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Die von seinen Schülern. Ich hör noch wie er... (ausblenden) O-Ton Paul Ingendaay: (20'') (6:32) Man muss es sich als Sprechtheater im Kopf vorstellen. ... (6:53) das ist eine Übung zum Lesen, wenn man aber einmal drin ist, dann hat man es für immer und ist selig. (7:00) O-Ton Marcus Ingendaay: (2:34) Also, das ist etwas für Kenner und für absolute Aficionados, nicht zum kurz mal Lesen. O-Ton Denis Scheck: (07:49) Menschenskind, diese Bücher von dem William Gaddis sind verflucht schwer zu lesen, man muss sich darauf einlassen. O-Ton Ulrich Peltzer: (10:22) Ich würde das aber jedem empfehlen, Gaddis zu lesen. Evt. Musik Autorin William Gaddis gilt als einer der größten amerikanischen Autoren des 20. Jahrhunderts - und doch ist er für viele bis heute ein Geheimtipp, im Gegensatz etwa zu Don DeLillo oder Thomas Pynchon. Zeitweise ging gar das Gerücht, hinter dem Namen Thomas Pynchon verberge sich der Autor William Gaddis, der sich aus Frustration über die Erfolglosigkeit seiner Bücher ein Pseudonym zugelegt habe. William Gaddis hat, bis zu seinem Tod im Jahr 1998, vier Romane veröffentlicht: 1955 erschien sein erster Roman mit dem Titel "The Recognitions", auf Deutsch "Die Fälschung der Welt", ein tausend Seiten dickes Buch, das von Fälschungen handelt, vom Unechten in der Kunst und im Leben - wenn man es so kurz zusammenfassen darf. Zwanzig Jahre später folgte 1975 mit "JR" ein zweites dickes und schwieriges Buch. "JR" bedeutet "Junior", eine Anspielung auf die Hauptfigur, einen elfjährigen Schüler, der es schafft, die Börse zum Einsturz zu bringen - mit allen Kniffen der Finanztechnik und doch in aller Unschuld. 1985 erschien "Die Erlöser" und 1994 die Justiz-Satire "Letzte Instanz". Alle vier großen Romane von William Gaddis sind verzweifelte Satiren. Sie spiegeln eine Gesellschaft, in der fundamentale Kräfte außer Kontrolle geraten sind: Geld, Religion, Justiz, das sind die Themen von William Gaddis. Er schreibt nicht über diese Themen, sondern er inszeniert sie auf eine Weise, wie es vor ihm noch kaum ein Autor versucht hat. In "JR" gibt es keine Autorenstimme, in "Carpenter's Gothic", auf Deutsch "Die Erlöser", ein Roman über fundamentalistische Prediger, spielt sich alles in einem einzigen Raum ab. Sprecher, Voice-over O-Ton Gaddis: (4:24) Ich kann nicht arbeiten, ohne mir eine schwierige Aufgabe zu stellen. In meinem letzten Buch war es die Begrenzung des Umfangs, die kleine Anzahl von Figuren, dass alles an einem Schauplatz und in einer kurzen Zeitspanne geschah - und trotzdem die Welt hineinkrachen zu lassen. Das also war mein Problem. Autorin: So William Gaddis in einem Interview 1986, das die British Sound Library im Netz zur Verfügung stellt. Im Jahr 1987 hatte Gaddis bereits drei Romane veröffentlicht, doch in Deutschland war sein Name noch völlig unbekannt. Auf der Suche nach einem Magisterthema stieß der Amerikanistik-Student Paul Ingendaay in einer New Yorker Buchhandlung zufällig auf zwei Bücher von Gaddis, "The Recognitions" und "JR" - O-Ton Paul Ingendaay: (1') (1:13) und diese beiden dicken, fetten Bände standen in dieser guten Buchhandlung, und ich hab geblättert und gedacht, das kann doch nicht sein, dass ein Name vor mir geheim gehalten worden ist, vor meiner ganzen Uni ... und es war mir völlig unerklärlich, dass ich das nicht mitbekommen haben soll, dass dieser Autor schreibt und lebt, und dann habe ich mir die Bücher gekauft und hab sehr schnell gemerkt, dass das mein Thema ist. Hat mich absolut fasziniert. (1:40 ich war ein bisschen geschult durch die anglo-irische Literatur, durch James Joyce, die