KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : Literatur Kostenträger : P 62 Titel : Die Lyrik in den Lyrics. Literarische Inspirationen deut- scher Popmusik Autor : Juliane Streich Redakteurin : Barbara Wahlster Sendetermin : 26.2.2013 Regie : Stefanie Lazai Besetzung : Sprecherin/Kommentatorin, Zitator O-Töne und Musik liefert Autorin Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urhe- berrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Die Lyrik in den Lyrics Literarische Inspirationen deutscher Popmusik Von Juliane Streich Deutschlandradio Kultur: 26.2.2013 Redaktion: Barbara Wahlster 1 Kommentatorin 2 Zitatoren (männlich und weiblich) O-Töne Dirk Von Lotzow Nadja Von Brockdorff Sergej Klang Andreas Spechtl Moritz Baßler Musikausschnitte: Tocotronic: ? Neutrum ? Michael Ende (du hast mein Leben zerstört) ? Jetzt geht wieder alles von vorne los Ja, Panik ? Trouble ? Suicide Brockdorff Klang Labor ? Die Fälschung der Welt ? 1989 Hans Unstern ? Mit Schwarzen Lippen Sitzen wir Hinten _____________________________________________________________ Musik "Ich habe mehr als tausend Seiten Ich bin ein fließender Roman voller Empfindlichkeiten Und dennoch inhuman Ich habe mehr als tausend Seiten Ich bin ein ganzer Ozean Im Rhythmus der Gezeiten biete ich dir meine Liebe an" (Tocotronic,Neutrum, ab 1.44-2.09) Take 1 O-Ton Dirk von Lowtzow: "Popmusik finde ich sowieso prinzipiell zu einem so großen Maß referentiell, weil immer wieder auf Filme, Bücher, andere Bands oder so was Bezug genommen wird, seitdem es Popmusik gibt eigentlich, oder da so eine Verschränkung stattfindet, wieso ich es gar nicht so erwähnenswert finde. Deshalb ist es oft ein Problem: Man klaut sich was und hinterher vergisst man es dann auch wieder, was es eigentlich war. Mir würde jetzt zum Beispiel Roland Barthes einfallen. Es gibt ein Buch von Roland Barthes, das heißt "Das Neutrum" und das stand sicherlich ein bisschen Pate für das Stück Neutrum." (34s) Musik weiter: Ich bin ein Neutrum mit Bedeutung Im Hornissenstaat Mit einer langen Leitung Direkt ins Sekretariat" (Tocotronic,Neutrum, 2.09 - 2.30) Kommentatorin: Dirk Von Lowtzow, Sänger und Textschreiber von "Tocotronic", ist nicht der einzige Musiker, dessen Songs von Literatur beeinflusst sind. Die Bücherregale von Popmusikern liefern Unmengen an Ideen: Zeilen aus Gedichten, Anekdoten aus Romanen, Lebensläufe von Autoren, die zu imaginären Zwiegesprächen einladen. All dies wird verarbeitet, miteinander verflochten und vor allem so zusammengesetzt, dass es singbar ist. Das aktuelle Album "Die Fälschung der Welt" der Electropopband "Brockdorff Klang Labor" strotzt zum Beispiel nur so vor literarischen Anspielungen. Rotwein trinkend, Zigarette rauchend und debattierend stellen sich die drei Leipziger im Booklet zur Platte dar. Es ist vollgeschrieben mit Zitaten von Michel Houellebecq über Hunter S. Thompson bis zu Bert Papenfuß. Zitator: "Und da sitzen wir immer noch und handeln mit den Parolen des vergangenen Jahrhunderts" Kommentatorin: ... liest man dort beispielsweise von Christa Wolf. Der französische situationistische Autor und antikapitalistische Revolutionär Guy Debord gibt das Motto für ihre Musik vor: Zitator: "Wir haben nicht viel mehr gemeinsam als unseren Hang zum Spiel, doch dieser führt uns weit." Kommentatorin: Und Virginia Woolf beschrieb schon weit vor der Bandgründung die Ratlosigkeit und die Selbstzerstörung, die das "Brockdorff Klang Labor" im Titelsong besingt: Zitator; "Der