KULTUR UND GESELLSCHAFT COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Reihe : Literatur Titel der Sendung : Erzählen als Traum und Magie" - Eine Begegnung mit dem spanischen Schriftsteller Javier Marías AutorIn: : Michael Reitz Redakteurin : Dorothea Westphal Sendetermin : 31.8.2010 Regie : Beate Ziegs Besetzung : Zitator, Sprecher, Overvoice Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Musik: The Bard of Armagh O-Ton (1) Marías: I see that Barcelona is still very strong and some people are mean they had a couple of ties, talking their crisis, which is ridiculous (...) Real Madrid is a little better then it is to be but I don't see them so strong (...) My wish is for Real Madrid, but I am afraid, it will be Barcelona again. Overvoice: Ich krieg schon mit, dass Barcelona immer noch sehr stark spielt, obwohl ihnen von einigen Leuten eine Krise eingeredet wird, aber das ist lächerlich. Real Madrid ist zwar besser als üblicherweise, aber sie sind noch nicht stark genug. Natürlich wünsche ich mir, dass Real Meister wird, aber ich fürchte, es wird wieder mal Barcelona. Sprecher: Über Fußball und seine Lieblingsmannschaft Real Madrid redet der spanische Schriftsteller, Essayist und Übersetzer Javier Marías fast ebenso gerne und oft wie über Literatur. Bereits mit elf Jahren startete er seine ersten Romanversuche. "Aficionado" lautet das spanische Wort für einen Menschen, der sich mit heißem Herzen begeistert. Der 1951 in Madrid geborene und in den USA aufgewachsene Javier Marías ist ein Aficionado. Kein anderes Wort würde seine Leidenschaft für das fiktionale Schreiben besser charakterisieren. Der mittelgroße, kräftige Mann explodiert förmlich, wenn von seinen literarischen Lieblingen und Vorbildern die Rede ist: Henry James, Vladimir Nabokov, Laurence Sterne und allen voran Shakespeare. Letzterer stand bei fast jedem der zwölf Romane Pate, die Javier Marías seit 1971 veröffentlichte. Und so ist auch seine Romantrilogie "Dein Gesicht morgen", von der im Jahr 2010 in Deutschland der letzte Band erschien, voll von Anspielungen auf dessen Figuren und Unheimlichkeiten. Sieben Jahre arbeitete Javier Marias an seinem Opus Magnum, mehr als sechzehnhundert Seiten hat sein Leser zu bewältigen. Langweilig dürfte es ihm dabei nie werden - obwohl der erste Satz der Trilogie etwas anderes zu verheißen scheint: Zitator: Man sollte niemals etwas erzählen noch Angaben machen oder Geschichten beisteuern oder Anlass dazu geben, dass die Leute sich an Menschen erinnern, die niemals existiert () haben, aber sich bereits halbwegs in Sicherheit befanden im unvollkommenen, ungewissen Vergessen. Erzählen ist fast immer ein Geschenk, sogar wenn die Erzählung Gift enthält und einträufelt. Aus: "Fieber und Lanze", erster Band der Trilogie. O-Ton (2) Marías: That sentence was not meant to be ironical but you could take it now, you could take me making an ironical statement because after that, about 1600 pages come after that sentence, which is in fact the very first sentence. The same time I must say, that you can take it not ironically, because that's one of the subjects because of this large book and it deals with many, many topics and with many subjects, you could say in a way as the old long novels it talks about almost everything, I wouldn't take everything, this would be too pretentious, but one of the main subjects is the danger of telling, which is something which most people are not aware of they always tell and tell and not only the people who write, but also normal people. Overvoice: Diese Passage war nicht ironisch gemeint, obwohl sie im Nachhinein natürlich so aussieht. Denn danach kommen ja noch sechzehnhundert Seiten. Ich muss betonen, dass man diesen Beginn ernst nehmen sollte, denn darin ist schon eines der Motive des Romans angesprochen. Wie in den alten klassischen Erzählungen geht es um viele Themen - wenn auch nicht um alle möglichen, so etwas zu behaupten, wäre anmaßend - aber ein Hauptthema ist die Gefährlichkeit