COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur / Zeitfragen vom 31.10.2011 Vollbeschäftigung 2030? Ein Bummel über den Arbeitsmarkt von morgen von Mirko Heinemann Musik: Hawaii-Gitarre Nachrichtenschnipsel "Arbeitslosigkeit ist im September wieder gefallen" "Arbeitslosigkeit auf Tiefststand", "Die Zahl der Arbeitslosen sank..." Sprecher v. Dienst Vollbeschäftigung 2030? Ein Bummel über den Arbeitsmarkt von morgen. Ein Feature von Mirko Heinemann Arbeitgeber Herr Meier, schön, dass Sie noch zum Einstellungsgespräch gekommen sind. Wir haben auf Sie gewartet. Bewerber Ja, die Verspätung tut mir leid. Mein Wagen ist stehengeblieben. Arbeitgeber (lacht) Na, das Problem hätten Sie als Mitarbeiter unserer Firma nicht. Nach einem Jahr werden bei uns die Dienstwagen ausgetauscht. So haben Sie immer das neueste Modell. Bewerber (interessiert) Aha. Was können Sie mir denn noch bieten? Arbeitgeber (beflissen) Nun, alle Mitarbeiter unserer Forschungsabteilung genießen volle Flexibilität, ihre Arbeitszeiten bestimmen sie selbst. Wenn sie das möchten, können sie montags und freitags von zu Hause aus arbeiten. Wir stellen Smartphone, Laptop und übernehmen die heimischen Netzwerkkosten. Außerdem übernimmt unsere Firma ein Mal im Jahr einen Wellnessurlaub für unsere Mitarbeiter und ihre Familien. Natürlich übernehmen wir auch alle anfallenden Zusatzkosten der Krankenversicherung und finanzieren ihren Ausgleichssport. Eine betriebliche Kindertagesstätte mit vollwertiger Bio-Küche und mehrsprachiger Förderung versteht sich von selbst, unsere Erzieherinnen sind ausgebildet an... Sprecher: So oder ähnlich könnte ein Bewerbungsgespräch im Jahr 2030 ablaufen. Glaubt man den Prognosen der Wirtschaftsinstitute, dann ist das derzeitige Jobwunder keine Ausnahme, sondern Vorbote einer gigantischen Umwälzung auf dem Arbeitsmarkt. 2. Oton Schneider Wenn wir alles richtig machen, dann wird es schon im Jahr 2020 keine Arbeitslosigkeit mehr geben. Sprecher: Hilmar Schneider untersucht für das Bonner Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit den Wandel in der Arbeitswelt. Nach seiner Rechnung verliert Deutschland alle zehn Jahre mindestens drei Millionen Erwerbspersonen. Grund ist der demografische Wandel in der Bundesrepublik. Immer mehr erfahrene Mitarbeiter verabschieden sich in den Ruhestand, der Nachwuchs bleibt aus. Die ersten Anzeichen dafür sind bereits zu sehen: Die Arbeitslosenquote, die noch im Jahr 2005 über elf Prozent betrug, hat sich beinahe halbiert: 6,6 Prozent im September, das war die niedrigste Quote seit 20 Jahren. Und selbst wenn es Rückschläge geben sollte: Der Megatrend, eine sinkende Arbeitslosigkeit, soll bestehen bleiben. Bereits jetzt werden Fachkräfte von der Industrie händeringend gesucht. Deren Chancen am Arbeitsmarkt werden sich weiter verbessern. Ein neues Selbstverständnis von Arbeitgebern, Arbeitsuchenden und heutigen Auszubildenden wird entstehen. Die Angst um den Arbeitsplatz kann krank machen, heißt es in einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. 2030 wird dieses Problem zumindest für Hochqualifizierte der Vergangenheit angehören, glaubt Arbeitspsychologin Doris Fay von der Universität Potsdam. 