großen Modernisten, 1:50) also, Literatur, die's wert war, musste schwierig sein, nicht schwierig als Selbstzweck, sondern musste einen Anspruch bieten, etwas zum Kraxeln und Klettern und sich zu vergraben und darin zu wühlen. Und diese beiden großen Romane von Gaddis boten genau das. Sie mussten richtig entziffert werden, und das Glück danach war unglaublich. (2:11) Autorin Die Entdeckung sollte Folgen haben, für Paul Ingendaay und auch für William Gaddis. O-Ton Paul Ingendaay: (9:50) Kurioserweise war William Gaddis wirklich mein allererster Zeitungsartikel, man kann sogar sagen, meine Berufswahl hängt ganz eng an diesem missionarischen Gefühl, das ich hatte damals, was man halt hat, wenn man jung ist. Ich wollte der Welt zeigen, dass es diesen wahnsinnig tollen Autor gibt, und ich hatte das Gefühl, kein Mensch außer mir weiß das. Autorin: Und so kam Paul Ingendaay zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung, für die er heute aus Madrid als Korrespondent über spanische Kultur schreibt. In seiner Dissertation über Gaddis' Gesamtwerk steht der Begriff des Plagiats im Zentrum, denn dies ist das Thema von Gaddis erstem Roman "The Recognitions", "Die Fälschung der Welt". Die Deutsche Verlagsanstalt hat den Roman nun in einer leicht revidierten Übersetzung neu aufgelegt - wie vor zwei Jahren schon "JR". O-Ton Paul Ingendaay: (30'') (2:44) Es geht um Kunstfälschung und um das Überfluten der Welt durch Kopien, Plagiate und Derivate. Das war Gaddis' Thema als er 33 war. Er war 33, als das Buch erschien, und er hat mir selbst erzählt, er glaubte, er habe das große Statement zur abendländischen Kultur abgegeben, und ich glaube, er hat es getan, nur das Buch ist dann nachher völlig durchgefallen und der Mann war am Boden zerstört, der 33-jährige, der glaubte, er habe eine Heldentat vollbracht, aber die Welt hat es nicht erkannt. So war das im Jahr 55. (3:13) Autorin: William Gaddis hatte kein Glück mit der Literaturkritik, auch "JR" wurde 1975 im New Yorker von keinem Geringeren als George Steiner verrissen und für "unlesbar" erklärt, bis in den achtziger Jahren allmählich der Wind drehte. Selten ist der Start in ein ambitioniertes Schriftstellerleben derart missglückt wie Gaddis' Debüt 1955. Zu den wenigen, die damals zu ihm hielten, gehörte der Autor David Markson. Es dauerte fast sechs Jahre, bis er auf seinen begeisterten Brief eine Antwort von William Gaddis erhielt: Sprecher: Nachdem das Buch erschienen war, war ich in einem so niedergeschlagenen Zustand, dass ich keine Kraft hatte, auf Briefe zu antworten, die etwas sagten - großes Lob versetzte mich genauso in Verlegenheit wie herablassende Bewertung. Autorin: Nur gerade zwei der 55 Kritiken, die seinerzeit über "The Recognitions" erschienen waren, seien adäquat gewesen, der Rest amateurhaft und inkompetent, so das Verdikt eines gewissen Jack Green. Jack Green ist das Pseudonym eines der enthusiastischen Kult-Leser, die das Buch von Anfang an hatte. "Fire the Bastards!" lautet der Titel einer Publikation, mit der Green seinerzeit auf das Debakel der Kritik reagiert hat. Natürlich wurden nicht die Mistkerle gefeuert - das Versagen der Kritik musste, wie immer, der Autor auslöffeln. Gaddis hatte eine Familie gegründet und sah sich gezwungen, einen Job in der Wirtschaft anzunehmen. Fünf Jahre lang widmete er sich beim Pharmaunternehmen Pfizer dem Schreiben von Reden und Geschäftsberichten. Gaddis hat für sein Werk einen hohen Preis bezahlt. Seine Ehe ging in die Brüche. Bis zu ihrer Geburt habe er mit und für sein Großes Buch "The Recognitions" gelebt, schreibt er 1993 rückblickend an seine Tochter Sarah, Sprecher: Sah es fallen wie einen Schuss und begann ein neues Leben, um "eine Familie großzuziehen", schrieb zwei Jahre an einem langen Theaterstück und sah es als hoffnungslos, schrieb sieben Jahre an einem weiteren Großen Buch und sah es fallen wie einen Schuss, und eine weitere Ehe gleich mit. Natürlich ist es ein Leichtes zu sagen, die beiden Bücher als Klassiker, dass es das wert war. Aber damals wusste ich das nicht. Musik Autorin: In gewisser Weise hat William Gaddis zu der Erfolglosigkeit seiner Bücher beigetragen, denn dem Literaturbetrieb verweigerte er sich konsequent. Interviews gab er erst in den letzten Jahren seines Lebens. Sprecher, Voice-over O-Ton Gaddis: Ich habe mich diesem ganzen Bestreben widersetzt, den Autor an sein Werk zu binden. Ich war immer der Meinung, dass das Buch das Werk des Mannes ist, und man kann nicht hinterher herumrennen und sagen: Was ich wirklich meinte, ist etwas anderes und versuchen, die Risse des Werks mit Interviews aufzufüllen. Oder diese ganze Idee, dass man den Autor und jedes Fitzelchen seines Lebens kennen müsse, um sein Werk zu verstehen. Dieser Idee widersetze ich mich entschieden. Autorin: In diesem Sinn ist die Veröffentlichung einer Auswahl der Briefe von William Gaddis eine kleine Sensation: Der 550 Seiten starke Band "The Letters of William Gaddis", der im März 2013 im amerikanischen Verlag "Dalkey Archive" erschienen ist, enthält einen Viertel seiner Briefe. Zum ersten Mal bekommt man Einblick in sein Schaffen und in ein Leben, das nicht einfach war: drei gescheiterte Ehen, Geld- und Alkoholprobleme, gleichzeitig jedoch ein herzliches Verhältnis zu seinen beiden Kindern Sarah und Matthew sowie inspirierende Freundschaften etwa mit Schriftstellern wie William H. Gass und David Markson. Nach außen hatte der Gentleman William Gaddis stets die Contenance bewahrt, was die Erfolglosigkeit seines Werks angeht. Auch in seinen Briefen hält er ironisch Distanz - doch es wird deutlich, wie tief die Enttäuschung ging. Sprecher: Aber warum bin ich immer der Beste Unbekannte Autor in Amerika? Autorin: ((( In späteren Jahren erhielt er Anfragen von Literaturwissenschaftlern zu seinem Werk - in seinen Antworten bedankt sich Gaddis jeweils für das Interesse, doch bittet er meist um Verständnis dafür, dass ihn die Beantwortung von Detailfragen zu viel Zeit koste. Immer wieder warnt er davor, Einflüsse zu konstruieren: So sei die oft zitierte Vermutung, sein erster Roman stehe in der Nachfolge von Joyce's "Ulysses", schlicht falsch. Er habe "Ulysses" zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht gelesen.))) co Es sind vor allem die frühen Briefe, in denen man etwas über die Entstehung des Werks erfährt. 1947 macht sich der 25-jährige New Yorker William Gaddis auf Reisen, zuerst innerhalb der USA, dann nach Mittelamerika, schließlich nach Spanien, Nordafrika, Paris und London, immer auf der Suche nach Erfahrung - "experience" ist ein Schlüsselwort. Seine Mutter Edith unterstützt ihn mit Geld und schickt ihm Bücher. In langen Briefen berichtet er ihr vom Leben im Ausland - und von der Arbeit an seinem ersten Roman. Sprecher: Sei nicht enttäuscht - denn es gibt etwas Ermutigendes, so hoffe ich. Ich habe sehr hart gearbeitet. Viele Tage. An einem Roman. Etwas, das ich ungefähr seit einem Jahr im Sinn hatte... Autorin: ...schreibt William Gaddis seiner Mutter am 7. April 1947 aus Mexico City - die erste Erwähnung des Romans, der sieben Jahre später als "The Recognitions" veröffentlicht werden sollte. Tagsüber verdiente er Geld, meist mit körperlich anstrengender Arbeit etwa in der Kanalzone von Panama. Nachts schrieb er, oft bis um