heute relativ häufig Patienten, die tatsächlich von ihren Kinderärzten zu uns geschickt werden, die das FAS heute kennen. Letztendlich ist das so, dass die fetale Alkoholschädigung bis heute dort bekannt ist, wo aktiv das Wissen hin getragen wird. D.h. engagierte Kollegen, ich selber, tragen vor, machen Fortbildungen, informieren Kollegen, informieren Jugendämter, informieren auch Schulen. Autorin: Man muss es an dieser Stelle noch einmal deutlich sagen: FASD ist vermeidbar, aber nicht heilbar: Die Folgen der Schädigung, die der Alkohol dem Gehirn zugefügt hat, können nur reduziert werden. Das erreichen die Mediziner mit Medikamenten wie Ritalin, deren Anwendung bei Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörungen durchaus umstritten sind, sagt Psychologe Reinhold Feldmann. Feldmann: Bei dieser hirnorganischen Schädigung, die der Alkohol anrichtet, sind diese Medikamente außerordentlich hilfreich. Die Medikation sorgt dafür, dass die Kinder Regeln besser verstehen können, dass sie aufmerksamer sind für die Belange anderer Kinder und fähig werden, Freundschaften zu schließen und das ist eine Entwicklung, die für Kinder ungemein wichtig ist. Die dürfen nicht allein durchs Leben gehen, ausgegrenzt am Rande des Schulhofs stehen. Kinder brauchen Freunde. Das können wir bei nicht allen, aber bei sehr, sehr vielen Kindern mit FAS medikamentös erreichen. Die Kinder leiden zu lassen, zuzuschauen, wie sie vereinsamen ist keine Option. Autorin: Frühförderung, Ergotherapie, Logopädie, Krankengymnastik- auch das alles kann ungemein fördernd sein. Hinzu kommen verhaltenstherapeutische Maßnahmen, die den Kindern helfen, im sozialen Alltag zurechtzukommen. Atmo (Tom* spielt mit seinem Hund Bolle und erzählt mit Autorin) ... Bolle, Bolle! Sitz! Bolle sitzt... sitzt...Platz! Platz! Autorin: Magst du die Tiere? Tom: Ja. Autorin: Warum? Tom: ... sind immer so schön... Autorin: Kuschlig? Tom: Ja. Kuschlig. Autorin: Sind die Menschen doof zu dir? Tom: Manchmal ... Autorin: Was machen die anderen Menschen mit dir? Die anderen Kinder? Sind die doof? Tom: Ich spiele nicht so gern mit anderen Kindern. Spiele lieber ... ich kuschle lieber mit Tieren... Autorin: Tom* kann mit anderen Kindern kaum etwas anfangen. Der 12-Jährige spielt am liebsten zu Hause mit dem Therapiehund Bolle. Auch Tom neigt zu Wutausbrüchen, schlägt um sich, läuft weg. Feldmann: Wir bemühen uns intensiv bei diesen Kindern, Erfolgserlebnisse zu erwecken, um das Selbstwertgefühl zu steigern. Das geht etwa mit tiergestützten Therapien, die aus meiner Sicht noch unterschätzt werden. Atmo Tom und Mutter Autorin: Maria Müller* ist eine erfahrene Pflegemutter, hat zeitweise drei alkoholgeschädigte Kinder in der Familie betreut. Die jetzt 15 und 20 Jahre alten Mädchen haben Geld verbrannt, Geld das für einen Autokauf im Hause war. Sie haben geklaut, dass Badzimmer zerstört, haben versucht, ihre Pflegemutter vor den Nachbarn bloßzustellen. Müller: Da hat eine von den Mädchen oben gestanden und geschrien: "Nein, Mama, bitte nicht. Aua und nicht dies"... und "aua, bitte und (klatsch sich selber)" ... Ich stand zum Glück unten und der Nachbar guckte und sagte, wenn ich dich jetzt nicht sehen würde, ich würde das glauben. Autorin: Bei allem Engagement kam die 54-Jährige an ihre Grenzen: Als das 15 -jährige Mädchen versuchte, dem Pflegebruder ein Kissen aufs Gesicht zu drücken, war Schluss. Heute leben beide Mädchen in therapeutischen Wohngruppen. Müller: Und das ist nicht, weil ich gesagt habe, ich will sie nicht mehr hier haben oder ich will kein Bezug zu ihr haben. Weil ich gesagt habe, das kann ich nicht leisten. Ich bin ja auch mir gegenüber verantwortlich, aber in diesem Fall natürlich ganz besonders dem kleinen Jungen gegenüber. Und das ging einfach nicht mehr. Autorin: Durch FASD entsteht enormes Leiden. Zudem sind die finanziellen Aufwendungen für die Betreuung der Kinder und Jugendlichen hoch. Für Pflegefamilien oder Heimeinrichtungen, für Förderkindergarten, Förderschule, Therapien, Medikamente und medizinische Betreuung - allein in Nordrhein- Westfalen ergeben sich pro Kind jährliche Kosten in Höhe von rund 32.000 Euro, wie eine Studie der FAS-Ambulanz in Walstedde ergab. Bis die Kinder 18 Jahre alt werden, gibt das Land knapp 5,5 Milliarden Euro für sie aus. Kosten, die durchweg vermeidbar sind. Hochrechnungen zu Folge leben in Deutschland derzeit gut 40.000 Kinder mit FASD in Obhut, also in Heimen, oder bei Adoptiv - und Pflegeeltern. Sie baden den lockeren gesellschaftlichen Umgang mit der Volksdroge Nummer eins aus. Dafür gebührt ihnen Respekt. Doch stattdessen berichten die engagierten Ersatzmütter und -väter von Schwierigkeiten mit Behörden, Ämtern, Krankenkassen. Ob Pflegegeld, Schwerbehindertenausweis