des Erzählens, der sich viele Menschen nicht bewusst sind. Sie reden und reden - das trifft auf Schriftsteller genauso zu wie auf den Durchschnittsmenschen. Musik: The Bard of Armagh Sprecher: "Dein Gesicht morgen" erzählt die Geschichte von Jaime Deza. Einem jungen Spanier, der in Großbritannien lebt, in Oxford Englisch studiert und sich von seiner in Madrid lebenden Frau getrennt hat. Er lässt sich von einer ominösen Abteilung des britischen Geheimdienstes anwerben, die durch Vermittlung seines Professors Wheeler auf ihn aufmerksam geworden war. Zitator: Die Aufnahme erfolgte nicht mit einem Schlag, nachdem meine Anstellung vereinbart worden war, beauftragte oder beschäftigte man mich mit einzelnen Aufgaben, immer mehr, schrittweise, aber in ständig zunehmendem, lebhaftem Tempo, und nach einem Monat, vielleicht weniger, war meine Mitarbeit vollständig oder so empfand ich es. Die Modalitäten dieser Aufgaben variierten, ihr Wesen dagegen wenig oder gar nicht, es bestand darin, zuzuhören und aufzupassen und zu deuten und zu erzählen, darin, Verhaltensweisen, Fähigkeiten, Charakterzüge und Skrupel, Abneigungen und Überzeugungen, den Egoismus, Ambitionen, Bedingungslosigkeiten, Schwächen, Stärken, Wahrhaftigkeiten und Missbilligungen zu entziffern; Unentschiedenheiten. Ich deutete - in drei Worten - Geschichten, Menschen, Leben. Oftmals noch ungeschehene Geschichten. Sprecher: Jaime Deza verfügt über eine seltene Fähigkeit, derer er sich nicht bewusst ist: er kann einschätzen, wie Menschen in bestimmten Situationen reagieren werden, er kann lesen, wie ihre Handlungen und Gesichter an einem beliebigen Tag in der Zukunft aussehen könnten. Er ist ein Träumer, der nicht weiß, dass seine nächtlichen Visionen Wahrheit sind. Um sich selbst auf die Spur zu kommen, muss er sich erst mit dem Teufel - in Gestalt eines modernen Nachrichtendienstes - einlassen. Er gerät fortan in einen Krieg, der nicht seiner ist. Denn nie erfährt der innerlich Zerrissene und Orientierungslose, wozu seine Charakterisierungen, Prognosen und Übersetzungen verwendet werden. Auf Mutmaßungen angewiesen, auf Spekulationen, wird er zusehends mit Ängsten und Schuldgefühlen konfrontiert. Javier Marías zieht den Leser in dieses Spiel hinein, indem er ihm immer wieder neue Rätsel aufgibt und immer weitere Erzählstränge knüpft. "Dein Gesicht morgen" - ein Spionageroman in drei Bänden? Eine voluminöse Insidernovelle über den britischen Geheimdienst? Denn Javier Marías beginnt mit einer intensiven Diskussion über "Liebesgrüße aus Moskau", den Roman des James- Bond-Schöpfers und ehemaligen Agenten Ian Fleming. O-Ton (3) Marías: So yes, also if this British critics have talked about spy-novel somehow, it is also of course because the narrator Deza works for a group, strange group, having to do with the MI 6, the British Secret Service and but of course they are not really common spies, what they do is to interpret people or interpret lives and see videos and meet the people and then they this little group says this person is to be trusted, this person is not to be trusted, this person would kill in certain conditions, they find out, how their faces would be tomorrow. And that is also an activity which is very similar to the one of a novelist, because a novelist is saying both things about his characters, without really knowing - how can you really know - but they say that, they say that person was like this, it has to do also with the activity of the novelist, the activity of Deza in the novel. Overvoice: Obwohl britische Literaturkritiker fälschlicherweise meinen Roman zu einer Spionagegeschichte machen wollten, ist da was Wahres dran. Denn der Erzähler Deza arbeitet ja für eine schräge Truppe des britischen Geheimdienstes MI Six, er interpretiert Menschen, beantwortet Fragen nach ihrer Fähigkeit zu töten, ob sie eher zum Opfer oder zum Täter taugen, ob man ihnen trauen und sich auf sie verlassen kann. Deza und seine Kollegen tun also etwas, das der Arbeit eines