DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Feature Dienstag, 10.07.2007 Redaktion: Karin Beindorff 19.15 - 20.00 Uhr Die Tagesshow oder die Welt in 15 Minuten Von Walter van Rossum URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. ? Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - Atmo: startendes Flugzeug Autor: Mittwoch, der 6. Dezember 2006. Vom nahen Hamburger Flughafen startet ein Flugzeug. Sein Lärm ist wahrscheinlich der letzte sinnliche Kontakt mit der Außenwelt, wenn die Redakteure von ARD-aktuell wie jeden Morgen um 8 Uhr die Nachtschicht ablösen. Nachrichtenmacher nehmen die Welt via Bildschirm oder Zeitung wahr. Journalisten beobachten in erster Linie nicht die Welt, sondern andere Medien. O-Ton Gniffke: Bei ARD-aktuell arbeiten 90 Redakteure. Sprecherin: Die Tagesshow oder die Welt in 15 Minuten. Ein Feature von Walter van Rossum. O-Ton Gniffke: Bei ARD-aktuell arbeiten 90 Redakteure. Autor: Kai Gniffke ist Chefredakteur von ARD-aktuell. O-Ton Gniffke: Mit allen anderen Beteiligten - Sekretärinnen, und Techniker - 230 Menschen arbeiten im 24-Stunden-Schichtbetrieb. Autor: ARD-aktuell bildet bloß die sogenannte "Kopfredaktion". Daran angeschlossen sind die Nachrichtenredaktionen von neun Landesrundfunkanstalten und das Hauptstadtstudio Berlin sowie über zwanzig Auslandskorrespondenten. O-Ton (Konferenz): Das Forum demographischer Wandel, da spricht Köhler, Frank Jahn ... Autor: In Gebäude 18 auf dem NDR-Gelände in Hamburg-Lokstedt entsteht auch die berühmteste und erfolgreichste Nachrichtensendung Deutschlands: die Tagesschau. O-Ton (Konferenz): Aber das Schlusswort Köhler kommt erst um 17 Uhr, steht zumindest bei DPA. Autor: Allmorgendlich um 10.30 Uhr beginnt die große Themenkonferenz. O-Ton (Konferenz): Redakteurin: Ich hatte das so verstanden, als ob sie den Köhler schon vorher haben, weil damit steht und fällt die Wichtigkeit dieses Themas, also ob der jetzt noch irgendwelche neuen Forderungen an die Politik da richtet, oder ob er eigentlich das sagt, was wir alle schon kennen. Autor: Es wird besprochen, wie die verschiedenen Ausgaben der Tagesschau, die Tagesthemen und das Nachtmagazin an diesem Tag aussehen sollen. O-Ton (Konferenz): Ich habe gerade mit Uschi telefoniert. Autor: Ungefähr 20 leitende Mitarbeiter treten zusammen. O-Ton (Konferenz): Das konzentriert sich im Moment, was die Möglichkeit zu drehen angeht, auf Offenburg. Da geht es um das technische Gymnasium in Offenburg, Südbaden. Dort ist jener Schüler zu Gast, von dem man seit Montag weiß, dass er vermisst wird und von dem man annimmt, das sind alles nur Vermutungen, dass er möglicherweise der Urheber ... . Jetzt kommt's. Autor: Im Badischen hat ein Schüler einen Amoklauf angekündigt. Im Moment sind die näheren Umstände noch unklar. O-Ton (Konferenz): In Offenburg müssen sich dramatische Szenen abspielen, hat die Uschi Straub mir gerade erzählt, die Schule ist nämlich belagert von Sondereinsatzkräften, Schüler die aus dem Fenster heraus Interviews geben. Man muss sich das wirklich vorstellen wie seinerzeit in Erfurt. Also völlig absurd und konfus. (Anne Will:) Oder eher wie in Gladbek? Das auch, ja. Und dann geht es um den Kultusminister, der das Ganze losgetreten hat, offenbar gegen den Rat des Polizeipräsidenten, der ist dankbar für jeden Hinweis, wenn er denn anonym bleibt oder wenn er nicht öffentlich wird. Einzelne Schulen sind geschlossen, es gibt jede Menge besorgter Eltern. Ob sie ihre Kinder in die Schule schicken sollen. Das ist Aufregung pur. Autor: Es wird an diesem 6. Dezember 2006 noch jede Menge Konferenzen geben - wie an jedem anderen Tag auch. Und wie an jedem anderen Tag seit über 50 Jahren wird um Punkt 20 Uhr die berühmte Fanfare erklingen, und fast zehn Millionen Menschen versammeln sich zu einem heiligen Ritual vor dem Fernseher: O-Ton Tagesschau mit Originalvorspann: Hier ist das Erste Deutsche Fernsehen mit der Tagesschau. Guten Abend, meine Damen und Herren. Die unabhängige US-Kommission zur Irak-Politik hat heute Präsident Bush ihren mit Spannung erwarteten Bericht vorgelegt. Seit März hatte das Gremium um den ehemaligen US-Außenminister Baker gearbeitet. Die Kommission bewertet die Lage in dem Golfstaat als sehr ernst und warnt vor einem Abgleiten ins Chaos. Die Experten empfehlen sowohl militärisch als auch diplomatisch einen Strategiewechsel. US-Präsident Bush ist nicht an die Vorschläge gebunden. Autor: Wie fast alle Sender an diesem Tag und alle Zeitungen am folgenden Tag eröffnet auch die Hauptausgabe der Tagesschau mit einem Bericht über den Report der sogenannten Baker-Kommission. O-Ton Filmbericht: Mit der geballten Macht von Erfahrung, politischer Kompetenz und Überparteilichkeit hat die sogenannte Baker-Kommission nach einem Ausweg gesucht. Konsens und Pragmatismus hätten sie geleitet, so die beiden Vorsitzenden. Aber eine Zauberformel gäbe es nicht. Autor: Und wie stets, wenn es um die Irak-Politik der USA geht, sieht die Tagesschau nur ein Thema: Wie lösen die Vereinigten Staaten ihr Problem im Irak? Zugespitzt gesagt: Der Irak kommt bei dieser Berichterstattung überhaupt nur vor, wenn Amerikaner Schwierigkeiten mit ihrem Irakkrieg haben. Deshalb kennen die Zuschauer auch die genaue Anzahl der toten US-amerikanischen Soldaten und die Stimmung in der US-amerikanischen Bevölkerung. Viel ist vom Druck die Rede, dem George W. Bush wegen seines Krieges ausgesetzt