HINTERGRUND KULTUR UND POLITIK Organisationseinheit : 39 Reihe : Zeitfragen/Literatur Ko Kostenträger : P 31 250 T Titel der Sendung : Erdkunde und Menschenfleisch qq Zum Werk des Büchner-Preisträgers 2016 Marcel Beyer Autor/in : Ulrich Rüdenauer Redakteurin : Dorothea Westphal Sendetermin : 04.11.2016 Besetzung : Sprecher 1 (Zitate Beyer), Sprecher 2 (Autor), Sprecher v.D. (Zitat Hummelt) Regie : Stefanie Lazai Produktion : O-Töne, Musik Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503- Feature Marcel Beyer Deutschlandradio Autor: Ulrich Rüdenauer Redaktion: Dorothea Westphal Info zur Anmoderation Der Romanautor, Lyriker, Essayist und Opernlibrettist Marcel Beyer erhält in diesem Jahr den Georg-Büchner-Preis. Er habe den Sound der Straße im Ohr, er kenne die Testgelände der ästhetischen Avantgarden, er sei vertraut mit der tückischen Magie der Medien, heißt es in der Begründung der Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. Seine Texte seien kühn und zart, erkenntnisreich und unbestechlich. Das verbindet sie mit denen Büchners. Marcel Beyer ist ein würdiger Träger des renommiertesten Literaturpreises des Landes, das war in den Reaktionen einhellige Meinung. Alle Kommentatoren begrüßten die Entscheidung, einen Autor der jüngeren Generation zu ehren. Beyer ist Jahrgang 1965. Unter dem Titel "Erdkunde und Menschenfleisch" erkundet Ulrich Rüdenauer in seinem Feature das Werk des Büchner- Preisträgers, der an diesem Wochenende in Darmstadt ausgezeichnet wird. Ulrich Rüdenauer hat Marcel Beyer an seinem Wohnort in Dresden besucht und auch mit zwei Künstlern gesprochen, die mit Beyer zusammengearbeitet haben: mit Ulli Lust und Enno Poppe. Die Musik, die in Beyers Werk eine bedeutsame Rolle spielt und die Sie im Feature hören werden, stammt von Linton Kwesi Johnson, The KLF, Prince, Augustos Pablo, Enno Poppe und Pere Ubu. Regie führte Stefanie Lazai. _______________________________________________ O-Ton 1 Enno Poppe (...) seine Schallplattensammlung, die ja legendär ist, (...) mit diesen 20.000 LPs, die dort stehen, das ist ja für mich auch absolut phänomenal, also ich hab von ihm auch unheimlich viel Musik kennengelernt, die mir vorher unbekannt war (...) Sprecher 1 / Zitat (Marcel Beyer, Spex, 11/93, 31) (Sprecher 1 müsste irgendwie abgesetzt werden, indem man so eine Art anderen Raumklang schafft oder ihn mit einer bestimmten Hintergrundmusik unterlegt) "(...) allein dieser Duft. Diese abgestoßenen Kanten. Diese unscharfen Coverphotographien. Die unpraktischen schlabbrigen Plastiktüten, in denen das Vinyl (und hier heißt Vinyl noch Vinyl, nicht irgendein recyclingfähiger Allerweltskunststoff) ruht. Dann der entrückte Blick auf unlesbare Labels und Leimspuren quer über die Rillen ..." O-Ton 2 Marcel Beyer Also, für mich hat das Musikhören ja dann so richtig angefangen mit der Entdeckung von Reggae. Und vorher habe ich halt das gehört, was Klassenkameradinnen und - kameraden auch gehört haben, und dann haben wir Abba gehört und dann kam Beatles und so, weißt du, und dann entdeckte ich Reggae für mich und dann Dub, und da gibt es dann so ein paar Platten, [Musik beginnt], oh ich bin auf 45, gibt es ein paar Platten, die wirklich mich bis heute faszinieren, ich kenne die in- und auswendig, die verfehlen ihre Wirkung nicht. Und diese Platte ... ich las eben die Besprechung dieser Platte, und da stand, die Bässe sind so, dass einem wirklich übel wird, und ich habe die zu Hause gehört, und mir wurde wirklich übel. Musikeinspielung 1 Linton Kwesi Johnson: Victorious Dub (1980) Laut einsetzen, kurz stehen lassen, dann etwas runterfahren Sprecher 1 / Zitat Marcel Beyer (Aus einer E-Mail Marcel Beyers) "Immer noch irre! Das passt auf keine Gänsehaut. Musik! Sie wird alle diese blöden Penner, die was von ,deutscher