Wind, das Rasen von Rädern wurde zum Dröhnen der Zeit, und wir rasten - wohin? Und wer waren wir? Einen Augenblick lang löschte es uns aus, wir gingen aus wie Funken in versengtem Papier, und die Schwärze dröhnte." Kommentatorin: Die Zeilen all dieser Autoren beeinflussten die Sänger Nadja von Brockdorff und Sergej Klang beim Schreiben ihrer eigenen Songs. Take 2 O-Ton Nadja von Brockdorff: "Dieses Booklet, was wir gemacht haben, das sind ja jetzt nicht nur Schriftsteller, die jetzt direkt von uns zitiert werden und die eingeflossen sind in die Texte, sondern es ist überhaupt eine Hommage an diese ganzen wunderbaren Künstler, die wir reingenommen haben, weil sie assoziativ super zu den Songs passen. Wie der Virginia Woolf-Text so perfekt zur Fälschung der Welt passt, und das muss nicht unbedingt heißen, dass nun jeder Song direkt von der Autorin beeinflusst ist, sondern das ist eher eine Hommage oder so ein Spiel, dass die Leute einlädt, selbst nochmal nachzulesen und nachzuforschen. Und dass ist ja das Schöne in der Sprache, dass sie so unterschiedlich ist." (49s) Take 3 O-Ton Sergej Klang: "Wir sitzen jetzt nicht unbedingt mit den Büchern im Proberaum und suchen dort Zitate raus. Aber wir sind alle schon seit vielen Jahren literaturinteressiert, schon weit bevor wir angefangen haben, Popmusik zu machen und natürlich fließt das alles ein ins Texten und Songschreiben. Über die Jahre haben sich natürlich einige Autoren herauskristallisiert, die uns besonders am Herzen liegen, die uns stark beeinflusst haben, das merkt man dann irgendwann. Es ist aber auch so, das wir hin und wieder auch direkt zitieren. Ich habe da halt so ein Textbuch,in das ich Inspirationen hereinschreibe und da sind dann auch mal Passagen aus irgendwelchen Büchern dabei." (45s) Kommentatorin: Auch Andreas Spechtl, Sänger und Textschreiber der österreichischen Band "Ja, Panik", benutzt Passagen, Satzfragmente und Ausschnitte aus Büchern für seine eigenen Songtexte. Die Debatte um die Plagiate in Helene Hegemanns Debütroman "Axolotl Roadkill" fand er nicht der Rede wert. Überhaupt scheint eine Diskussion um richtiges Zitieren, wie sie in der Wissenschaft immer wieder stattfindet und auch zur Aberkennung von Doktortiteln führt, in der Praxis des Songschreibens ganz weit weg zu sein. Andreas Spechtl hat Songs geschrieben, in denen kein einziges Wort von ihm selber stammt. Take 4 O-Ton Andreas Spechtl: "Sagen wir mal so, ich tue mich schwer einfach so aus mir raus ein Lied zu schreiben. Ob das nun damit zusammenhängt, dass ich es nicht könnte oder dass es mich langweilt, doch wenn ich ein Thema habe, habe ich einen Drang zu forschen. Ob das nun unbedingt Literatur ist oder ein Film oder auch etwas, wenn ich fernsehe und es trifft mich etwas aus der Werbung...ich habe da nicht unbedingt ein Raster." (25s) Kommentatorin: Diesen Drang gibt er dann nahezu exzessiv nach. Liest erst stundenlang, schreibt dann. Waren die ersten beiden Alben der Band noch eine ausschließliche Zitatensammlung, erzählt Spechtl auf DMD KIU LIDT (englisch ausgesprochen: Di Em Di Qjuu Litt) auch selbst erdachte Geschichten. Take 5 O-Ton AS: "Irgendwie habe ich mir das angefangen, ja, dass ich zu irgendeinem Thema richtig forsche. Das ist dann auch bei jeder Platte anders. Bei der letzten Platte zum Beispiel habe ich ziemlich viel Walter Benjamin gelesen, eigentlich auch ziemlich viel Thomas Bernhard. Es ist dann auch nicht immer nur unbedingt Literatur, es sind dann auch oft eher theoretische