sei. O-Ton Tagesschau, Übersetzung: (Lee Hamilton:) Die Aufgabe ist gewaltig, sehr schwierig, aber es ist nicht aussichtslos. (Baker) Wir empfehlen, nicht den Kurs zu halten. Dieser Ansatz ist nicht mehr brauchbar. Autor: Nach den Statements fährt die Washington-Korrespondentin Christiane Meier fort: O-Ton (Tagesschau): Dass sie den Stein der Weisen gefunden haben, bezweifeln sie selbst, aber sie fordern einen grundlegenden Kurswechsel. Anfang 2008 sollten alle Kampfbrigaden abgezogen werden. Man solle sich auf die Ausbildung der irakischen Armee konzentrieren. Iran und Syrien sollen einbezogen werden. Und der israelisch- palästinensische Konflikt müsse gelöst sein. Autor: Und noch ein Statement von Lee Hamilton: O-Ton (Tagesschau): Man muss einen Gesamtansatz haben, und das haben wir mit diesen 79 Empfehlungen versucht. Autor: Wie viele Iraker bei dem militärischen Überfall ihr Leben verloren haben, wie es im Irak zu diesem Zeitpunkt aussieht, wer die Kräfte des irakischen Bürgerkrieges sind: Das alles erfahren die Zuschauer nicht. O-Ton Anne Will: Also, das ist eine meiner häufigsten Sätze in den Moderationen der vergangenen 5 Jahre, ... Autor: Anne Will ist Moderatorin der Tagesthemen. O-Ton Anne Will: " ... dass ich sage: Außenpolitik, jedwede Politik ist Interessenpolitik. Wo liegen die Interessen? Und dass man sie dann runtererzählt. So machen wir das auch. Das ist fein strukturiertes kritisches Arbeiten." Autor: Anne Will, die im Herbst Sabine Christiansen beerben wird, erläutert den Auftrag der öffentlich-rechtlichen Fernsehnachrichten. O-Ton Anne Will: Und das ist unsere Verpflichtung. Und da finde ich auch, haben wir uns überhaupt nichts vorzuwerfen. Ganz im Gegenteil. Dazu sind wir auch das System, das die meisten Korrespondenten hat, damit haben wir ja die Chance einen eigenen Blick zu werfen, und uns nicht aus Agenturmaterial bedienen zu müssen oder uns vorgestanzte Sätze zuliefern lassen zu müssen, sondern wir haben Chancen eigene Interviews zu führen, eigene Bilder zu drehen, die Bilder hinter den Bildern, die Geschichten neben den Geschichten zu zeigen." Autor: Warum aber wird dann beinahe prinzipiell in der Tagesschau verschwiegen, dass es sich bei der Besatzung des Irak durch die Vereinigten Staaten von Amerika und ihren Verbündeten um einen Angriffskrieg handelt. Und Angriffskriege sind im Völkerrecht als Verbrechen beschrieben. Stattdessen wird in der Tagesschau stets der Eindruck vermittelt: Die USA regieren die Welt. So ist das nun mal. O-Ton (Tagesschau): Präsident Bush hatte bereits am Morgen bei der Übergabe des Berichts im Weißen Haus zugesagt, die Vorschläge ernsthaft zu prüfen. Autor: Die Tagesschau-Dramaturgie verlangt nun einen Originalton Bush: O-Ton (Tagesschau): Dieser Bericht könnte eine Gelegenheit sein, eine gemeinsame Lösung zu finden, nicht für die republikanische oder demokratische Partei, sondern zum Wohle des gesamten Landes. Autor: Und obendrauf noch eine vage Andeutung der Berichterstatterin: O-Ton Tagesschau: Vielleicht auch zum Wohle des Präsidenten, der so einen Weg aus der Sackgasse im Irak finden kann. Autor: Allabendlich macht die Tagesschau ihre Zuschauer zu Komplizen, indem sie den ausgewählten Stand der Dinge zur geltenden Norm erhebt. O-Ton Gniffke: Was unser Auftrag ist oder was wir leisten können ist, die Leute fit für den nächsten Tag zu machen. Autor: Chefredakteur Kai Gniffke O-Ton Gniffke: Dass sie am nächsten Tag bestehen können, dass sie mit all den Informationen, die dann auf sie einstürzen, dass sie damit was anfangen können, dass sie dann wissen, das habe ich doch schon mal gehört. Autor: Niemand wird sagen können, die Tagesschau mache sich zum glühenden Propagandisten dieses Irak-Krieges. Sie hält sich einfach an den politischen Blickwinkel der parlamentarischen Mitte. Und in dem Maße, wie diese parlamentarische Mitte sich um die Wahrheit dieses Krieges betrügt, betrügt auch die Tagesschau sich und ihr Publikum um die Wahrheit dieses Krieges. Entschlossen behandelt sie diesen Krieg als eine Angelegenheit der US-Politik und - ganz am Rande - ihrer Alliierten. Nun wird die Korrespondentin ins Bild gerückt: O-Ton (Tagesschau): Siegen wollte George Bush im Irak-Krieg und nicht wanken und weichen. Jetzt haben ihm die Mitglieder der Baker-Kommission schriftlich gegeben, dass es einen Sieg nicht geben kann. Allenfalls Schadensbegrenzung. Bleibt die Frage, ob der Präsident einen Kurswechsel wirklich vollziehen wird. Der Druck aus der eigenen Partei und aus dem Volk wird ihm kaum eine andere Wahl lassen. Autor: Abgesehen davon, dass eine Parlamentskommission nirgends - weder mündlich noch schriftlich - darüber befinden kann, ob es einen Sieg oder eine Niederlage in einem Krieg geben kann und die Zuschauer auch nichts darüber erfahren, welche Interessen möglicherweise der Ex- Außenminister Baker oder Ex-Abgeordnete Hamilton verfolgen mögen: Der Bericht der Washington-Korrespondentin der ARD, Christiane Meier, endet mit einer falschen Prognose. Kein Wunder. Denn es fehlen ein paar wichtige Informationen. Zum Beispiel, dass George W. Bush längst zwei Gegengutachten bei Institutionen seines Vertrauens in Auftrag gegeben hatte. Weder für diesen Beitrag noch für die folgenden Beiträge bedarf es einer gesonderten Bildbeschreibung. Man schließe einfach die Augen und höre den Text, dann stellen sich von selbst die alten, die ewigen Bilder ein: entschlossene