vier oder fünf Uhr morgens. Sprecher: Die ganze Zeit, jede Minute wächst dieses Ding in mir. Aber dieser wachsende Roman entspricht den Tatsachen des Lebens so wahnsinnig genau, dass ich es manchmal nicht aushalten kann und platze. Und dann ruiniere ich es durch schlechtes Schreiben. Es muss zurückhaltend sein, raffiniert, in Anspielungen. (...) Ich habe so viele Ideen fürs Schreiben. Aber sie müssen geschrieben werden, nicht wahr? Weißt du, ich bin plötzlich so überwältigt von neuen Gedanken, Deutungen, Eindrücken, Offenbarungen, dass ich nicht still sitzen kann, um eine zu Ende zu bringen. Nun ja, Du weißt, ich werde darüber hinwegkommen. (In der Psychologie nennt man das Euphorie.) Autorin: Er beschreibt seiner Mutter, wie er Notizen über Figuren, Ereignisse und Situationen auf Zettel schreibt und diese auf dem Fußboden ausbreitet, um zu einer Ordnung zu gelangen. Er liest viel, und auch in seinen Briefen lebt William Gaddis in der Literatur. Er liebt es, Sätze anderer zu zitieren, die man nicht besser formulieren kann - in seinen oft virtuos formulierten Briefen genauso wie in seinen anspielungsreichen Romanen. Lektüre und Erfahrung finden gleichermaßen Eingang in seine Prosa. Er lässt eine Welt erstehen, die nur aus Lug und Trug besteht, in der Kunstszene von Greenwich Villiage in New York etwa, aber auch in der Religion, in den Gefühlen jedes Einzelnen. "Die Fälschung der Welt" hat seine Zeit überdauert, so das Urteil des Literaturkritikers Denis Scheck, der für die Neuausgabe übrigens auch das Nachwort verfasst hat: O-Ton Denis Scheck: (25'') (2:50) Über diesen Roman ist die Zeit eben nicht hinweggegangen. Es ist ja die Generalabrechnung des jungen, des zornigen William Gaddis mit dem Kulturbetrieb seiner Zeit, und an all dem, an den Trittbrettfahrern, den Adabeis, den Mechanismen der Lüge und der Verfälschung hat sich ja gar nichts geändert, und deshalb ist die Aktualität von "The Recognitions", der "Fälschung der Welt", eben bis heute geblieben. (3:15) O-Ton Ulrich Peltzer: (20'') (10:55) Also das ist wirklich ein Jahrhundertbuch, "Die Fälschung der Welt" (10:57... 11:11)), ein unfassbar bedeutsames Buch, in jeder Hinsicht, was den Stoff betrifft, und vor allem wie der Stoff organisiert ist, wie Gaddis durch die Zeiten kommt, mit welcher Eleganz er von Ort zu Ort kommt, indem er einfach zwei Leute einen Dialog führen lässt und die während dieses Dialogs altern lässt, das ist ... überwältigend (Stimme bleibt oben) Autorin Der Schriftsteller Ulrich Peltzer gehört schon lange zu den Bewunderern von William Gaddis; er hat, unter anderem in seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen, auch über ihn geschrieben. Als Autor liest man solche Texte anders - er habe von Gaddis viel für sein eigenes Schreiben gelernt, vor allem von der Dialogtechnik in "JR": O-Ton Ulrich Peltzer: (30'') (6:15) Das ist eher so, wie sich das Offensichtliche von allein herstellt, inwiefern sich das Offensichtliche herstellen lässt, indem man es einfach ausspart... Grade auch, wie man Dialoge gestaltet, wie man Leute aneinander vorbeireden lässt, wie man ...versucht, unwesentlich zu werden, um das Wesentliche zu erfassen... das lernt man bei Gaddis, und man lernt bei ihm, wie man den Umgangston des Redens in einen literarischen Dialog hineinbefördert... wie auch Reden immer wieder abbrechen, neu ansetzen, sich verlieren, nicht zielgerichtet sind. (7:14) Zitator (evt. einblenden): - Wenn er dann die Veranda heraufkam, hat es bei jedem Schritt geklimpert. - Seine Schüler mussten bei ihm die Vierteldollarmünzen, die sie ihm brachten, auf dem Handrücken halten, wenn sie ihre Tonleitern