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Die Idee ist nicht einfach Bewegungsförderung, es geht um mehr. Denn die Kinder hier sind meist schon abgehängt, bevor sie überhaupt eingeschult werden. Krüger: Das soziale Umfeld der Schule ist gekennzeichnet durch große Armut, Bildungsferne und Chancenungleichheit. Mindestens 90 Prozent unserer Kinder sind nichtdeutscher Herkunftssprache und auch Empfänger sozialer Transferleistungen. Manduela Krüger leitet die Schule seit einigen Jahren kommissarisch. In diesem Kiez wird Perspektivlosigkeit von einer Generation an die nächste weitergegeben: Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund, die staatliche Unterstützung brauchen, werden zu Erwachsenen, die vom Staat unterstützt werden müssen. Und wenn sie selbst wieder Kinder haben, entkommen auch die selten dem Etikett Migrationshintergrund und Hartz IV. Die Frage, die sich Manduela Krüger und ihre Kollegen daher immer wieder stellen, heißt: Was kann man tun, damit möglichst viele Kinder aus diesem Kreislauf herausfinden? An der Gesundbrunnenschule wird auf verschiedenen Ebenen daran gearbeitet, die Kinder zu unterstützen. Es gibt Sprachförderung, das Fach ?Soziales Lernen?, das Programm ?Gute gesunde Schule?. Nun will die Schule zusätzlich ein Sportprofil entwickeln. Vanessa: Ich mag Sport, ich mag alles. (giggelt) Manduela Krüger und ihr Kollegium setzen in den erweiterten Sportunterricht große Hoffnung. Die Ausgangsüberlegung ist einfach: Die meisten Kinder mögen Sport, also ist es in diesem Fach leichter als in anderen, sie zu begeistern und ihnen Erfolgserlebnisse zu vermitteln. Nicht zuletzt: Ihnen zu helfen, sich mit der Schule zu identifizieren und Schule als Gemeinschaft zu verstehen, in der man gut aufgehoben ist. Krüger: Im Prinzip schlagen wir ja mehrere Fliegen mit einer Klappe. Es geht uns darum, Sprache, Bewegung, Gesundheit, Kooperationsbereitschaft, Integrationsbereitschaft zu befördern. Und das ist eben eine Annahme an dieser Stelle, dass wir das schaffen und das wollen wir im Laufe des Jahres evaluieren und auch durch wissenschaftliche Begleitung möglichst nachweisen. Atmo Unterrichtsanfang ... Das Thema heute sind Bänke..... Moritz Schäfer ist einer der beiden Trainer, die den Sportunterricht nun an der Seite der Lehrer mitgestalten. In den ersten Wochen aber ist er selbst es, der viel zu lernen hat. Schäfer: Die erste Zeit war wirklich dieses Ankommen und das alles neu aufsaugen, was in der Schule passiert, die Abläufe, die Besonderheit der Schule, der soziale Brennpunkt, die vielen Verhaltensauffälligkeiten der Kinder, mit denen man erstmal wirklich hart zu kämpfen hatte, um sich darauf einzustellen, und erstmal ein Reaktionsrepertoire zu entwickeln. Der Versuch, eine sportbetonte Grundschule aufzubauen, ist ein langwieriger Prozess, der von allen Ausdauer verlangt. Das gilt besonders in einem so schwierigen Kiez und erst recht, wenn dieser Versuch kein personell und finanziell üppig ausgestattetes Modell ist. Was an der Gesundbrunnenschule passiert, beruht vor allem auf der Eigeninitiative weniger Protagonisten. Musik Das Weddinger Projekt nimmt seinen Anfang im Frühjahr 2010, als Manduela Krüger auf Henning Harnisch trifft. Henning Harnisch war in den 90er-Jahren einer der erfolgreichsten deutschen Profibasketballer, er war