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Er verfasste ein autobiographisches Riesenprojekt unter dem Titel "Mein Kampf", ein Projekt, das er nach 3600 Seiten und sechs Bänden im November 2011 abschloss. Er ist vielleicht eine der auffälligsten Figuren des autobiographischen Schreibens, aber er ist nicht die einzige. Der autobiographische Roman ist in den letzten Jahren fast zur Mode geworden, nicht nur in Nordeuropa, sondern in ganz Europa. Bezogen auf die deutsche Literatur hat der deutsche Autor Maxim Biller kürzlich sogar eine neue literarische Epoche ausgerufen, die sogenannte "Ich-Zeit". Der etwas intellektuellere Rezensent Gregor Dotzauer legte nach, allerdings sehr viel skeptischer. Stellen wir hier die Frage: Schließen sich die Begriffe "Autobiographie" und "Roman" nicht gegenseitig aus? Sagt das Ich eines solchen Romans die Wahrheit? Und kann man sich eigentlich auf die Erinnerung verlassen? Und warum wird so ein Zwitter überhaupt geschrieben? 1893, fünf Jahre vor seinem Tod, schrieb Theodor Fontane die Erinnerungen an seine Kindheit in Neuruppin und Swinemünde. Das Büchlein heißt "Meine Kinderjahre". Darin steht ein interessantes Vorwort: "Alles ist nach dem Leben gezeichnet. Wenn ich trotzdem, vorsichtigerweise, meinem Buche den Nebentitel eines 'autobiographischen Romanes' gegeben habe, so hat dies darin seinen Grund, dass ich nicht von einzelnen aus jener Zeit her vielleicht noch Lebenden auf die Echtheitsfrage hin interpelliert werden möchte. Für etwaige Zweifler also sei es ein Roman!" Das klingt nur scheinbar seltsam. Denn die Idee zu dieser späten Autobiographie hatte Fontanes Hausarzt, sie sollte eine Art Therapie sein. Fontane hatte im Frühjahr 1892 eine schwere Grippe, von der er sich gar nicht erholen wollte. Seine Lebensbeschreibung scheint ihm tatsächlich geholfen zu haben, "ich habe mich an diesem Buche wieder gesund geschrieben", schreibt der 73jährige Fontane. Das geht doch vielleicht nur, wenn man seiner Phantasie nicht allzu straffe Zügel anlegt. Das Manuskript der "Kinderjahre" ist vielfach überarbeitet. Der Vater zum Beispiel ist hervorgehoben, die Mutter tritt zurück, was der Wirklichkeit sicher nicht ganz entsprach. "Vorsichtigerweise" also nannte Fontane seine Erinnerungen einen "autobiographischen Roman". Er scheint der erste gewesen zu sein, der diesen Begriff für den eigenen Lebenslauf benutzte - die Gattung erfunden hat er nicht. Eine Vorform sind die "Bekenntnisse" des Augustinus, die um das Jahr 400 entstanden. Sie verbinden seine Lebensgeschichte mit rhetorischer Kunst und philosophischer Meditation. Ihr Ursprung war eine Lebenskrise, ähnlich wie bei Fontane. Ähnlich wie bei vielen Autobiographien. Fast tausend Jahre später schrieb Petrarca seinen Lebensbericht. Aber erst das 18. Jahrhundert darf wohl als die wahre Entstehungszeit der Autobiographie bezeichnet werden. Die Gattung wurde subjektiver und komplexer. Um 1760 herum erschien ein Roman, der die Literatur entscheidend beeinflussen sollte, es war ein Welterschaffungsroman. Verfasser war ein nicht sehr frommer englischer Pfarrer, ein gewisser Laurence Sterne, der Titel des Werkes lautete: "The Life and Opinions of Tristram Shandy", "Das Leben und die Ansichten Tristram Shandys", es umfasste nicht weniger als neun Bände. Sieben Jahre nach dem letzten Band erschien bereits die erste deutsche Übersetzung, sie hieß noch "Tristram Schandis Leben und Meynungen". Es ist eine Ich-Erzählung, aber autobiographisch nur so insofern, als jede Erzählung ein bisschen autobiographisch ist. Es gibt eine Menge Anspielungen auf historische Figuren, Anwälte, Ärzte, Geistliche. Der Pfarrer Yorick ist eine Art idealisiertes Selbstporträt des Autors. Es ist ein Roman, doch immer hat man den Eindruck - und darauf kommt es an -, eine Autobiographie zu lesen, das heißt, die Beschreibung eines wahren Lebens. "Solche Romane-als-Autobiographie haben zwei eindeutige und dezidiert positive Effekte: Erstens untergraben sie ganz bewusst die traditionelle und weitgehend angemaßte Autorität des Romanciers, indem sie ihn seiner privilegierten Stellung über und jenseits der Welt berauben; und zweitens verringern sie die Kluft zwischen Fiktion und Autobiographie, eine Kluft, die vor allem eines ist: künstlich." David Shields: Reality Hunger. Ein Manifest Der Einfluss von Sternes "Tristram Shandy" ist kaum zu überschätzen. Viele Schriftsteller haben sogar den Titel übernommen. Etwa 1775, zehn Jahre nach dem "Tristram", schrieb der dänische Vorromantiker Johannes Ewald seine Autobiographie und nannte sie mit deutlichem Hinweis auf Sterne "Levnet og Meeninger", "Leben und Ansichten". Während Sterne aber eine von vorne bis hinten erfundene, man könnte auch sagen: erlogene Geschichte vorlegt, ist das bei Ewald schon nicht mehr ganz so klar. In einem Nachwort zu Ewalds autobiographischem Roman schreibt der Skandinavist Erik M. Christensen: "Johannes Ewalds 'Leben und Ansichten' wollen einerseits als Wahrheit verstanden und als Autobiographie gelesen werden. Andererseits verhehlt der Autor nicht, dass diese Autobiographie einer Dichtung gleicht. Auf dieser Grundlage kann man sagen, dass zwischen Wahrheit und Dichtung ein Zusammenhang bestehen muss. Es bedeutet, dass die Dichtung wahr und die historische Wahrheit mit Dichtung zu verwechseln ist." "Wenn ich im Hinblick