Schriften. Ich würde sagen, für die letzte Platte waren gerade die früheren Walter Benjamin-Texte sehr wichtig dafür." (0.25s) Kommentatorin: Wie in dem Song "Trouble" deutlich wird, der eine Begegnung zwischen Benjamin und dem Ich- Erzähler beschreibt. Musik: Ich dachte so wird's kommen und es kam anders Ich blieb hängen auf den Straßen Europas Er war irgendwann mal da, er kam irgendwie dazu Ich weiß noch als er sagte kurz vor Portbou: Sorry for my bad English But my German is even worse I'm looking for somebody looking like you In fact for shelter I do search (Ja, Panik: Trouble, bis 0.40) Take 6 O-Ton AS: "Es gibt dieses "Trouble"-Stück, da habe ich im Hintergrund an ihn gedacht. Es geht darum, dass ein Mensch flieht und Hilfe braucht und jemanden findet, der ihm hilft und das wäre ich dann in dem Fall. Insofern ist es also superfiktiv." (14s) Musik weiter: And I'm in trouble trouble trouble Deep deep deep trouble Trouble trouble trouble Trouble deep Ich dacht' ich weiß doch selbst nicht, wie ich weiterkommen soll Und sagte "It's alright, we're gonna fix it all" Er sah mich an, sein Blick traf mich hart Er meinte "You can hardly tell a worried man from a coward" But as far as I can see You need my company just as I need yours (0.41 bis 1.24) Kommentatorin: Und so kreiert Andreas Spechtl, indem er sich großzügig bei der Literatur anderer bedient, selbst wieder ein neues Werk, das nicht nur zum Anhören, sondern auch zu Deutungen und Interpretationen einlädt. Denn so gelingt es "Ja, Panik", dass sich die Gelehrten von heute mit ihrer Band und ihren Texten beschäftigen. Take 7 O-Ton Moritz Baßler: "Dann zitieren sie alles her, auch aus der Popgeschichte, vor allem so Amerikanersachen, und kleiden das dann da ein. Und das ist schon fantastisch. Das ist vielfältig und das ist nicht weniger - natürlich nicht weniger - dass man das überhaupt betonen muss, dass das nicht weniger komplex ist als ein Gedicht von wasweißichwem." (17s) Kommentatorin: Moritz Baßler ist Professor für Literaturwissenschaften und als Popexperte unter anderem Mitherausgeber der Zeitschrift "POP. Kultur und Kritik". Er nimmt sich deutsche Popsongs zur Textanalyse vor. Und würde auf keinen Fall eine Trennungslinie zwischen Lyrik und Lyrics ziehen. Ist doch schließlich das Lied, wenn man es genau nimmt, der Ursprung aller Lyrik. Denn schaut man zurück auf die Herkunft des Wortes landet man beim griechischen lyra, was so viel bedeutet, wie "zum Spiel der Leier gehörig". Es herrschte also schon immer eine enge Verbindung zwischen Lyrik und Musik: Lyrische Dichtung ist seit den frühen Kulturen zur Musik vorgetragene, also meist gesungene Dichtung. Take 8 O-Ton MB: "Dass Lyrik nur als Lesetext da ist, so als Hochliteratur, das ist eine typische Sache 19. Jahrhunderts, E-Literatur, und dann natürlich im 20. Jahrhundert weitergemacht. Und das hat sich inzwischen irgendwie so aufgespalten. Aber beides ist natürlich Lyrik. Lyrik, die gesungen wird, nimmt natürlich Rücksicht darauf, auch in der Form, zum Beispiel durch Endreim und solche Sachen." (21s) Take 9 O-Ton SK: "Man hat ja auch nicht umsonst damals sehr oft vom Sänger gesprochen, obwohl die Leute die Texte gar nicht gesungen haben. Also der Dichter war gleich der Sänger.Und heute sind viele moderne Dichter Sänger, Popmusiker. Und da wären wir bei Morrissey oder Leonard Cohen, die ja eigentlich auch Autoren sind, eigentlich auch Lyriker, und eigentlich auch das klassische Bild des Sängers, wie es in der klassischen