DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag, 21.10. 2014 Redaktion: Karin Beindorff 19.15 ? 20.00 Uhr ?Ich will ein Geständnis? Medikamentenversuche an Kindern in der Schweiz Von Charly Kowalczyk Co-Produktion DLF/BR/WDR Kurzfassung (DLF) URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - Musik Sprecherin 1 Patient: Walter Emmisberger. Geboren 15.04.1956. Notiert von Verena Kuhn-Gebhart, Oberärztin der psychiatrischen Klinik Münsterlingen im Kanton Thurgau. Schweiz. 19.11.1968, nach einem Spital-Besuch des elfjährigen Patienten mit seiner Pflegemutter: ?Der Patient scheint wieder seine schlechte Phase zu haben, es passiert wieder vieles, was nicht in Ordnung ist. Er kauft dauernd Heftli, die ihn nichts angehen, vorwiegend mit sexuell gefärbten Bildern? Letzthin habe der Knabe während einer Woche praktisch jeden Tag etwas kaputt gemacht, wobei der Referentin aufgefallen ist, dass er immer nur Sachen zerstörte, die ihm gehörten oder Sachen, um die es nicht schade war? Wir wollen nun einmal versuchen, das Ketotofranil auf 3 x 2 Tabletten zu steigern, um dann zu sehen, was so passiert.? Ansage ?Ich will ein Geständnis? Medikamentenversuche an Kindern in der Schweiz Ein Feature von Charly Kowalczyk Musik Sprecher Guten Abend, Herr Kowalczyk 1956 kam ich in der Schweiz in einem Gefängnis zur Welt. Vermutlich wurde meine Mutter eingesperrt, weil sie mit mir unehelich schwanger war. Kurz darauf kam ich in ein Kinderheim, wo ich sechs Jahre blieb. Dann zu Pflegeeltern für ca. ein Jahr, wo ich schwer misshandelt und im Keller eingesperrt wurde? deshalb hatte man mich von dort weggebracht zu anderen Pflegeeltern. Das waren Pfarrersleute, die waren nicht besser? Zwischen 1967 bis 1969 wurde ich viel von den Pfarrleuten in die psychiatrische Klinik nach Münsterlingen verbracht. 1967 war ich elf Jahre alt. Die Psychiater verabreichten mir ein nicht zugelassenes Arzneimittel. Dieses Präparat wurde nie auf den Markt gebracht. (?) . Ich finde, das soll die Öffentlichkeit erfahren, damit so etwas nie mehr geschieht. Mit freundlichen Grüssen Walter Emmisberger Erzähler Von der furchtbaren Behandlung von Kindern aus angeblich schwierigen Verhältnissen durch Schweizer Behörden wusste ich schon durch frühere Recherchen. Aber Kinder als medizinische Versuchskaninchen? Wussten die Pflegeeltern, dass die Klinik an ihrem Pflegesohn nicht zugelassene Medikamente testet? Wurden die Tests von Behörden genehmigt? Wer lieferte die Pillen? Und nicht zuletzt: Wurden auch andere Kinder in der psychiatrischen Klinik im Schweizer Münsterlingen für Medikamentenversuche missbraucht? Musik Erzähler Walter Emmisberger holte mich am Bahnhof in Fehraltorf ab, einem kleinen Ort bei Zürich. Zögernd kam mir ein jungenhafter Mann entgegen, mit Mütze, Brille, im Gesicht ein scheues Lächeln. Vom Bahnhof sind es nur ein paar Schritte zur Wohnung. An den Wänden im Wohnzimmer hängen Familienfotos. Atmo: Wohnung Walter Emmisberger Also das sind meine Kinder Caroline und Mirjam und das ist meine Frau. Da ist Caroline nach der Geburt, wo ich sie bade, damals hatte man noch die Nabelschnur durchgeschnitten, das hab ich auch gemacht? Erzähler Seine eigene Kindheit lässt Walter Emmisberger bis heute nicht los. Lieblosigkeit, Gewalt? und immer Sehnsucht nach der Mutter. Obwohl der Junge nicht wusste, wie sie aussah, malte er ein Bild von ihr, um sie in der Nacht bei sich zu haben. Man begreife als Kind nicht, sagt der 58-Jährige, wenn einem die erste Liebe genommen wird. O-Ton Walter Emmisberger Bloß nicht jemanden in meine Nähe kommen lassen, also ja zu nahe an mich. Ich hab einfach immer Angst gehabt, dass das Gleiche geschieht wie bei mir, dass meine Kinder weggenommen werden oder so. Und ich wollte auch nicht heiraten und dann, ja da hat´s halt gefunkt? und das bereue ich keine Sekunde, das ist das Schönste, was ich erlebt habe, meine Familie. Und überhaupt die Geburt, also die Geburt von meinen Kindern, da gibt es nichts Schöneres. Dann schreien sie dich an und sie dürfen ja auch, was ich nie durfte! Erzähler Um mehr über seine Kindheit zu erfahren, forderte Emmisberger Ende 2012 vom Staatsarchiv des Kantons Thurgau in Frauenfeld seine Akte an. Ihm fiel auf, dass Aufzeichnungen der psychiatrischen Klinik Münsterlingen fehlten. Dort sagt man ihm, dass keine Schriftstücke über ihn vorhanden seien. Er war misstrauisch, zweifelte, dann fuhr ein Mitarbeiter des Staatsarchivs nach Münsterlingen - und wurde doch fündig. O-Ton Walter Emmisberger Aber dann habe ich in den Akten, immer mehr kam da wieder zum Vorschein und dann auch so Albträume nachts. Ich wollte dann immer mehr wissen, was ist da wirklich geschehen? Ich wusste einfach, dass ich damals in die psychiatrische Klinik nach Münsterlingen gebracht wurde von meinen Pflegeeltern und dass ich da in verschiedene Räume gehen musste. Man an mir einfach so Tests gemacht hat ja und dass ich Medikamente zu mir nehmen musste. Mehr wusste ich ja nicht. Erzähler Aus den Unterlagen geht hervor, dass die Pharmafirmen Ciba und Geigy viele der Pillen lieferten, die Walter Emmisberger als Kind schlucken musste. 