Leitkultur' faseln, in die Hölle jagen." Musikeinspielung 1 Nochmal hochfahren, dann unter die nächsten Passagen legen Sprecher 2 / Autor Die Musik steht am Beginn des Schreibens, laut, basslastig, rhythmisch. Marcel Beyer hat in den neunziger Jahren für die Musikzeitschrift Spex geschrieben, hat Musiker und Künstler in London besucht. Manchmal ist er in seinen Artikeln auch grundsätzlich geworden: Sprecher 1 / Zitat Marcel Beyer "Was aber geschieht mit Reggae, wenn der Strom abgedreht wird? Diese Frage ist bisher nicht gestellt worden. (...) [Reggae ist] (...) eine Musik, bei der die Künstlichkeit der Studiosituation nicht vertuscht werden muß, sondern die durch geschicktes Vorführen der Produktionsbedingungen noch größer wird. Vielleicht ist es kein Zufall, daß gerade Adrian Sherwood, der in seiner Mixer- und Produzentenpraxis wie nur wenige andere die Möglichkeiten der, nennen wir es: transparenten Elektrik erforscht hat, plötzlich jener Frage in Bezug auf Reggae hat nachgehen wollen. - Wobei dann auch gleich noch eine zweite Frage beantwortet worden ist, nämlich: Wie kann man Musik machen, die - so Bim Sherman - ,very emotional' wirkt, ohne geradewegs in die Kitschfalle zu jagen?" Sprecher 2 / Autor Wie kann man Literatur machen, die very emotional wirkt, ohne geradewegs in die Kitschfalle zu tapsen? Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre war das eine entscheidende Frage, und die Techniken, die von avancierter Popmusik bereitgestellt wurden, halfen vielen Autoren bei der Entwicklung neuer poetologischer Ansätze: Samples, die elektronische Musikformen bestimmten, kamen nun auch in literarischen Texten zum Einsatz. O-Ton 3 Marcel Beyer Ich hab angefangen, "Das Menschenfleisch" zu schreiben, 1986, unter dem ganz starken Eindruck meiner Friederike Mayröcker-Lektüre. Sprecher 2 / Autor Es wurde mit allen möglichen Versatzstücken gearbeitet, die sich auf vielfältige Weise kombinieren ließen, einem Rhythmus untergeordnet oder angepasst werden konnten. O-Ton 4 Marcel Beyer Und dann kam, über mehrere Fassungen des Textes hinweg, und natürlich auch über das eigene Erleben und Musikhören und Kunsterleben in sehr rascher Folge nochmal eine neue Herangehensweise an den Text... Sprecher 2 / Autor Marcel Beyer schrieb in den achtziger Jahren zunächst Lyrik - bis ihn diese neuen poetischen Praktiken und die Begegnung mit dem Werk Friederike Mayröckers auch zu anderen Textformen brachten. O-Ton 5 Marcel Beyer (...)also, ich hab da tatsächlich auch mit Cut-Ups gearbeitet, und unter dem Eindruck von Musik, die tatsächlich stark auf einem Collageprinzip beruhte und die sich ganz stark aus vorgefundenem Material zusammensetzte, hat sich dann diese allererste Fassung wirklich enorm verändert, bis hin zu Kapiteln, die so Pastiches sind, oder Kapiteln, die eigentlich nur aus leicht modifizierten Zitaten bestehen oder so Anverwandlungen, Peter Weiss' "Der Schatten des Körpers des Kutschers" zum Beispiel, also die Schraube noch ein Stück weiter zu drehen und zu schauen, was passiert dann, wird der Text zerplatzen, wird er auseinanderreißen oder nicht, das waren solche Verfahrensweisen, die mich da sehr interessierten. Sprecher 1 (Zitat aus: Das Menschenfleisch) "Wie Menschenfressers Lockruf: sie mir einverleiben durch mein Sprechen, mit meinen Worten ihre Worte hervorlocken, sie in die Falle gehen lassen, ich sage etwas, und sobald sie antwortet, kenne ich ihre Stimme, dann kommt das Menschenfleisch zum Vorschein, ihre Zunge." O-Ton 6 Marcel Beyer (...) das hat sicher damit zu tun, dass der Gestus Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger von jüngeren Autoren, mich eingeschlossen, erst mal der war: Man muss da wieder eine Energie reinbringen. Zitat (Marcel Beyer, Lauscher, aus: Falsches Futter) "Es ist ein