Literatur kommt, heute noch so verkörpern. Insbesondere Leonard Cohen." (33s) Kommentatorin: Neben den von Sergej Klang hochgeschätzten Cohen und Morrissey gilt auch Bob Dylan als einer der großen Poeten unserer Zeit. Immer wieder werden Stimmen laut, die fordern, ihm den Literaturnobelpreis zu verleihen. Die Meinungen darüber, ob Sängern, die Songtexte schreiben, gleichzeitig auch Ehre als großartige Literaten gebührt, gehen auseinander. Moritz Baßler hat keine Schwierigkeiten damit: Take 10 O-Ton MB: "Es gibt so ein paar Leute, die würden auch ohne die Musik funktionieren. Ich meine bei Dylan würde man sich ja manchmal freuen, wenn die Musik fehlen würde. Bei der 17. Strophe von irgendwie...Da geht's doch nur noch um Text. Und Dylan denkt auch vom Text her. Das habe ich letztens in einem Interview mit seinem Produzenten gelesen. Wenn der Text fertig ist, denkt er, der Song sei fertig." (21s) Kommentatorin: Hierzulande seien aber literarische Meisterwerke in Songform viel schwerer zu finden, meint Sergej Klang, dessen Songs "Kein Ort. Nirgends" nach dem Roman von Christa Wolf heißen, oder "Wortdickicht" wie eine Kreation aus Rolf Dieter Brinkmanns Gedichtband "Westwärts". Take 11 O-Ton SK: "In Deutschland gibt es diese Tradition nicht so. Da gibt's den Schlager und da gibt's Udo Lindenberg und da gibt's irgendwie Neue Deutsche Welle und dann gibt's Element Of Crime und ein paar Liedermacher und dann wird's schon sehr eng so. Und dann gibt es jetzt halt in den letzten 20 Jahren eine neue Tradition, die da gewachsen ist, die eben auch das aufgegriffen hat und die englischsprachige Vorbilder hatte offensichtlich und dann eben auch so ein bisschen diese Gitarrenpopecke bedient hat." (28s) Kommentatorin: Neben "Blumfeld", in deren Texte Sänger Jochen Distelmeyer unter anderem gerne Ingeborg Bachmannn-Zitate einbaute, gelten "Tocotronic" als Begründer dieser so genannten Hamburger Schule. Neben den geschrammelten Gitarren steht sie vor allem für durchdachte Lyrics. Textschreiber Dirk von Lowtzow würde sich zwar mehr über einen Nobelpreis für Dylan freuen, als über den für Günther Grass. Doch stellt sich für ihn die Frage gar nicht. Take 11 O-Ton DVL: "Ich finde auch, dass die Texte - anders als Lyrik - nicht für sich stehen sollten. Ich finde sie auch keine Lyrik. Also ich würde sie nicht als eigenständige lyrische Werke betrachten, sondern es sind eben Texte, die dafür geschrieben wurden, gesungen zu werden und darüber hinaus auch noch im Pop- oder Rock- oder wie man es auch immer nennen mag Kontext gesungen zu werden." (24s) Kommentatorin: Andreas Spechtl druckt daher die Texte seiner Songs nur sehr ungerne ab, weil er nicht der Meinung ist, dass man sie unabhängig von der Musik lesen sollte. Take 12 O-Ton AS: "Oft sind das dann rhythmisch so seltsam gesetzte Zeilen, die halt über die Melodie passen. Vielleicht, wenn du die Melodie kennst, ist es weniger schlimm, aber wenn du jetzt ohne Hintergrundwissen diese Texte ansiehst, dann finde ich einfach, dass es nicht so gut funktioniert, weil es dafür auch einfach nicht gemacht ist oder ich würd's halt anders machen, wenn es echt nur fürs Lesen gemacht wäre. Da gehört halt ein Song dazu. Inhaltlich ändert sich ja nichts, aber ich find's halt formal ein bisschen schwierig." (23s) Kommentatorin: Andersherum funktioniert das Ganze weitaus besser. Sobald ein geschriebener Text beim Lesen eine gewisse Rhythmik hervorruft, kann er schnell zu Inspiration eines Songs herangezogen werden. Wie