übten. Er nahm fünfzig Cent die Stunde, verstehen Sie, Mister... - Coen, ohne h. Meine Damen, wenn Sie nun... - Ach, das ist genauso wie die Geschichte von Vaters letztem Willen, dass man seine Büste im Hafen von Vancouver versenken und seine Asche dort ins Wasser streuen sollte, James und Thomas waren im Ruderboot draußen, und beide schlugen mit den Rudern gegen die Büste, weil sie hohl war und nicht untergehen wollte, und während sie noch da draußen waren, begann es zu stürmen, und seine Asche flog ihnen in den Bart. - Es hat nie eine Büste von Vater gegeben, Anne. Und ich kann mich auch nicht entsinnen, dass er je in Australien war. (ausblenden) Musik Autorin: William Gaddis spielt mit allen Färbungen und Registern der Sprache, mit den Zwischentönen der Floskeln ebenso wie mit den feinen Nuancen, die es dem Leser erlauben, zwischen dem einen und dem anderen Sprecher zu unterscheiden. Ein solches Werk ist für die Übersetzung eine Herausforderung - und so ist es auch kein Wunder, dass es Jahrzehnte gedauert hat, bis William Gaddis' Bücher ins Deutsche übersetzt worden sind. In einem Brief aus dem Jahr 1981 schreibt er resigniert: Sprecher: Die Deutschen (Rowohlt) haben zwei oder drei Übersetzer verschlissen, schließlich sagten sie, sie hätten nun den Mann, der Moby Dick ins Deutsche übersetzt hat und also einen neuen Start. Das ist nun gut fünfzehn Jahre her, habe nie wieder etwas von ihnen gehört. O-Ton Marcus Ingendaay: (I, 5:29) Man kann es eigentlich nur machen, wenn man nicht weiß, was auf einen zukommt. Autorin: Marcus Ingendaay ist der Bruder von Paul Ingendaay, und so wie Paul durch Gaddis zum Journalisten wurde, wurde Marcus durch Gaddis zum Übersetzer. Den Auftrag, die tausend Seiten von "The Recognitions" zu übersetzen, bekam er als Berufsanfänger, kurioserweise vom Versandhaus Zweitausendeins, das sich die Rechte an Gaddis sicherte, nachdem Rowohlt aufgegeben hatte. Mehr als zehn Übersetzer sollen sich an dem Werk versucht haben. Marcus Ingendaay sieht in der guten alten Texttreue kein taugliches Kriterium fürs Übersetzen - genau diese Freiheit gegenüber dem Original sei der Grund dafür gewesen, dass ihm das Herkules-Unternehmen damals geglückt sei. O-Ton Marcus Ingendaay ((((18:51) Es gibt Bücher, wie bei Gaddis, da kommt man mit dieser Methode nicht weiter. ... (19:18) Wenn die Gestalt des englischen Satzes die Gestalt des deutschen Satzes vorgeben soll - ich halte diese Regel für absoluten Unsinn. Sie führt automatisch in schlechtes Deutsch, weil ich nie die Möglichkeiten, Chancen, die das Deutsche hier bietet, besonders gut nutzen kann. Ich befinde mich in einem fremden System. (19:42... 21:14) Vergessen Sie die Gestalt des Englischen... ich habe das in einem Aufsatz einmal Digitalisierung genannt. Also man nimmt den Text, zertrümmert ihn in seine Einzelteile... und macht aus diesen Einzelteilen wieder etwas Neues. (21:31)))) oc (31:38) Ich glaube, dass das Buch auf Deutsch lesbarer und viel lustiger und heller ist, als im Original. Das Original ist rigoros und wirklich absolut düster. Düster auf eine Art, die ich persönlich nicht ertrage. Und deshalb habe ich den Roman so ein bisschen angehoben von seiner Stimmung her. ... (32:17) Wenn Sie so lange an einem Buch arbeiten, dann tun Sie etwas für den Autor und sagen: Ich sorge dafür, dass es dir hier, in der deutschen Version, besser geht als im Original. (32:26) Autorin: Deutschland war für William Gaddis eine große Genugtuung am Ende seines Lebens. Sprecher: Auf jeden Fall fand ich es erstaunlich, eine wahre Wiedergeburt. Autorin ...schreibt Gaddis 1996 in einem Brief über die Reaktion der deutschen Leser - und Kritiker. Im folgenden Jahr wurde er, zusammen mit anderen amerikanischen Autoren, nach Köln eingeladen. Denis Scheck vom Deutschlandfunk und der Kölner Buchhändler Klaus Bittner hatten keinen Aufwand gescheut - für den bereits schwer lungenkranken Autor und seinen Sohn mussten nicht nur Sitze in der ersten Klasse gebucht werden; die Lufthansa nahm für den Transport der Sauerstoffflaschen sogar Umbauten in einem Flugzeug vor. Es dürfte einer der teuersten Auftritte eines auswärtigen Autors in Deutschland gewesen sein. (((O-Ton Denis Scheck: (17:15): Das kostete damals die atemberaubende Summe von 23'000 Mark, das ist mir noch in Erinnerung, aber irgendwie haben wir das geschafft.))) oc Autorin: William Gaddis' Besuch in Köln war auf jeden Fall nicht umsonst - im doppelten Wortsinn. O-Ton Denis Scheck: (18:31) Ich will keine falschen Legenden in die Welt setzen, aber ich glaube, wenn William Gaddis irgendwann mal in seinem Leben als Autor glücklich war, dann während jenen drei, vier Tagen in Köln, wo ein riesiges Plakat ihn begrüßte, wie einen Popstar, das der Zweitausendeins-Laden in der Kölner Innenstand angebracht hatte, da wurde er gefeiert... (19:12) Ich glaube, es hat ihm sehr gut getan, auf diese Weise ein wenig Vorschein auf den Nachruhm zu bekommen. O-Ton Paul Ingendaay: (13:54): Wir hatten in Köln im Museum Ludwig diese irre Veranstaltung, rappelvoll, Gaddis saß da, mit Stock, schmal, mit den weißen Haaren auf die Seite gekämmt, in seinem Tweed- Jackett, ein ganzer Saal war voll, es wurde gelesen, Hanns Zischler las auch, und es wurde ihm eine Hommage gegeben, die er in Amerika nie so bekommen hatte. Er schrieb mir später noch mal: Hast du noch ein paar von diesen Plastiktüten von Zweitausendeins, da ist mein Porträt drauf, und meine Freunde glauben nicht, dass ich auf einer Plastiktüte bin. (14:32) Musik Zitator: (evt. einblenden) - Sag ich ja. So werden Märchen in die Welt gesetzt. - Nun ja, es nützt nichts, sie in Gegenwart eines Wildfremden zu wiederholen. - Ich würde Mister Cohen kaum als Fremden bezeichnen, Julia. Er weiß mehr über unsere Verhältnisse als wir selbst. - Meine Damen, bitte. Ich bin wirklich nicht hierhergekommen, um meine Nase in Ihre Privatangelegenheiten zu stecken, aber da Ihr Bruder gestorben ist, ohne ein Testament zu hinterlassen, müssen bestimmte Dinge besprochen werden, die sonst wohl nie auf den Tisch kämen. Um nun auf die Frage zurückzukommen, ob... - Ich bin sicher, dass wir nichts zu verbergen haben. Dass ein Bruder es im Leben zu nichts bringt, kommt ja häufiger vor. - Treten Sie doch näher und setzen Sie sich, Mister Cohen. - Du könntest ihm genauso gut die ganze Geschichte erzählen, Julia. - Also, Vater war erst sechzehn. Wie ich schon sagte, schuldete Ira Cobb ihm Geld. Das war für Arbeit, die Vater erledigt hatte, wahrscheinlich hat er irgendwelche Landmaschinen repariert. Vater war schon immer geschickt mit den Händen. Und dann ergab sich das Problem mit dem Geld; anstatt Vater zu bezahlen, schenkte Ira ihm eine alte Geige. (ausblenden) Sprecher, Voice-over O-Ton William Gaddis: (1') Bei "JR" bestand das Problem, das ich mir gestellt hatte, darin, den Autor möglichst vollständig aus dem Buch zu entfernen und damit die Figuren zu zwingen, die Geschichte zu erzählen und den Leser aufzufordern, ja von ihm zu verlangen, dass er sich an der Erschaffung der Fiktion beteiligen soll. In JR wird niemand je beschrieben. Man muss sich selbst ein Bild davon machen, wie der Kerl aussieht. Man hat mich beschuldigt, dass dies dem Leser zu viel abverlange. Das ist ein Risiko, das ich eingehe. Es wird Leute geben, die sagen, ich verstehe