1970 fusionierten die beiden Unternehmen zu Ciba-Geigy AG, bevor ?Ciba-Geigy? und ?Sandoz? sich 1996 zu ?Novartis? zusammenschlossen. Doch nicht nur Ciba-Geigy, auch Sandoz und andere Pharmafirmen testeten noch nicht zugelassene Arzneimittel in Münsterlingen. Emmisberger bat am 3. Dezember 2013 Novartis in einem Brief, Einblick in die Dokumente der klinischen Testreihen zu bekommen. Sprecher Sehr geehrter Herr Emmisberger ?Zunächst möchten wir unser aufrichtiges Bedauern über die von Ihnen erlittene Unbill ausdrücken? Wir können Ihnen versichern, dass Novartis bei der Durchführung klinischer Studien einem einheitlichen, globalen, ethischen Standard folgt? Auch die Vorgängerfirmen haben ihre klinischen Studien in Übereinstimmung mit den jeweils einzuhaltenden ethischen und gesetzlichen Anforderungen durchgeführt. (?) Am Spital Münsterlingen wurden in dem von Ihnen zitierten Zeitraum unter der Leitung von Professor Kuhn klinische Studien durchgeführt. Ihre Anfrage betrifft mit Ciba-Geigy eine Vorgängerfirma von Novartis und bezieht sich zudem auf einen Zeitraum, der bereits mehr als 40 Jahre zurück liegt. Hinzukommt, dass die Aufbewahrungsfrist für Dokumente im Zusammenhang mit Zulassungsstudien lediglich zehn Jahre betrifft. (?) Wir bedauern Ihnen nicht weiterhelfen zu können und verbleiben mit freundlichen Grüßen.? Novartis Pharma Schweiz AG Erzähler Novartis bezieht sich auf die 1964 vom Weltärztebund in der ?Deklaration von Helsinki? beschlossenen ethischen Grundsätze für die medizinische Forschung am Menschen. Ausschließlich freiwillig und informiert sollen Patienten an klinischen Prüfungen teilnehmen. Sprecher Aus der Schweizer Zeitung ?Beobachter?, vom 13. Februar 2014 ?Der Schweizer Psychiater Roland Kuhn gilt als ?Vater der Antidepressiva?. Doch dieser Ruhm gründet auf Hunderten von ahnungslosen Versuchspatienten. 1955 verstarb beim Versuch mit der weißen Pille (G 22 150) einer von fünf Teilnehmern. 1956 nahmen 24 Personen teil, fünf starben. Beim Versuch mit der grünen Pille (G 28 568) nahmen im selben Jahr 23 Personen teil, vier starben. Auffällig oft liegen zwischen dem Ende der Tests und dem Tod nur wenige Tage. Die Todesursache ist in keinem einzigen Fall genannt? O-Ton Walter Emmisberger Man ist ja noch Kind und macht einfach alles mit. Ich war ja so beduselt und auch in der Schule. Ich zitterte beim Schreiben. Das ist dem Lehrer aufgefallen. Ich war auch viel müde und mir war auch viel schlecht und so. Da hat man getestet und geschaut und mich noch mit Medikamenten vollgepumpt wie eine Gans gestopft mit, bis zum Erbrechen. Sprecherin Notiert von Verena Kuhn-Gebhart, Oberärztin der psychiatrischen Klinik und Ehefrau des 2005 verstorbenen Klinikdirektors in Münsterlingen, Roland Kuhn. 27.3.1968 Die Mutter sagt, dass es daheim recht ordentlich gehe, er habe nicht mehr gestohlen und nicht mehr gelogen, er sei im Ganzen ausgeglichener? er hat aber ein schlechtes Zeugnis? und der Lehrer sagt, er nehme ihn nur in die nächste Klasse, weil er wisse, dass er in ärztlicher Behandlung sei? Es sei ihm alles gleichgültig? Wir sagen dann auch, dass wir einmal sehen möchten, ob man noch mit einer anderen Behandlung eher zum Ziele kommt, wir denken dabei an Tegretol, weil doch der Vater des Patienten Epileptiker ist? Wir haben das letzte Mal noch versucht, die Ciba-Mittel noch zu steigern, dies war aber nicht möglich, der Knabe beginnt so sehr zu zittern, dass er nicht recht schreiben kann, was für die Schule natürlich auch nicht geht. Erzähler Das Ciba-Mittel stammte von der damaligen Ciba AG aus Basel. Dem Wirkstoff ?G 34 276? ging eine Testreihe auch in Münsterlingen voraus, bis das Antidepressivum 1972 unter dem Namen ?Maprotilin? oder ?Ludiomil? für den Markt zugelassen wurde. Sprecher ?Beobachter? vom 14. Februar 2014: ?In den sechziger Jahren führt Kuhn seine Versuche fort. ?Geigy? verändert im Auftrag Kuhns die chemische