Wolfgang Borcherts Erzählung "Im Mai, im Mai schrie der Kuckuck", in der es heißt: Zitator: Toll sind die Märzmorgende am Strom, man liegt noch im Halbschlaf, gegen vier so ,und die Schiffsungetüme blasen ihr vitales Saurier-Gestöhn unruhig über die Stadt hin, in den eisigrosigen Frühnebel, den sonnenüberhauchten Silberdampf des atmenden Flusses hinein, und im letzten Traum vor Tag, da träumt man dann nicht mehr von hellbeinigen schlafwarmen Mädchen (...) Toll sind die Novembernächte in den vereinsamten mausgrauen Städten, wenn aus blauschwarzen Vorstadtfenstern die Lokomotiven herüberschrein, angstvoll, hysterisch, kühn und abenteuerlich, in den ersten kaum begonnenen Schlaf hinein, Lokomotivenschrei, lang, sehnsüchtig, unfaßbar, davon zieht man die Decke noch höher und drängt sich noch dichter an das nächtliche, zauberische, heiße Tier, das Evelyn oder Hilde heißt... Kommentatorin: Diese Zeilen hatte Nadja von Brockdorff im Kopf, als sie den Song "Die Fälschung der Welt" schrieb: Musik: Wir treffen uns in tiefblauer Nacht Und laufen dem Irrsinn nach, Die Züge schreien seltsam erwacht Aus kaum begonnenem Schlaf. Dann fallen wir und mit uns fällt Der letzte Traum vor Tag. Wir hoffen auf die Fälschung der Welt Und lauschen der atmenden Stadt. Der Nachtwind streift uns das Gesicht Wie ein vertrautes Tier. Jetzt ist es still wir warten nicht Und legen uns zu dir. (BrockdorffKlang Labor, Die Fälschung der Welt, 2.25-3.18) Take 14 O-Ton NVB: "Das typische Thema bei Borchert ist das Thema der Heimkehrer, also Verlust der Heimat durch die grausame Erfahrung des Krieges. Und es geht immer um diese Einsamkeit und Verlassenheit, obwohl man vielleicht sogar unter Menschen ist. Es ist natürlich von mir nicht so aufgenommen und nicht so bearbeitet worden, dass es der gleiche Inhalt ist, sondern eher um den Sprachfluss, die Rhythmik, ein Gefühl, das da drinsteckt. Ich habe das völlig verändert, also der Text bei uns auf der Platte geht um etwas völlig anderes. Das ist eher die poetische Sprache, die mich da beeinflusst hat von Borchert." (38s) Kommentatorin: So wie die Sprache und die Stimmung, in die man beim Lesen verfällt, einen dazu bringen, sich selbst hinzusetzen und dank des Gelesenen einen eigenen Liedtext zu schreiben, kann es ebenso die Biografie sein, die so bewegend ist, dass man ihr in Form eines Songs ein Denkmal setzen will. Als Andreas Spechtl "Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod" las, stieß er auf die Lebensgeschichte des Autors Jean Améry. Ursprünglich 1912 als Hans Chaim Mayer in Wien geboren, emigrierte er nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich nach Belgien. Beim Verteilen antinazistischer Flugblätter wurde er verhaftet, von SS-Leuten gefoltert und in die Konzentrationslager Auschwitz, Buchenwald und Bergen-Belsen verschleppt. Erfahrungen, die Améry später auch in seinen Büchern und feuilletonistischen Texten verarbeitete und als Schriftsteller und Journalist recht erfolgreich wurde. Dennoch beging er 1978 Selbstmord. Take 15 O-Ton AS: "Das ist eine ziemlich arge Geschichte: Der war nämlich quasi auf Lesetour von diesem Buch und hat dann quasi sich in Salzburg ein Hotel an einem freien Tag gemietet und hat sich dann in der Badewanne während der Tour einfach umgebracht. Ganz gezielt, das muss richtig arg geplant gewesen sein, hat alles vernichtet. Quasi so, als wenn wir auf Tour gehen würden, und einen freien Tag genommen. Und dann haben sie ihn dort gefunden, ganz friedlich und urschön