Nationalspieler, Europameister, mehrfacher Deutscher Meister. Heute ist er Vizepräsident des Basketballbundesligisten Alba Berlin und leitet das Jugendprogramm des Vereins. Ein Schwerpunkt ist die Initiative ?Alba macht Schule?. Harnisch hat Basketball als Ausnahmesportler erlebt. Gerade deshalb kreisen seine Überlegungen inzwischen um die Frage, wie man Sport für alle jenseits der Elite interessant machen kann. Nicht für den einen von tausend, der Hochleistungssportler wird, sondern für die 999, die es nicht werden ? und dennoch nicht frustriert sein sollen. Harnisch: Das finde ich sehr, sehr aufregend, darüber nachzudenken, wie man die eigene Biographie ernst nimmt, nicht dass man ausgewählt war, sondern welchen Wert der Sport hatte. In dem Augenblick, wo man die richtige Sportart gefunden hat, wie auf einmal alles leichter wurde. Ich glaube, jedes Kind, das eine Sportart entdeckt, schafft sich selber dadurch eine Möglichkeit, ein stückweit anders, positiver aufzuwachsen. Um möglichst viele Kinder zu erreichen, geht man am besten dorthin, wo die Kinder schon sind: in die Schulen. Alba Berlin tut das seit 2006 mit Basketball- Arbeitsgemeinschaften. Der Verein stellt die ausgebildeten Trainer, die Schulen sorgen für freie Hallenzeiten am Nachmittag. Am Anfang schickte Alba fünf Trainer in Schul-AGs, heute, fünf Jahre später, sind es rund sechzig. Derzeit betreuen Alba-Trainer AGs an vierzig Berliner Schulen, die meisten nehmen an der von Alba mitorganisierten Berliner Grundschulliga teil. Fünfzig weitere Schul-AGs gibt es im Brandenburger Umland. Die Aktion ist alles andere als selbstlos: Der Profiverein mit internationalen Ambitionen investiert sein Know-how in Schulen vor Ort, um Kinder in und um Berlin für Basketball zu begeistern. Alba hat ein Interesse daran, Talente zu finden und zu fördern. Henning Harnisch: Harnisch: Es werden nicht alle Basketball spielen, es werden auch nicht alle Kinder Sport toll finden können. Aber ich glaube, wenn man die nicht anfixt, weiß man das gar nicht. Ich glaube, Mädchen, Jungen, groß, klein, dick, dünn sollen eine Möglichkeit haben, Sport ordentlich kennen zu lernen, dann aber auch Basketball kennen lernen. Ich behaupte, dass die meisten Basketball spielen wollen dann. Aber selbst wenn die an den Schulen dann auch Handball spielen, Fußball, Volleyball ist letztlich vollkommen wurscht. Das ist dann selbstlos. Schon im ersten Jahr gehen die Überlegungen bei Alba über die AGs hinaus. Denn das Freizeitangebot für potentiellen Basketballnachwuchs ist ja schön und gut, aber: Wenn schon die AGs so gut funktionieren, sollte es dann an Berliner Schulen für einen professionell organisierten Sportverein nicht noch viel mehr Spielraum geben? Harnisch: Das war der Einstieg. Hat uns aber ziemlich schnell zum Nachdenken gebracht, weil es ist toll, wenn man an Schulen tätig ist, aber die Schule eigentlich gar nichts direkt mit einem zu tun hat, dann ist man gleich in einem Gebiet, alles wird ein bisschen zufällig, ob die Kinder kommen, ob die Lehrer helfen, ob die Eltern davon eigentlich wissen. Und für uns war ein inhaltlich letztlich logischer Schritt, dass wir geguckt haben, dass wir das programmatisch ein bisschen sicherer aufstellen, und das heißt, dass wir Teil werden wirklich der Schule. Seit 2007 unterrichten Alba-Trainer daher