Romanschriftstellers sehr ähnlich ist. Autoren sind sich auch oft nicht im Klaren über ihre Figuren, trotzdem suggerieren sie, genau über sie Bescheid zu wissen. Die Plagen des Jaime Deza sind also dieselben wie die des Schriftstellers. Zitator: Das war es, was ich gegen Bezahlung tat in dem namenlosen Gebäude. Ich stellte die ganze Zeit Gedankenverbindungen her, nicht so sehr Deutungen oder Entschlüsselungen oder Analysen, oder diese kamen erst später, als schwache Folge. Es gab und gibt niemanden ohne Verbindung, ohne einen Nexus in bezug auf Schicksal oder Charakter. Sprecher: Javier Marías beschreibt anhand seiner Figur Jaime Deza ein Zeitalter, in dem niemand unschuldig sein kann und ist. Der Krieg gegen den Terror erfordert Methoden, die die völlige Identitätsauflösung seiner Akteure zur Voraussetzung haben. Sie kommen nirgendwo her und sie wissen auch nicht, wo sie hingehen sollen, können sich niemals sicher sein, und werden bewusst darüber im Unklaren gelassen, wie eine laufende Operation endet. Dunkel ist jeder Sinn und dunkel ist auch die Figur des Führungsoffiziers Tupra, Jaime Dezas direkter Vorgesetzter. Ein brutaler Technokrat und Folterer, der es geschickt versteht, in seinem Untergebenen nach einer gelungenen Geheimdienstaktion Schuldgefühle und Selbstzweifel zu erzeugen. Zitator: Doch letzten Endes hatte ich ihn dazu angestiftet. Oder vielleicht nicht ganz: Eher hatte ich die Tat erfunden, sie mir ausgedacht, sie dargelegt oder diktiert, ich hatte mir ihre Inszenierung vorgestellt. Niemand bedenkt je diese Gefahr, andere auf Ideen zu bringen, und dabei tut man das ohne Unterlass, und ich konnte nicht umhin, mich zu fragen, wie viele meiner Interpretationen oder Übersetzungen wohl Konsequenzen gehabt hatten, von denen ich nichts erfuhr. Ich hatte viel Zeit damit verbracht, jeden Tag mit immer größerer Ungezwungenheit und Sorglosigkeit zu urteilen, mir Stimmen anzuhören und Gesichter zu betrachten, Auge in Auge oder auf Video, zu sagen, wem man trauen könne und wem nicht, wer töten und sich töten lassen würde und warum, wer Verrat üben und wer sich loyal zeigen würde und welche Möglichkeit jeder einzelne im Blut trug, wie ein Romancier, der weiß, was seine Figuren sagen oder erzählen oder was er ihnen zuschreibt oder sie tun lässt. Aus: "Gift und Schatten und Abschied", Band drei der Trilogie. Musik: The Bard of Armagh Sprecher: "Dein Gesicht morgen" ist vor allem eine Geschichte über das Wechselspiel von zu viel und zu wenig Erzählen, von Verschweigen und Ausplappern. Befindet sich der Autor nicht in einer ähnlichen Situation? Muss er nicht ständig überlegen, was er weg- oder zulässt? O-Ton (4) Marías: Sure absolutely. In many senses and in different senses as well, because (..:) this is one the questions you asking yourself when you write a novel: what should I tell, what should I not tell, what should I tell first, in what order should I tell the story, that's another thing. And it is also a moral element in that, I have had the feeling when writing some parts of my own books, a feeling of responsibility and sometimes I thought, do I have the right to put in somebody else's mind, this horrible idea? Overvoice: Ja, natürlich muss er das. In vielerlei Hinsicht. Denn eine der ersten Fragen, die man sich stellen muss, wenn man anfängt einen Roman zu schreiben, ist: was soll ich erzählen, oder besser verschweigen, was soll ich zuerst sagen. Ganz zu schweigen davon, in welcher Reihenfolge die Dinge ihren Lauf nehmen sollen. Das ganze hat für mich auch eine moralische Komponente. Oft frage ich mich während des Schreibens: habe ich eigentlich das Recht, einem wildfremden Menschen, dem Leser, meine Gedanken in den Kopf zu setzen? Sprecher: Der Autor als Täter, der den Leser zum Kumpanen macht. Beide teilen die gleiche Leidenschaft: die Liebe zur Literatur, zu dem, was erfunden, und deshalb umso wahrer ist. Es macht den Reiz von Javier Marías' Prosa aus, dass er sich vom Leser immer wieder in die Karten seiner