3. O-Ton Fay Geht man davon aus, dass hochqualifizierte Personen eine sehr knappe Ressource auf dem deutschen Arbeitsmarkt sein werden, dann stärkt das natürlich deren Verhandlungsmacht und Positionsmacht im Unternehmen. Und dann wird es denen sehr viel leichter fallen, mit ihren Vorgesetzten auf Augenhöhe darüber zu verhandeln, was sie gerne haben möchten an Rahmenbedingungen, an Veränderungen, um im Unternehmen zu bleiben. 4. O-Ton Schneider Wenn Deutschland eine geschlossene Volkswirtschaft wäre, dann könnten sich die Arbeitnehmer jetzt austoben, wie sie wollten. Lohnforderungen hätten nach oben kaum noch eine Grenze, Arbeitszeitbedingungen und was alles sie sich ausdenken können. - das wäre fast paradiesisch. Aber wir sind keine geschlossene Volkswirtschaft, und Unternehmen stehen im globalen Wettbewerb. Die sind sicher bereit und in der Lage, Zugeständnisse zu machen, die sie in der Vergangenheit nicht gemacht hätten. Aber es gibt eine Grenze, und wenn man sie überschreitet, werden Unternehmen gezwungen, sich nach anderen Handlunsgsoptionen umzusehen. Und die gibt es: Entweder, dass man den Produktionsstandort verlagert. Oder dadurch, dass man die Produktion einstellt. Sprecherin Maßvolle Tarifabschlüsse sind für Hilmar Schneider eine wichtige Vorausetzung für die weitere Entspannung am Arbeitsmarkt. Der Arbeitforscher fühlt sich bestärkt durch die Erfahrungen aus der jüngsten Wirtschaftskrise. Die Lohnzurückhaltung und die flexiblen Zeitarbeitsregelungen hätten dafür gesorgt, dass hiesige Firmen ihre Mitarbeiter halten konnten. Als der Aufschwung kam, hätten die Deutschen einen Startvorteil gehabt. Diese Strukturen seien nach wie vor vorhanden, und laut Hilmar Schneider werden sie auch in den kommenden Jahrzehnten die deutschen Unternehmen für Krisen rüsten. Wenn die Gewerkschaften mitspielen. 5. O-Ton Schneider Es ist eine Kostenfrage. Das müssen die Tarifpartner sorgsam ausbalancieren. Wenn sie das tun mit Verantwortung - was sie in der Vergangenheit unter Beweis gestellt haben, dass sie das können - dann muss man sich keine Sorgen machen. Musik über Prognosen: Hawaii-Gitarre Sprecherin Der Bonner Arbeitsforscher steht mit seiner Vorhersage nicht allein. Sprecher Das Prognos-Institut rechnet vor: Sprecherin Im Jahr 2030 wird es rund 37 Millionen Arbeitsplätze geben, davon werden über fünf Millionen nicht besetzt werden können. Jede vierte Stelle für Akademiker wird frei bleiben. Sprecher Die Marktforschungsgesellschaft IW Consult: Sprecherin Von 75 befragten Wirtschaftsprofessoren rechnen 50 Prozent bereits in vier Jahren mit nur noch zwei Millionen Arbeitslosen - das entspräche einer Quote von fünf Prozent. Sprecher Das Hamburgische Weltwirtschaftsinstitut HWWI: Sprecherin Bis zum Jahr 2015 fällt die Arbeitslosigkeit auf fünf Prozent. Damit ist der "Vollbeschäftigungskorridor" erreicht. Musik weg Sprecher Mit "Vollbeschäftigungskorridor" beschreiben Wirtschaftsforscher eine Arbeitslosenquote von zwei bis fünf Prozent. Im Gegensatz zum Begriff Vollbeschäftigung trägt er der Tatsache Rechnung, dass es immer Menschen gibt, die gerade den Arbeitsplatz wechseln und auch eine kleine Gruppe solcher, die tatsächlich nicht vermittelbar sind oder einfach nicht wollen. Einig ist sich die Wissenschaft darin, dass es nicht automatisch zur Vollbeschäftigung kommen wird. Deshalb warnen sie auch vor einer voreiligen Absenkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung - obwohl die Kosten der Arbeitslosigkeit