auf mein eigenes Vergnügen in meiner Geschichte beginne, wo und wie es mir einfällt, dann denke ich, dass ich ohne weitere Vorbereitungen zu Werke schreiten kann". So heißt es in Ewalds Buch gleich zu Anfang. Und es gibt weitere vielsagende Indizien dafür, dass Ewald seine Autobiographie im Großen und Ganzen wie einen Roman ansieht, in dem und mit dem er "spielen" kann. Als der Erzähler mit seinem Bruder streitet, ob man sich zum preußischen Heer melden solle, heißt es: "Wenn ich bei all diesem auch noch eine ziemliche Grundlage an Gewitztheit an den Tag lege, dann wird man begreifen, dass ich weit besser befähigt war, einen Roman zu Ende zu spielen als mein Bruder, obgleich er wirklich sowohl anfälliger als auch kühner darin war, damit zu beginnen als ich." 2006 präsentiert der rätoromanisch schreibende Schweizer Leo Tuor einen sogenannten Roman mit dem Titel "Settembrini. Leben und Meinungen". Das erstaunliche Buch handelt von den beiden Onkeln des Ich-Erzählers, großen Jägern und begeisterten Lesern, immer wird der Erfahrungsschatz, den sie auf der Jagd gesammelt haben, mit einem Zitatenschatz aus der Weltliteratur bereichert. Laurence Sternes wegweisendes Buch wird natürlich auch genannt: "Ein Jäger, meinte mein Onkel, solle die 'Berühmten Philosophen' des Diogenes Laertius lesen, ferner die 'Meinungen des Tristram Shandy' und vielleicht noch 'Leben und Meinungen des Dr. Samuel Johnson'." Von Tristram, schreibt Tuor, könne man eine Menge über Ballistik, Schießen und Pirschen lernen - vor allem könne man bei ihm Charakterstudien machen. Wahrscheinlich gehört das Rauchen zum Charakter, das darf der Jäger nämlich, und lesen soll er sogar, nur das Schreiben möge er bitte unterlassen: "Schreiben solle ein Jäger nie. [ ... ] Schreiben sei eine noch zweifelhaftere Angelegenheit als das Auskochen von Trophäen. Zum einen gebe es schon genügend Bücher, zum andern erfahre man [ ... ] dabei mehr über den Jäger als über die Sache selbst. Diese sei auch viel zu simpel. Ein Jagdbuch sei nach zehn Seiten geschrieben, und den Rest müsste man mit Bildern füllen." Ja, schon immer wurde die "simple" Wirklichkeit mit Bildern gefüllt, schon immer das "Leben" durch "Meinungen" oder "Ansichten" angereichert: die Autobiographie spiegelt nicht schlechtweg ab, sondern lenkt den Text in bestimmte Bahnen. Auch Äußerungen oder Bekenntnisse, die unter der Flagge Autobiographie antreten, sind modelliert, seien es die "Confessiones" von Augustinus, seien es die "Confessions" von Rousseau. Beide waren sie Vorbilder für einen der größten autobiographischen Romane der Weltliteratur: Goethes "Dichtung und Wahrheit", der in vier Bänden von 1811 bis 1833 erschien. Der Germanist Richard M. Meyer präzisierte, in welchen Punkten Augustinus und Rousseau Pate standen: "Rousseaus Autobiographie ward vorbildlich für die ganze romanhafte Technik: für die breite Ausführung der Liebesszenen, für das Ausmalen des landschaftlichen Hintergrundes, für das helle und sentenziöse Herausarbeiten der psychologischen Entwicklungsstufen. Von Augustinus stammt die Tendenz, die Biographie in eine einheitliche Entwicklungsgeschichte umzubilden; auch die damit zusammenhängende Kunst, frühere und spätere Phasen dadurch zu verknüpfen, dass die älteren als 'Vorahnungen' der jüngeren gefasst werden." Schon der Titel "Dichtung und Wahrheit", der den autobiographischen Roman charakterisiert wie kein anderer, zeigt an, dass Goethes Autobiographie nicht lediglich Nacherzählung persönlicher Erlebnisse ist. Aber warum nicht? Warum bitte schreibt man nicht entweder einen richtigen Roman, in dem die erfundenen Personen gerne Stellvertreter eigener Ideen oder Angewohnheiten sein mögen, oder eben eine richtige Autobiographie, die wahrheitsgemäß und genau das eigene Leben wiedergibt? Richard M. Meyer beantwortet die Frage mit Blick auf "Dichtung und Wahrheit": "Die Überschrift ist so zu verstehen, dass die 'Dichtung' als die höhere und die 'Wahrheit' als die einfachere Wirklichkeit seines Lebens sich zu einem organischen Ganzen zusammenfinden sollen." Das heißt, Goethe erzählt nicht einfach die Erlebnisse seines Lebens, sondern begreift sich als Künstler, der nur, wenn er produziert, ein wahres Leben hat und nur in seinen Werken ein höheres Leben erreicht. "Dichtung und Wahrheit" ist die Geschichte dieses höheren Lebens. Etwa in der Mitte des langen Werks erklärt der Dichter selbst: "Von nun an wird dieses Buch erst, was es eigentlich sein soll. Es hat sich nicht als selbständig angekündigt; es ist vielmehr bestimmt, die Lücken eines Autorlebens auszufüllen, manches Bruchstück zu ergänzen und das Andenken verlorner und verschollener Wagnisse zu erhalten." Daraus schließt Richard M. Meyer: "Der Gesamtverlauf des wirklichen Lebens ist nur die Grundlage, auf der diese höhere Existenz, das Autorleben, sich aufbaut. [ ... ] In diesem Sinn ist die Autobiographie ein historischer Roman: dem Dichter hat die Tatsache als solche Bedeutung nur insoweit, als sie für die Entwicklung seines Helden wichtig ist." O-Ton Poul Behrendt "Für Knausgård ist das Schriftstellersein eine Berufung, eine Lebensaufgabe, um die Dimension zu verstehen, müssen wir zu Thomas Mann zurück. Ein Autor heute, der kommt und geht, möglicherweise geschieht das Knausgård auch, das weiß ich nicht, aber seine Erwartungen, was er dafür opfert, um