Erzählstruktur sehen lässt - und zwar durch die Darstellung selbst. Denn was berichtet wird, wird häufig dadurch illustriert, wie erzählt wird. Im Falle seiner Trilogie ist Illustration wörtlich zu verstehen, denn Marías greift zu einem kuriosen, kaum genutzten Mittel fiktionalen Schreibens: Fotografien und andere bildliche Darstellungen. So wird die Frage, wie viel wem erzählt werden darf anhand alter Plakate aus dem Zweiten Weltkrieg erörtert. Ihr Thema: Vorsicht, Feind hört mit! Javier Marías treibt die Vermischung von Fiktion und Realität so weit, dass einige der Personen, die als Muster für die Akteure des dreibändigen Romans dienen, auf ganzseitigen Fotos abgebildet sind: Javier Marías' Onkel Alfonso, im spanischen Bürgerkrieg von den Faschisten ermordet. Oder Sir Peter Wheeler, im Roman einer der Drahtzieher von Jaime Dezas Ausflug in die Welt der Geheimdienste. Er war 1983 Javier Marías' Mentor während seiner Vorlesungstätigkeit in Oxford. Seine Bedeutung für den Autor ist daran ersichtlich, dass der ihm alle drei Bände von "Dein Gesicht morgen" gewidmet hat. Musik: Bard of Armagh Sprecher: Ein weiteres Stilmittel von Javier Marías: das Gleiche zu erzählen, aber nicht dasselbe. Wiederholungen, Variationen eines Themas. Wie ein Musikstück, von dem es mehrere Versionen gibt: wie das irische Traditional "Bard of Armagh" zum Beispiel. Javier Marías erwähnt es in seiner Trilogie immer wieder, und erinnert so den Leser daran, dass jede Geschichte unterschiedlich wiedergegeben und aufgenommen werden kann. Ähnlich erfährt es sein Protagonist Jaime Deza, der aufgrund seiner Gabe Vorhersagen in die Welt setzt, ohne zu wissen, wie sie von anderen interpretiert werden. Hinzu kommt, dass Javier Marías alte, erfundene Begebenheiten weiter oder neu erzählt, Figuren aus früheren Geschichten wiederbelebt, mit anderen Eigenschaften ausstattet, veränderte Fassungen von ihnen liefert. O-Ton (5) Marías: There are references to most of my other books, of course there are references to All souls, because the narrator of the book is the same one as the man who narrated all souls, there he didn't have a name, he was not called by a name, now we know that his name is Deza. But it is the same person, many years after his experience in Oxford. Overvoice: Die Trilogie verweist an vielen Stellen auf meine älteren Bücher. Zum Beispiel auf "Alle Seelen", denn der dortige Ich-Erzähler ist derselbe wie der, der jetzt auftaucht - nur, dass er damals keinen Namen hatte. Jetzt wissen wir, dass er Jaime Deza heißt, der damals noch in Oxford studierte. Musik: Bard of Armagh O-Ton (6) Marías: My novels are much interconnected to all of them, even you can find some subjects which appear in one and another, funny thing that sometimes they appear with a contradiction, in one novel I say something and in the other I say the contrary thing, which is something we novelists can do, a philosopher wouldn't be able to do that, I mean someone would point it and say listen, this is a contradiction and you are a philosopher, and you can't say, that both things are true. But a novelist or an artist can say things completely contradictory and both feel like truth to the reader. Overvoice: Alle meine Erzählungen sind sehr stark miteinander verknüpft, immer wieder tauchen die gleichen Themen auf, die ich dann auf unterschiedliche Weise behandle. Lustig ist dabei, dass es so auch zu Widersprüchlichkeiten kommt, in der einen Erzählung behaupte ich etwas über eine Person, was in einer anderen widerrufen wird. Ich finde, Schriftsteller sollten diese Freiheit haben. Anders als beispielsweise die Philosophen, da würde es gleich heißen, das ist ein Widerspruch, den sich ein Denker nicht erlauben darf. Ein Autor oder Künstler dagegen kann behaupten, dass mehrere Sichtweisen, die sich gegenseitig ausschließen, gleichzeitig wahr sind - ohne dass der Leser das Gefühl hätte, für dumm verkauft zu werden. Sprecher: Wie man als Autor den Leser dazu bringt, das Erzählte für Wahrheit zu halten, zeigte als einer der ersten, der englische Schriftsteller Laurence Sterne. 