Männer, "geballte Kompetenz", die in holzgetäfelten Sälen vor US-Flaggen der Welt ihr Schicksal erläutern. Gut möglich, dass dem inneren Auge ein Richard Nixon dazwischen rutscht. Musikakzent: Tagesschau-Indikativ verfremdet O-Ton (Tagesschau): In Südafghanistan haben Arbeiter mit dem Bau einer Straße begonnen im Auftrag der Bundesregierung. Es handelt sich um das bislang größte deutsche Wiederaufbauprojekt in der umkämpften Region. Autor: Eine Landkarte wird gezeigt. O-Ton (Tagesschau): Die Straße soll westlich der als Taliban-Hochburg geltenden Stadt Kandahar beginnen und die Schnellstraße mit dem Distrikt Pandschwai verbinden. Die Kosten in Höhe von einer Millionen Euro trägt das Auswärtige Amt. Den Bau übernehmen einheimische Arbeiter. Autor: Den deutschen Straßenbau in Südafghanistan würdigt die Presse des nächsten Tages fast nirgendwo. Das ist nicht überraschend, denn die Bundesregierung hatte den Beschluss bereits am 24. November verkündet. Und er wurde in der Presse längst kritisch diskutiert, von der Tagesschau aber nicht einmal erwähnt. Wieso erscheint dann diese Nachricht über den Beginn der Bauarbeiten an so prominenter Stelle in der Hauptausgabe der Tagesschau am 6. Dezember? Vielleicht wollte die Redaktion daran erinnern, dass Deutschland selbst an ein paar Kriegen im Schulterschluss mit den Vereinigten Staaten beteiligt ist - wollte zugleich den Zuschauern aber die heiklen Diskussionen über die politische und militärische Dimension dieses Straßenbaus in Afghanistan ersparen und sie lieber gleich vor vollendete Tatsachen stellen. Und ist es ganz abwegig, darüber zu spekulieren, ob die Tagesschau auf diese Weise dabei hilft, die bevorstehende allmähliche Ausweitung der Kampfzone nach Südafghanistan vorzubereiten? O-Ton (Tagesschau): In Kandahar sind heute bei einem Selbstmordanschlag acht Menschen getötet worden. Der Täter sprengte sich vor einem Büro einer US-Sicherheitsfirma in die Luft. Dabei kamen auch zwei Amerikaner ums Leben. Zu der Tat bekannten sich die radikalislamischen Taliban, die die vom Westen unterstützte Regierung des Landes bekämpfen. Es war bereits der dritte Anschlag in den vergangenen drei Tagen. Autor: Mit dem Abstand einiger Monate kann man deutlich erkennen, wie die Bundeswehr sukzessive immer mehr in eine Ausweitung des Kriegs in Afghanistan verstrickt wird - in einen Krieg, der mit dem ursprünglichen und parlamentarisch genehmigten Einsatz fast nichts mehr zu tun hat. Und die Tagesschau hilft nach Kräften dabei, die dramatische Kursänderung des Bundeswehreinsatzes als den normalen Lauf der Dinge auszugeben. Musikakzent: Tagesschau-Indikativ verfremdet O-Ton (Tagesschau): Die Bundesregierung hat eine positive Abschlussbilanz der Fußballweltmeisterschaft gezogen. Innenminister Schäuble sagte bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit DFB-Präsident Zwanziger: Die WM sei sportlich, wirtschaftlich und sicherheitspolitisch ein voller Erfolg gewesen. Die heimische Wirtschaft habe Mehreinnahmen in Milliardenhöhe verzeichnet. Zehntausende Arbeitsplätze seien entstanden. Besonders hervor hob Schäuble das positive Deutschlandbild, das die WM bei ausländischen Gästen und im eigenen Land vermittelt habe. Autor: Es folgt wieder der zu erwartende Film. O-Ton (Tagesschau): Das Fest der Ausgelassenheit und Fremdenfreundlichkeit liegt fünf Monate zurück. Zeit Bilanz zu ziehen. Zwei Millionen Schlachtenbummler waren aus dem Ausland angereist und erlebten ein fröhliches und gastliches Deutschland. Auf 200 Seiten stellten Wolfgang Schäuble und der Präsident des DFB den Ertrag der Fußballweltmeisterschaft vor: O-Ton Schäuble: Und dass das Deutschlandbild im Ausland, nach den auswärtigen Leuten des Auswärtigen Amtes durch die Weltmeisterschaft eine enorme Aufwertung erfahren hat, wird auch nicht bezweifelt. Aber es darf, aber es muss in die Bilanz einbezogen werden. Es war eine wirkliche Werbeaktion gegen Ausländerfeindlichkeit und für Integration. Autor: "Das lässt sich empirisch nicht zeigen. Da werden Illusionen geschürt. Da lügt man sich was in die Tasche", sagt fast zeitgleich der renommierte Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer in seiner Langzeitstudie zum Thema "gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit". Heitmeyer ist Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung in Bielefeld. Nach seinen Untersuchungen sind die im August nach der Weltmeisterschaft befragten Personen nationalistischer als zuvor eingestellt gewesen. Und seine Studie kann sehr genau den Zusammenhang mit der WM belegen. Von der Politiker-Legende - von den meisten Medien brav nachgeplappert - Deutschland habe durch die Fußball-Weltmeisterschaft zu einer offenen und toleranten Form der Identifikation gefunden, bleibt da nichts übrig. O-Ton (Tagesschau): Der Präsident des Deutschen Fußballbundes Theo Zwanziger hat weiteren politischen Nutzwert ausgemacht. O-Ton Zwanziger: Uns ist wichtig, das wiedervereinigte Deutschland und die Menschen, die jetzt hier wieder zusammenleben in der Welt zu präsentieren als ein friedliches, als ein fröhliches Land. Und ich denke, das haben wir geschafft. O-Ton Gniffke: Und natürlich ist es unsere Aufgabe zu prüfen: Wie redlich ist das, was die da gerade tun? Autor: Chefredakteur Gniffke O-Ton Gniffke: Pure Demagogie als solche mindestens zu kennzeichnen beziehungsweise den Zuschauern durch die Berichterstattung den Eindruck vermitteln, das könnte jetzt Demagogie sein. O-Ton Tagesschau: Aber auch der wirtschaftliche Erlös kann sich sehen lassen. Autor: Damit das auch begriffen wird, zeigt man das noch in einer Graphik O-Ton Tagesschau: Im Gastgewerbe stieg der Umsatz um 300 Millionen Euro. Der Einzelhandel hat 2 Milliarden zusätzlich eingenommen. 