Schriftsteller zu werden, das ist ganz enorm und völlig jenseits von allem andern, was an Schriftstellern zumindest in Skandinavien so rumläuft -" - sagt Poul Behrendt, Literaturwissenschaftler an der Universität Kopenhagen. Der Norweger Karl Ove Knausgård hat nach Beendigung seines Riesenprojekts vor einigen Monaten bekannt gegeben, er werde nun mit dem Schreiben aufhören. Und das, obwohl er sich doch offenbar zum Schriftsteller berufen fühlt. Dabei unterscheidet sich sein Riesenprojekt von Goethes Autobiographie in einem wesentlichen Punkt: Knausgård will tatsächlich das wirkliche Leben beschreiben und vernachlässigt die Dichtung. Er präsentiert uns nämlich in langen, teilweise dahingeplauderten Passagen einen spannungslosen, ermüdenden Alltag: Es ist die pure Wirklichkeit. Seitenlang schreibt Knausgård über die Pubertätsjahre, die Mädchen, eine hinterhältige Nachbarin, den Silvesterabend mit versteckten Bierflaschen und ätzenden Feten. Mit seinem Landsmann Tomas Espedal diskutierte er, wie "schön" ein Text sein dürfe. Man solle bloß nicht zu "literarisch" sein! Das war ihr Projekt in jenen Jahren, als Knausgård noch in Bergen wohnte und sie sich regelmäßig trafen. Wer der Wirklichkeit folgt, schreibt einfach drauflos. Knausgård erklärt: O-Ton Knausgård "Von diesen Urlaubstagen am Anfang aus habe ich einfach geschrieben, ich hatte keinen Plan, hatte keine Idee, wohin es gehen sollte, es ging nur nach Gefühl, nach Intuition, das ganze Buch hindurch, [ ... ] es kamen auch Kleinigkeiten, Bagatellen, die mir dann wichtig erschienen, ich habe praktisch nicht redigiert, es ist so geschrieben, wie man's liest." Aber damit gibt sich Knausgård zum Glück nicht zufrieden. Die Alltagsbeschreibungen werden mit ausführlichen und klugen Reflexionen über Dostojewski oder Hölderlin, über die krassen Mentalitätsunterschiede zwischen Schweden und Norwegern oder über seine Beziehungen zu Frauen allgemein durchmischt. Und alles gehört dazu: Das ist die Wirklichkeit, die Knausgård anstrebt. "Jede künstlerische Bewegung ist seit jeher der Versuch, einen Weg zu finden, um mehr von dem ins Kunstwerk zu schmuggeln, was der Künstler als Wirklichkeit betrachtet." David Shields: Reality Hunger Warum hält Knausgård die Banalitäten seines Lebens fest? Gerade weil der Alltag die Sehnsucht nach Leben nicht stillen kann, gerade weil mit Hausputz, Windelwaschen und Essenkochen das "Ureigene" verschwindet, wie er es nennt, die Persönlichkeit, gerade deshalb muss man ihn beschreiben. Vorübergehend kann ein großes existentielles Ereignis den banalen Alltag vollkommen ausblenden, "Sterben" und "Lieben" zum Beispiel - so heißen auch die beiden bislang auf Deutsch vorliegenden Bände seiner Autobiographie. Die Liebe zu der Schwedin Linda ändert seinen Blick auf die Welt genauso wie der Tod des Vaters: Das war auf einmal das Einzige, was zählte, alles war auf einmal "von Sinn durchdrungen", sagte Knausgård. Aber auch Liebe und Tod sind nur Momentaufnahmen, auch sie nutzen sich irgendwann ab. Deshalb - und das ist der Urgrund von Knausgårds Arbeit - muss man die Dinge aufschreiben, erst dann erhalten sie einen Sinn. Das Leben ist weniger banal, wenn darüber geschrieben wird. Nur die Sicht des Erzählers und das daraus entstehende Bild verleihen den Dingen Sinn. Mit Blick auf Laurence Sterne stellte der Kritiker Rolf Vollmann sinngemäß die Frage: "Ist nicht aufgeschrieben erst alles wahr?" Die Frage lautet bei Knausgård: "Ist nicht aufgeschrieben erst alles sinnvoll?" Obwohl Knausgård also scheinbar kunstlos schreibt, ist sein Verfahren ähnlich wie bei Goethe keine simple Nacherzählung persönlicher Erlebnisse. Auch Knausgård begreift sich als Künstler, der nur, wenn er produziert, ein wahres, höheres Leben hat und das wirkliche Leben als sinnvoll betrachten kann. Romane allerdings kann er nicht produzieren. Er kann sie nicht einmal mehr lesen, sie bringen ihm nichts mehr. Sie stimmen nicht, sagt er. Warum soll man seine Zeit damit vergeuden, von Leuten zu lesen, die nie existiert haben, fragt Knausgård. Er liest lieber Essays oder Biographien, Fiktionen sind für ihn sinnlos geworden. O-Ton Behrendt "Für Knausgård wird es immer unerträglicher, Fiktion zu schreiben. Er verliert das Vertrauen in die Fiktion. Er fühlt, dass der Sozialkonstruktivismus keine Philosophie mehr ist, sondern geltende Praxis. Wir haben alle den Eindruck, dass unsere Gesellschaft eine soziale Konstruktion ist. Im Fernsehen zum Beispiel würden die Leute nicht so reagieren, wenn es keine Kamera gäbe. Und selbst wenn keine Kamera da ist, haben wir mittlerweile Zweifel, ob das wirklich die Wahrheit ist, die wir erzählt kriegen." Genau die gleichen Erkenntnisse, die gleichen Fragen schrie Rainald Goetz schon 1983 auf dem Bachmann-Wettbewerb heraus. Wie gesagt: Für Maxim Biller begann damit die literarische Epoche der Ich-Zeit. Tatsächlich war Goetzens Roman "Irre" ein Buch, das eigene Erfahrungen verarbeitete, und zwar deswegen, weil diese Erfahrungen für den Autor inakzeptabel geworden waren. Aber erst heute wird die Ich-Erzählung unter eigenem Namen in einer Zeit, in der die Realität wie Fiktion erscheint und Plagiat und Original austauschbar geworden sind, zur eigenen Gattung. "Biographie und Autobiographie sind im Augenblick der Lebenssaft der Kunst." David Shields: Reality Hunger In einem anderen