1759, die Romanform war noch eine sehr junge Spielart der Erzählkunst, veröffentlichte er "Tristram Shandy". Sternes Ich-Erzähler will sein Leben protokollieren, kommt aber über das Kleinkindalter nicht hinaus, weil er ständig abschweift. Und genau diese Umwege sind es, die das Buch so lesenswert machen - auch für Javier Marías, der es ins Spanische übertrug und dafür 1979 den nationalen Übersetzerpreis erhielt. O-Ton (7) Marías: I did translate it into Spanish about 30 years ago. But of course I did, I not only read it, I did translate it, which means I rewrote it, which is a big thing in each works and it took a year and a half of my life, and of course, when you translate something you are much are much more aware when you read of the tricks the author uses and you have to do it again, you have to rewrite it in your own language. Overvoice: Als ich "Tristram Shandy" vor gut dreißig Jahren ins Spanische übersetzte, konnte ich das natürlich nicht wortwörtlich machen, sondern ich habe den Roman praktisch in meiner Muttersprache neu geschrieben. Eine ziemliche Arbeit, anderthalb Jahre hat das gedauert. Wenn Sie etwas über die Tricks eines Autors erfahren wollen, müssen Sie ihn nicht nur übersetzen, sondern seinen Stoff mit Ihren Worten nacherzählen. Sprecher: Waren alle bisherigen Bücher von Javier Marías Beispiele dafür, wie ein Schriftsteller Werke von Kollegen für die eigene Produktion nutzen kann, so zieht er mit "Dein Gesicht morgen" die Summe dieser Fähigkeit. Über weite Strecken ist die Trilogie eine einzige Hommage an Laurence Sternes Kniff, die Erzählung durch ständige Unterbrechungen voran zu treiben. Ein Spiel mit der Zeit - in der erzählt, und von der berichtet wird. Erfundene Figuren werden zu Co-Autoren, die den Bauplan des Romans erläutern. Zitator: Alles hat seine Zeit, um geglaubt zu werden, selbst das Unwahrscheinlichste und Unsinnigste. Manchmal dauert sie nur Tage, diese Zeit, aber manchmal dauert sie für immer. Aus: "Fieber und Lanze" O-Ton (8) Marías: You know what he said, he said, I think it was in Tristram Shandy, he said: A progress is a digress. (...) And he also says, digression is the sort of narrative, is the sunshine of a narrative. And of course a digression is useless if it is a mere digression, it is not so interesting, as if it is in fact part of the story, but maybe the reader doesn't realize. When a digression appears, the reader takes it only as a digression, as an anecdote or whatever. And then he realizes later on in the book that it was really part of the story and the thing was not so much an anecdote as something that really mattered for the storyline. Which is something that I try to do in my books, it seemed arbitrary or just accidental in a book, happened not to be so accidental or anecdotal in the end, you realize suddenly, oh well, that thing that seemed just important as the part of the author, I realize now that it was also part of the story, it is important for the story, it was important for the whole. Overvoice: In "Tristram Shandy" sagt Laurence Sterne: Die Abschweifung ist der eigentliche Fortschritt der Erzählung. Und er fügt hinzu: auf den Seitenwegen geht für den Schriftsteller die Sonne auf. Die Abschweifungen wären vollkommen sinnlos, wenn sie nur als Gag benutzt würden, sie müssen fester Bestandteil der Erzählung sein, und die Kunst besteht darin, es den Leser nicht merken zu lassen. Die Abschweifung muss als Anekdote oder ähnliches verkleidet sein, erst am Ende darf der Leser merken, welchen Sinn sie für den Fortgang der Story hatte. Ich mache das sehr häufig in meinen Büchern: ich lasse zufällig oder beiläufig erscheinen, was zum Schluss eine große Rolle spielt. Bis dahin hatten die Leser an unwichtige Spielereien des Autors geglaubt und plötzlich sehen sie: alles ist wichtig, was in diesem Buch erzählt wurde. Sprecher: Auf den 1600 Seiten von "Dein Gesicht morgen" treibt