50 000 Arbeitsplätze sind geschaffen worden. Freilich, viele von ihnen zeitlich begrenzt. Autor: Einfach unterschlagen werden die horrenden Kosten. Immerhin findet sich in der Bilanz-Broschüre des Bundesministerium des Inneren versteckt ein Hinweis darauf, dass die Bundesrepublik sich mit fast 900 Millionen Euro an Neu- oder Umbauten von Fußballstadien beteiligt habe. Nicht erwähnt werden allerdings die Kosten für städtebauliche und Verkehrsmaßnahmen in Höhe von ca. 4,7 Milliarden Euro. Damit hätte der Steuerzahler jede verkaufte Eintrittskarte während der WM mit ca. 750 Euro subventioniert. Darin sind noch nicht einmal die immensen Sicherheitskosten enthalten. Erwähnung findet in der Nachrichtensendung auch nicht, dass seinerzeit Wirtschaftsminister Clement eine gesamtvolkswirtschaftliche Steigerung um über acht Milliarden Euro prognostiziert hatte. O-Ton Gniffke: Die Basis all dessen, was wir machen, was wir auch verbreiten, ist Recherche. Recherche ist der Anfang von allem. Bei uns heißt es nicht einfach nur schnell sein, sondern schnell sein und auch korrekt sein. Autor: Im April 2007 erschien eine Analyse des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung und ermittelte, dass bei der WM weit weniger Geld geflossen sei als zuvor errechnet. Und: Es seien dabei "keinerlei nennenswerte positive gesamtwirtschaftliche Effekte" herausgekommen. Ebenso wenig ließe sich eine Entspannung auf dem Arbeitsmarkt nachweisen. O-Ton Tagesschau: Film: Kultur und Fußball scheinen auf den ersten Blick sich fremd zu sein. Autor: Der Tagesschau-Bericht zu den WM-Folgen ist noch nicht zu Ende: O-Ton Tagesschau: Diese Weltmeisterschaft hat jedoch einen Film hervorgebracht, dem es gelingt, beides zu vereinen: Deutschland. Ein Sommermärchen. Eine wundervolle Gelegenheit, die schönen Juni-Juli-Tage noch einmal zu erleben. Heute Abend gleich nach der Tagesschau. Autor: Unmittelbar im Anschluss an die 20-Uhr-Tagesschau, während schon das angepriesene deutsche Sommermärchen über die Mattscheiben flimmert, findet eine kritische Lagebesprechung statt. O-Ton (Lagebesprechung, CvD): Kann man das machen ... ? Nein, nein, nein.. ... Wohlgemerkt, ich finde das richtig, dass wir diesen Film in diesem Zusammenhang thematisieren, auf den Film danach hinweisen. Ich bin nicht so ein Purist, der sagt, das gehört nicht in die Tagesschau, auf den Film hinzuweisen. Nur so wie es eben da war, war es eben doch wie ein Trailer. (O-Ton Gniffke:) Warum immer diese Adjektive? Raus mit den Adjektiven. Warum ist der schön? Das ist eine 'Gelegenheit'. Musikakzent: Tageschau-Indikativ verfremdet O-Ton Tagesschau: Um die jüngsten Krawalle in den deutschen Fußballstadien ging es heute in Frankfurt am Main. Dort tagte erstmals die neue Arbeitsgruppe von DFB und Ligaverband gegen Gewalt, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Als erste konkrete Maßnahme wurde ein neues Meldesystem beschlossen. Regelmäßige Berichte aus den Landesverbänden sollen die Arbeitsgruppe über Vorfälle auch in den unteren Spielklassen auf dem Laufenden halten. Außerdem sollen die Sicherheitsstandards im Amateurbereich angehoben werden. Autor: Im Anschluss an die Legende vom rundum glücklichen Sommermärchen nimmt sich nun die Tagesschau der real existierenden Fußballrealität im fröhlich wiedervereinten Deutschland an. Natürlich gehörte auch diese Meldung eigentlich nicht an die vierte Stelle der Hauptausgabe der Tagesschau. Das Phänomen der Gewalt in und um die Stadien verdiente durchaus Beachtung, die hier vorgestellten Maßnahmen wohl kaum. Es ist eine beliebte Technik der öffentlich-rechtlichen Fernsehnachrichten, komplexe Realitäten in disparate und fragmentarische Meldungen zu zerlegen und unverbunden nebeneinander stehen zu lassen. Nur keine Zusammenhänge herstellen. Das muss der Zuschauer selber tun. Musikakzent: Tagesschau-Indikativ verfremdet O-Ton Tagesschau: Der deutsche Gewerkschaftsbund hat heute einen eigenen Vorschlag zum Arbeitslosengeld I vorgelegt. Er unterscheidet sich deutlich vom Konzept der CDU. Nach den Vorstellungen des DGB soll die Bezugsdauer nach Lebensalter gestaffelt werden und nicht wie von der CDU vorgesehen nach der Dauer der Beitragszahlungen. In den Parteien stieß der Vorschlag des DGB auf ein geteiltes Echo. Autor: Die Nachrichtendramaturgie verlangt an dieser Stelle wieder einen Film. Man sieht Bilder von Werkshallen, das Logo der Agentur für Arbeit und Flure mit mutmaßlichen Arbeitslosen. O-Ton Tagesschau: Von der Werkbank zu Hartz IV. Ältere Arbeitnehmer haben kaum noch eine Chance, wenn sie einmal ihren Job verloren haben. Deshalb wollen die Gewerkschaften, dass sie - abhängig vom Lebensalter - länger ALG I bekommen. Laut DGB sollen über 45- Jährige künftig 15 Monate Arbeitslosengeld I erhalten, über 50-Jährige 18-24 Monate, je nach dem wie lange sie in den vergangenen fünf Jahren beschäftigt waren. Autor: Was ist so wichtig an dem DGB-Vorschlag, dass er so ausführlich in der Tagesschau dargestellt wird? Wenn man sich das Papier des DGB genauer anschaut, entdeckt man, dass es um mehr geht, als die Tagesschau hier verraten