Interview, ausgerechnet im Fernsehen, sagte Knausgård: "Das Fernsehen, Internet, Facebook und alle diese Dinge passieren zwar dort draußen, und wir haben das Gefühl, Teil dieser Ereignisse zu sein, aber mir geht es so, dass ich dadurch blind für das wirkliche Leben werde, für das Hier und Jetzt und mein physisches Dasein. Ich glaube, das ist der Grund, warum ich wie besessen über kleinste Details meines Lebens geschrieben habe. Ich wollte mir die Welt zurückerobern." Der eine will die Rückeroberung der Welt, der andere will sich erst einmal selbst erobern. Der Schriftsteller Andreas Maier, geboren in Bad Nauheim, schrieb die autobiographischen Heimatromane "Das Zimmer" und "Das Haus". In einem Interview erklärte er: "Als ich etwa 15 Jahre alt war und in Friedberg an unserem kleinen Flüsschen entlanggelaufen bin, und die Sonne über der Wetterau unterging, dachte ich: Jetzt bist du hier, und was machst du damit? Mit der Sonne, dem Fluss, der Wetterau? Das war einer der Gründe, warum ich angefangen habe zu schreiben. Nur dass das Schreiben eine schwierige Sache ist. Bei meinen bisherigen Romanen habe ich immer ein gewisses Unbehagen gespürt, weil ich wusste: Das ist es noch nicht wirklich. In den letzten fünf, sechs Jahren hat sich jedoch etwas ganz anderes entwickelt. Ich komme mir langsam näher." Es muss in der obsessiven Erinnerung schon etwas anderes wirken als nur die panische Angst, womöglich etwas zu vergessen. Wie in Peter Kurzecks "Vorabend" zum Beispiel, überwiegend als Meilenstein des autobiographischen Romans gefeiert. Es sind kurzatmige, tagebuchartige Notizen, in denen es kaum einen vollständigen Satz gibt. Wohlwollende Rezensenten nennen dann so etwas gerne einen Sound. Damit ist aber meist nur ein monotoner, stets auf gleicher Temperatur gehaltener Stil gemeint. "Warum, sagte ich, sind wir nicht von der Marburger Straße durch die Nord- und die Westanlage zur Bahnhofstraße. Denn wichtiger noch als der Zug ist mir, dass ich vor der Abfahrt noch Zeit habe für einen Kaffee und einen Cognac im Café Schwarz. Damit man, sagte ich nach so langer Zeit in Eschersheim, sich den Tag und den Augenblick merkt. Den Augenblick vor der Abreise. Und kann sich später erinnern." Wie im Schweinsgalopp geht es durch die Vergangenheit. Kurzeck wurde schon mit Proust verglichen. Aber das Einzige, was ihn mit diesem verbindet, ist der Zwang, "das Leben in ein Werk zu retten", wie der Schriftsteller Dieter Wellershoff über Proust sagte. Doch im Gegensatz zu Prousts "Suche nach der verlorenen Zeit" bestehen die tausend Seiten "Vorabend" aus lauter Fetzen, die sich eher durch nostalgischen Erinnerungswahn auszeichnen als durch Reflexion. Da ist Navid Kermanis "Dein Name" von anderem Kaliber. Sein Erinnerungswahn entsteht nur durch Reflexion und heraus kommt nur Erkenntnis. Dieses Monstrum von einem Buch, über 1200 Seiten dick, will sich an Gedanken, Stimmen, Charaktere erinnern, nicht an einen Cognac im Café Schwarz. So ist es in erster Linie ein wahrhaftiges Denkmal des menschlichen Geistes. Und zwar nicht nur des Geistes all jener Toten, die Kermani zum Leben wiedererweckt, indem er über sie schreibt, sondern auch seines eigenen Geistes. Die Beschäftigung mit den anderen in ihrer Welt führt zur Erkenntnis des Selbst in seiner Welt - und zur Erhöhung dieses eitlen, misstrauischen, aber eben auch ungemein offenen, erkenntnisgierigen und couragierten Navid Kermani, der Autor, Erzähler und Held in einem ist. Kermanis "Dein Name" ist wie Knausgårds "Mein Kampf" ein auf den ersten Blick bewusst ungeordnetes Werk, weil das Leben keine Ordnung hat. Im Grunde scheint sich das Ich des Romans hier verlieren zu wollen, um sich die Welt nicht zurückzuerobern, sondern sie überhaupt erst zu finden. Da rückt die Frage nach dem "wahr" oder "falsch" in den Hintergrund, auch wenn sie gestellt wird. Irgendwo heißt es: "Ich glaube jetzt, dass dem Impuls, Hondrich auf den Photos und in den Nachrufen nicht wiederzuerkennen, der ein Impuls ist (ihn nicht wiedererkennen zu wollen, zu ahnen oder zu behaupten, dass da noch ein anderer Mensch war, der sich zum Schluss, also auch mir, geöffnet hat), ich glaube jetzt, dass diesem Impuls der Grund für meine Zuneigung zugrunde liegt. Ich glaube außerdem, dass er etwas Wahres anzeigt, so falsch er ist." Ein Instrument zur Findung der Welt oder des eigenen Ichs ist der Körper. Karl Ove Knausgård, der keinen Sound hat und kein Nostalgiker ist, liebt seinen Körper nicht. Doch verbindet uns der Körper mit der Welt und mit der Sinnlichkeit, und die spielt beim Thema Lieben nun mal eine gewisse Rolle, der Körper ist sinnlich, er ist zwar vergänglich, aber er produziert auch neues Leben: die Geburt seiner Tochter wird ungemein körperlich, animalisch fast, geschildert. Diese Körperlichkeit unterstreicht es noch einmal: Knausgårds Roman ist eine Kriegserklärung an die Fiktionalisierung der Welt. Sein Beweggrund - und der Grund für den Erfolg seiner Bücher! - ist "Wirklichkeitshunger" - so nennt es der amerikanische Autor David Shields. Nur die Wirklichkeit kann das Herz zum Beben bringen, heißt es bei Knausgård irgendwo. "Wie können wir an Erinnerungen Gefallen finden, weil wir glauben, sie seien wahr, wenn, wie jeder weiß, nichts so unzuverlässig ist wie die Erinnerung? [ ... ] Alle erinnern sich nur an die intensivsten Momente, und selbst die