Javier Marías das Erzählprinzip der ständigen Abschweifung zur Meisterschaft. Zu Beginn des ersten der drei Bände werden Hinweise und Köder ausgelegt, Spuren, die den Leser neugierig machen auf den Fortgang der Geschichte. Und immer dann, wenn die Erklärung der vielen Rätsel zu kommen scheint, entwickelt Javier Marías einen neuen Erzählstrang, der wiederum Verzweigungen enthält und weitere Fragen erzeugt. Dabei beherrscht der Autor seinen Stoff, nie wird die Geduld des Lesers, seine Neugier auf den Fortgang der Geschichte überstrapaziert. Mit traumwandlerischer Sicherheit und einem bestechenden Gespür für das richtige Timing kehrt Javier Marías immer genau dann zum Ausgangspunkt zurück, wenn seine Exkurse langweilig zu werden drohen. O-Ton (9) Marías: And that is like suspending time to use a spent time, and that's absolute intentional in my part, because one the things you can do in a novel is to make, to allow time to have its real duration. By real I do mean the real one because one minute is sixty seconds and one hour is sixty minutes and that's it. But, of course, time goes so fast that (..) when things are happening, we don't feel what is important of those happenings. Whereas after things have finished, we realize that something lasted longer than other things. For instance, if you have been with your girlfriend, or your wife or your husband or whatever discussing the whole night, you know the kind of thing you have a crisis and then you argue and discuss a very long night and after that night the couple may be reconciled or not, maybe they broke up. But when you remember that night, that very long night, you probably just remember a few moments, just a few things, a look, a gesture, something she said at a given moment - that's the real duration of things. I mean of course time doesn't allow time to exist sometimes. In a novel you can allow time to exist with its real and important duration, and that's why I try do it sometimes. Overvoice: Ich suspendiere die Zeit, indem ich die tatsächliche Dauer eines Geschehnisses beiseite lasse. Meine Absicht ist es, der Zeit im Roman ihre eigene Dauer zu geben. Natürlich hat jede Minute sechzig Sekunden, aber wenn Zeit vergangen ist, fragen wir uns oft, was war jetzt das eigentlich Wichtige an dieser Spanne? Jeder kennt das: man verbringt mit der Geliebten, dem Ehemann oder der Frau eine ganze Nacht mit Diskussionen, vor allem dann, wenn eine Krise droht. Entweder ist man am nächsten Tag versöhnt oder noch stärker zerstritten. Wenn man sich dann an diese Nacht erinnert, bekommt man meistens nur Splitter zusammen, man erinnert sich an einen Blick, eine Geste oder ein prägnantes Wort. Und obwohl diese Nacht lang war, sind es in der Erinnerung nur kurze Momente. In einem Roman habe ich die Möglichkeit, der Zeit ihre tatsächliche, das heißt, gefühlte Dauer zu geben. Sprecher: Die kann sich auch in die entgegengesetzte Richtung entwickeln. Der zweite Band der Trilogie mit dem Titel "Tanz und Traum" besteht fast ausschließlich aus einer zehnminütigen Begebenheit, in der Jaime Deza mit der außerordentlichen Gewalttätigkeit seines Chefs Tupra konfrontiert wird. Die Struktur dieser endlos gestreckten Passage ist vergleichbar mit dem Nacherzählen eines Traums, seiner Verschlüsselung und der damit verbundenen Tiefe. Der träumende Jaime Deza erfährt in diesen zehn Minuten mehr über sich selbst und die Welt in der er lebt, als in seinem gesamten vergangenen Dasein. Unmerklich wird er dabei selbst zu einem Monster. Und sein Vorgesetzter raubt ihm die letzten Illusionen darüber, dass es in dieser Welt menschlich zugehen könnte. Zitator: Die Angst. Ich habe dir einmal gesagt, dass sie die größte Kraft ist, die existiert, wenn es einem gelingt, sich ihr anzupassen, sich in ihr einzurichten, in gutem Einvernehmen mit ihr zu leben. Also darf die Angst, die man einflößt oder einjagt, nicht bekannt, fast nicht vorstellbar sein. Wenn es eine konventionelle, vorhersehbare oder triviale