oder familienentlastender Dienst - um fast alles müssen sie kämpfen. An dieser Stelle ist die Politik gefragt. Auch, weil mit dem Erreichen der gesetzlichen Volljährigkeit die Leidensgeschichte noch kein Ende hat, sagt Reinhold Feldmann. Feldmann: Die Kinder sind dauerhaft geschädigt. D.h. aber nicht, dass sie sich nicht entwickeln. Allerdings ist diese Entwicklung deutlich verzögert. Die sind alle mit 18 nicht so weit, dass sie ihr Leben selber in die Hand nehmen können. D.h. nicht, dass sie mit 28 nicht dazu in der Lage wären. Aber da, wo im Grunde genommen die Jugendhilfe aufhört, sind diese Kinder noch nicht so weit oder diese Jugendlichen. Und diese Menschen brauchen weiter Hilfe bis sie sozusagen nachgereift sind. Und da sind wir eher bei den 30-Jährigen, die es dann schaffen für sich selbst zu sorgen, aber dieser Weg ist mühsam. Autorin: Reinhold Feldmann ärgert sich, dass auch heute noch Schwangeren Alkohol angeboten wird, begleitet von Sprüchen wie: "Ein Gläschen in Ehren kann keiner verwehren". Dieses Nichtwahrhabenwollen der Gefahr regt den ansonsten so ruhigen Experten auf. Feldmann: Die gefährlichste Zeit in der Schwangerschaft sind die ersten neun Monate. Das muss man einfach so sagen. Es gibt große internationale Studien, die viele Kinder untersucht haben von Mamas, die in der Schwangerschaft mal gelegentlich ein Gläschen getrunken haben, also beileibe keine Alkoholikerin, sondern Frauen, die mal am Abend ein Glas Rotwein trinken. Und in diesen Studien hat sich gezeigt, dass wir ein Glas Alkohol pro Woche in der Schwangerschaft später bei dem Kind bemerken. Das Kind ist aber nicht krank, es zeigt Gedächtnisschwierigkeiten, es zeigt eine deutliche körperliche Unruhe, es ist sehr launisch. Mortler: Wir wissen bis heute nicht: War es der eine Schluck zur falschen Zeit während der Schwangerschaft? In welcher Phase der Schwangerschaft? Wir wissen es einfach nicht und genau das macht das Ganze so problematisch und gefährlich. Autorin: Sagt die Drogenbeauftragte der Bundesregierung. Marlene Mortler setzt beim Thema "Alkohol in der Schwangerschaft" vor allem auf Aufklärung. Mortler: Verbote oder Strafen führen aus meiner Sicht nicht weiter. Es muss noch mehr ein Thema der ganzen Gesellschaft werden. Wenn ich heute in einer Gesellschaft bin und alle trinken Alkohol, dann habe ich das zu akzeptieren. Die anderen müssen aber genauso akzeptieren, dass jemand "nein" sagt und es kann nicht sein, dass man dem sagt, das eine Glas schadet dir doch nicht. Michalowski: Ich kann mich an meine eigenen Schwangerschaften erinnern, dass es immer hieß, ach, ein Gläschen kannst du doch wohl trinken. Was ist überhaupt ein Glas? Autorin: Ist es der Maßkrug Bier oder das Glas Rotwein, was die Schädigung hervorruft, fragt Gisela Michalowski von "FASD Deutschland e.V.". Das weiß niemand genau. Ziel des Vereins ist es, über die Erkrankung aufzuklären und die Öffentlichkeit zu sensibilisieren - in allen Bereichen. Und dazu gehören eben auch die Sozialdienste und Familienhelfer, die alkoholgefährdete Mütter zu Hause besuchen. Lisa Schmidt, deren 5-jährige Tochter Pia an FASD leidet, erzählt, dass nicht einmal ihre Frauenärztin etwas bemerkt hatte. Schmidt: Ich habe, wenn ich jetzt den Termin hatte bei der Gynäkologen, vorher halt nicht getrunken, den Tag vorher nicht, den Abend wie auch immer. Aber es wurde trotzdem irgendwie nichts gesagt, weil sie denken, dass es selbstverständlich ist, dass wenn eine Frau schwanger ist, die keinen Alkohol konsumieren. Autorin: So wie Lisa Schmidt beteiligen sich nur wenige leibliche Mütter eines FASD -Kindes, an der Aufklärung über die verheerenden Schäden des Alkohols während der Schwangerschaft. Gabrielle Kopf verteilt Aufklärungsflyer, wo immer sie hinkommt, stößt aber immer noch und leider sogar bei Frauenärzten auf falsche Scham und Rücksichtnahme, darf ihre Flyer nicht auslegen. Kopf: Manche sehen das nicht so gerne, dass man das hin tut. Aber das ist ja eigentlich die richtige Stelle, um das hin zu tun. Was soll ich die denn beim Kinderarzt hin tun. Da ist es ja schon zu spät. Autorin Für viele Pflegeeltern ist Alkohol in der Schwangerschaft Kindesmisshandlung und gehört unter Strafe gestellt. Michalowski: Dass man nicht Auto fahren darf, wenn man Alkohol getrunken hat. Das betet jedes Kind schon im Kindergarten einem vor. Müller Und dazu gehört eigentlich das die Mädchen und Jungen in der Schule schon wissen, so Alkohol, Zellteilung, Alkohol ist Zellgift, verhindert...Sexualkunde, da könnte das mit einfließen. Lisa Schmidt: Wenn es Leute gibt, die das nicht glauben, was wirklich der Alkohol anrichten kann, dann kommt gerne vorbei und schaut euch mal ein Tag an. Also ein Tag mit meiner Tochter und dann reden wir noch mal.