wurden durch Wiederholung tendenziell zu wohldurchdachten Kapiteln unserer Lebensgeschichte mythologisiert. Insofern können Memoiren tatsächlich für sich in Anspruch nehmen, moderne Romane zu sein, bis hin zu der Tatsache, dass es einen unzuverlässigen Erzähler gibt." David Shields: Reality Hunger Wirklichkeit muss ins Gedächtnis zurückgerufen werden, man muss sich an sie erinnern. Tatsächlich ist es mit der Erinnerung so eine Sache. Auch das verbindet die autobiographischen Romanciers mit Marcel Proust. Knausgård zum Beispiel betont auffällig oft, was für ein schlechtes Gedächtnis er habe. Das verweist verblüffend auf einen Proust-Essay von Samuel Beckett. Beckett meint darin nämlich, Proust habe ein schlechtes Gedächtnis gehabt. Er erläutert das so: "Ein Mensch mit einem guten Gedächtnis erinnert sich an nichts, weil er nichts vergisst. Sein Gedächtnis ist einförmig, ein Geschöpf der Routine, zugleich Bedingung und Funktion seiner unfehlbaren Gewohnheit, ein Instrument der Bezugnahme, statt ein Instrument der Entdeckung." Die Proust'sche Erinnerung aber kramt die Vergangenheit nicht bloß hervor, sondern sieht sie neu; er schöpft seine Welt aus einer "tiefen, dem Willen unzugänglichen Quelle". So nannte es Dieter Wellershoff in einer Vorlesung. Die unwillkürliche Erinnerung, wie wir sie von Proust kennen und die nicht nur durch das altbekannte, in Tee getauchte Gebäck hervorgerufen wird und der wir auch bei Knausgård begegnen - die unwillkürliche Erinnerung hat die eine Voraussetzung: das Vergessen. Eben durch das Vergessen wird das Gedächtnis zu einem Instrument der Entdeckung. In Bezug auf Proust sagt Wellershoff: "Sein Werk ist nicht einfach chronologisch aufgebaut, sondern in Vor- und Rückblicken und vielfachen Überlagerungen gemäß der subjektiven Logik der Erinnerung. Die Erinnerung hat aber nicht nur das Gestaltproblem, sondern auch die Sinnfrage gelöst. Was sie nach langen Zeiten des Vergessens wieder ins Bewusstsein bringt, ist schon dadurch als bedeutsam anerkannt." Das gilt auch für Knausgård. Und für seinen Landsmann Tomas Espedal. Auch Espedal erobert sich die Welt dadurch zurück, indem er über sie schreibt. Aber bei ihm kommt ein sehr konkretes Element hinzu. Er geht nämlich, er wandert durch die Welt. Sein Held, er selbst, sehnt sich danach, "eines Tages zur Tür hinauszugehen und nicht wiederzukehren". Er verlässt Frau und Kind. Sein Traum: Er will ein anderer werden. Sein Albtraum: Sich selbst zu begegnen. Die Furcht ist berechtigt, denn dieses Selbst will ihn zerstören, Espedal steckt in einer tiefen Depression, die Ehe kriselt, er trinkt, er steckt in einer "harten und ernsten Untergangsarbeit". Als er losgeht, empfindet er zum ersten Mal so etwas Altmodisches wie Glück, durch das Gehen "geht" es ihm besser. Wer geht, überschreitet irgendwann Grenzen, ob er will oder nicht: die Türschwelle, das Grundstück, die Stadt, das Land, den Kontinent. Genauso ist es beim Schreiben, wenn man es so versteht wie Knausgård oder Espedal. Sie nehmen sich eine Freiheit heraus, die es vielleicht so noch nicht gegeben hat. Zum Beispiel gab es bei Knausgård keinerlei Lektorat. Es gibt tatsächlich schlechte Passagen, die hätten gestrafft oder gar gestrichen werden müssen. Doch hätte man das getan, wäre das ganze Projekt in sich zusammengebrochen. Dies, sagt Espedal, ist eine triumphale Freiheit, die sehr neu ist. Es liegt in der Natur dieser Art des autobiographischen Romans, dass die zeitliche Reihenfolge nicht eingehalten werden kann; Wellershoff hatte es am Beispiel Prousts erläutert. Tomas Espedal lernte von Proust, eine epische Geschichte ohne durchgeführte Chronologie zu schreiben. O-Ton Tomas Espedal "Das ist eine Methode, die von Proust kommt. Einer der Gründe, warum die autobiographische Literatur in Norwegen so stark wurde, war die Übersetzung von Prousts "Suche nach der verlorenen Zeit" in den achtziger Jahren. Da hatten wir alle diese zwölf Bände. Man muss wissen: In Norwegen war es mit Scham verbunden, "ich" zu schreiben - das roch nach bürgerlichem Egoismus. Also für uns waren Proust und dieses Ich eine enorme Befreiung." Spätestens in den 1970er Jahren hat sich die Situation zugespitzt. Die Manipulationen, die Fontane vornahm, die Tricks eines Johannes Ewald, das Ausmalen und Erhöhen Goethes, sie waren Vorläufer, manchmal Vorbilder, lassen sich aber mit dem autobiographischen Schreiben, das vor 40 Jahren in Frankreich zum Genre wurde und heute eine neue radikale Blüte erreicht, kaum vergleichen. Den Begriff "Autofiktion" schuf der französische Kritiker und Romancier Serge Doubrovsky zur Charakterisierung eines Romans, dessen Titel man auf zwei verschiedene Arten aussprechen kann: entweder [fis], das bedeutet "Sohn", oder aber [fil], das bedeutet "Fäden". Zum ersten Mal hatte jemand die beiden Gegensätze verbunden: Es ist geschehen, und es ist Fiktion. Seitdem hat sich die Autofiktion unter anderem nach Deutschland und Skandinavien ausgebreitet. Sie bezeichnet Bücher, die nach dem Prinzip der dreifachen Identität aufgebaut sind, das heißt, Autor, Erzähler und Held tragen denselben Namen; der französische Theoretiker Philippe Lejeune nannte das den autobiographischen Pakt. Daraus ergibt sich ein logisches Problem: Wenn Subjekt und Objekt identisch sind, können wir nicht mit Objektivität rechnen. Nicht nur das Vergessen