anderer Blick, anderer Mund den jene zeigen, die nicht mit Sechzehn also niemals, die erste Fête rotohrig erwartet haben oder Tanzverbot. Der Handschweiß schmeckt verschieden und der trockene Mund galt anderem seinerzeit als Blickverlust, verwüsteter Stirn oder Glanz auf Nasenflügeln." O-Ton 7 Marcel Beyer Alles wirkte so ein bisschen eingeschlafen, von versteckten Helden, die man natürlich hat, abgesehen. Und da wirkte wahrscheinlich erst mal auf das Publikum einfach dieses Energiebedürfnis - nicht abschreckend, auch nicht einschüchternd, aber stand erst mal so im Vordergrund. Dass da einfach mit großer Freude an die Arbeit gegangen wird, das wurde vielleicht nicht so gesehen. Zitat (Marcel Beyer, Lauscher, aus: Falsches Futter) "So ist das, was dem einen heute Partymüll, dem anderen Trümmerfeld: Das Notgeschirr, ein angebackter Soßenrest genügt, allein das Knirschen von zertretenen Flips, das kracht wie Hölle. Andere Ohren zeigen sie, doch sollten die erglühen." O-Ton 8 Marcel Beyer Das Tolle ist ja immer, man findet ja seine eigene Position im Blick auf das Vorherige, und hätte es das nicht gegeben, würde man seine Position so nicht finden. Sagen wir so, uns - uns, jetzt sag ich uns -, mir und anderen erschien das wahrscheinlich nicht als Alternative, also, bist du nun der, der von sich erzählt und seinen Problemen mit der Welt, und darüber seine ganze Energie mobilisiert? Oder bist du ein Erzähler, der eine Distanz zu dem von ihm beschriebenen Geschehen einnimmt und doch auch wieder in Richtung Ohrensessel tendiert? Es muss doch noch was anderes geben. Und dann war doch tatsächlich, und für Menschen, die in den siebziger Jahren erwachsen geworden sind, auch ganz selbstverständlich immer Musik ein guter Bezugspunkt. Musikeinspielung The KLF - What Time Is Love Unter dem letzten O-Ton beginnen, dann hochfahren und kurz stehen lassen, unterm nächsten Sprechertext rausgehen Sprecher 2 / Autor Erwachsen geworden also in den siebziger und frühen achtziger Jahren - genauer in Kiel und am Niederrhein, in Neuss. Geboren allerdings ein wenig südlicher, am 23. November 1965 in Tailfingen, gelegen ziemlich genau zwischen Ulm und Freiburg. Eine bundesrepublikanische Kindheit und Jugend, deren Prägungen in den Texten Beyers nicht selten spürbar werden - nicht nur in Form von musikalischen Einflüssen, sondern auch dann, wenn etwa Heinz Sielmann in einem Gedicht auftaucht, die besondere Atmosphäre eines westdeutschen Kinderzimmers mit Abba-Poster oder diverse Fernsehserieneindrücke sich in Texte hineinschmuggeln. Vom "Nicki der Geschichte" ist einmal in einem Gedicht die Rede. Sprecher 1 / Zitat Marcel Beyer (aus: Graphit) "Was für ein Ort. Was für ein Land. Ich stehe da, im Nicki der Geschichte, und winke freundschaftlich über die Sprachbarriere hin." Sprecher 2 / Autor Der Nicki, das war das angemessene Kleidungsstück des in Westdeutschland sozialisierten jungen Mannes, dem kein geschichtsträchtiger Mantel gepasst hätte, dem das Pathos der älteren Generation angesichts von Wiedervereinigung und dem Ende des Kalten Krieges ein paar Nummern zu groß war. Ungefähr zu dieser Zeit, als die alte Bundesrepublik ebenso unterging wie die DDR, entdeckte Marcel Beyer Verheißungen der Universitätswelt, mehr aber noch den eigenen Wunsch, zu schreiben: O-Ton 9 Marcel Beyer Ich hab im Sommersemester 87 angefangen, in Siegen zu studieren, hab mir das auch ausgesucht, hab einfach geschaut, welche Professoren und Dozenten sind da und stellte fest, ah, da gibt es Namen, die sind mir schon vorher untergekommen, so gewissermaßen in meinem Freizeitleseverhalten, ein Karl Riha, der bei Wagenbach eine Dada-Gedichtanthologie herausgegeben hatte, den kannte ich schon vom Namen und dachte, ja, wenn man bei solch tollen Leuten studieren kann, dann soll