Struktur mehrfach. Er will einen besser verträglichen Wirkstoff finden. Einen dieser Stoffe nennt er ?Ketoimipramin? oder ?Ketotofranil?, die Projektnummer lautete ?G 35 259?. Erzähler Er hätte, erinnert sich Walter Emmisberger, lange ?G 35 259? nehmen müssen, manchmal täglich sechs Tabletten à 25 mg. Mit vielen Nebenwirkungen: Müdigkeit, häufiges Erbrechen, Leistungsunfähigkeit, stark schwankende Gemütszustände?Ich frage ihn, ob er mit mir nach Münsterlingen an den Bodensee fahren würde: O-Ton Walter Emmisberger Also gelegen ist es schön dort. Wie soll ich sagen, ja dorthin würde man mich nie mehr bringen, also ich würde da nicht mehr in die Nähe gehen, dort. Musik Erzähler Ich möchte die Vorwürfe gegen die Pharmakonzerne klären. Monatelang stehe ich mit dem ?Head Public Relations Switzerland?, also der Presseabteilung von Novartis, im Mail- und Telefonkontakt. Auf meine Bitte nach einem Interview-Partner - oder wenigstens schriftlichen Antworten auf meine Fragen, werde ich hingehalten. Am Ende passiert - nichts. Auch Ärzte-Vereinigungen im Thurgau hüllen sich in Schweigen. Dabei haben Ärzte in der Region mit der psychiatrischen Klinik in Münsterlingen kooperiert. Sprecher Aus einem Brief der psychiatrischen Klinik in Münsterlingen an den Hausarzt von Walter Emmisberger in Aadorf vom 23. März 1967: Sehr geehrter Herr Kollege, (?) Mit den Tabletten, die der Knabe Walter Emmisberger jetzt eingenommen hätte, nämlich 2 Tabletten Tofranil à 25 mg und abends 1 Luminatablette, seien die Verstimmungszustände weniger lang. Der Knabe sei aber im Ganzen viel empfindlicher geworden, brause rasch auf, könne Wutanfälle bekommen, was er vorher nicht hatte. Er habe auch ein leichtes Zittern in den Händen. (?) Wir möchten deshalb folgenden Therapievorschlag machen: ? Das Tofranil scheint der Knabe nicht gut zu ertragen? Wir möchten Ihnen deshalb ein Tofranil-ähnliches Medikament zustellen und Sie bitten? dem Knaben zuerst 1 Tablette Tofranil durch das Präparat ?G 35 259? zu ersetzen und nach einer Woche auch noch die zweite Tablette. Wahrscheinlich sollte man dann das Medikament noch weiter steigern? Mit vorzüglicher Hochachtung Beilage: EEG-Befund, 200 Tabletten ?G 35 259? à 25 mg. Erzähler ?G 35 259? oder ?Ketotofranil? wurde nie für den Markt zugelassen. O-Ton Walter Emmisberger Ich denke, den Pfarrersleuten muss ja das auch klar gewesen sein. Jetzt dieses Medikament mit dieser Nummer. Ich mein die Verteilung von den Medikamenten ist ja über den Hausarzt gegangen zu den Pfarrersleuten. Und der Hausarzt, er ist ja Arzt ja, was ist denn das für ein Medikament? Oder auch der Lehrer. Ja wieso zittert denn der beim Schreiben? Oder wieso ist denn der abwesend oder müde? Aber keiner ist da nachgegangen, auch die Pflegeeltern nicht. Also haben die doch das ganze Zeug noch mitgemacht oder haben auch noch Geld bekommen wie dieser Direktor da von der psychiatrischen Klinik in Münsterlingen. Und so einer, Entschuldigung, so ein Sauhund, so einer bekommt noch einen Professortitel. Erzähler Walter Emmisberger glaubt, dass diese Medikamente ihm bis heute das Leben schwer machen. Als er sich 1995 mit einem Sattelschlepper selbständig machte und damit gut verdiente, erzählt er, überfielen ihn immer wieder starke Kopfschmerzen, Depressionen, Panikattacken. Neben Antidepressiva schluckte er mit elf Jahren auch noch ?Tegretal? ? in der Schweiz heißt das Medikament ?Tegretol?. Ein Mittel gegen epileptische Anfälle. O-Ton Walter Emmisberger Ich habe jetzt in den Akten gelesen, dass man auch bei mir x Mal Tests gemacht habe, ob ich Epilepsie habe oder so. Und das war ja nie der Fall, aber man hat doch Medikament an mir getestet für Epileptiker. So etwas zu machen ist eine Schande. O-Ton Andreas Heinz Tegretal ist eine Substanz drin, die heißt Carbamazepin, das ist ein Antiepileptikum, also Mittel gegen Krampfanfälle. Die wirken auch bei emotionalen Schwankungen, also wenn Menschen manisch depressive Phasen haben, mal eine Manie mit einem emotionalen Höhenflug und dann eine Depression. Und insbesondere wenn sie zusätzlich psychotische Symptome haben. Erzähler Andreas Heinz ist Leiter der Klinik für Psychiatrie der Charité am Campus Berlin-Mitte. O-Ton Andreas Heinz Gescheiterte Lebenspläne, Verschuldung, verlorene Beziehungen, die können sie durch Neuroleptika oder Antidepressiva nicht gerade biegen. Erzähler Hört man heute den erwachsenen Betroffenen zu, litten sie in ihrer Kindheit vor allem am Verlust ihrer Eltern, an fehlender Fürsorge, an