zurechtgemacht." (28s) Kommentatorin: Diese Szene stand daher Pate bei "Ja, Paniks" Song "Suicide", der im Refrain den Selbstmord als "Love" und "Passion" feiert. Musik: Es stand schon lange in den Büchern, die ich las Richtung Wien-West Da waren Worte klar und nüchtern Nobody knows what you know best Da bleibt nichts übrig von den Nächten Da bleibt nichts übrig, nie, nie, nie, nur euer Tratsch und das Gelächter You people, you are killing me Any, any, any, any, anywhere So let me, let me, let me introduce you to something that made my day Suicide, suicide, suicide, suicide, suicide is love, suicide Suicide, suicide, suicide, suicide, suicide is passion (Ja, Panik, Suicide, bis 1.23h) Kommentatorin: Natürlich steckt in etlichen Songs auch Eigenes, selbst Erlebtes. So haben mehr als zwanzig Jahre nach dem Mauerfall die Leipziger von "Brockdorff Klang Labor" ein Lied über die aufregenden Nächte der Wendezeit geschrieben. Aber selbst in diesem Fall erzählen sie nicht nur aus ihren eigenen Biografien. Take 16 O-Ton NVB: "Unsere Single, die wir ausgekoppelt haben, 1989, der Text ist auch beeinflusst von einem Autor hier aus Leipzig, und zwar von Clemens Meyers "Als wir träumten". Der hat natürlich eine ganz andere Sprache, viel rauer, treffend oder betreffend, finde ich auch großartig, und diese Atmosphäre aus diesem Buch hat mich auch irgendwie inspiriert zu diesem Text von 1989, weil wir dieselbe Zeit behandeln und dieselbe Stimmung eigentlich. Auch so ein fatales oder bitteres Ende, das drin steckt, und das ist auch so ein gutes Beispiel dafür, dass Literatur oder ein Prosatext übergeht in einen Song." (44s) Musik: Wollen wir spielen Schätzchen, Laufen wir um den Ring. Ein Montag im Herbst, Zwischen Hoffnung und Angst. Sag mir wer ich bin - Ein perfekter Moment. Später werden wir zahlen Und irgendwann sind wir eins. Eine Sekunde hier und dann vorbei. Du bist Geschichte, Baby, mach dich bereit. Das ist kein Befehl - du bist frei. Frei im Fall - Deutschland, Deutschland überall. (Brockdorff Klang Labor, 1989, 1.30-2.33) Kommentatorin: Und dann gibt es statt Bewunderung, Aneignung und Identifikation auch noch den gegenteiligen Effekt bei den Musikern. Schließlich kann sie einen auch beuteln, all die Literatur von Autoren, die man nicht zu schätzen weiß, die einem vorgesetzt werden, die man obendrein auch noch gut finden soll, weil sie angesagt ist. Der Song "Michael Ende" von "Tocotronic" ist so ein Beispiel. Die damals noch recht junge Band machte den Schriftsteller im Scherz für eigentlich alles verantwortlich, was einem so Tag für Tag widerfährt und anzuprangern ist. Zeilen des Liedes schafften es anlässlich des Todes von Michael Ende gar auf die Titelseite der Tageszeitung taz. Doch taucht der Song seit vielen Jahren nicht mehr im Live-Programm der Hamburger auf. Take 17 O-Ton DVL: "Damals zu der Zeit, 95, 96,war es total en vogue: Generation X, danach kam dann Generation Golf oder was weiß ich, das scheint so ein Spiel zu sein, und wir fanden es halt wahnsinnig witzig, sozusagen Generation Michael Ende auszurufen, so eine Generation, die mit den Büchern von Michael Ende gequält wurde, mit Momo und Die Unendliche Geschichte. Deshalb hatten wir dieses Stück gemacht." (24s) Musik: Ein Lied mehr zur Lage der Nation Und zur Degeneration meiner Generation Zur Unentschlossenheit der Jugend Zur Verdrossenheit der Tugend Zu meiner aussichtslosen Lage Und zur Klärung der Schuldfrage Und darum klag ich an: Michael Ende, nur du bist schuld