man das machen. Sprecher 2 / Autor Wenn Beyer von dieser Zeit spricht, hat es etwas Schwärmerisches - für heutige Bachelor- Studenten wahrscheinlich schwer vorstellbar, welch weltenöffnende Perspektiven das akademische Leben einmal bereithielt. O-Ton 10 Marcel Beyer In Siegen war dann die großartige Situation, dass Siegen als Ort einfach so mitten im Nirgendwo liegt, von Frankfurt so weit entfernt wie von Bochum, also kam dann auch aus Bochum Friedrich Kittler zu Gast, und aus Frankfurt kamen Leute, und die Konstanzer kamen usw. Sprecher 1 / Autor Marcel Beyer wurde an dem kleinen Institut schnell zur wissenschaftlichen Hilfskraft, betreute die von Karl Riha herausgegebene Schriftenreihe "Vergessene Autoren der Moderne". O-Ton 11 Marcel Beyer Und da haben wir nicht nur ganz selbstverständlich, also wenn wir das wollten als Studierende, nicht nur ganz selbstverständlich Theorie gelesen, also Theorie und dann eben nicht Philosophie, ich hab ja Literaturwissenschaften studiert, sondern wir hatten auch die Möglichkeit zu sagen, dieses Werk ist so, da müssen wir so viel drüber diskutieren, können wir nicht mal versuchen, den Autor zu einem Gastvortrag einzuladen, und das wurde alles sehr befördert, und ich bin ja gependelt zwischen Köln und Siegen in der Zeit, und in Köln wusste - so nett sie alle sind -, aber die wussten noch nicht mal, wie man Deleuze schreibt ... Sprecher 2 / Autor Das eigene Schreiben wurde am Lehrstuhl ohne Skepsis wahrgenommen - und befördert. Beyer veröffentlichte etwa in einer Anthologie über Siegen, die Riha damals herausbrachte. Auch Creative-Writing-Seminare wurden angeboten. Das konzentrierte Gespräch über die ersten literarischen Versuche aber fand in Köln statt, in der Autorenwerkstatt der Uni. Musikeinspielung Schlagzeugsolo (DKV Trio: Trigonometry, ab 7.15) Kurz anspielen, dann unter Zitat Hummelt, nach dem nächsten O-Ton rausgehen O-Ton 12 Marcel Beyer Und dann habe ich `86 den Norbert Hummelt kennengelernt, der als Journalist arbeitete, aber auch eben schrieb und schon ein erstes Buch hatte, und wir haben dann die Idee gehabt, gemeinsam Lesungen zu machen. Und da haben wir uns eben selber um Möglichkeiten bemüht aufzutreten, sei es in einem Café, sei es in irgendeinem Kulturzentrum usw. Sprecher 3 / Zitat Norbert Hummelt "Wir nannten uns nun Postmodern Talking ... Sprecher 1 / Autor Erinnerte sich Norbert Hummelt in dem Buch "Wie Gedichte entstehen" an diese Jahre. Sprecher 3 / Zitat Norbert Hummelt ... Beyer konnte ein bisschen Schlagzeug, das wir bei einigen Nummern unserer in aller Kürze entwickelten Bühnenshow einsetzten. Die Gedichte für diese Auftritte mussten vielfach erst geschrieben werden. Ich probierte verschiedene neue Techniken aus ..." O-Ton 13 Marcel Beyer Und das war eigentlich der intensivere Austausch, was die Texte angeht, wir haben uns immer gegenseitig die Texte gezeigt, und auch das, was einem so Mut machte oder so eine Selbstverständlichkeit gab, dass man das jetzt weitermacht. Und weißt du, wenn du zu zweit auftrittst, ist es auch nicht so schlimm, wenn nur drei Zuhörer da sind. Sprecher 2 / Autor In dieser Zeit entdeckte Marcel Beyer Autoren, die für ihn prägend werden sollten, Solitäre und Außenseiter, Vertreter des Nouveau roman, literarische Avantgardisten und Grenzgänger wie Michel Leiris, Georges Perec oder Claude Simon. Der Lyriker und Zeitgenosse Thomas Kling wurde für Beyer ebenfalls zu einem wichtigen Orientierungspunkt. Mit Kling verbindet Beyer die Musikalität der Texte, das Interesse für verschiedene Töne, dialektale Färbungen, für Landschaften und historische Verwerfungen, die mittels Sprache bis in die Gegenwart fortwirken. Die andere wichtige Begegnung dieser Jahre war die mit Friederike Mayröcker. Beyer verehrte ihr Werk; irgendwann fand er den