will. Den DGB interessiert nämlich nicht vorrangig, dass ältere Arbeitnehmer für ein paar Monate länger in den Genuss einer etwas höheren Unterstützung kommen, sondern dass sie nicht bereits nach 12 Monaten der Hartz IV-Fürsorge anheimfallen - aus der es meist kein zurück mehr gibt. O-Ton Tagesschau: Die CDU hat beschlossen, den Bezug von Arbeitslosengeld I nach Beitragsjahren zu staffeln. Die SPD ist dagegen. Der DGB auch. Autor: Der Autor verwandelt den DGB-Vorschlag entschlossen in ein Stück über einen Parteienstreit. Zunächst kommt Annelie Buntenbach vom DGB zu Wort: O-Ton Tagesschau: Unser Vorschlag ist sozial gerechter, deswegen weil dieses Binden der Leistung Arbeitslosengeld an die Beitragsjahre dazu führen würde, dass Menschen in derselben Lebenssituation ganz unterschiedliche Ansprüche hätten. Autor: Es folgt der Autor aus dem Off über belanglosen Bildern aus dem Archiv. O-Ton Tagesschau: Für ältere Arbeitslose soll es keine Rolle mehr spielen, wie lange sie in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben. Finanziert werden soll das mit einer geringeren Senkung der Versicherungsbeiträge. Die Union lehnt das zwar ab, sieht in dem Vorschlag aber eine Art Schützenhilfe für ihre eigene Idee. Autor: Der CDU Politiker Jürgen Rüttgers tritt auf: O-Ton Tagesschau: Die Gewerkschaften sagen, ihr von der SPD müsst euch an der Stelle bewegen. Und an der Stelle, glaube ich, hat der DGB recht. Autor: Nun schlägt die Ausgewogenheitsregel zu: O-Ton Tagesschau: Doch die SPD setzt vor allem auf die Wiedereingliederung älterer Arbeitnehmer. Autor: Jens Bullerhahn, SPD, darf auch was sagen: O-Ton Tagesschau: Deswegen muss auch DGB, muss auch Rüttgers erkennen, das was dort vorgeschlagen wird, wird nicht greifen und ist für den einzelnen auch nicht gut. Autor: Das Problem ist nur: es gibt zu diesem Thema gar keinen Parteienstreit: SPD und CDU lehnen beide den DGB-Vorschlag ab. Die Äußerungen von Annelie Buntenbach, Jürgen Rüttgers und Jens Bullerhahn sind erkennbar aus dem Zusammenhang gerissen. So jedenfalls machen sie wenig Sinn. Den Sinn liefert am Ende der Reporter: O-Ton Tagesschau: Film: Die Arbeitsmarktreformen der Regierung Schröder sind für die SPD nach wie vor grundsätzlich der richtige Weg. Autor: Beitrags-Autor Christian Thiels tritt nun selbst ins Bild O-Ton Tagesschau: Mit ihrem Vorschlag wollen sich die Gewerkschaften öffentlich als besonders sozial profilieren. Und außerdem die SPD unter Druck setzen. Denn viele im DGB würden die Hartz-Reformen am liebsten rückgängig machen. Autor: Wer hätte das gedacht? In zwei Minuten werden aus schlechten, unvollständigen Informationen triviale Deutungen. Musikakzent: Tagesschau-Indikativ verfremdet O-Ton Tagesschau: Bundespräsident Köhler hat eine Stärkung der Familien gefordert, um einer Überalterung der Gesellschaft entgegen zu wirken. Auf einem Forum zum demographischen Wandel kritisierte er, Politik und Infrastruktur seien an überholten Vorstellungen ausgerichtet. Die Anerkennung von familiären Leistungen müsse sich stärker bei den Steuern und in der Sozialversicherung widerspiegeln. In den Familien werde das soziale Netz gesponnen, das die Gesellschaft zusammenhalte. Autor: Es ist zugegebener Maßen nicht ganz einfach, in präsidialen Gesinnungsreden ein Stück relevanter Information zu entdecken. Doch die Tagesschau schafft es mit verblüffender Sicherheit, die - wenn auch versteckte - Brisanz von Köhlers Rede zu verpassen. Beispielsweise hatte der Bundespräsident in seinem Vortrag erklärt: Zitator: Familien aber brauchen zeitgemäße Strukturen, sie brauchen eine Gesellschaft, die ihnen Zeit lässt und Raum gibt. (...) Die Verpflichtung zur permanenten Verfügbarkeit, die Notwenigkeit, mobil zu sein und immer länger und flexibler zu arbeiten - all das hat dazu geführt, dass die verlässliche Zeit für Familie und Partnerschaft geschwunden ist. Autor: Doch diesen Hinweis auf die Schutzbedürftigkeit der Familie vor der Aggressivität der Ökonomie sendet die Tagesschau nicht. Dabei geht das doch deutlich über die Allgemeinheiten hinaus, die die Tagesschau von Köhlers Auftritt wiedergibt. Besonders interessant wird es dann, wenn solche Forderungen aus dem Munde einer anerkannten Koryphäe des Neoliberalismus kommen. Schließlich gehört Köhler sonst zu den ersten, die radikale Deregulierungsmaßnahmen fordern. Die alte Phrase von der Familie als Keimzelle der Gesellschaft, die Köhler in seiner Rede aufgreift, bedürfte einer Situierung in den aktuellen Kontext der neoliberalen Ideologie. Man kann sicher von der Tagesschau keine umfassenden Antworten erwarten, doch wenigstens einen Hinweis auf Widersprüche und offene Fragen. Die Familie scheint zur Zeit vor allem das Modell von Großkonzernen zu sein, wie der nächste Beitrag zeigt, wo es um Mutterkonzerne und Tochtergesellschaften geht - und Väter: Vorstandsvorsitzende. Musikakzent: Tagesschau-Indikativ verfremdet O-Ton Tagesschau: Der neue Telecom-Chef Obermann hat heute auf einer Pressekonferenz in Bonn seine künftige Strategie skizziert. Dazu gehört für ihn ein besserer Kundenservice und eine engere Zusammenarbeit der verschiedenen Unternehmenssparten. Grundsätzlich will Obermann den Kurs seines Vorgängers fortsetzen, auch was den Abbau von Arbeitsplätzen angeht. Autor: Szenenwechsel. Es folgt der Film. O-Ton Tagesschau: Die neue Vorstandsmannschaft von René Obermann besteht aus engen Vertrauten, Managern, mit