daran Dass aus uns nichts werden kann Du hast uns mit deinen Tricks Aus der Gesellschaft ausgeXt Mit den Eltern aller Schichten Willst du uns vernichten Michael Ende, du hast mein Leben zerstört (Tocotronic, Michael Ende, du hast mein Leben zerstört, 0.54- 2.24) Take 18 O-Ton DVL: "Und dann wurde das im Laufe der Zeit, in diesen ein, zwei Jahren, wo wir das im Programm hatten, wurde das immer mehr so einer Hasshymne, hat sich so verselbstständigt und wurde die Rezeption davon fast so ein bisschen prollig. Darum ging es uns ja nicht. Uns ging es ja nicht um die Schmähung dieses Menschen, den wir ja gar nicht kannten, sondern eher um so eine scherzhafte Abrechnung mit der eigenen Generation und deren Unzulänglichkeiten, die eben durch diese Früh- Infiltration mit diesem Micheal-Ende-Kram...haha...da hatten wir dass Gefühl, das würde missverstanden so als Schmäh." (34s) Kommentatorin: Derzeit liest Dirk von Lowtzow Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit". Zum zweiten Mal in seinem Leben. Vor zwanzig Jahren hat sich der heute Über-40-Jährige schon einmal durch das mehr als 4000 Seiten-Buch gearbeitet. Jetzt fallen ihm Aspekte auf, die er damals überlesen hatte. Was für eine große Rolle zum Beispiel die Homosexualität spielt. Aber auch schon beim ersten Lesen beeindruckte ihn die Geschichte über das Erinnern so stark, dass "Tocotronic" ihr zweites Album sogar "Nach der verlorenen Zeit" nannten. Der Song "Jetzt geht wieder alles von vorne los" auf dem nachfolgenden Album schließt direkt daran an. Auch das war vor allem ein Gag. Take 19 O-Ton DVL: "Uns wird ja oft unterstellt, wir sind ironisch. Das stimmt aber nicht, weil wir nie, nie ironisch sind. Sondern wir arbeiten einfach sehr offensiv mit Gags. Wir finden das dann witzig: Ja, das kann man doch "Nach der verlorenen Zeit" nennen. Es ist ja schon ein Gesamtkunstwerk mit Cover: Wenn man das "Nach der verlorenen Zeit" dann in bunten Buchstaben schreibt, wie wir das geschrieben haben, bekommt das ja etwas kindlich Comichaftes und so. Das bringt uns als Band dann immer Freude." (26s) MUSIK: Nach der verlorenen Zeit hab ich erstmal weniger nachgedacht, Vielleicht darüber, wie man ein paar neue Lieder macht. Nach der verlorenen Zeit hab ich erstmal mehr Zeit mit mir verbracht, Und öfters hab ich wachgelegen, mitten in der Nacht. Nach der verlorenen Zeit hab ich erstmal weniger gehaßt, Man findet ja nicht immer etwas, was einem grad nicht paßt. Nach der verlorenen Zeit ist es jetzt vielleicht zu spät, Man verpaßt ja doch nichts, wenn man nicht früh aufsteht. (Tocotronic, Jetzt geht alles wieder von vorne los,bis 1.14h) Kommentatorin: Dass Literatur überhaupt so eine große Inspirationsquelle für Popsongs ist, hängt nicht nur mit der Nähe dieser beiden Textformen zusammen. Take 19 O-Ton NVB: "Für uns ist auch wichtig die Sprache, dass wir deutsch singen, hat auch was damit zu tun. Das Feld, auf dem wir uns am besten auskennen. Am Anfang war das schon schwieriger, weil einfach viele Leute auf Englisch singen und das ist so einfach: Reimt sich schneller, kurze Worte, weiß man auch nicht so genau, was man da eigentlich sagt und dadurch hat man gleich so ein krudes Gefühl. Also vielleicht weiß man auch, was man da sagt, aber es ist nicht so eine große Herausforderung, also fand ich, wie auf Deutsch zu texten. Wahrscheinlich habe ich einfach zu viel gelesen auf Deutsch, dass da die Maßstäbe einfach sehr hoch sind aber auch die Tiefen, die du spürst, als wenn du es nicht auf