nicht, was vor sich geht, worüber hier geredet wird, und die das Buch weglegen. Und dann gibt es andere, die mitgemacht haben und etwas mitnehmen, die sagen: Meine Güte, was für ein Roman! O-Ton Denis Scheck: (7:49) Menschenskind, diese Bücher von dem William Gaddis sind verflucht schwer zu lesen, also man muss sich darauf einlassen. Wenn Sie Lust auf einen Spaziergang haben, dann sind Sie natürlich bei Himalaya-Expeditionen falsch. Das ist nichts für den Strand, das sind Lebensbücher. Davon kann man auch immer nur ne Handvoll haben, denn die fordern so viel Zeit und Engagement und Energie von einem als Leser, da bleibt im normalen Leben gar keine Zeit dafür. (8:17) (((-Ton Ulrich Peltzer (15:22) Er ist nicht zugänglich ... (15:34) er verlangt eigentlich gar nicht so viel, er verlangt, wie das alle große Kunst macht, die Bereitschaft, sich darauf einzulassen, also alles fahren und fallenzulassen, was man an Erwartungen mitbringt ... (15:55) Erwartung ist vielleicht auch ein anderes Wort für Vorurteil und Ressentiment.))) Autorin: Selbst Marcus Ingendaay, der spätere Übersetzer von Gaddis, war von der Lektüre erst einmal überfordert: O-Ton Marcus Ingendaay: (1:14) Ich hab JR angefangen und bin etwa bis auf Seite siebzig gekommen, und ich habe bis heute wirklich hohe Bewunderung und Hochachtung für jeden, der das zu Ende liest. Man wird zunächst erschlagen mit so viel Information, aber Gaddis ist ein eiskalter Logiker. Jedes Detail, das in diesem Buch steht, hat seinen Sinn, auch wenn man's nicht versteht. Man muss dann bloß noch mal nachdenken oder vielleicht auch ein Stück zurückgehen, dann wird man feststellen, dass das, was zuerst keinen Sinn ergibt, einen extrem ausgeprägten Sinn ergibt, man hat ihn bloß nicht gesehen. Und das macht den Mann so faszinierend. Es gibt kein Detail, das sinnlos ist. Es ist auch von vielen Kritikern missverstanden worden. Die haben gesagt, das ist eine Kaskade von Stimmen, so ähnlich wie eine Art Sinfonie, die sich zu einem Gesamtbild fügen - nein, es ist eisern durchkonstruiert, und es ist vor allem logisch, bis in die letzte Kleinigkeit. (2:12) Musik Autorin: Der Stoff und der Schauplatz von William Gaddis' Romanen ist die amerikanische Gesellschaft, mit all ihren Beschädigungen und ihren Absurditäten. (((Sprecher: Eine Sache allerdings: Sich von Amerika fernhalten. Abgesehen von New York und Long Island. Aber mit Amerika habe ich solches Mitleid, solche Wut darauf - warum sind die Amerikaner so schrecklich, ihre Stimmen, alles. Autorin: ...schreibt William Gaddis als junger Mann aus der Kanalzone von Panama an die Schriftstellerin Katherine Ann Porter.))) co Es gebe auf der Welt viel mehr Dummheit als Bosheit -dieser Satz seiner Mutter ist eines seiner viel zitierten Leitmotive. Man kann Gaddis' Romane als Chroniken des menschlichen Unvermögens lesen - des Unvermögens und des Scheiterns, das daraus folgt. Sprecher, Voice-over O-Ton William Gaddis: (1') Jemand hat einmal gesagt, er kenne keinen guten Roman, der ohne Empörung zustande gekommen sei. Das ist eine extreme Äußerung, aber sie hat mich immer begleitet, denn das ist mein Territorium. Es muss eine gewisse Empörung geben, nicht nur über das System, sondern über den Missbrauch des Systems. Ich versuche, auf den Missbrauch des Systems aufmerksam zu machen, in dieser eitlen und dummen Hoffnung, die viele Autoren haben. Das ist das Hauptthema von JR: Keiner trägt die Verantwortung. Natürlich hat jeder Verantwortung, aber man kann niemanden zur Rechenschaft ziehen. Autorin: In den USA wurde William Gaddis gelegentlich des Anti-Kapitalismus verdächtigt. Doch seine Kritik richtet sich nicht