denen er schon bei der Mobilfunk-Tochter T-Mobile zusammengearbeitet hat. So gilt Timotheus Höttges als neuer starker Mann, verantwortlich für das gesammte Privatkundengeschäft im so wichtigen Heimatmarkt Deutschland. In den kommenden drei Monaten soll die Führungsmannschaft die Neuausrichtung erarbeiten. Die Personalien liegen auf dem Tisch. Jetzt muss aus ersten vagen Konzepten eine handfeste Strategie werden. Autor: Auftritt René Obermann O-Ton Tagesschau: Dieses Unternehmen muss kostengünstiger werden. Und das muss auch das Ziel sein. Die Frage ist nur das wie und in welchen Details wir das erreichen. Auch hier bitte ich um ihr Verständnis, dass wir dafür etwas Zeit brauchen. O-Ton Gniffke: Was ja letzten Endes unser Ziel ist, dass die Leute eine Informationsgrundlage haben, aufgrund der sie sagen können, das ist ja ganz schön oder das gefällt mir nicht und das mit dem Investivlohn, das sollte vielleicht kommen, und ach ja, die Wirtschaft brummt, jetzt können wir ein bisschen mehr in der Lohntüte haben. Solche Dinge, dafür müssen wir die Basis liefern und die Fakten dafür müssen wir recherchieren und dürfen uns nicht damit abspeisen lassen, dass ein Politiker das so sagt, das ist so. O-Ton Tagesschau: Gleichzeitig muss die Telecom aber auch für ihre Kunden attraktiver werden. Auch in der kommenden Zeit werde der Kundenschwund weiter anhalten, hieß es heute in Bonn. Neue Kombiprodukte aus Festnetz, Mobilfunk und Internet sollen diese Entwicklung stoppen. Außerdem will die Telecom das Unternehmen mit dem besten Service werden. Eine schwierige Aufgabe. O-Ton Gniffke: Was wir ja wollen, ist den Zuschauer einen Genuss an Nachrichten machen: dass sie etwas verstehen und ein Genießen an dem Verstehen bekommen. O-Ton Tagesschau: O-Ton Obermann: Das Bild, was ich mir von der Service-Situation mache, ist, glaube ich, einigermaßen realistisch. Und ich muss feststellen, es gibt erheblichen, massiven Verbesserungsbedarf. Autor: Nach dem Statement vom neuen Telecom Chef Obermann äußert sich nun ein Experte in Gestalt von Torsten J. Gerpott von der Universität Duisburg. O-Ton Tagesschau: O-Ton Gerpott: Die Telecom ist ein Unternehmen, das als großer Konzern große Schwierigkeiten haben wird, diese Kundenfreundlichkeit kurzfristig in die Tat umzusetzen. Das erscheint mir als langfristiges Programm realistisch, kurzfristig eher nicht. Autor: Und es folgt das Resümee des Autors: O-Ton Tagesschau: Ein Kraftakt für René Obermann: mehr Service, weniger Kosten, die Kunden glücklich machen, aber auch die Investoren. In den kommenden Monaten wird der Neue beweisen müssen, dass er wirklich der beste Mann an der Spitze der Telecom ist. Autor: Knapp zwei Minuten ist der Tagesschau diese Personalie aus dem Großkonzern Telecom wert. Die wäre allenfalls interessant, wenn sich hinter der Person von René Obermann auch nur die Kontur eines neuen Programmes erkennen ließe. Doch wie der Bericht selbst berichtet: davon kann kaum die Rede sein. Es geht weiter wie gehabt: Personalabbau, Kostensenkung usw. Der Service sei im schlechten Zustand behauptet der neue Mann, der doch immerhin seit Jahren an führender Stelle im Konzern tätig war. Die Konfrontation mit kritischen Fragen vor laufender Kamera findet in den Nachrichten nicht statt. Stichwort-Journalismus: kostengünstig, servicefreundlich, Investoren glücklich machen - über die spezifischen Probleme der Telecom erfährt man zwei Minuten lang kein Wort. Von den zehntausenden Arbeitern und Angestellten der Telecom ist nur in Form von Arbeitsplatzabbau die Rede. O-Ton Koenicke: Ich kann Ihnen sagen, wie es mir geht, wenn ich ein paar Tage zuhause bin, dann schreie ich manchmal auf, auf der Couch zuhause, wenn ich unsere Nachrichtensendungen sehe. Autor: Nicole Koenicke ist Chefin vom Dienst bei ARD-aktuell. O-Ton Koenicke: Dann sitze ich da und frage mich: Wieso das jetzt und das ist für mich unverständlich. Autor: Der Beitrag über die Telecom ist auch ein gutes Beispiel dafür, wie Wirtschaft in der Tagesschau konsequent als Betriebswirtschaft dargestellt wird. In dieser Perspektive erscheint dann auch der Abbau von Arbeitsplätzen als betriebswirtschaftliches Problem der jeweiligen Unternehmen. So sieht man niemals die volkswirtschaftlichen Bedingungen für den verschärften und für die Gesellschaft wie die Beschäftigten ruinösen Wettbewerb der Unternehmen. In der Tagesschau des 6. Dezember geht es weiter mit Neuigkeiten von der Kommandobrücke der Wirtschaft: Musikakzent: Tagesschau-Indikativ verfremdet O-Ton Tagesschau: Ruppert Stadler soll neuer Vorstandschef der VW-Tochter Audi werden. Er übernimmt das Amt zunächst kommissarisch von Martin Winterkorn, der im Januar an die Spitze des Mutterkonzerns wechselt, hieß es heute nach einer Aufsichtsratsitzung in Ingolstadt. Sein bisheriges Ressort Finanzen soll der 43- Jährige vorerst weiterführen. Autor: Volkswirtschaft findet nicht statt in der Tagesschau. Stattdessen bietet man uns neckische Börsenberichte (die bei der 20-Uhr-Ausgabe allerdings vorgeschaltet sind). Nun besitzen nur 12 Prozent aller Deutschen Aktien und wahrscheinlich sind für diese wenigen Aktienbesitzer die Börseninformationen der Tagesschau nicht gerade aufschlussreich. Bei der Tagesschau wird gerne so getan, als stünde die Entwicklung des Deutschen Aktien Indexes für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung. Das mag auch nicht völlig falsch sein, denn tatsächlich