spielt eine Rolle, sondern auch Eitelkeit, Überzeugung, Charakter, Wünsche und der gegenwärtige Standpunkt, von dem aus man die Vergangenheit anders einschätzt als zu der Zeit, zu der das Erzählte spielt. Trotzdem gehen wir davon aus, dass der Autobiograph sich um Wahrheit zumindest bemüht. Bei den Klassikern Ewald, Goethe, Fontane konnten sich die Leser noch einigermaßen sicher sein, dass sie eine grosso modo wahre Lebensgeschichte lasen. So einfach ist es heute nicht mehr. Für Tomas Espedal zum Beispiel ist die Wahrheit nebensächlich: O-Ton Espedal "Das ist nicht sehr interessant, wie gesagt interessiert mich die Qualität der Sprache, und wenn die gut ist, wenn die Sprache gut ist, dann ist das eine eigene Wirklichkeit. Ob es wahr ist oder fast wahr oder halbwahr oder ein Drittel wahr oder ganz wahr, das interessiert mich nicht so viel. Natürlich; eine politische, journalistische Sprache insistiert ja auf einer Wahrheit, aber die Dichtung - nein!" Die Dreieinigkeit von Autor, Erzähler und Held hat also die Freiheit, andere Charakterzüge anzunehmen oder Dinge zu erleben, die nie eingetreten sind, Hauptsache, die "Sprache ist gut". Der Literaturwissenschaftler Poul Behrendt hat dafür den Begriff "Doppelvertrag" geprägt O-Ton Behrendt "Ein Doppelvertrag bedeutet, dass ein Autor zwei Vereinbarungen mit dem Leser trifft, die miteinander logisch unvereinbar sind. Er sagt, das, was ich geschrieben habe, ist Fiktion, und das, was ich geschrieben habe, ist Wirklichkeit. Aber er sagt es nicht zur gleichen Zeit. Er sagt erst das eine und dann das andere. Das heißt, der Leser wird zunächst eingeladen, einen Text als Autobiographie zu lesen, wie es Peter Høeg in seinem "Plan von der Abschaffung des Dunkels" getan hat. Es war Peter Høegs Leben, es war Høegs Name, es waren Høegs Eltern, die ihn adoptiert hatten. Aber anderthalb Monate später auf der Kopenhagener Buchmesse sagte Høeg: Stimmt alles gar nicht, ich hatte eine gutbürgerliche Kindheit, da oben sitzen meine richtigen Eltern - und alle drehten den Kopf wie in Wimbledon, und oben auf der Galerie saßen seine echten Eltern und winkten ins Publikum hinunter. Damit war der ganze autobiographische Pakt ungültig." Von einem anderen Dänen, nämlich Thorkild Hansen, wurden 1990 kurz nach seinem Tod die Tagebücher aus Paris veröffentlicht, damals in Paris war er Anfang bis Mitte Zwanzig gewesen, alle bewunderten ihn, wie großartig er schon damals schreiben konnte. Dann stellte sich heraus, dass er die angeblichen Tagebücher mit sechzig Jahren geschrieben hatte, kurz vor seinem Tod. Das heißt, alles war Fiktion, aber alles trat als Wirklichkeit auf, und das war genau seine Absicht gewesen: Sie sollten als authentische Tagebücher erscheinen. Ähnlich verhält es sich mit dem dänischen Roman "Wer blinzelt, hat Angst vor dem Tod" von 2004. Knud Romer schreibt darin über seine Geburtsstadt Nykøbing auf der Insel Falster. Sein Vater war Däne und Versicherungsangestellter, seine Mutter hieß Hildegard und war Deutsche. Deutsch durfte man in den Jahren da oben nicht sein, es war ein Problem. Nie wurde die Deutschfeindlichkeit in Dänemark so gnadenlos beschrieben wie in diesem Buch. Getreu dem Prinzip der dreifachen Identität tragen Autor, Erzähler und Held denselben Namen: Knud Romer. Aber ist es dann nicht ein Widerspruch in sich, wenn das Buch die Gattungsbezeichnung "Roman" trägt? Der Autor Knud Romer: O-Ton Knud Romer "Ja, nur für Leute, die denken, dass die Wirklichkeit einfach so daliegt, und dass man reproduziert, und auch nur für Leute, die keine Literaturgeschichte gelesen haben. Wer ist Hermann Lauscher, das ist wahrscheinlich Hermann Hesse, wer ist Malte Laurids Brigge, das ist wahrscheinlich Rainer Maria Rilke, wer ist Franz K., das ist wahrscheinlich der Kafka, und so geht es. [ ... ] Wir gehen in einer fabrizierten Wirklichkeit herum, jede Vorstellung von Wirklichkeit ist hergestellt. Und wir gehen alle herum in unsern hergestellten Wirklichkeiten und erzählen Geschichten, und unsere Geschichte ändert sich dauernd, wir können sie noch mal erzählen, andere Ereignisse herausziehen, eine neue Geschichte erzählen und darum dekonstruiert sich und konstruiert sich das dauernd. Ich meine, die Idee, dass es eine vorliegende, gegebene, buchstäbliche Wirklichkeit gibt, die man dann passiv reproduziert, ist Mystifizierung. Es gibt mentale Konstruktionen von Wirklichkeit, erinnerte Wirklichkeit, dann ist es eigentlich viel fairer, das sowieso Fiktion und Roman zu nennen." Kein Wunder, dass Romers Buch einen Grundsatzstreit über "Lüge" und "Wahrheit" in einem "Roman" entfachte. Man war entrüstet, dass Romer von rassistischen Dänen erzählt, die den Jungen als "deutsches Schwein" beschimpfen, von ranziger Butter und saurer Milch, die der Mutter verkauft werden, von Heil grölenden Dänen, wenn die Mutter die Kindergeburtstagsgesellschaft durchs Viertel führt, Ziehharmonika spielt und deutsche Kinderlieder anstimmt. Verschiedene Personen, die in seinem Roman vorkommen, warfen dem Autor Verfälschung vor. Sie sagten: Was Romer als wirklich darstellt, sei nie so passiert. O-Ton Behrendt "Romer erlaubt sich phantastische Dinge. Zum Beispiel hat sein Großvater ein Busunternehmen, da kommt nur ein Passagier. Dieser Passagier ist Franz Kafka, das weiß man, wenn man die deutsche Literatur kennt. Das ist totale Fiktion. Genau