an einer wachsenden Zahl von Schulen an der Seite der Lehrer im regulären Schulsport. Als die Gesundbrunnenschule 2010 in dieses Programm einsteigt, ist sie ein Novum: Zum ersten Mal werden die Trainer Teil des Unterrichts an einer sogenannten Brennpunktschule, einer Schule in einem Kiez mit hohem Anteil an Zuwanderern und Hartz-IV-Empfängern. Harnisch: Von dieser Art Grundschulen gibt es in Berlin Minimum 50, in diesen Stadtteilen Wedding, Moabit, Kreuzberg, Neukölln. Und die Idee ist, dass man jetzt eine solche Schule hat, mit der man anfängt als Pilot und das perspektivisch ausbaut. Die Idee ist, in diesem Piloten zu zeigen, dass Sport eigentlich ein sehr, sehr sinnvolles Medium sein kann, um Schulen mit so einem Strukturschlüssel zu stärken. Dass die Kinder sich wohlfühlen und dadurch, dass sie etwas lernen, sie eine positive Identität erfahren. Musik Im Rahmen des gesamten Programms ?Alba macht Schule? ist die Gesundbrunnenschule auch deswegen ein Pilotprojekt, weil hier erstmals sämtliche Klassen einer Schulanfangsphase einbezogen werden. Die Trainer sollen in jeweils zwei der drei Sportwochenstunden mitunterrichten. Stellt sich im Frühjahr 2010 nur noch die Frage: Wie organisiert und wie finanziert man das an einer staatlichen Grundschule? Harnisch: Das hört sich alles so leicht an, aber hat sehr viel damit zu tun, wie man so etwas möglich machen kann: Wie können Trainer an Schulen arbeiten, wie geht das von der Anstellung her? Das war sehr anspruchsvoll. Wir haben ein Konzeptpapier dazu geschrieben, die Schulleiterin und ich und haben das verhandelt mit dem Bezirksamt und dem Senat. Die Kurzform: Es hat letztlich geklappt. Die zwei von Alba an die Schule entsandten Trainer werden im Sommer 2010 als Vertretungslehrer mit halber Stelle eingestellt, dieses Arbeitsverhältnis muss allerdings Jahr für Jahr bei der Schulbehörde neu beantragt werden. Moritz Schäfer und Louisa Mühlenberg, beide Lizenztrainer, haben jeweils 14 Wochenstunden, zehn im Schulunterricht, vier in jahrgangsübergreifenden Basketball-AGs. Weil sie Vertretungslehrer sind und nicht einfach Trainer, sind Schäfer und Mühlenberg stark in den Schulbetrieb eingebunden. Pausenaufsichten und Konferenzen inklusive. Daran müssen sie sich erst gewöhnen. Ebenso an das unbekannte Weddinger Milieu. Moritz Schäfer, studierter Sportwissenschaftler und Trainer mit B-Lizenz, arbeitet seit zwölf Jahren mit Kindern und Jugendlichen. Und doch stellt ihn die Gesundbrunnenschule anfangs vor ungekannte Herausforderungen. Schäfer: Meine ersten Basketball-AGs waren eine Katastrophe. Ich bin da mit meinem pädagogischen Konzept reingegangen, wie ich es im Training kannte, und bin in den ersten Stunden einfach nur gescheitert, das hat überhaupt nicht funktioniert. Dann habe ich mich aber relativ schnell darauf eingestellt, woraufhin es auch besser lief. Die AGs organisieren die Trainer vor allem für die älteren Grundschüler. Im Unterricht arbeiten sie im ersten Jahr ausschließlich mit den Jüngsten aus der ersten und zweiten Klasse. Eine der fünf Klassen von Moritz Schäfer ist die 1/2 i. Selbst für die Gesundbrunnenschule ist dies eine noch mal besonders schwierige Klasse, sagt die Klassenlehrerin Luris Farhat, die gemeinsam mit Schäfer auch den Sportunterricht gestaltet: Farhat: Ich habe eine nette Klasse, ich mag