Gewalt... Kinder ohne Lobby. In den Patienten-Akten der Klinik wurden alle Versuche festgehalten. O-Ton Bruno Müller - Oerlinghausen Grundsätzlich muss man davon ausgehen, dass eine langfristige Einnahme von Psychopharmaka im Gehirn etwas verändert. Wir sprechen ja heutzutage viel von der Neuroplastizität, d. h. wir haben erkannt, dass das Gehirn sich ständig verändert und nicht völlig statisch ist? Also wir greifen mit diesen Psychopharmaka in viele Prozesse ein und die langfristigen Auswirkungen kennen wir wenig? Dass sie vielleicht tatsächlich einen Schaden auch durch längerfristige Gabe von Psychopharmaka bekommen haben, wie wollen Sie das herausbekommen? Das ist wirklich sehr schwierig. Erzähler Medikamente an Kindern zu testen ist immer ein ethisches Problem. Andererseits findet Bruno Müller-Oerlinghausen es eigentlich unmöglich, Kindern Arzneimittel zu verschreiben, deren Wirkung nicht überprüft wurde. Der Arzt und Pharmakologe arbeitete viele Jahre in der Arzneimittelforschung und war Vorsitzender der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft. Atmo Mit Walter Nowak in Münsterlingen Schon dieser Weg da, zu dieser Klinik hin, man merkt, dass die ganze Klinik sehr abgeschottet ist, von der Bevölkerung, vom Dorf selber, also von der Stadt, so dass man sich schon vorstellen kann, dass hier alles, früher fast alles möglich war. Sprecherin Patient: Walter Nowak. Geboren 1956. Zögling im Kinderheim Kloster Fischingen. Oberärztin Verena Kuhn am 16.3.1970: Der Knabe sei manchmal recht vergnügt, ausgesprochen depressiv wirke er selten, er könne nur immer wieder einmal klagen, er müsse halt den Eltern nachstudieren, aber es sei auch eine unerfreuliche Sache mit diesen? Er ist unordentlich? verliert seine Kleider, er ist immer und überall der Letzte? Die Leistungen seien gar nicht der Intelligenz entsprechend? Der Knabe selber sagt, dass er die Tabletten regelmäßig genommen habe, er könne nicht recht sagen, ob und wie sie wirken, er soll von 3 x 1 Ketotofranil à 25 mg auf 3 x 2 Tabletten steigern. Wir geben ihm noch Tabletten mit. Erzähler Auch Walter Nowak war ein Versuchskaninchen des Mediziner-Ehepaars Kuhn. 2013 kam durch einen Traum bei Walter Nowak alles wieder hoch. Dann wendete er sich mit Hilfe seines Anwaltes an die Presse. Erste Artikel und Interviews in Schweizer Zeitungen wurden veröffentlicht. O-Ton Walter Nowak Ich hab dann auch geträumt, dass ich plötzlich, ich hab ein Haus gesehen, ich hab einen See gesehen, ich hab eine Schwester gesehen, die mir Medikamente - ich war angebunden - und haben mir die Medikamente in den Mund gedrückt. Ich hab so einen Arzt gesehen, der mir da so Drähte am Kopf anmachte und es kam mir vor, als müsste es eine Psychiatrie gewesen sein. Darauf habe ich recherchiert, was da in der Nähe von Fischingen an Psychiatrie so rum ist, wo am See ist, und dann kam ich auf Münsterlingen. Erzähler Ich traf Walter Nowak zum ersten Mal in Dornbirn in Vorarlberg, in einem Selbsthilfezentrum. Der 58-Jährige, ein Schrank von Mann, ist in Österreich geboren und in der Schweiz aufgewachsen. In Notizen der Münsterlinger Oberärztin Verena Kuhn-Gebhart fand Nowak den Vermerk, dass bei ihm mit 15 Jahren plötzlich ein erhöhter Blutdruck aufgetreten sei. O-Ton Walter Nowak Im Moment ist er bei 250 auf 135. Ist gemessen worden das letzte Mal, wo ich im Spital war. Für mich ist ein niedriger Blutdruck so 210 auf 120. Man kann den auch nicht einstellen und man hat eigentlich nie gewusst, wieso ich so einen hohen Blutdruck habe. Ich hab schon sehr viele Kopfschmerzen, auch Spannungsschmerzen. Manchmal sticht es so im Herz oder in der Herzgegend. Ich habe auch manchmal Atemnot. Ich hoffe, dass man ihn irgendwann in den Griff kriegt, aber bis jetzt hat man das eigentlich erfolglos therapiert. Es hat sogar Mittel gegeben, wo man Blutdruck senkende Mittel, wo er höher geworden ist und es gab auch noch andere Situationen im Spital z. B. mit einem Medikament, das man mir gegeben hat, dass ich mich beruhigen sollte, wo ich einschlafen sollte und ich wurde total panisch und wurde total überdreht. Die Ärztin hat gesagt, sie versteht es nicht, sie hat es noch nie erlebt, dass ein Mensch so reagiert auf so ein Medikament. Erzähler Nicht nur die Arzneimitteltests in Münsterlingen, auch andere Kindheitserlebnisse kommen Walter Nowak Jahrzehnte später wieder zu Bewusstsein. Atmo Kloster Fischingen Erzähler Zehn Jahre lang musste er im Kinderheim des katholischen Klosters in Fischingen leben. Dort wurde er oft tagelang