wie die Krähen, die Nykøbing angreifen. Das haben die natürlich nie getan! Oder die Handgranate, die Romer über Nykøbing explodieren lässt: das sind halb phantastische, halb realistische Geschichten." Romer schließt den typischen Doppelvertrag: Er trifft mit dem Leser zwei Vereinbarungen, die miteinander logisch unvereinbar sind. Im Gegensatz übrigens zu Knausgård. Die Personen, die in dessen Büchern vorkommen, konnten lesen, was er geschrieben hatte, sie konnten Einspruch erheben, sie konnten Namensänderungen verlangen, oder Namen wurden erst gar nicht genannt. Da schützt sich Knausgård natürlich auch vor allfälligen Prozessen, eine Verletzung des Persönlichkeitsrechtes will er sich nicht vorwerfen lassen. Und er wollte immer verhindern, dass jemand behauptet: Was du da schreibst, ist gelogen. Aber was ist mit dem Erzähler selbst? Erhält er seine Identität erst dadurch, dass er seine Erlebnisse erzählt und niederschreibt? Knud Romer: O-Ton Romer "Wenn du jemanden triffst, dann sagst du: Wie heißt du? Was machst du? Wie geht's? ... Wir erzählen alle unsere Lebensgeschichte. Und alle. Jedesmal, wenn wir neue Leute treffen, müssen wir summarisch und im Resümee schnell eine Lebensbeschreibung geben. Diese Lebensbeschreibung ist sozusagen der Kurztext für einen Lebensroman. Und der lange Text kommt dann, wenn man Bier trinkt oder längere Freundschaften hat, dann blättert sich das langsam auf. Und das Schöne ist, dass jeder Mensch ist eigentlich die Fassade, ist eigentlich wie das Titelblatt von einem Roman. Das kann man aufmachen und dann kommt die Lebensgeschichte, und die Lebensgeschichte ist eigentlich die einzige interessante, weil erlebte, weil erfühlte und erlittene, die existentielle Geschichte, auch die nicht heuchlerische, die nicht verlogene, die nicht wegkonstruierte, sondern - also nicht die nackte Wahrheit, denn das gibt es nicht, sondern die nackte Fiktion." Schon sehr früh hat sich Borges mit diesem Aspekt der Identität beschäftigt, in dem Text "Die Nichtigkeit der Persönlichkeit" von 1922. Darin bestreitet er ein "einheitliches Ich", da jeder Lebensumstand für sich schon vollständig, genügend und einzigartig sei. Aber auch, weil wir unserer Vergangenheit so verständnislos gegenüberstünden: "Es gibt kein vollständiges Ego. Wir brauchen nur ein wenig durch die unerbittliche Strenge zu wandern, die uns die Spiegel der Vergangenheit darbieten, um uns als Fremdlinge zu fühlen, naiv verblüfft ob der eigenen alten Tagereisen." Nach David Shields' Manifest "Reality Hunger" leben wir in einer künstlichen Welt, in der die Sehnsucht nach Authentizität, und sei sie nur scheinbar, immer stärker wird. Was interessiert uns die Erfindung, wenn das Wirkliche so viel interessanter ist? Aber "wirklich ist die Kunst. Ich mache sie wirklich, indem ich sie in Worte fasse." Die beiden Kopisten Bouvard und Pécuchet aus Flauberts gleichnamigem Roman schreiben nur ab, sie sind selbst nicht originell: so wie auch der Autor nicht originell ist, er kann "nur eine immer schon geschehene, niemals originelle Geste nachahmen", wie der französische Philosoph Roland Barthes schreibt. Auch diese Erkenntnis gab es schon: Im 2. Jahrhundert vor Christus soll der römische Komödiendichter Terenz bemerkt haben: "Es gibt nichts, was nicht früher schon gesagt worden wäre." Alles ist schon mal da gewesen, der Künstler kann nur noch neu mischen und ordnen. Dann kann man gleich aufhören zu erfinden, dann kann man sein eigenes Leben kopieren, das ist dann wenigstens echt. Gleichzeitig gibt es die Konfrontation von Urheber- und Persönlichkeitsrecht, der Fall des Esra-Romans von Maxim Biller ist bei uns nur ein Beispiel, in Frankreich gibt es ähnlich geartete Fälle. Einer davon ist der Fall Patrick Modiano, der sich durch den Roman "Oublier Modiano" von Marie Lebey geschädigt fühlte. Werden derlei Auseinandersetzungen bald der Vergangenheit angehören? David Shields plädiert für die Abschaffung der Grenzen zwischen Fakt und Fiktion, Reportage und Erfindung, Erzählung und Essay. Dann kann man jedenfalls nicht mehr auf die Echtheit hin befragt werden, wie Fontane befürchtete. Autobiographische Romane sind sehr dick. Der Engländer Sterne hat einst neun Bände zustande gebracht, der Norweger Knausgård begnügte sich mit sechs, allerdings sehr viel dickeren. Ein Freund riet Knausgård übrigens weiterzumachen, dann werde er sich tatsächlich auf ewig in die Literaturgeschichte einschreiben. Der Preis erschien Knausgård zu hoch. Davon abgesehen hat es eine Logik, dass er sein monumentales Projekt, diese Mischung aus Alltagsschilderung und Reflexion, 2011 abschloss. Denn sein Projekt klappte in dieser Form wohl nur, weil er über die Vergangenheit schrieb. Alles, was jetzt folgen würde, wäre unmittelbare Gegenwart. Ab sofort hätte Knausgårds Unternehmen den Charakter eines Tagebuchs. Es wäre eine ähnlich alltägliche Verrichtung wie Hausputz, Windelwaschen und Essenkochen. Gerade dem wollte Knausgård ja entkommen. Knausgårds sechs Bände zählen etwa 3600 Seiten, Kermanis "Dein Name" hat 1200 Seiten, Kurzecks auf zwölf Bände geplante Erinnerungen mit dem Titel "Das alte Jahrhundert" könnten, werden sie jemals abgeschlossen, auf 5000 Seiten kommen. Diese Autoren verhalten sich auf den ersten Blick wie Messies, sie können nichts wegwerfen, alles ist ihnen wichtig. Kermanis Verlag warb