steht die Entwicklung der Aktienkurse mit den Zahlen für Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung und Einkommensverlusten in Verbindung. Doch die Tagesschau verweigert systematisch die Einblicke in solche komplexen Zusammenhänge. Musikakzent: Tageschau-Indikativ verfremdet O-Ton Tagesschau: Die sechs führenden deutschen Zementhersteller müssen sich von heute an vor dem Düsseldorfer Landgericht verantworten. Es geht um Schadenersatzforderungen in Höhe von 114 Millionen Euro. Geklagt haben ehemalige Kunden. Ihr Vorwurf: Die Betonriesen sollen jahrzehntelang Absprachen getroffen und überhöhte Preise verlangt haben. Das Urteil soll im Februar fallen. Kommendes Jahr wird auch darüber verhandelt, ob die Firmen zusätzlich ein Bußgeld von rund 660 Millionen Euro zahlen müssen. Autor: Wirtschaft, die Dritte. Auch hier mag man grübeln, warum ausgerechnet diese Meldung es in die Hauptausgabe der Tagesschau geschafft hat. O-Ton Gniffke: Ich kann das Wort Lebenswirklichkeit schon fast nicht mehr hören, aber klar ist, wir müssen erklärender werden, wir müssen den Leuten vermitteln, was bedeutet das jetzt eigentlich tatsächlich. (...) Wir zeigen den Teil der Welt, den wir für journalistisch wichtig und richtig halten. Wir gehen ja zunächst einmal danach, was wir für wichtig und relevant halten. Das bemessen wir nach journalistischen Kriterien. Journalistische Kriterien heißt erstmal: Hat das tatsächlich eine Bedeutung, worüber wir da berichten? Wie viele Menschen betrifft das tatsächlich? Welche Durchsetzungskraft hat das überhaupt, ist es von daher relevant darüber zu berichten? Autor: Im Falle der betrügerischen Zementhersteller schafft die Tagesschau es allerdings wieder einmal, die Pointe der Geschichte zu versäumen, die dem Fall eine gewisse Aufmerksamkeit jenseits normaler Rechtsstreitigkeiten verschafft hat. Denn es geht hier um juristisches Neuland. Bereits vor drei Jahren hatte das Bundeskartellamt einigen großen Zementherstellern ein Rekordbußgeld in Höhe von 660 Millionen auferlegt. Das Neue an der Schadenersatzklage vor dem Düsseldorfer Landgericht besteht darin, dass ein belgisches Unternehmen namens Cartel Damage claims eine Sammelklage eingereicht hatte. Die Belgier hatten die Schadenersatzansprüche von 29 geschädigten Firmen gekauft und vertreten deren Ansprüche jetzt im eigenen Namen. Eine derartige Sammelklage - nach US-amerikanischem Vorbild - hatte es im deutschen Kartellrecht noch nicht gegeben. Doch genau darüber erfährt man bei der Tagesschau nichts. Und als am 21. Februar 2007 das Düsseldorfer Landgericht über eine Zulassung der Klage entschied, war das der Tagesschau keinen Hinweis mehr wert. Warum die Tagesschau am 6. Dezember über die Angelegenheit berichtet, darüber kann man nur spekulieren. Vielleicht geht es hier um das moralische Design. Nachdem ausführlich nichtssagenden Lichtgestalten des Wirtschaftslebens gehuldigt wurde, sollte jetzt vielleicht in schnell zu vergessender Allgemeinheit an die dunklen Seiten des Wirtschaftens erinnert werden. Musikakzent: Tagesschau-Indikativ verfremdet O-Ton Tagesschau: Eine Amok-Drohung im Internet hat heute in Baden-Württemberg für Aufregung gesorgt. Autor: Es folgen gegen Ende dieser Tagesschau-Ausgabe Rauchzeichen der Gewalt. O-Ton Tagesschau: Einige Schulen blieben geschlossen. Die Polizei war im Großeinsatz. Unklar ist noch, ob die Drohung mit dem Verschwinden eines 18-jährigen Schülers in Verbindung gebracht werden kann. Der Junge wurde am Nachmittag tot aufgefunden. Die Behörden verteidigten die umfangreichen Sicherheitsmaßnahmen. Film: Polizei vor Schulen. Schon wieder. Diesmal zwar vorsorglich, dafür aber in einem ganzen Bundesland. In Baden-Württemberg versetzte der angekündigte Amoklauf Schüler, Eltern und Lehrer in sorgenvolle Aufregung. Gestern hatten zwei rheinland- pfälzische Realschüler nach einem Killerspiel im Internet Kontakt zu einem namenlosen Mitspieler bekommen. Der drohte für heute mit einem Amoklauf in Baden-Württemberg. Der zuständige Kultusminister warnte daraufhin alle Schulen des Landes. Autor: Der Autor des Beitrags bemüht genüsslich den Sound des Ernstfalls: Polizei, schon wieder, jetzt flächendeckend in einem ganzen Bundesland. Und in Ermangelung eines dazu passenden aufregenden Plots fälscht er dramaturgisch geschickt rasch die Einheit des Orts und der Zeit. "Gestern" hätten zwei Schüler im Internet von der anonymen Amokdrohung erfahren. In Wahrheit war die Polizei seit Tagen informiert. Doch als sie bei ihren Ermittlungen nicht fündig wurde, beschloss der Kultusminister 'gestern', am Dienstagnachmittag, dem 5. Dezember via Internet eine Warnung an alle Schulleiter zu mailen. O-Ton Tagesschau: O-Ton: Helmut Rau, CDU, Kultusminister Baden-Württemberg: Ich kann doch nicht riskieren, dass heute etwas passiert und ich habe nichts gemacht, obwohl ich einen Tag vorher etwas gewusst habe, dass möglicherweise Gefahr im Verzug ist. Ich hätte das mein ganzes Leben lang nicht verwunden. Film: Wegen der Warnung blieben sogar Schulen geschlossen. Anderenorts verriegelten Klassen die Türen von Innen. Aus Angst. War es richtig, die Warnung über Radio und Zeitungen zu verbreiten? Das ist umstritten. Autor: Und wieder folgt - ganz ausgewogen versteht sich - der Parteienstreit: O-Ton Tagesschau: O-Ton Ute Voigt, SPD: Die Gefahr, dass durch solche Generalwarnungen Trittbrettfahrer animiert werden, überhaupt erst tätig zu