gegen das System, sondern gegen Missbrauch eines Systems, das außer Kontrolle geraten ist. Sprecher, Voice-Over O-Ton Gaddis: Man kann nicht dagegen protestieren, dies ist nun einmal, wo wir leben, in dieser kybernetischen Welt. Ich benutze es in "JR", um ein glaubwürdiges Bild eines elfjährigen Jungen zu entwickeln, der eine riesiges Finanzimperium aufbaut, das am Ende natürlich zusammenbricht. Denn dieser Junge ist nicht besonders intelligent, aber er kann gut reden, er hat die Gier, die Aufregung dieses Nimm-alles-was-du-kriegen-kannst, er missachtet nie den Buchstaben des Gesetzes, doch gegen den Geist des Gesetzes verstößt er bei jeder Gelegenheit. (((Aber er gerät nie wirklich in Schwierigkeiten.))) co O-Ton Paul Ingendaay: (7:23) Ich habe noch bei keinem modernen Autor... diese Mischung gefunden aus sardonischem Humor, eiskalter Analyse unserer Gesellschaft, was daneben läuft, und schierem epischem Talent. Der Mann hat eine fantastische Komik und eine fantastische Tragik in seinen Büchern. Es sind fast immer Künstlertypen, im weitesten Sinne, Maler, gescheiterte Maler, oder Schriftsteller... es sind immer Künstlertypen, die komisch an der Welt scheitern. Sprecher, Voice-over O-Ton William Gaddis: (1') Ich bin nie davon weggekommen, die Versuchung der Satire, der Parodie oder wie man es nennen will, dem kann ich nie ganz widerstehen. Außerdem glaube ich, dass Unterhaltung in einem Roman ungeheuer wichtig ist. Der Gefahr, ins Predigen zu geraten, muss man gegensteuern, indem man die Dinge ins Extrem treibt, durch Komödie, Satire, Ironie. Ich bin nur enttäuscht darüber, dass die Kritiken so tun, als gäbe es im ganzen Buch kein einziges Schmunzeln. Wenn ich mit der Arbeit des Tages fertig bin, muss ich oft richtig lange schmunzeln. O-Ton Denis Scheck: (21:43) Letzten Endes, glaube ich, können wir bei William Gaddis das Lachen lernen, das Lachen über unsere limitierten irdischen Bestrebungen, das Lachen darüber, dass wir als Künstler versuchen, mit einem Schäufelchen in der Hand den Kilimandscharo abzutragen. (((O-Ton Ulrich Peltzer: (20:59) Es ist von dem Wissen geprägt, dass es nur scheitern kann, und dass man sich darüber lustig macht, dass es scheitert, aber dass zugleich... eine große Anerkennung der Personen... in dieser Form des sardonischen Gelächters liegt. Weil das sardonische Gelächter sich nicht darüber erhebt, sondern weiß, welche Anstrengungen diese Person unternommen hat, die Oper zuschreiben, das große Buch zu schreiben, und weil man zugleich weiß, das musste scheitern, das konnte gar nicht anders gehen, was für ein Idiot, aber gleichzeitig erkennt man das an, dass er es versucht hat. ))) co (Stimme abgerissen) Zitator (evt. einblenden): - Mit der setzte sich Vater in die Scheune und versuchte, die ersten Töne herauszukriegen. Tja, als sein Vater das hörte, kam er sofort runter und zertrümmerte die Geige auf Vaters Kopf. Wir waren nun mal eine Quäkerfamilie, in der man einfach keine Dinge trieb, die sich nicht auszahlten. - Natürlich, Miss Bast, Ihr Vater in Ehren... Um aber nun auf die Frage der Eigentumsverhältnisse zurückzukommen... - Aber darüber reden wir doch, mein Gott, sind Sie ungeduldig. Denn Onkel Dick, Vaters älterer Bruder, war den ganzen Weg bis Indiana zurückmarschiert, zu Fuß, müssen Sie wissen, den ganzen Weg vom Gefängnis in Andersonville. - Und nach der Sache mit der Geige verließ Vater sein Elternhaus und wurde Lehrer. - Das einzige, was er sich in seinem ganzen Leben gewünscht hatte, war, gerade soviel Land zu besitzen, wie er in jeder Richtung überblicken konnte. Ich hoffe, wir konnten Ihnen in dieser Angelegenheit behilflich sein. 1