Mut, ihr zu schreiben. O-Ton 14 Marcel Beyer Und so haben wir angefangen, Briefe zu wechseln, und dann hatte Friederike Mayröcker die Einladung zum Lyrikertreffen in Münster 1987, und ich lebte halt in Köln und bin dann einfach die drei oder vier Tage auch nach Münster gefahren und habe alle Veranstaltungen miterlebt, und Friederike Mayröcker hat überall immer gesagt, das ist jetzt zwar ein Empfang beim Bürgermeister, aber da kommste einfach mit. Ich hab auch gesehen, es gibt einfach Genies ohne Allüren, das fand ich einfach auch großartig. Und so ist dann ein intensiver Kontakt entstanden, und im Jahr drauf hab ich dann schon den Job gehabt, ihre Manuskripte ab 39 zu sortieren und so den Grundstock zu legen fürs Friederike Mayröcker-Archiv, und da hab ich dann Ernst Jandl kennengelernt. Sprecher 2 / Autor Diese frühen Begegnungen waren in künstlerischer Hinsicht wichtig für Marcel Beyer - und sie hatten immensen Einfluss auf das eigene Selbstverständnis als Autor. O-Ton 15 Marcel Beyer (...) ich hab gemerkt, dass absolute Kompromisslosigkeit in Sachen der Kunst durchaus bestehen kann neben einer sehr freundlichen, offenen Hinwendung zur Welt und den Menschen. Und das hat mich doch sehr beeindruckt. Und das ist auch bis heute so. Und das ist auch für mich, da wir längst über die Bücher hinaus und so, ist das für mich so eine Sache der Lebenshaltung. Sprecher 2 / Autor Irgendwann entsteht ein neuer Ton, die verschiedenen literarischen Stimmen, die durch den Dichter hindurchgehen, verwandeln sich zu etwas Eigenem. O-Ton 16 Marcel Beyer Ab 88 dann hab ich das Gefühl, dass nicht mehr gewissermaßen meine Lektüre mich treibt im Schreiben, sondern dass ich anfangen kann, eigene Lektüreerfahrungen selber wieder als Werkzeug einzusetzen. Und ob das dann eine eigene Stimme ergibt oder was das für eine Stimme ist, spielt eigentlich gar keine Rolle, aber dass du souverän, also, wenn du arbeitest, souverän mit den Lieblingen umgehst. Musikeinspielung Prince: Alphabet Street Kurz stehen lassen, unterm nächsten Sprecher-Text ausblenden O-Ton 17 Marcel Beyer Es war bei "Flughunde" so, dass ich so zehn Tage bevor ich nach Klagenfurt fuhr zu den Bachmann-Tagen schon einen möglichen Text zum Vorlesen hatte, und dann war einfach noch Zeit, und dann hab ich gedacht, jetzt guckst du nochmal, machst was, womit du dich selber noch überraschst, dass du so was schreibst. Sprecher 2 / Autor "Flughunde", Marcel Beyers Roman aus dem Jahr 1995, war ein großer Wurf. In mehrfacher Hinsicht: Nicht nur, dass darin auf geradezu bestechende Weise medientheoretische Erkenntnisse der vergangenen zwei Jahrzehnte in grandiose Prosa einflossen; Geschichte aus der Perspektive eines Nachgeborenen mit komplexen Mitteln re-inszeniert wurde; eine messerscharfe, kühle Prosa, die ins Herz der Düsternis Deutschlands vordrang. Beyer hatte zudem über mehrere Arbeitsschritte zu einer ganz eigenen Form gefunden. O-Ton 18 Marcel Beyer Und so entstanden neun oder elf Seiten, die schon den Titel "Flughunde" hatten, wo ein Mensch, der so zwischen Militär und Toningenieur und Chirurg changiert, an Menschenversuchen beteiligt ist. Es gibt so eine seltsam unklare Kriegs- oder postapokalyptische Szenerie drum herum. Diesen Text habe ich dann tatsächlich in Klagenfurt vorgelesen, und die Leute fragten mich, ist das das erste Kapitel Ihres neuen Romans, und ich sagte, ich weiß es nicht. Ich hab das jetzt im Lauf der letzten zehn Tage geschrieben und weiß selber noch nicht, was da draus wird. Sprecher 2 / Autor Es wurde daraus schließlich ein Roman, der als ein Höhepunkt der Literatur der neunziger Jahre gelten kann. Erzählt wird das Leben des Tontechnikers Hermann Karnau, der sich ein Stimmen- und Schallarchiv einrichtet - ein fiktives, aber durchaus charakteristisches, medienhistorisch