die Kinder wirklich alle sehr gerne, aber ich habe sehr, sehr viele Probleme in der Klasse, psychologische Probleme, körperliche Probleme. Wo ich eben nicht weiß: Kann dieses Kind wirklich hören, kann es nicht hören? Hat das Kind eine Lernbehinderung, hat es vielleicht eine andere Behinderung? Es gibt auch Kinder, wo ich einfach nicht weiß ? das ist ein Jahr bei mir und ich weiß nicht, was ist da los? Nun wäre es vermessen anzunehmen, dass sich die vielen Probleme der Kinder in Luft auflösen würden, nur weil ihre Sportstunden interessanter und anspruchsvoller werden. Allzu hohe Erwartungen sind weder für die neuen Lehrer-Trainer- Gespanne noch für die Kinder hilfreich. Aber.... Braun: So ein Projekt könnte vielleicht auch den Finger in die Wunde reinlegen, was wir teilweise für ein Elend der Welt hier produzieren, in Teilen von Berlin, in Teilen von Deutschland. Professor Sebastian Braun leitet die Abteilung Sportsoziologie an der Berliner Humboldt-Universität. Er beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit den Chancen, die Sport als Integrationsfaktor bietet. In Nordrhein-Westfalen hat er ein Modellprojekt wissenschaftlich ausgewertet, bei dem es darum ging, Frauen und Mädchen mit Migrationshintergrund für Sportvereine zu begeistern. Das Gesundbrunnen-Projekt beobachtet Braun sozusagen aus der Halbdistanz; mit Henning Harnisch tauscht sich Braun regelmäßig über das Engagement des Vereins aus. Dem Leiter des Alba- Jugendprogramms misst Braun in diesem Zusammenhang besondere Bedeutung bei. Braun: Was ihn ganz, ganz besonders macht ist, dass er unglaublich charismatisch ist, dass er tatsächlich auch eine Vision nach außen hin transportiert. Und ich glaube, zu jeder guten Idee gehört, wenn sie erfolgreich sein will, eine charismatische Persönlichkeit, die das lebt und transportiert. So beeindruckt Braun von Harnisch? Enthusiasmus ist, bliebt er doch auch skeptisch. Braun: Dass man durch ein Sportprojekt ganz starke Sozialisationsinstanzen quasi umkehren könnte, halte ich bis auf den Ausnahmefall für relativ unwahrscheinlich. Insofern ist es vielleicht sogar günstig, wenn man solche Projektziele sehr, sehr realistisch darstellt, weil sie damit auch die Überformung solcher Projekte auf den Boden der Tatsachen zurückholen. Ich glaube, den Realismus sollte man immer noch behalten, sonst überfordert man so ein Pflänzchen. Musik Anders als in den AGs, in denen Basketball im Mittelpunkt steht, geht es im Unterricht der Schulanfangsphase nur am Rande um Dribblings und Korbleger. Zunächst einmal soll den Kindern Spaß an der Bewegung vermittelt werden. Außerdem wird getestet, was sie bereits können und was nicht. Auf dieser Basis wollen Trainer und Lehrer einen Unterrichtsplan entwickeln. Ganz praktisch geht es aber auch einfach darum, dass in einer 45 Minuten langen Schulstunde überhaupt möglichst viel Zeit für den Sport selbst bleibt. Atmo Treppe... Eine normale Sportstunde der Klasse von Luris Farhat sieht so aus: Während Moritz Schäfer in der Turnhalle im Hauptgebäude aufbaut, stellt Luris Farhat in einem Nebengebäude ihre fünf bis neun Jahre alten Kinder in Zweierreihen auf, damit sie dann geschlossen zwei Stockwerke hinabtrollen, über den Schulhof laufen und drei Stockwerke wieder hoch. Atmo Ansage Farhat an der Treppe ... Die Klasse 1/2 Igel ist stumm........ schsch... Bis sich alle umgezogen haben, ist eine Viertelstunde der Unterrichtszeit verstrichen. Und weil sich die Kinder am Ende wieder umziehen müssen, pendelt die Netto-Sportzeit um die zwanzig Minuten. Viel ist das nicht, um große Sprünge zu machen. Aber es erweitert die Unterrichtsmöglichkeiten deutlich, wenn zwei Betreuer sich um die 22 Kinder kümmern. Oder auch mal nur um 16, denn vollzählig ist die Klasse nur selten. Atmo Spielerklärung Schäfer, ...und zwar spielen zwei Mannschaften gegeneinander... Luris Farhat und Moritz Schäfer teilen sich die Arbeit auf, manchmal, indem sie die Kinder in zwei Kleingruppen betreuen, manchmal, indem der eine Übungen leitet und wie bei diesem Spiel wieder und wieder erklärt, dass und wie man den Softball werfen muss.... Atmo Spielerklärung Schäfer ...Wenn Ayhan mich abwirft... Der andere beobachtet und kann sich um einzelne Kinder kümmern. Ende November 2010 zieht Luris Farhat eine erste Bilanz: Farhat: Es ist, finde ich, sehr, sehr gut angelaufen, auch wenn wir natürlich inhaltlich dabei sind und jetzt als Sportlehrer und Sportpädagoge vielleicht noch nicht so befriedigend ist, was dann läuft. Aber für uns hier, die wir den Alltag kennen, ist es wirklich schon unglaublich toll, was in dieser kurzen Zeit passiert ist. Und ist für uns hilfreich und bringt die Kinder eben auch weiter. Zumal die Kinder alle eine Eigenschaft mitbringen: sie sind begeisterungsfähig. Sie freuen sich beim gemeinsamen Frühstück im Klassenzimmer über die Möhren und Äpfel, die Lesepaten ihnen spenden; sie freuen sich, wenn der Bücherbus angekündigt wird und überlegen schon mal, was sie sich ausleihen werden. Und sie freuen sich auf den Sportunterricht. Zwar maulen sie herum, wenn statt eines Spiels Koordinationsübungen angesagt werden, wenn sie zum Beispiel mit den Armen und Beinen, dem Po und dem Kopf Achten in die Luft malen sollen. Aber wenn es nun mal so sein soll, dann versuchen sie es. Auch wenn es dauert, bis es halbwegs klappt. Farhat: Das halten sie, ob das jetzt Achten gewesen wären oder was anderes, halten sie dann auch sowieso sehr schwer aus. Denn sie würden am liebsten immer ihre Spiele machen, immer nur losrennen. So was Neues auch im Sport zu lernen ? das ist wirklich was, was auch nie möglich war für mich, wenn ich alleine war. Zu den motorischen Übungen kommt Sprachschulung. Etwa wenn die Kinder sich in Gruppen auf Inseln aus Turnmatten zusammenfinden, dann gestisch Suppe kochen und dabei erzählen sollen, welche Zutaten sie verwenden. Das hört sich nicht kompliziert an. Aber den meisten Kindern dieser Klasse fällt dazu nichts ein. Suppe? Zutaten? Was soll man da sagen? Farhat: Das Problem unserer Kinder ist, dass sie überhaupt keinen Wortschatz haben, in keiner Sprache. Ich hab mit meinen Kindern ein Lied gelernt, in dem sie Guten Morgen auf Türkisch singen sollen ? es wusste kein Kind was Guten Morgen auf Türkisch heißt. Es wusste dann ein Kind, und dieses Kind hat eine deutsche Mutter und einen türkischen Vater, der wusste dann Günaydin, Guten Morgen. Viele Eltern der Gesundbrunnen-Kinder beherrschen die deutsche Sprache schlecht oder gar nicht, haben auch Schwierigkeiten mit ihren Muttersprachen, können weder richtig lesen noch schreiben. Und schon deshalb ist der Sportunterricht auch Sprachunterricht. Es geht