bereits in den vergangenen Jahren drastisch gesunken sind. Noch sei mit Rückschlägen zu rechnen und nicht nur die abkühlende Konjunktur berge Risiken. Arbeitsforscher Hilmar Schneider: 6. O-Ton Schneider Wichtig ist vor allen Dingen, dass wir bei der Technologieführerschaft vorne bleiben. Wir sind als rohstoffarmes Land darauf angewiesen, dass wir das Gold in den Köpfen nutzen. Und wenn wir das nicht tun, gibt es kaum noch einen anderen Grund, warum es nennenswert viele Arbeitsplätze in Deutschland geben sollte. Musik: Hawaii-Gitarre 7. Atmo Wolfsburg Sprecherin Das Herz der deutschen Wirtschaft ist nach wie vor die Industrie, vor allem der Automobilbau. Das zeigt sich im niedersächsischen Wolfsburg. Als 1938 an dieser Stelle zeitgleich das Volkswagen-Werk und die Stadt errichtet wurden, entstand eines der wichtigsten deutschen Industriezentren. 8. Atmo: Werk Sprecherin Vergangenheit und Gegenwart der Arbeit sind hier sehr präsent. Die Werkshallen stehen unter Denkmalschutz, ebenso wie das Verwaltungshochhaus. Im siebten Stockwerk hat Gerhard Prätorius sein Büro. Der Verkehrsökonom mit den blitzblauen Augen ist Beauftragter für die sozialen und gesellschaftlichen Aktivitäten von Volkswagen, neudeutsch Corporate Social Reponsibility oder CSR. Seine Firma macht gerade einen bemerkenswerten Strukturwandel durch. 9. O-Ton Prätorius Wir haben auf der einen Seite unsere Beschäftigtenzahlen mit etwa über 50.000 Beschäftigten über die letzten Jahre stabil gehalten. Aber innerhalb dieser Beschäftigten hat ein immenser interner Strukturwandel stattgefunden. Wir haben jetzt weniger Leute, die direkt an der Produktionsstraße beschäftigte sind und immer mehr Leute, die in den F+E-Zentren arbeiten und neue Technologien entwickeln. Sprecherin F und E, Forschung und Entwicklung - das sind die Bereiche, die für den deutschegn Arbeitsmarkt immer wichtiger werden. Autos herstellen kann inzwischen schließlich jeder. Das Prognos-Institut geht davon aus, dass sich bis 2030 die Produktion in den Bereichen Landwirtschaft und Fertigung um 30 bis 40 Prozent verringern wird. Demgegenüber steigt die Nachfrage nach Forschung um über 30 Prozent. Weiterdenken - das wird die wichtigste Kompetenz sein. Die Themen in der Automobilbranche heißen integrierte Mobilität, Nachhaltigkeit, effektive Produktionsprozesse, neue Materialien. Erfinder sind gefragt, kreative Tüftler. Die Anforderungen an die Mitarbeiter steigen. Schon jetzt fehlen Ingenieure, fehlen Absolventen in den Fächern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik, den so genannten MINT-Fächern. Um diese Lücke zu schließen und auf das Problem hinzuweisen, hat Volkswagen in Wolfsburg auf eigene Kosten eine Schule gebaut. 10. O-Ton Prätorius Und zwar soll da, wird da ein Curricilum entwickelt, das eine stärkere Anbindung an das Thema Technik, aber auch bessere Qualität in den so genannten MINT-Fächern sehr frühzeitig bereitstellen soll. Das ist für uns ein Pilotprojekt, mit dem wir signalisieren wollen: Dieser Bedarf ist da, und wir wollen Anregungen geben mit dieser Schule, dass daraus Überstrahleffekte entstehen sollen für andere Schulen. Sprecher Solche Projekte gehören zu den Aufgaben von CSR-Beauftragten wie Gerhard Prätorius, die es in immer mehr Betrieben gibt. Unternehmen werden zu einem gesellschaftlichen Faktor, indem sie Aufgaben übernehmen, die die Politik vernachlässigt, nicht erkennt oder für die sie schlicht kein Geld hat. Im Bildungsbereich wird das besonders deutlich. Sollte hier nicht ausreichend investiert werden, so Arbeitsforscher Hilmar Schneider, setze Deutschland seine Zukunft aufs Spiel. 