eingesperrt, in einem dunklen Keller. Wenn er wieder ans Tageslicht durfte, schmerzten die Augen. Walter Nowak wurde gequält, geschlagen, von einem Pater jahrelang sexuell missbraucht. Niemand glaubte ihm und den anderen Kindern. Weder die katholische Kirche noch der Kanton Thurgau nahmen ihre Aufsichtspflichten wahr. Schlimmer noch: sie schickten einige der Kinder in die nahe gelegene psychiatrische Klinik nach Münsterlingen. Sprecherin Oberärztin Verena Kuhn-Gebhart notiert: 6.8.1971: Der Zustand des Patienten scheint objektiv immer etwa gleich zu sein. Er tue einfach nichts. Er nimmt 3 Tabletten Ciba-Mittel, 3 Tofranil à 25 mg und 2 Ritalin. Er soll die Medizin in dieser Dosierung weiter nehmen. Erzähler Als Walter Nowak das Kinderheim Fischingen verließ und nach Bern zog, wurden von einem auf den anderen Tag sämtliche Medikamente abgesetzt. O-Ton/Atmo Walter Nowak in Münsterlingen Das war damals sicher einem guten Arzt, einem Psychiater, war das ja bewusst, dann hätte er es schleichend auslaufen lassen. Ich hab mich dann gefragt, wieso dass ich in Bern so aggressiv unterwegs war, ein Jahr lang. Ich konnte mir das nie erklären, weil es ist eigentlich gegen mein Naturell, meiner Person, aber mittlerweile kann ich mir vorstellen, dass es unter Umständen eine Art von Entzugserscheinungen war. Erzähler Seit 2010 wehrt sich Walter Nowak gegen das Unrecht, das ihm widerfuhr. Zuerst klagte er vor Gericht gegen den Pater, der ihn im Kloster Fischingen sexuell missbraucht hatte. Der Prozess ging bis zum Bundesgericht. Dort wurde das Verfahren 2014 abgewiesen ? der Missbrauch war verjährt. Nun zieht Nowak vor den Gerichtshof für Menschenrechte nach Straßburg. Zurückgehalten habe er sich ohnehin viel zu lange, findet er, nun werde er sich auch gegen die Medikamentenexperimente in Münsterlingen zur Wehr setzen. Er will endlich Einblick in seine ganze Akte. O-Ton/Atmo Walter Nowak in Münsterlingen Es gibt die Betroffenen, die sich relativ schnell einschüchtern lassen, weil sie das ganze Leben eingeschüchtert waren, die auch sofort sich wieder als Opfer sehen, wo ich mich auch nie gesehen habe und nie sehen möchte, die dann so etwas wieder als neue Verletzung anschauen. Ich werde genau das Gegenteil tun, was sie von mir erwarten oder erhoffen, ich werde nicht Ruhe geben, sondern werde noch mehr schreien, damit ich meine Akte kriege. Musik Erzähler Zwei Jahrzehnte lang konnte Roland Kuhn unbehelligt in Münsterlingen Medikamente in Zusammenarbeit mit Pharma-Konzernen testen. Warum dringt aus der damaligen Zeit nichts nach außen? Ich suche Beschäftigte, die unter Kuhns Leitung arbeiteten. Alle lehnen zuerst ein Gespräch ab. Dann will ein Pfleger sprechen, sagt jedoch wieder ab. Monate später meldet sich eine Krankenschwester. Wir verabreden uns in einem Café in Kreuzlingen am Bodensee - sie kommt nicht. Schließlich lerne ich Brighit Stahel kennen, damals Leiterin einer ?Pflegeschule?, die Krankenschwestern und Pfleger ausbildete. Heute ist Brighit Stahel Rentnerin. Zuerst will Brighit Stahel nur anonym erzählen ? verzichtet dann doch darauf. Einmal im Monat hat sie die psychiatrische Klinik in Münsterlingen besucht, als sie noch im Dienst war. Als Leiterin der Schule wollte sie wissen, unter welchen Bedingungen ihre Auszubildenden ihr Praktikum dort machten. O-Ton Brighit Stahel Also das Schlimmste war wirklich der Umgang mit diesen Menschen, die waren einfach nur abhängig, die waren wie konditioniert. Die haben die Leute ausgezogen, also jemand hat sie ausgezogen, dann standen sie - also mir kam das vor wie wirklich 3. Reich bald ja, muss ich ehrlich sein - die standen nackt da in einer Reihe. Erzähler Vorher hatte Brighit Stahel in Genf gearbeitet, da, sagt sie, wurden die Patienten respektvoll behandelt. O-Ton Brighit Stahel Und das zweite Beispiel, das mich wirklich ganz extrem geschockt hat, da waren Toilettenanlagen, die hatten keine Türe, es war offen und die waren gegenüber, also eine Reihe auf der linken Seite, eine Reihe auf der rechten Seite. Also die Leute sahen sich, wenn sie auf der Toilette saßen. Und das Schlimmste war, das war reflexartig konditioniert, man setzte die Leute auf die Toilette und servierte ihnen das Frühstück auf einem Tablett, auf der Toilette. Und das hat mich so geschockt, dass ich zum Herr Professor ging. Ich hab mich beschwert. Ich war ziemlich emotional, muss ich sagen, ich weiß nicht was ich alles gesagt hab. Ich weiß nur noch, dass ich gesagt habe, meine Hunde sind besser gepflegt und besorgt