Angst ist, dann wird derjenige, der sie fühlt, imstande sein, sie zu verstehen, Zeit zu gewinnen und damit Gewöhnung, und dann vielleicht fähig sein, sie zu bekämpfen. Sie wird nicht vergehen, er wird sie nicht verlieren, darum geht es nicht: diese Angst wird weiter wirken, ihn bedrängen und ihn quälen. Leute mit Angst verwandeln sich, wenn man ihnen Zeit dazu gibt, dass in ihnen nicht mehr der bloße Instinkt vorherrscht, sondern der rasche Geist des Überlebens." Aus: "Tanz und Traum" Musik: The Bard of Amargh Sprecher: Javier Marías traut dem Leser zu, ihm auf den verschlungenen Pfaden seiner Erzählkunst folgen zu können. Aber auch an sich selbst stellt der Autor hohe Anforderungen - solch verwinkelte Konstruktionen, wie in "Dein Gesicht morgen" erfordern hohe Konzentration. Zumal Javier Marías sich nach wie vor - und zum Ärger seiner Lektoren - standhaft weigert, einen Computer zu benutzen. O-Ton (10) Marías: I don't make a second version ever, I don't rewrite the whole thing before publishing it. And of course, if you made a mistake and you say, it was Wednesday, it should be Thursday, or you said, that somebody had blue eyes and then must not say later on that his eyes, it is something that happens all novelists - of course you change that normally, when you realize that there is contradiction. The problem is, (...) I couldn't change anything, because the first two volumes very already published and in fact it is a funny thing, in the third one (...) I made a mistake, one of those mistakes, I realized that I made a mistake and I said, oh, come on, how can I solve this now, and then there is half a page in which is an explanation about something which was said in English, the narrator, who is Spaniard who speaks god English, but still he is not an English speaking person. I understood and instead of this that half page is the only of a mistake. Yes, the construction is complicated of course. Overvoice: Ich überarbeite den Roman nie bevor er veröffentlicht wird. Dabei passiert mir natürlich, was allen meinen Kollegen auch passiert: Fehler und Ungereimtheiten schleichen sich ein, es ist von einem Mittwoch die Rede, der aber ein Donnerstag sein sollte, jemand hat plötzlich blaue Augen, obwohl sie vorher noch grün waren. Wenn mir das auffällt, ändere ich das natürlich - aber im Fall von "Dein Gesicht morgen" war das nicht möglich. Denn die drei Bände wurden ja nicht zusammen, sondern nacheinander veröffentlicht. Und prompt ist mir ein Fehler unterlaufen, den ich im dritten Band korrigieren musste. Ich hatte nämlich für eine halbe Seite lang vergessen, dass der Ich-Erzähler zwar sehr gut Englisch spricht, aber trotzdem Spanier ist. Das ist der einzige Fehler geblieben, aber daran sieht man, wie kompliziert ein Roman- Bauplan sein kann. Sprecher: Javier Marías unterrichtete in den 1980er Jahren an der Universität Oxford spanische Literatur und Konstruktionstechniken des modernen Romans. Dabei beschäftigte ihn immer wieder die Frage nach der Erreichbarkeit des Publikums. O-Ton (11) Marías: I don't have an ideal reader, I don't have one, it would be absurd in my opinion. If you are writing for some particular readers or a some particular kind of reader I think that in a way you are discarding others somehow. Many writers do that, they know they have a public or an audience or a readership (...) I write for anyone, for anyone in principle. Overvoice: Ich habe keinen idealen Leser, meiner Meinung nach wäre das auch ziemlich absurd. Denn wenn ich nur für eine bestimmte Sorte Leser schreiben würde, würde ich andere ja aussperren. Ich weiß, dass viele meiner Kollegen das anders sehen, sie schreiben für eine bestimmte Zielgruppe. Ich schreibe grundsätzlich für jeden. Sprecher: Mit "Dein Gesicht morgen" entwirft Javier Marías ein Panorama unseres Zeitalters - ohne allerdings seine Trilogie mit Dutzenden von Charakteren zu bevölkern. Das handelnde Personal der drei Romane ist überschaubar. Der Autor streift die großen Themen und