11. O-Ton Schneider Natürlich gibt es Konkurrenz, und wir müssen diesen Vorsprung immer wieder neu erkämpfen und verteidigen. In dem Augenblick, wo sich die komparativen Verhältnisse verändern, weil Deutschland teurer wird als andere oder weil das Bildungsniveau schlechter wird als bei anderen, in dem Augenblick verschieben sich die Gewichte. In dem Augenblick, wo wir nachlassen, sind andere da, die das Feld übernehmen. Musik: Hawaii-Gitarre Arbeitgeber Frau Meier, ich hoffe, sie haben jetzt einen ersten Eindruck von unserem Unternehmen gewinnen können. Wie gefällt Ihnen unser Betrieb? Bewerberin Ja, ganz gut bisher. Sagen Sie, ist Ihr Schreibtisch etwa aus Tropenholz gefertigt? Arbeitgeber (Räuspert sich) Ja, ähm, der stammt noch von meinem Vorgänger. Heute kaufen wir Büromöbel ausschließlich aus europäischer Produktion, alles zertifiziert. Außerdem betreiben wir ein firmeneigenes Projekt zur Wiederaufforstung des Regenwalds. Bewerberin Ich hoffe, Sie verstehen, dass ich als Umwelt-Ingenieurin gewisse Anforderungen an meinen Arbeitgeber habe. Ich möchte natürlich auch vor meinen Kollegen und Freunden gut dastehen. Arbeitgeber Das kann ich gut nachvollziehen. Ich versichere Ihnen (hölzern): "Bei uns ist Nachhaltigkeit fester Bestandteil unserer Corporate Social Responsibility. Wir halten sie für unsere Verpflichtung gegenüber zukünftigen Generationen. Nachhaltigkeit schreiben wir groß - aus Respekt gegenüber unseren Mitarbeitern, ihren Familien (Ausbende) und der Gesellschaft, in der wir unsere Wertschöpfung erzielen..." Sprecher Die Ansprüche der Mitarbeiter an ihren Betrieb steigen. Fragt man heute Hochschulabsolventen danach, was ihnen bei ihrem zukünftigen Arbeitgeber wichtig ist, wird soziales und ökologisches Engagement immer häufiger genannt. Angestellte werden in Zukunft erwarten, dass ihr Unternehmen die Umwelt nicht verschmutzt, den örtlichen Sportverein unterstützt, Opfern von Naturkatastrophen hilft oder der Gemeinde eine Grünanlage spendiert. Der Arbeitgeber wird mehr und mehr zu einem Statussymbol; dessen guter Ruf wichtig ist. Damit die guten Taten der Konzerne auch möglichst weit bekannt werden, legen etwa von den dreißig Unternehmen im Deutschen Aktienindex bereits 26 regelmäßig einen so genannten "Nachhaltigkeitsbericht" vor. 12. O-Ton Schubert Es gibt Unternehmen, die schon heute sich gegenüber den Bewerbern positionieren. Sie entwickeln eine Bewerbermappe, um zu sagen: Das leiste ich als Arbeitgeber. Da spielt das Thema Gehalt eine Rolle, aber viele andere Qualitäten sind da viel wesentlicher. Sprecher Andreas Schubert ist Geschäftsführer des "Great Place to Work-Institute" in Köln. Jedes Jahr werden hier "Deutschlands beste Arbeitgeber"gekürt. Das Institut mit Stammsitz in den USA und Vetretungen in über 40 Ländern erstellt internationale Rankings von Unternehmen. Dabei werden nicht mehr Produktivität oder das Gehaltsniveau verglichen, sondern die Arbeitsplatzkultur. 