deiner Muttersprache machst." (39s) Kommentatorin: Es braucht nicht einmal Belletristik, also nicht unbedingt Lyrik oder Prosa sein. Selbst theoretische Abhandlungen führen zu kreativen Schüben, wie man auf den "Ja, Panik-Alben" hören kann. Take 20 O-Ton AS: "Umso weiter weg das Feld ist, von dem man sich was holt und man es in die Kunst einbaut, umso spannender finde ich es auch. Also wenn ich jetzt etwas aus einem superwissenschaftlichen Text über die Systemtheorie in einen Popsong über Liebe einbaue, dann finde ich das jetzt viel spannender als wenn ich etwas aus einem Gedicht in einen Popsong... das ist viel näher dran und das finde ich viel weniger spannend. Aber ich habe angefangen, Dinge viel eher zu paraphrasieren als wirklich zu zitieren." (27s) Kommentatorin: Paraphrasen en masse machen auch das Schaffen von Hans Unstern aus. Er zitiert mal hier, mal da, und zwar so, dass es im Nachhinein kaum noch erkennbar wäre. Zitator: "Du bist ein Dichter haben sie zu Hans Unstern gesagt, und seither versucht er, das zu werden, wofür die anderen ihn halten." Kommentatorin: So steht es auf dem Buchrücken des Buches "Hanky Panky Know How". Hans Unstern, einst Straßenmusiker, hat es geschrieben und es besteht eigentlich nur aus Texten von Songs, die er auf seinen Platten "Kratz dich raus" und "The Great Hans Unstern Swindle" herausgebracht hat und die so, wie sie da schwarz auf Weiß und unvertont stehen, keine Songs mehr sind, sondern Gedichte. Selbst was er bei seinen Auftritten und Platten macht, ist kaum mehr als Musik zu beschreiben. Er spricht Worte über Geräusche und nur manchmal ergeben sie überhaupt ganze Sätze. Das Buch präsentiert hin und wieder ganze Seiten, auf denen lediglich ein einziges Wort steht. Auf anderen wiederum nahezu Pamphlete, die fragen: Zitator: "Wann ist Autos anzünden endlich Streetart? Abgebrannt und restlos ausverkauft. Die Eltern haben uns eine Jugendbewegung abonniert." Kommentatorin: Hans Unsterns Lieder klingen fast wie die Zerstörung von Musik, wie die Verneinung von Lyrik und die Verwerfung gesammelter Lebensweisheit gleichermaßen. Sie werden in den gängigen Musikzeitschriften bejubelt. Musik: Mit der Tasche voll Bücher Die nichts von unserem Leben wissen Überwinden wir die Treppen Windeln uns an Niemand Traun uns einen Spalt Stottern und durch Haspeln eine Begriffsstörung Sie zerstaubt als traurig taumelnder Schwarm Buchstabenmücken Die letzte erschlag ich Vor meinen Augen" (Hans Unstern, Mit Schwarzen Lippen Sitzen Wir Hinten, 0.15-0.50) Kommentatorin: Hans Unstern gibt keine Interviews. Man solle doch schreiben über ihn, was man wolle. Er würde auch missverstanden werden, wenn er mit Journalisten sprechen würde, gibt er in einer mehrere Seiten langen schriftlichen Erklärung bekannt. Wenn man ihn richtig verstanden hat. Darüber, wie er seine Texte schreibt, lässt er verlauten: Zitator: "Ich schreibe über lange Zeit eine bestimmte Anzahl an Seiten am Tag, und damit hat es sich. Ich wünsche mir wirklich keine Kreativität. Es ist Akkordarbeit, und so sehe ich sie auch. Der Gedanke an Phantasie dagegen quält mich. Ich hasse ihn geradezu. Das Wort Phantasie ist so eine Art Schreckgespenst. Man verwendet es, um die Literatur auf ein Podest zu stellen. Ich habe mich nie für phantasievoll gehalten. Ich nehme fremde Texte zur Hilfe oder Freunde oder Erinnerungen. Die meisten Schriftsteller dagegen reden immer über Inspiration. Es gibt daran aber nichts Mysteriöses." Kommentatorin: Vielleicht hat er Recht. 1