als Ihre Patienten. Und wenn ich dann lese heute, ja das sei ein wunderbarer Professor gewesen und die Leute seien gut betreut gewesen, muss ich einfach sagen, das ist traurig. Autor: Wie hat denn Professor Kuhn reagiert auf Sie? Ja, er hat zu mir gesagt, wissen Sie, Sie sind ja nicht von der Psychiatrie, Sie haben keine Ahnung, das ist so, wir müssen die Leute so behandeln und das mit der Toilette, wissen Sie, das ist ein Reflex: Wenn man oben isst, dann kommt´s unten raus. Das hat er so gesagt? Also kurz darauf kam der Kantonsarzt zu mir ins Büro und hat gesagt, so was geht nicht, dass man dem Herrn Professor so was sagt und ja der hat mich also zurechtgewiesen. Ich hab gesagt, ich steh dazu? Musik Atmo: Kloster Fischingen Erzähler In der abgeschiedenen Hügellandschaft des südlichen Thurgaus, verbrachte in den 70ern Guido Stierli sechs Jahre seiner Kindheit. Im Heim. Eine Bushaltestelle in der Ostschweiz, einige Kilometer oberhalb von St. Gallen. Es ist kalt und einsam, bis endlich ein Lieferwagen kommt, mit Guido Stierli am Steuer. Auf dem Fußboden und den Sitzen des Transporters stapeln sich Kartons: Schokoküsse, Kuchen, Eier? Mehr als eine halbe Stunde für ein Gespräch hätte er nicht, sagt Stierli mir gleich, der eigentlich anders heißt. Er möchte anonym bleiben, aus Furcht, Kunden zu verlieren, wenn seine Vergangenheit bekannt würde. O-Ton Guido Stierli Ich war immer bei Frau Kuhn, immer, immer Frau Kuhn, sie war eine sehr schmale, schlanke Frau? Autor: Ist sie denn in das Kloster Fischingen gekommen oder mussten Sie nach Münsterlingen? Nein wir wurden richtig verfrachtet... Ich rede jetzt vom Kloster Fischingen, die Praktikantin hat immer gesagt zu einem Lehrer: ?Du weißt heute müssen wir wieder nach Münsterlingen.? Es sind immer Kinder gewesen, die speziell von zu Hause aus zerrütteten Ehen gekommen sind. Man hat ganz genau beobachtet, mit welchen Kindern kann man das machen. Welche Kinder sind lernschwach. Welche Eltern sind labil. Welche Eltern haben nicht das gewisse Niveau zum Intervenieren, verstehen Sie? Erzähler Jähzornig soll er gewesen sein, las Guido Stierli später in seinen Akten, manchmal gäbe er Laute wie ein Tier von sich. In der psychiatrischen Klinik in Münsterlingen, erzählt Stierli, wurde immer zuerst ein EKG gemacht und eine Blutprobe genommen. Dann hätten die katholischen Schwestern Tabletten in verschiedenen Farben für die Jungen mitbekommen. Musik O-Ton Karl Studer Mein Name ist Karl Studer, ich bin Psychiater und Psychotherapeut in der Praxis. Ich war 27 Jahre der Nachfolger von Herrn Prof. Kuhn, Klinikdirektor der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen. Erzähler Karl Studer verschränkt seine Arme vor der Brust, er spricht nicht gern über die Medikamentenversuche seines Vorgängers, den er 1978 ablöste. Warum eigentlich nicht? Wir sitzen in seiner Praxis in Kreuzlingen, im Kanton Thurgau, eine halbe Stunde gibt er mir für das Gespräch. O-Ton Karl Studer Prof. Kuhn hat das erste Antidepressivum, das ?Tofranil?, entdeckt, kann man sagen und deshalb war Münsterlingen dafür berühmt. Und Herr Prof. Kuhn wollte ja noch weitere Antidepressiva kennenlernen und suchen usw. und hat halt auch Substanzen geprüft, die ähnlich sind. Seitdem die Psychopharmaka existieren, sind die Kliniken leer geworden. Erzähler Zum 1. Januar 1978 wurden in der Schweiz die Richtlinien der Interkantonalen Kontrollstelle für Heilmittel zur ?Dokumentation und zur Registrierung von Arzneimitteln der Humanmedizin? eingeführt. Davor gab es nur wenige Auflagen für klinische Studien. Aber eines brauchte Roland Kuhn für seine Medikamententests auch schon vor 1978: Das Einverständnis der Testpersonen. Doch ob er es, von wem und unter welchen Umständen bekommen hat ? das ist ungeklärt. O-Ton Karl Studer Es braucht Einverständnis des Betroffenen, das ist doch klar. Und die Kinder, die kleinen Kinder sind noch nicht testierfähig oder handlungsfähig im juristischen Sinn und da ist die Frage, wer entscheidet, wozu, usw., das ist schwierig, und drum sind auch die Medikamenten-Entwicklung für Kinder immer schwierig, dass man sagt, bei den Erwachsenen wirkt es so, vielleicht ist eine kleinere Dosis bei Kindern eben auch so. Es gibt auch depressive Kinder. Es gibt auch psychotische Kinder. Es gibt auch Kinder mit schweren Angstzuständen. Da fehlen uns vielleicht die Versuche. Autor: Wann haben Sie selbst zum ersten Mal von diesen Medikamentenversuchen erfahren? Ah, das wussten wir immer natürlich, dass da überprüft