13. O-Ton Schubert Sehr viele Mittelständler, die nicht die großen Marken sind, zu denen man ohnehin geht, die vielleicht auch nicht in den attraktiven Ballungsräumen angesiedelt sind, die brauchen Instrumente, um Mitarbeiter zu binden. Denn Demografie bedeutet nicht nur eine Reduzierung am Arbeitskräftemarkt, sondern es bedeutet auch, dass die Unternehmen sehr viel länger Mitarbeiter arbeitsfähig halten müssen. Sprecher In spezialisierten Branchen wie etwa Logistik oder Chemie ist es bereits heute üblich, dass Unternehmen direkt an Absolventen herantreten. Die Jobbörse "Absolventa" hat die Zeichen der Zeit erkannt. Hier können sich Unternehmen bei den Absolventen bewerben. Und die legen immer mehr Wert auf Angebote, die über den Arbeitsplatz hinausgehen. Beruf, Freizeit und Familie werden eine Symbiose eingehen. Ob der Arbeitgeber einen Betriebs-Kindergarten anbieten kann oder Elternzeit möglich macht, ob er Sportgruppen ins Leben ruft oder die lokale Schule unterstützt, wird im Jahr 2030 eminent wichtig sein. Die Führungskräfte von morgen werden umdenken müssen, so die Arbeitspsychologin Doris Fay. 14. O-Ton Fay Eine der Aufgaben der Führungskräfte muss sein, ein sinnvolles und nicht zermürbendes Arbeiten zu schaffen. Und andererseits den Mitarbeitern helfen, langfristige Perspektiven im Unternehmen zu entwickeln. Sprecher Denn auch die gesundheitlichen Belastungen werden zunehmen. Aufgaben werden immer anspruchsvoller, Arbeitszeiten individueller und damit flexibler. Selbstständigkeit ist gefragt. 2030 werden hoch qualifizierte Arbeitnehmer womöglich nicht mehr auf Arbeitszeiten verpflichtet, sondern auf Ergebnisse, die sie vorweisen müssen, auf Arbeitsziele. Eine Freiheit, die auch ihre Schattenseiten hat. 15. O-Ton Fay Der Mensch schätzt Autonomie, er schätzt die Möglichkeiten sein Arbeitsleben selbst zu gestalten sehr, sehr hoch. Andererseits heißt es auch. Wenn Arbeitsaufgaben vergeben werden und die Ziele enorm hoch sind, dann rudert jemand vielleicht 70, 80 Stunden die Woche und hat keine Möglichkeit seine Führungskraft zu befriedigen, weil: Es wird ja über Ziele geführt. Sprecher Burn out, Erschöpfungssyndrom und andere Belastungskrankheiten werden zunehmen. Mit festen Ruhetagen wird es vorbei sein. Es gibt keine Tabus mehr, man arbeitet samstags, sonntags, abends. Arbeitsforscher Hilmar Schneider: 16. O-Ton Schneider Wir marschieren in eine Welt der unbegrenzten Möglichkeiten und sind gezwungen, uns in dieser Welt neue Grenzen selbst zu setzen. Das ist auch Teil von unternehmerischer Verantwortung, die auf Arbeitnehmer zukommt. Ohne das brenne ich aus, verliere ich meine Kreativität, und damit ist weder einem Unternehmen noch mir selbst gedient. Denn ein totes Pferd reitet nicht mehr. Musik: Hawaii-Gitarre Atmo: Marschieren Sprecher: Die Bundeswehr im Jahr 2030. Auf dem Kasernenhof ist Fahnenappell. Feldwebel Aaaachttunnng!!! Stillgestanden!!!! Atmo: Marschieren weiter Feldwebel Stillgestanden, hab ich gesagt!!!! Uffz (Leise, eindringlich) Die verstehen Sie nicht, Herr Feldwebel. Das ist der Immigranten-Trupp, die kommen gerade erst aus dem Integrationskurs. Feldwebel Ach du grüne Neune! Was heißt das noch auf Englisch? Und auf Spanisch? Uffz (flüstert) Stand to attention! Feldwebel (brüllt) Stand to attention! Atmo: Marschatmo stoppt weitgehend / Drei Soldaten marschieren weiter Feldwebel Und wieso rennen die drei Knilche weiter Uffz (druckst rum) Sind Spanier. Feldwebel (leise) Mann, Mann, Mann (brüllt) Firmes! Atmo: Drei Soldaten stoppen Feldwebel (leise) Mann, Mann, Mann, Mann, Mann..... Sprecher Ob die unter der Abschaffung des Wehrdienstes stark leidende Bundeswehr in Zukunft tatsächlich Immigranten anwerben wird, um ihren Bedarf von 27.000 Leuten pro Jahr zu decken? Warum nicht! Deutschland muss die Zuwanderung ankurbeln, sonst wird der Arbeitskräftemangel irgendwann den Wirtschaftsmotor abwürgen. Bisher aber tut man sich schwer mit den Fremden. Arbeitsforscher Hilmar Schneider: 17. O-Ton Schneider Wir sind heute, was Zuwanderung anbelangt, nicht besonders gut. Wir haben eine Nettozuwanderung von Null - es gehen so viele weg, wie neu dazu kommen. Und das hat etwas zu bedeuten. Obwohl wir ein so attraktiver Arbeitsmarkt sind, haben wir es nicht vermocht, Arbeitskräfte in nennenswerter Zahl anzuziehen. Ein Grund dafür ist die deutsche Sprache. Sprecherin Und die ist bekanntlich eine schwere. Und bei internationalen Absolventen nicht besonders beliebt. Man lernt neben Englisch Französisch, Spanisch, vielleicht noch Chinesisch. Deutsch gilt als Exot. Es gibt aber auch Gegentrends. So werden in den europäischen Ländern mit hoher Arbeitslosigkeit die Deutschkurse des Goethe- Instituts derzeit stark nachgefragt. Junge Leute aus Madrid, Barcelona, Rom, Athen oder Dublin erhoffen sich neue berufliche Perspektiven in Deutschland. Auch die Bundesagentur für Arbeit wirbt bereits gezielt Fachkräfte im Ausland an. Diesen Sommer stand Spanien im Fokus. Dort beträgt die Arbeitslosenquote rund 20 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit gar über 40 Prozent, viele Ingenieure und IT- Spezialisten sind arbeitslos. 17.000 Spanier bekundeten ihr Interesse daran, in Deutschland zu arbeiten. Ob sie wirklich kommen, steht auf einem anderen Blatt. 18. O-Ton Schneider Wir haben nicht wirklich das, was man als Willkommenskultur bezeichnen würde. Viele Fachkräfte aus anderen Ländern, insbesondere wenn es das außereuropäische Ausland ist, machen sich ernsthaft Sorgen, ob sie ihrer Familie zumuten können, in Deutschland als Ausländer zu leben. Sprecherin Selbst wenn europäische Fachkräfte zahlreich nach Deutschland kommen würden, wäre das Problem nur aufgeschoben. Boomt nämlich die Wirtschaft in den anderen europäischen Ländern wieder, werden auch dort wieder Arbeitskräfte fehlen. Deutschland ist zwar mit rund acht Geburten auf tausend Einwohner Schlusslicht in Europa, doch anderswo sieht es kaum besser aus: Ohne Zuwanderung würde die Europäische Union schrumpfen. Zuwanderung aus dem außereuropäischen Ausland aber birgt kulturelle Herausforderungen. Arbeitspsychologin Doris Fay: 19. O-Ton Doris Fay Es gibt Kulturen, die bezeichnen wir als High Power-Distance, hohe Machtdistanz- kulturen. Bei denen erwarten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, dass die Chefin oder der Chef eine klare Ansage macht, und dem folgen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dann. Da wird keine Kritik geäußert, da werden keine Verbesserungsvorschläge gemacht. Sprecherin Das Gegenteil innovativer und kreativer Arbeitsstrukturen wäre die Folge. Unternehmen werden also nicht nur Zuwanderer, sondern auch bislang vernachlässigte Gruppen im Inland als Arbeitnehmer erschließen müssen. Dazu gehören vor allem Frauen und ältere Arbeitnehmer, deren