um.... Schäfer: ...so einfache Dinge wie: Wir setzen uns vor die Bank. Um zu sehen, ob sie das verstehen, einfach so eine Präposition, auf, hinter, vor die Bank. Das ist ja auch ein Teil des Sportunterrichts, und da merkt man, einige verstehen es beim ersten Mal, und vielen muss man dann doch sprachlich vor allen Dingen mithelfen, dass sie Dinge verstehen. Gerade im Sport: vor, über, hinter, werfen, rollen ? solche Begriffe, dass sie das verstehen und damit umgehen können. Es ist, wie Sebastian Braun schon sagte, ein sehr zartes Pflänzchen, das da herangezogen wird an der Gesundbrunnenschule. Nach einem Jahr lässt sich kaum ermessen, ob und was der erweiterte Sportunterricht den Kindern nachhaltig bringen wird. Ob es überhaupt eine Ernte geben und was für eine es sein wird angesichts der schwierigen Ausgangslage, des, wenn man so will: sehr kargen Bodens, auf dem gesät wird. Musik Der Sportsoziologe Sebastian Braun und seine Abteilung wären prädestiniert, das Pilotprojekt Gesundbrunnenschule wissenschaftlich zu bewerten und damit eine Grundlage zu schaffen, auf der das gesamte Programm reflektiert und weiterentwickelt werden könnte. Auch Frau Krüger, die Schulleiterin, hatte auf eine solche Begleitung ja anfangs gehofft. Allein: Eine seriöse wissenschaftliche Studie kostet viel Zeit und viel Geld. Die Ausstattung des Projektes aber gibt eine solche Begleitung nicht her. Finanziert ist lediglich die Arbeit der beiden Trainer und auch die immer nur für ein Jahr. Die vage Perspektive, die der Schulversuch daher notgedrungen hat, muss kompensiert werden: von aufgeschlossenen Lehrern, neugierigen Trainern, einer nimmermüden Schulleiterin, einem euphorischen Koordinator. Atmo Unterricht.... ?Alba macht Schule? ist inzwischen an zwölf Berliner Schulen in den Sportunterricht eingebunden. Der Verein dringt damit immer mehr in einen ursprünglich staatlich organisierten Betrieb vor. Er übernimmt mit seinen Kompetenzen als Proficlub mit ausgebildeten Trainern eine Aufgabe, die die Schule allein nicht oder nicht mehr bewältigen kann. Auch diese gesellschaftliche Entwicklung beschäftigt Sebastian Braun. Neben der Sportsoziologie leitet er an der Humboldt-Universität das Forschungszentrum für Bürgerschaftliches Engagement. Und geht dabei der Frage nach..... Braun: ... Was ist sozusagen zivilgesellschaftlich zu organisieren in einer modernen Gesellschaft und was gehört wirklich in staatliche Hand. Und was ist sozusagen selber zu organisieren durch Bürgerinnen und Bürger, und nichts anderes macht ja der Henning Harnisch. Er organisiert auf freiwilliger Basis alternative Infrastruktur und Angebotssettings in einem ursprünglich in Deutschland doch sehr stark staatlich dominiertem Handlungsfeld. Der Verein Alba Berlin ist in diesem staatlichen Betrieb Schule ein neuer Akteur. Einer, der neue Ideen mitbringt und sich nun mit den etablierten Akteuren verständigen muss, was geht und was nicht. Und was vielleicht gehen könnte, wenn man es einfach mal versuchen würde. Braun: Ich erlebe das ganz häufig: Die Projekte, die teilweise in originäre staatliche Bereiche reingehen, die leben nicht von der Projektstruktur eines Businessplans, sondern die leben von Enthusiasten, die am Anfang eine Idee personalisieren, verkörpern und leben und entweder verselbstständigt sich diese Projektidee und