wurden. Aber wie er das gemacht hat und wie die Umstände waren, das war seine Sache. Wir waren froh, dass es diese Medikamente gab. Autor: Aber dann ist es schon wieder der Zweck heiligt die Mittel? Nein. (lacht) nein? da muss ich Ihnen sagen, das hat mich nicht interessiert, wie er das gemacht hat. Ja, das war seine Sache und wir haben uns da nicht ausgetauscht. Es war nicht meine Aufgabe zu überprüfen, ob er korrekt gehandelt hat. Musik Atmo André Salathé im Staatsarchiv Frauenfeld Roland Kuhn hat alles aufbewahrt, jedenfalls haben wir 70 Laufmeter Akten, das ist viel für einen privaten Nachlass, übernommen, wir sind jetzt bald am Schluss der Ordnungsarbeiten. Erzähler Inzwischen lässt der Kanton Thurgau den Nachlass des langjährigen Oberarztes und Direktors der Psychiatrischen Klinik in Münsterlingen, Roland Kuhn, von Historikern des Staatsarchivs Thurgau unter Leitung von André Salathé aufarbeiten. Wer war, will ich wissen, für die Zulassung der Medikamententests im Kanton Thurgau zuständig? Waren die Testpersonen einverstanden? Hat sich Roland Kuhn an die vorgeschriebenen Standards gehalten? Wer ist verantwortlich für den Tod von mehreren Patienten, an denen in den 50er-Jahren Medikamente getestet wurden? O-Ton André Salathé Ich kann so viel sagen zu Ihrer Frage, dass dieses Forschungsteam mit Sicherheit auch zum Ergebnis kommen wird, dass sich Kuhn sehr wohl mit den damals üblichen Forschungserfordernissen, Standards in diesem Bereich, den Sie ansprechen, befasst hat, es sind da auch relevante Unterlagen vorhanden. Ob er das auch alles dann sich dementsprechend verhalten hat, wie bestimmte offizielle Dokumente das dann zu dem jeweiligen Zeitpunkt es auch verlangt haben, das ist eine andere Frage? Erzähler In der Regel seien aber Kinder, stellt Staatsarchivar Salathé unter Vorbehalt fest, nicht in offizielle Testreihen einbezogen worden ? hier seien nur Patienten der Psychiatrischen Klinik beteiligt gewesen. Ob das Ehepaar Kuhn unabhängig von kantonalen Auflagen, mit oder ohne Unterstützung der Pharmaindustrie Arzneimittel an Kindern testete, müsse die unabhängige Forschung klären. O-Ton André Salathé Es ist aber schon so, dass Roland Kuhn nicht ganz im luftleeren Raum funktioniert hat und dass bestimmte vorgesetzte Stellen sehr wohl gewusst haben, dass er das macht. Das geht aus diesem Nachlass von Kuhn, soweit ich sehe, ansatzweise hervor. In diesem Punkt stehen vor allem das Sanitätsdepartement und sein Chef natürlich im Fokus, aber auch andere kantonale Stellen, Kantonsarzt, Gesundheitsamt usw. usf. Erzähler In zwei, drei Jahren soll in Thurgau die historische Aufarbeitung abgeschlossen sein. Dann werden die Akten für die Betroffenen und die Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Um alles aufzuklären, mehr Details zu erfahren, so André Salathé, müsse endlich auch die ?Chemische Industrie? ihre Archive für die Forschung öffnen. Ruth Baumann-Hölzle leitet das Institut "Dialog Ethik" in Zürich und ist seit vielen Jahren Mitglied in verschiedenen Ethik-Kommissionen der Schweiz. O-Ton Ruth Baumann-Hölzle Nicht schon wieder! Weil Experimente mit vulnerablen Menschen, seien dies jetzt psychisch kranke Menschen, seien es wie in dieser Situation mit Verdingkindern gemacht werden, ist ja leider nichts Neues, aber umso bedenklicher, als eben nach dem 2. Weltkrieg, wo man eigentlich gehofft hat, dass man mit diesen Nürnbergern Gerichtsverfahren und dann eben mit der ganzen Menschenrechtsdeklaration, mit dem Ärzte-Eid usw., dass man eigentlich die Sensibilität hat, was man mit Forschung darf und nicht darf. Wir haben auch in den USA schon gesehen, dass bereits 62/63 an der vulnerable Gruppe von Gefängnisinsassen, wo auch wieder Experimente gemacht worden sind, in dem man ihnen z. B. Leberkrebszellen eingespritzt hat und mit ihnen Versuche gemacht hat. Also man könnte diese Liste beliebig verlängern, leider, und das wirft doch ein sehr auch ambivalentes Bild auf die medizinische Forschung. Erzähler Arzneimittel müssen an Menschen erprobt werden, bevor sie für den Markt bewilligt werden. Aufwändige Versuchsreihen, parallel an mehreren Orten und in verschiedenen Ländern sind dafür nötig. Die Pharmaindustrie zieht sich dabei immer mehr aus Europa und den USA zurück. Der Anteil z.B. in Indien, Russland oder Argentinien an den weltweit durchgeführten Tests stieg allein zwischen 1991 und 2005 von 10 auf 40 Prozent, errechnete die Schweizer Nichtregierungsorganisation ?Erklärung von Bern.? Auch die EU-Kommission spricht