werden, die halte ich für ziemlich hoch. O-Ton Günter Öttinger, CDU, Ministerpräsident: Die Kritik ist schlichtweg abwegig, zu glauben, dass man 2000 Schulleiter und Schulleiterinnen informieren kann, die wiederum Lehrer und Kollegen informieren, aber nicht die Medien, ist schlichtweg Blödsinn. Film: In Offenburg wurde am Morgen von der Polizei ein Gymnasium regelrecht umstellt. Ein 18-jähriger Schüler war von seinem Vater vermisst gemeldet worden. Er hatte zuhause eine Waffe entwendet. Nachmittags die Meldung: Der Junge hat sich erschossen. Ob er allerdings der anonyme Internet-Mitspieler ist, ist völlig offen. So lange das nicht klar ist, bleibt die Warnung vor einem Amoklauf gültig. Allerdings forderte das Kultusministerium die Eltern auf, ihre Kinder morgen wieder in die Schule zu schicken. Autor: Die vorletzte Nachricht dieser Tagesschau - und eine der ausführlichsten - handelt von nichts als einem traurigen Fehlalarm und wäre allenfalls bemerkenswert als Studie über eine hysterische Stimmung, die von Medien gerne geschürt wird und woran sich die Tagesschau biedermännisch getarnt beteiligt. Es ist sicher schwer zu beurteilen, ob die Behörden mit der diffusen Gefahrenlage optimal umgegangen sind: Mit Sicherheit kann man den beteiligten Instanzen kein grobes Versagen vorwerfen. Viel interessanter und kritischer zu beurteilen ist in solchen Fällen meist die Rolle der Medien. Doch genau darüber schweigt sich die Tagesschau aus. O-Ton Gniffke: Der Gesprächswert alleine reicht nicht aus um Eingang in unsere Sendungen zu ermöglichen. Das sind immer die heißesten Diskussionen in dieser Reaktion. Jüngstes Beispiel war der erste Arbeitstag von Christoph Daum. Wir haben das auch gemacht. Aber machen wir auch den ersten Arbeitstag? 25 oder 30 Sekunden waren das. Einfach aufgrund der Tatsache, weil da Tausende von Menschen kommen, um sich das Training eines Zweitligisten anzuschauen. (...) Wir leisten es uns, sehr intensiv darum zu ringen, was wir machen und warum wir es machen. Autor: Dieses Ringen hat nicht nur Christoph Daums ersten Arbeitstag beim Zweitligisten 1.FC Köln ins Nachrichten-Programm gehoben, selbst Privatfernsehskandalnudel Daniel Kübelböck hat es mit einem lächerlichen Autounfall schon bis in die Tagesschau geschafft. Doch zurück zum Beinahe-Amok nach Hamburg ins Sendezentrum. Wer an diesem Tag beim Verfertigen der Tagesschau zugeschaut hat, konnte beobachten, dass allein bei diesem Thema eine gewisse Erregung im trägen Geschäftsgang der Dinge aufkam. Anne Will suchte am Vormittag vehement nach einer großen paradigmatischen Erzählung, einem Lehrstück für den Umgang mit solchen Bedrohungsszenarien. Und in allen kleinen Konferenzen diskutierte man den Stand der Dinge und den ihm gemäßen Tagesschau-Stil: die schöne Erregung öffentlich- rechtlich gemildert. Bei der großen Schaltkonferenz, zu der sich täglich um 14 Uhr die Chefredakteure der ARD zwecks Absprache von Themen und weiterer Abstimmung akustisch versammeln, hatten einige Herren aus den angeschlossen Funkhäusern gemahnt, das Thema nicht zu hoch zu hängen, um keine weitere Hysterie zu schüren und um keine Trittbrettfahrer zu ermuntern. Dabei vermittelte Chefredakteur Kai Gniffke den Eindruck, es ginge darum, die Pressefreiheit und Informationspflicht gegen die eher administrativ zurückgelehnten Kollegen durchzusetzen. Im Anschluss an die Tagesschau gibt er sich hoch zufrieden. O-Ton Gniffke: Wenn man diese Stück gesehen hat, das ich wirklich exzellent fand und wenn man dann noch im Ohr hat, dass mehrere leibhaftige Chefredakteure der ARD meinten, man könnte an diesem Thema vorübergehen, dann muss ich wirklich sagen, da muss ich mal tief in mich gehen, ob ich wirklich noch von dieser Welt bin oder nicht. Autor: Diese Frage kann man sich tatsächlich stellen. Doch die Kollegen stimmen ihm begeistert zu: O-Ton Redakteur: Das war ein tolles Stück. Ja, das war wirklich toll. Unaufgeregt. Alles drin, und dann dieser O-Ton von Rau. So was hast du ja nicht alle Tage. Autor: Doch es war eben nur ein Fehlalarm. Mit einer sonderbaren Pointe: Da die Amokdrohung nicht geklärt werden konnte, konnte der Alarm nicht aufgehoben werden. Doch das interessierte mit einem Male keinen mehr. Musikakzent: Tagesschau-Indikativ verfremdet O-Ton Tagesschau: Die US-Raumfahrtbehörde NASA hat neue Photos vom Mars veröffentlicht. Damit haben Spekulationen über mögliches Leben auf dem sogenannten roten Planeten wieder Auftrieb erhalten. Aus dem All aufgenommene Bilder deuten daraufhin, dass auch in jüngster Zeit Wasser auf dem Mars geflossen sein könnte. Photos der NASA- Sonde Mars Global Surveyor zeigen Veränderungen an der Oberfläche, vor allem an zwei tiefen Gräben. Autor: Schön, diese abschließende Erinnerung an mögliches Leben so weit weg auf dem entrückten roten Planeten. Dass an diesem Tag wieder so etwa 30.000 Kinder irgendwo auf unserem Planeten ihr kurzes Leben neben einer stinkenden Pfütze aushauchten, hatte für die Tagesschau auch heute keinen Nachrichtenwert. Es folgen noch zwei Nachrichten mit stabilem Erkenntnisgewinn: die Lottozahlen und der Wetterbericht. Atmo: startendes Flugzeug Absage: Die Tagesshow oder die Welt in 15 Minuten Ein Feature von Walter van Rossum Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks. Es sprachen: Marc Oliver Bögel und Bert Cöll Ton und Technik: Eva Pöpplein und Jürgen Hille Regie: Susanne Krings Redaktion: Karin Beindorff 28