bestimmenden Gestalten des Zwanzigsten Jahrhunderts, indem er seine Protagonisten über sie reden lässt. Stellenweise lesen sich diese Reflexionen wie ein "Who is Who" der Kulturgeschichte und Politik. Neben dem 1942 erschossenen NS-Schergen Reinhard Heydrich oder dem Trotzkistenführer Andrés Nin aus dem Spanischen Bürgerkrieg tauchen Sophia Loren, Jayne Mansfield oder die Kennedy-Brüder auf. Geschickt umgeht Javier Marías die Gefahr, seine Leser zu verwirren. Immer wieder gelingt es ihm, die vielfältigen Stoffe fesselnd miteinander zu verbinden. Hinsichtlich der Motivation ein solches Monumentalwerk zu verfassen, gibt sich der Autor bescheiden: O-Ton (12) Marías: I only start writing something when I feel like it and when I have a small idea, I always explain, that I don't work with a map in the sense know, before they start writing, they know exactly what they want to write, they know the whole story, they know what is going in the novel, who is going to live, who is going to die, when etc. I write with a compass only, I improvise a lot, I decide very much on the spot, I find out and at the same time I write. That's my case, I fully understand what I wrote only when I have finished it. Overvoice: Ich beginne dann mit dem Schreiben, wenn mir danach ist. Auslöser kann eine klitzekleine Idee sein. Ich bin nicht die Sorte von Schriftsteller, der mit einem genauen Fahrplan in der Hand an seinem Stoff arbeitet oder der am Anfang schon weiß, wo seine Figuren enden werden, ob sie sterben oder weiterleben. Ich arbeite lediglich mit einer Art Kompass, improvisiere sehr viel, entscheide mich kurzfristig um, und wenn mir etwas einfällt , schreib ich es meistens direkt auf. Das ist bei mir oft so: ich habe das Gefühl, ein neues Buch schreiben zu müssen, fange damit an und verstehe meine eigenen Erzählungen erst dann, wenn sie fertig sind. Sprecher: 2007, kurz nach Erscheinen von "Gift und Schatten und Abschied", dem letzten und alle Rätsel auflösenden Band der Trilogie schockte Javier Marías Leserschaft die Mitteilung, der Autor wolle nun nie mehr einen Roman schreiben. O-Ton (13) Marías: When I finished it I had the feeling, that I had said everything I had to say in the field of novel. I felt empty, I felt a sort of exhausted. And what I think I did say, is that it could be my last novel, I am not sure, Overvoice: Als ich "Dein Gesicht morgen" zu Ende geschrieben hatte, war ich der Meinung, alles gesagt zu haben, was es mit den Mitteln des Romans zu sagen gibt. Ich fühlte mich ausgebrannt. Ich glaube ich habe damals gesagt, es könnte mein letzter Roman gewesen sein, ich bin mir nicht ganz sicher. Sprecher: Doch man hatte den Autor offenbar falsch verstanden. Javier Marías hatte lediglich seiner Erschöpfung nach siebenjährigem Schreiben Ausdruck verleihen wollen. O-Ton (14) Marías: what I am sure of, is that I won't make something similar ever again, that's impossible, I mean while I was writing it I was wondered, what I live long enough to finish it, because you never know. But now started a new novel which will be a normal novel, normal in the sense of its length. It will be 250 pages, I suppose. (..:) So it is not like that, it is not, that I decided I wouldn't but I felt, I have the feeling that maybe that it would be my last novel when I finished it. Obviously, as long as life goes on I suppose it is difficult not to write anything new. Overvoice: Ich war mir sicher, dass ich niemals mehr wieder eine solche Anstrengung auf mich nehmen werde. Als ich mit dem Stoff anfing, habe ich mich gefragt, ob ich noch lange genug leben würde, um das Buch zu Ende zu bringen, schließlich weiß man das ja nie so genau. Im Moment schreibe ich an einer überschaubaren Erzählung, überschaubar deshalb, weil sie wahrscheinlich nur 250 Seiten haben wird. Es stimmt also nicht, dass ich mit dem Schreiben aufhören wollte, ich war nur völlig außer Puste. Solange ich lebe, dürfte es mir, glaube ich, kaum gelingen, nicht an etwas Neuem zu arbeiten. 23