von einer Verlagerung vor allem in die Schwellenländer. Um diese zu stoppen, müsse man bürokratische Hemmnisse bei der Durchführung von klinischen Studien abbauen. O-Ton Baumann-Hölzle Das ist gängig, wir hätten zu hohe Hürden usw. Aber wenn man sieht, jetzt eben wie diese Studien eingegeben werden. Wir müssen oftmals Studien zurückweisen, und zwar weil die Qualität zu schlecht ist, zurückweisen im Sinne, dass sie nochmals überarbeitet werden müssen. Diese Überarbeitungen gleichsam brauchen sehr, sehr viel Zeit? und zum anderen: ? Diese sog. ethischen Güterabwägungen sollen nicht im Eilverfahren geschehen. Die Tatsache, dass alles dann in Dritte-Welt-Länder ausgelagert wird, wo eben die Kontrollen niedriger sind, ja was heißt das? ? Heißt das, dass wir dann gleichsam alle jetzt diese niedrigen Standards einführen wollen? Musik Erzähler Bei Novartis, erzählt mir Thomas B. Cueni, sei man froh gewesen, dass er sich bereit erklärt hat, mit mir zu sprechen. Cueni ist Geschäftsführer von Interpharma, einem Verband von 17 forschenden Pharmafirmen in der Schweiz. O-Ton Thomas B. Cueni Ich meine für globale Firmen wie eine Novartis und Roche ist klar, von der Kleinheit der Schweiz, den kleinen Patientenzahlen, kleineren Spitälern, man könnte nie ein Arzneimittel weltweit zur Zulassung bringen, nur mit Studien in der Schweiz. Wir haben das ähnliche Problem wie andere EU-Länder, die Studiendaten -Zahlen sind bei uns um rund sogar 30 Prozent zurückgegangen in den letzten Jahren eigentlich, die Welt rennt uns die Türen rein und möchte, dass wir Studien dort machen. Wir hatten vor einem guten Jahr mal den Vizepremierminister von Vietnam hier und das erste, was er sagt ist, ich möchte, dass Ihr mehr Studien bei uns macht? Erzähler Für den ehemaligen Diplomaten, der bei UNO und OECD tätig war, ist es selbstverständlich, dass Aktionäre Dividenden sehen möchten, auch die von Novartis. Aber niemals um den Preis, dass jemand Schaden an einem zu erprobenden Medikament nähme. O-Ton Thomas B. Cueni In Indien gibt es bspw. eine inhärente Abneigung. Während eben viele Länder z. B. bei uns die Kliniken, die Industrie, auch Patienten, möchten, dass man Studien macht, ist in Indien irgendwie die Einstellung, wenn man Studien bei uns macht, dann ist irgendwas nicht sauber? Aber dass man, sagen wir, mit unserem Verständnis nachträglich kommt und sagt, ja der wusste gar nicht, was er unterschrieben hat, da bin ich dann auch kritisch hinterfragend: Ist das so oder es hat dann eine Nebenwirkung gegeben, und dann ist man plötzlich anders eingestellt als vorher, wo es darum ging, kriege ich überhaupt eine Behandlung. Erzähler Studien an Kindern seien nötig. Doch welche Eltern seien dazu bereit? In der Schweiz würden jetzt aber fünf Universitätskliniken und drei pädiatrische Kliniken zusammenarbeiten, um klinische Studien an Kindern zu fördern. Auf meine Fragen zu den Arzneimitteltests in Münsterlingen erhalte ich vom Geschäftsführer von Interpharma keine Antworten, außer der, dass auch die Industrie an einer Aufklärung interessiert sei. Aber von dem, was er wisse, könne er sagen, dass man keiner Schweizer Firma schuldhaftes Verhalten vorwerfen könne. Musik Erzähler Die historische Aufarbeitung der Medikamententests in Münsterlingen durch den Kanton Thurgau ist ein erster Schritt. Doch Walter Emmisberger, Guido Stierli und Walter Nowak geben sich damit nicht zufrieden. Auch der Pharmakonzern Novartis und andere Firmen, die an klinischen Studien in Münsterlingen beteiligt waren, sollen endlich zur Aufklärung beitragen. Stellvertretend für andere Betroffene fordern die drei von der Pharmaindustrie die Öffnung ihrer Archive. Denn schließlich seien mit den auch an ihnen getesteten Medikamenten Milliarden verdient worden. O-Ton Walter Nowak Von Novartis will ich ein Geständnis. Ich will haben, dass sie sagen, ja wir haben das damals gemacht? und vor allem? ich möchte ein Denkmal setzen, dass so was einfach nie mehr passieren darf. Nicht nur in unseren europäischen Breitengraden, sondern auch in Asien und wo jetzt überall noch getestet wird und Kinder weggeräumt werden. Absage ?Ich will ein Geständnis? Medikamentenversuche an Kindern in der Schweiz Ein Feature von Charly Kowalczyk Sie hörten eine Koproduktion des Deutschlandfunks mit dem Bayrischen und dem Westdeutschen Rundfunk, 2014. Es sprachen: Gregor Höppner, Jochen Langner und Susanne Flury Ton und Technik: Ernst Hartmann und Petra Pelloth Regie: Axel Scheibchen Redaktion: Karin Beindorff Musikausklang 1