der einzelne kann auch loslassen - oder die Idee stirbt. Nun herrscht an Enthusiasten weder an der Schule noch im Verein Mangel. Doch ebenso wenig herrscht Mangel an zumindest latenter Überforderung bei allen Beteiligten. Sie arbeiten viel, aber sie wissen nicht mal, wie die allernächste Zukunft des Projektes aussieht. Wie im Vorjahr muss Manduela Krüger im Frühling 2011 erneut Vertretungslehrerstellen für die Trainer beantragen ? und dann müssen alle warten, warten, warten, bis die Bewilligung endlich vorliegt. Krüger: Hier wäre natürlich eine große Chance gewesen, wenn man das mit dem Bildungspaket ein bisschen anders organisiert hätte. Die meisten der Kinder der Schule haben Anspruch auf Leistungen aus dem Bildungspaket. Die meisten ihrer Eltern sind schon mit dem Antragsprozedere überfordert. Und auch für die Schule ist der bürokratische Aufwand enorm, weil für jedes Kind jeder Anspruch einzeln bestätigt werden muss. Krüger: Viel besser wäre gewesen, dass man zum Beispiel das Geld vom Bildungspaket der Schule zugewiesen hätte. Wir hätten AG-Leiter einstellen können oder Nachhilfelehrer einstellen können, die dann hier vor Ort angebunden sind und direkt unseren Kindern den Nachhilfeunterricht geben könnten oder auch Sport- AGs an der Schule machen könnten. Musik Anfang des Schuljahres 2011/2012 steht die Gesundbrunnenschule vor dem Problem, dass die beiden Trainer zwar weiterbeschäftigt werden können, doch für den nötigen dritten bekommt die Schule keine Mittel. Eigentlich sollte in diesem Jahr der Unterricht mit dem Trainer-Lehrer-Tandem auf den kompletten dritten Jahrgang erweitert werden. In zwei Klassen wie in der Schulanfangsphase mit drei sowie in einer sportbetonten Klasse mit fünf Wochenstunden Sport. Nun muss sich das Projekt durchhangeln: Bei den Drittklässlern wird vorerst nur in der sportbetonten Klasse ein Trainer am Unterricht mitwirken, und das auch nur in zwei und nicht wie geplant in vier Stunden. Außerdem können die Trainer nur drei statt vier Basketball-AGs anbieten. Dass bereits zu Beginn des zweiten Jahres acht Trainerstunden fehlen, könnte das gesamte Projekt in Gefahr bringen. Denn um tatsächlich binnen fünf Jahren eine ?Schule mit Sportprofil? in allen Jahrgängen bis zur sechsten Klasse zu werden, müssten jedes Jahr neue Trainer in den Unterricht integriert werden. Im Herbst 2011 bemühen sich Manduela Krüger und Henning Harnisch immer noch darum, das akute Problem des laufenden Schuljahres zu lösen. Es hängt einiges davon ab. Henning Harnisch: Harnisch: Wenn man es kontinuierlich weiterbringen will, dann muss es stabil sein. Und das ist jetzt das Jahr, wo sich das alles zeigen wird, und daran arbeiten wir, und da bin ich sehr guter Dinge. Und die anderen? Moritz Schäfer ist nach einem Jahr so weit angekommen, dass er sich Gedanken darüber macht, dauerhaft an der Schule zu arbeiten. Und zwar am besten als Trainer, der gleichzeitig Lehrer ist. Schäfer: Jetzt nach dem ersten Jahr, was ist die Perspektive und die Perspektive kann halt, wenn Lehramt, nur sein: ich setze noch ein Lehramtsstudium hintendran. Luris Farhat hingegen, die Klassenlehrerin, ist schon wenige Wochen nach Schuljahresbeginn erschöpft. Sie hat in ihre schwierige Klasse wieder besonders verhaltensauffällige Kinder bekommen. Eines, das nicht spricht; eines, das ständig