mit der unbescheidenen Behauptung, sein Buch sei ein Roman "über alles". Tatsächlich richtet sich sein Prinzip, alles einzubeziehen, nach dem Editionsprinzip der Frankfurter Hölderlin- Ausgabe: Alles muss rein, Zettel, Notizen, Aufzeichnungen. Auch Knausgård hat man vorgeworfen, dass er auch das Nebensächliche bis ins Einzelne vor uns ausbreite. Neben den langen, klugen, rücksichtslosen Reflexionen über Kunst, Sexualität, die Möglichkeiten der Sprache, über Literatur, den Traum und das eigene Verschwinden stehen eben auch die detaillierten Beschreibungen stinkbanaler Verrichtungen. Es ist keine Fiktion, sondern die Wirklichkeit, die in der literarischen Bearbeitung zu einer anderen Form von Fiktion wird. Poul Behrendt: O-Ton Behrendt "Nichts ist so ungefährlich wie Fiktion in unsern Tagen, weil alle auf die Wirklichkeit aus sind, obwohl keiner dran glaubt. Und da meint Knausgård: die Fiktion langweilt mich als Künstler, das turnt mich ab. Ich muss was andres machen, und dieses Andere ist einfach, die Dinge so zu erzählen, wie sie sind. Aber die Dinge, wie sie sind, was ist das? Wir wissen nicht, wie die Dinge sind. Und da kommt die Fiktion bei Knausgård ins Bild, aber auf einer andern Ebene. Denn wenn es keine Fiktion gibt, dann gibt es uns gar nicht, denn wir erleben doch die Wirklichkeit durch die Fiktion. Also die Fiktion ist der Filter, die Art, mit der wir mit der Wirklichkeit in Kontakt treten können. Es ist eine andere Form von Fiktion. Große Teile dieser 3600 Seiten sind entweder völlig ereignislos, oder er braucht 100 Seiten für etwas, das vielleicht zwei Stunden dauert. Wie können das Bestseller sein? Wieso schmeißen die Leute das nicht in die Ecke? Weil er etwas kann, was kein andrer kann: Er ist imstande, einen Abwasch mit Spannung zu schildern." Und sowieso gehört eben alles dazu. Zu einem großen Gemälde gehört auch der unwichtige Grashalm. Und Knausgård und Kermani haben dabei einen berühmten Gewährsmann: Goethe. In dessen Rezension der Autobiographie des Historikers Johannes von Müller erkennt man eine Art Programm zu Goethes eigenem Großprojekt "Dichtung und Wahrheit". Lobend hebt Goethe hervor, dass Müller: " ... gute, wackere, jedoch für die Welt im Großen unbedeutende Menschen, als Eltern, Lehrer, Verwandte, Gespielen, namentlich vorführte und sie ins Gefolge seines bedeutenden Daseins mit aufnahm! ( ... ) Wir sind verpflichtet, selbst bei der Absicht, eine große Einheit darzustellen, auch das Einzelne unnachlässlich zu überliefern." Fontane hat es achtzig Jahre später in seinen Kindheitserinnerungen ganz ähnlich gemacht, er schildert das alltägliche Leben von Neuruppin und Swinemünde in allen Einzelheiten - obwohl er Bedenken hatte. Im Dezember 1892 schreibt er in einem Brief an den geschätzten Freund Georg Friedländer: " ... ich weiche ganz von dem Üblichen ab und erzähle nur Kleinkram." "Jede künstlerische Bewegung ist seit jeher der Versuch, einen Weg zu finden, um mehr von dem ins Kunstwerk zu schmuggeln, was der Künstler als Wirklichkeit betrachtet." David Shields: Reality Hunger Autobiographische Romane haben viele Facetten, deshalb ist es kein Wunder, dass sie allesamt das eine Merkmal eint: die Offenheit für alle Gattungen. Erstens sind sie alle unter sich verschieden. Navid Kermani schreibt über sich selbst, indem er über andere schreibt, Karl Ove Knausgård erobert sich nicht nur die Wirklichkeit zurück, sondern auch die eigene Würde. Johann Wolfgang von Goethe erhebt sich über die Wirklichkeit und schreibt über ein höheres Leben. Und sie sind in sich verschieden. So wie für Espedal ein wildes Leben gleichbedeutend mit einem poetischen Leben ist, so führt das wilde Schreiben zum poetischen Schreiben. Autobiographische Romane, wenn sie gelungen sind, bestehen aus reflexiven und kritischen, aus epischen und autobiographischen Passagen. So werden sie zu einem offenen Kunstwerk im Sinne Friedrich Schlegels, zu einer "progressiven Universalpoesie", die sich an keine poetologische Ordnung mehr gebunden fühlt. "Sie will Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie mischen, die Poesie lebendig und gesellig und das Leben, die Gesellschaft poetisch machen und den Witz poetisieren. [ ... ] Sie allein ist unendlich, wie sie allein frei ist und das als ihr erstes Gesetz anerkennt, dass die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide." - sagt Friedrich Schlegel in den Athäneums-Fragmenten. Die nach allen Seiten offene Form ist das Kennzeichen des neuen Ich-Romans. Das wurde auch schon über "Irre" von Rainald Goetz gesagt: das Buch sei "so gut und modern, weil man nie weiß, ist das jetzt Prosa, Reflexion oder Poesie". Darauf kommt es an - wie auch Karl Ove Knausgård einer Kopenhagener Zeitung schrieb: "Meine Bücher stehen in einer langen Tradition autobiographischen Schreibens und befinden sich irgendwo zwischen Tagebuch, Bekenntnis und gestaltetem Roman. Was mich im Augenblick in der Literatur interessiert, ist die Gegenwart eines anderen Menschen, sie gibt Ton, Temperament, Gefühlsregister, Psychologie, Ansichten, Haltungen dieses bestimmten Menschen Raum, all dem, was sich in Sprache und Stil zeigt. Die Grenze zwischen Fiktion und Nichtfiktion ist in der Literatur keine entscheidende Grenze. Wichtig ist, was die Literatur tut. Wohin sie sich wendet, wonach sie sucht, was sie erreichen will."