erkenntnisreiches Kapitel der Medizin- und Technikgeschichte im Dritten Reich. Er untersucht Kehlköpfe, nimmt das Geröchel von Sterbenden auf Schlachtfeldern auf und am Ende sogar im Führer-Bunker die letzten Atemzüge der Goebbels-Kinder, deren Schicksal Beyer mit der Geschichte Karnaus verwebt. O-Ton 19 Ulli Lust Der Krieg ist, es ist zwar historisch verwertbar, aber das ganze Buch hat so eine eigene, abgewogene Atmosphäre, dass es genauso gut ein surrealer Ort sein könnte. (...) Also, es ist ganz und gar nicht dokumentarisch. Es hatte was sehr Künstliches und Abgehobenes und das fand ich irrsinnig spannend. Sprecher 2 / Autor Die Comiczeichnerin Ulli Lust hat Marcel Beyers Roman 2013 in eine Graphic Novel verwandelt. O-Ton 20 Ulli Lust (...) also abgesehen davon, dass er dunkel und düster ist, ist er auch sehr grotesk. Und ich hab' ein Faible für Tragikomödien, ich mein, das ist keine Komödie, es ist fern davon, aber es hat auch so einen seltsamen, grotesken Humor, der mir sehr gut gefallen hat und den ich auch unbedingt im Bild umsetzen wollte. Aber das war im Buch drin. Sprecher 2 / Autor Im Buch ist vieles drin, was im Comic mit seiner eigenen Formensprache, den verschiedenen Layouts, dem zum Überspitzten neigenden Stil, der besonderen, dämmrigen Stimmung weitergeführt wird. Einiges fehlt im Comic, anderes ist hinzuerfunden. O-Ton 21 Ulli Lust Marcel Beyer ist wiederum so nett und sagt, er fand im Comic ganz viele Dinge, die er im Roman gar nicht gewusst hat oder gesehen hat, wenn zum Beispiel eine Szene im Büro ist und die das Interieur beschreibt, den Büromenschen, intuitiv, weil (...) das (...) nicht beschrieben werden muss, erst langatmig, oder Landschaften, aber ich finde man kann im Romantext Landschaften und Interieurs genauso gut beschreiben. O-Ton 22 Marcel Beyer Und so haben wir, während sie daran arbeitete, uns immer wieder gesehen und uns unterhalten, aber es war ganz klar, dass es ... ich habe zwar einen Roman geschrieben, der so heißt und das taucht auch irgendwie in Ullis Arbeit auf, aber das ist Ullis Arbeit. Musikeinspielung Augustos Pablo: Kushites Dub Kurz stehen lassen, dann unter den nächsten Sprecher-Text, irgendwann rausgehen Sprecher 2 / Autor 1997 erschien Beyers Gedichtband "Falsches Futter", im Jahr 2000 der dritte Roman "Spione". Waren es in "Flughunde" die akustischen Signale, die Geschichte zu vergegenwärtigen halfen, so sind es bei den "Spionen" visuelle Zeichen: Fotografie. Der Roman handelt unter anderem von der Konstruktion des Historischen - das Vergangene kann immer nur schemenhaft sichtbar gemacht werden. "Erdkunde", ein weiterer Gedichtband, folgte bereits zwei Jahre später: Ein Buch, mit dem Beyer tief in historische Räume und die Landschaften des Ostens vordrang, nicht zuletzt das Ergebnis einer regen Reisetätigkeit. Sprecher 1 / Zitat Marcel Beyer "Das Reisen, das Zuhören und Schauen wirken auf mein Schreiben zurück. Ohne diese Erkundungen würde ich kaum den Fragen nachgehen, von denen ich hier spreche. Fragen nach Zeitverschiebungen, Zeitschwingungen und dem Gebrauch der Zeiten: Die Konsequenzen machen sich noch im Umgang mit der Grammatik bemerkbar, wenn ich mitunter lange überlegen muß, ob ich mich nun für Präsens, für Perfekt oder doch für Imperfekt entscheiden soll." Sprecher 2 / Autor Bereits 1996 war Marcel Beyer nach Dresden gezogen. Ihn als Westdeutschen interessierte, wie diese mythenbehaftete Stadt nach 1990 sich erst langsam neu erfinden musste. Dresden lehrte Beyer, wie Geschichte funktioniert, wie sie auch literarisch produktiv gemacht werden kann. In einem Essay aus dem Band "Nonfiction" schrieb er 2003: Sprecher 1 / Zitat Beyer "Andere Blicke auf Geschichte, nachdem Geschichte nicht mehr ist, was sie für mich war: Nun begreife ich etwas als