Wutanfälle hat und fast pausenlos Einzelbetreuung bräuchte. Farhat: Ich hab mir nie so vorstellen können, was wirklich Burn-out heißt. Ich hab früher gedacht, das betrifft Lehrer, die keinen Spaß haben an der Schule. Ich erleb?s auch, was das heißen kann, gerade wenn man sich für die Kinder interessiert, wenn die einem wichtig sind, wenn ich mich auch um sie sorge, dass da einfach die Grenzen erreicht sind. Und man wird nie fertig. Man ist immer ein bisschen unbefriedigt, weil man kommt nicht voran. Man ist auch traurig über die Schicksale der Kinder. Manduela Krüger sieht das Projekt nach einem Jahr zwar realistischer und ahnt, dass es noch viel Zeit, Geld und Geduld in Anspruch nehmen wird, bis Ergebnisse, im Idealfall Erfolgsbilanzen präsentieren werden können. Aber ihre Zuversicht ist ungebrochen. Krüger: Wir arbeiten alle hier sehr viel. Aber: Was ist die Motivation, das durchzuhalten? Also für mich ganz persönlich: Eine Idee zu gestalten, also nicht nur Ideen zu haben, sondern die auch umzusetzen, sukzessive. Es braucht immer einen langen Atem, und den habe ich und die meisten meiner Kollegen auch. Ja, also, uns ist schon klar, dass man nicht von heute auf morgen was verändern kann, sondern dass man dafür Jahre braucht. Und dieses Programm ist wunderbar dafür geeignet. Sebastian Braun ist Wissenschaftler genug, um im Hinblick auf die nachhaltige Wirkung des Sportprojekts zurückhaltend zu bleiben... Braun: ...und ich finde es ist trotzdem absolut legitim, Kindern und Jugendlichen Spaß an Bewegung zu vermitteln und einfach nur zwei wunderschöne Stunden, in denen sie sich gemeinsam ausgetobt haben. Auch wenn die sozialisatorische Wirkung auf lange Sicht wahrscheinlich eher bescheiden bleiben wird im Vergleich zu dem, was sie im familiären Alltag oder auch an Enttäuschungen im schulischen Alltag erleben. Aber das, finde ich, spricht nicht gegen so ein Projekt, sondern fast eher für so ein Projekt. Im Schuljahr 2011/2012 steigen weitere Grundschulen in das Projekt ein. Henning Harnisch will die beteiligten Schulleiter, Lehrer und Trainer nun öfter zum Erfahrungsaustausch zusammenbringen. Und weil Harnisch meint, aus Brennpunkten wie dem Wedding solle nicht nur berichtet werden, wenn es brennt, sondern dann, wenn etwas Gutes passiert, hat er bereits eine neue Idee: Harnisch: Wir schreiben mal einen positiven Brandbrief. Das sind alles Schulen, das sind fünf Schulen gerade, die eine ähnliche strukturelle Situation haben wie die Gesundbrunnenschule. Dass man mal miteinander formuliert, was durch das Projekt passiert, was man plant, und welche positiven Folgen das jetzt schon hat. Und dann wollen wir gucken, ob, wenn man mal so einen positiven Brandbrief schreibt, ob man auch in die Tagesthemen kommt. Weil das finde ich merkwürdig, das scheint so, als ob nur eine negative Ereignishaftigkeit im sozialen Brennpunkt dazu führt, dass man Öffentlichkeit kriegt. Atmo Unterricht... Und was wollen die Kinder? Wenn man sie ansieht, vor allem dies: Dass sie ernst genommen werden, dass ihre Begeisterungsfähigkeit erkannt wird. Das man ihnen den Ball zuwirft, damit sie ihn weiterdribbeln. Eines Tages kommen dann womöglich doch richtig große Sprünge dabei heraus. Nicht nur auf dem Basketballfeld. Musik Musik: Mulatu Astatke, Album: The Story of Ethio Jazz, Song: Shagu 15 1