geschichtlich, indem ich es als gegenwärtig begreife, und umgekehrt: Gegenwärtig ist für mich, was ich als geschichtlich erkennen kann. Das muß, denke ich, doch Folgen haben." Sprecher 2 / Autor Es hatte Folgen für die Literatur. Etwa für den Roman "Kaltenburg" aus dem Jahr 2008, der in Dresden spielt. Darin begibt er sich auf die Spuren eines Ornithologen, der Züge von Konrad Lorenz trägt. Aber wie in den großen Vorgängerromanen Marcel Beyers gehen auch hier wieder Wirklichkeit und Erfindung auf komplexe Weise ineinander über. O-Ton 23 Marcel Beyer Man könnte sagen, dass der Kern für den Roman "Kaltenburg" schon in einem Gedicht enthalten ist, nämlich in einem der Teile von dem Gedicht "Erdkunde", so eine kleine Passage von drei- oder vierzeiligen Strophen, die entstand, nachdem ich bei der "Nacht der Museen" hier in der naturkundlichen Sammlung einfach den Kustos der ornithologischen Sammlung hatte uns vorführen sehen, wie denn die Arbeit eines Ornithologen funktioniert, und damit war eigentlich für mich eigentlich das Interesse an dem Beruf oder an die Herangehensweise an die Welt geweckt. Sprecher 1 / Zitat Marcel Beyer (aus: "Erdkunde") "Einmal habe ich Bälge gesehen, aufgereiht in ihrer Kiste, Stieglitze, Varietäten von überall aus dem Osten. Manche sind rund hundert Jahre alt, keinerlei Farbverluste, der Kopf, der Schwanz, die Flügel, und innen ist Watte. Erst seit kurzem bewahrt man auch ihre Knochen. Ich sah, sie liegen gut in der Hand." O-Ton 24 Marcel Beyer Für mich natürlich auch so ein Scharnier zwischen meiner Arbeit und der Arbeit eines Naturwissenschaftlers findet sich dann in der Zoologie immer dort, wo du einfach ein Forschungsobjekt vor Augen hast. Ein tatsächliches Ding. Und das kannst du von der einen Seite her in den Griff nehmen, du kannst es von der anderen Seite her in den Griff nehmen. Und was mich da so sehr interessiert und vielleicht gar nicht mal interessiert, sondern vielmehr erleichtert, ist, dass da nicht immer dieses blöde Ich im Zentrum stehen muss. Zitat Marcel Beyer (aus: "Kaltenburg") [vielleicht am Ende leiser werden lassen und unter dem nächsten O-Ton ausfaden] "Der Star macht den Eindruck, als habe er bereits auf uns gewartet, lebhaft hüpft er in seinem Käfig herum und springt, kaum daß mein Vater das Türchen geöffnet hat, Professor Kaltenburg auf die Hand, gleich weiter auf die Schulter, auf den Kopf. Professor Kaltenburg schreckt nicht zurück, auch als der junge Star ihm die Frisur zerzaust, die Sonnenbrille untersucht und daran zupft, bis sie endlich zu Boden fällt, und Kaltenburg lacht und spricht mit dem Tier." O-Ton 25 Marcel Beyer Ein Zoologe ist ein Mensch, der keine Schwierigkeiten damit hat, dass der Mensch nicht im Zentrum der Welt steht, sondern das ist eher wirklich was Beruhigendes, ist doch schön, man ist Teil eines Gesamtökosystems. Und es gibt andere Wesen darin, die wahrscheinlich viel interessanter und geheimnisvoller noch, wir wissen es nur noch nicht, und diesen Geheimnissen nachzugehen, um immer wieder auf neue Geheimnisse zu stoßen und sich Fragen zu beantworten, nur damit man wieder auf Fragen kommt, das ist etwas, was mich einfach als Lebenshaltung sehr reizt und was mich auch beim Schreiben antreibt. Musikeinspielung Enno Poppe: Wespe Kurz stehen lassen, dann unter den nächsten Sprecher-Text, langsam rausgehen, später wieder hochfahren Sprecher 2 / Autor Marcel Beyer hat in den vergangenen Jahren immer wieder die Auseinandersetzung mit Künstlern gesucht. Er lässt sich von solchen Begegnungen mit anderen Werken - etwa Fotografien oder Gemälden - zu eigenen Texten anregen. Und zuweilen kommt es auch zu engen Kollaborationen, etwa mit Musikern. In der Zusammenarbeit, beim gemeinsamen Erkunden eines Projekts, bei den Proben und beim Verwerfen entsteht auch eine neue Sicht auf das eigene Tun. Mit dem Komponisten Enno Poppe verbindet Marcel Beyer eine solche intensive Arbeitsbeziehung. O-Ton 26 Enno Poppe Also was schon beim ersten Projekt wirklich da war, dass Marcel einfach ein ungeheures Gespür hat dafür, welche Sprache, welche Texte kann man gut singen. Sprecher 2 / Autor Die Textarbeit geht der Musik voraus. Bestimmte Vorstellungen über die Struktur des Stückes werden in Gesprächen festgelegt, anschließend schreibt Marcel Beyer die Vorlagen für Lieder oder Arien, auf Wunsch des Komponisten zuweilen noch umgearbeitet, erweitert, gekürzt werden - bis es schließlich zusammen mit allen Beteiligten - Regisseur, Dirigent, Sängern - auf die Probebühne geht. O-Ton 27 Enno Poppe (...) ich spüre immer das Musikalische dahinter. Das ist einmal der Rhythmus, aber auch der Klang der Wörter selbst, die Auswahl von den Wörtern, die Auswahl von den, ja, von den Vokalen, die Singbarkeit von den Dingen, die ist wirklich ganz enorm hoch. Wir haben wirklich auch ganz interessante Gespräche darüber geführt, also da ist bei ihm ein unheimlich starkes Bewusstsein vorhanden. Musikeinspielung Enno Poppe: Wespe An einer geeigneten Stelle wieder hochfahren O-Ton 28 Enno Poppe Ich hatte dann einen Wunsch, dieser Text Wespe, also das Lied "Wespe", mit dem Text "Wespe, komm", wo ich mir eigentlich gewünscht hatte, nur einsilbige Wörter, ich wollte ja ein Stück machen nur mit einsilbigen Wörtern, weil man einsilbige Wörter am besten singen kann, und dann ist der Text am Ende so entstanden, dass er am Anfang nur einsilbige Wörter hat, und die Wörter werden immer länger im Text, es ist im Grunde ein Prozess, der mich dann auch direkt musikalisch wieder inspiriert hat, eine ganz, im Grunde sehr einfache, aber dezidiert auch musikalische Herangehensweise, Wörter zu verwenden. Musikeinspielung Enno Poppe: Wespe Nochmal hochfahren, kurz stehen lassen, rauskommen und mit der Lesung von Beyer überblenden ... (bei der Lesung an geeigneter Stelle einsteigen, also nicht das gesamte Gedicht) O-Ton 29 Marcel Beyer (liest: Wespe, komm, Archiv DRadio) "Wespe, komm in meinen Mund, mach mir Sprache, innen, und außen mach mir was am Hals, zeigs dem Gaumen, zeig es uns. So ging das. So gingen die achtziger Jahre. Als wir jung und im Westen waren. Sprache, mach die Zunge heiß, mach den ganzen Rachen wund, gib mir Farbe, kriech da rein. Zeig mir Wort- und Wespenfleiß, machs dem Deutsch am Zungengrund, innen muß die Sprache sein. Immer auf Nesquik, immer auf Kante. Das waren die Neunziger. Waren die Nuller. Jahre. Und: so geht das auf dem Land. Halt die Außensprache kalt, innen sei Insektendunst, mach es mir, mach mich gesund, Wespe, komm in meinen Mund." Sprecher 2 / Autor Marcel Beyer ist in vielen Genres zu Hause, in der Prosa, der Lyrik, dem Essay. Ganz unerschrocken, geradezu minutiös bewegt sich Beyer auf die Welt und seine Figuren zu und hält sie sich doch zugleich immer ein wenig auf Distanz, bewahrt Coolness, eine Dezenz. Seine Texte stellen keine Eindeutigkeit her, sondern haben etwas Suchendes, lassen Assoziationen zu, die den Leser in alle möglichen Richtungen weiterschicken. O-Ton 30 Marcel Beyer Ich hab ja Gewissheiten im Leben, (...) kein Mensch muss schreiben, das ist etwas, was uns von allen anderen Lebewesen auf dieser Welt unterscheidet, die anderen schreiben alle nicht, die kommunizieren wie irre miteinander. Die haben eine Riesenfreude daran, miteinander zu kommunizieren. Die finden sich rasend gut zurecht, viel viel länger als es den Menschen überhaupt gibt. Niemand muss schreiben. Und wenn wir das schon machen, dann doch nicht um Dinge noch einmal zu produzieren, die uns sowieso sonnenklar sind. Musikeinspielung Pere Ubu: Blow Daddy-O Schon unterm letzten O-Ton beginnen, unter die Abmoderation legen 2