Erfahrung wieder gefragt sein wird. Bereits jetzt entsteht das Arbeitsprofil der so genannten "Diversity Manager". Sie erarbeiten Strategien, wie die Kreativität der Firma durch eine Kultur der Vielfalt gesteigert werden kann. 20. O-Ton Doris Fay Es ist eine Riesen-Herausforderung. Und es wird wahnsinnig unterschätzt, wie schwierig das tatsächlich ist. Und da müssen sowohl Führungskräfte als auch die Mitarbeiter, die mit einem anderen Hintergrund kommen, viel voneinander lernen. Musik: Hawaii-Gitarre Sprecher In der Beratungsstelle der Agentur für Arbeit, April 2030 Berater Guten Tag, Herr Meier. Wie ich schon im meinem Schreiben andeutete, wollen wir mit unserer Frühjahrsoffensive auch die letzten Arbeitslosen in Lohn und Brot bringen... Arbeitsloser Aha, soso. Haben Sie denn eine Stelle für mich? Berater Na schauen wir mal. Was haben Sie denn die letzten Jahre so gemacht? Arbeitsloser Hab Flaschen gesammelt, im Park. Pfandflaschen. Berater (beunruhigt) Haben Sie diese Tätigkeit in Vollzeit oder in Teilzeit ausgeführt? Haben Sie das hierdurch erzielte Einkommen bei uns angegeben? Arbeitsloser Nee. Warn doch nur paar Cent, immer so. Berater (beunruhigt) Trotzdem, trotzdem. Sie üben eine selbstständige Tätigkeit aus, sind also nicht arbeitslos in dem Sinn. Arbeitsloser Hörn Se mal. Wir reden hier vom Flaschensammeln. Haben Sie jetzt einen Job für mich oder nicht? Berater Natürlich habe ich Jobs, massenhaft sogar. Was aber nicht heißt, dass Sie dort besser verdienen. Sehen Sie: Sie sind doch in Ihrem Bereich bereits qualifiziert. Was ich Ihnen raten würde: Bleiben Sie in Ihrer Branche, bilden Sie sich weiter! Expandieren Sie! Stellen Sie Mitarbeiter ein! Ich rede von einer goldenen Zukunft als Unternehmer. Flaschen Meier, so oder ähnlich. Das hat Potenzial, wäre ich eine Bank, würde ich Ihnen glatt einen Kredit dafür geben, da sollten Sie doch mal drüber nachdenken. Sprecher Vollbeschäftigung kann auch das bedeuten: Arbeit für alle, aber nicht alle werden von ihrer Arbeit leben können. 3 Euro 18 in der Stunde verdient eine Friseurin in Thüringen derzeit im Durchschnitt, 4 Euro 58 eine Floristin in Brandenburg. 20 Prozent aller Erwerbstätigen sind im Niedriglohnbereich tätig, Tendenz steigend. Einen unbefristeten, sozialversicherten Job haben nur noch zwei Drittel aller Erwerbstätigen. Die Boombranche heißt: Zeitarbeit. Auch die verdeckte Arbeitslosigkeit ist hoch. Viele Menschen sind in Ein-Euro-Jobs oder anderen arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen geparkt. Andere gehören zur so genannten "stillen Reserve"; sie haben sich frustriert vom Arbeitsmarkt zurückgezogen, aber nicht arbeitslos gemeldet. Dazu gehören Hausfrauen oder Selbstständige ohne Einkommen. Wer niedrig qualifiziert ist, wird leicht ersetzbar sein. Immer wieder wird sich die Frage stellen: Kann die Arbeit von anderen oder anderswo billiger erledigt werden? 21. O-Ton Schneider Wir wissen, dass gering Qualifizierte in den letzten 20 Jahren praktisch keine Reallohn-Zuwächse hatten. Zu befürchten ist, dass es auch in der Zukunft so bleibt. Damit würde die Einkommensschere immer weiter auseinandergehen. 22. O-Ton Fay Ich denke da an die Personen, die in den Supermärkten die Regale auffüllen und mittlerweile oft in Scheinselbstständigkeit arbeiten. Allein, um ausreichenden Verdienst zu erwerben, verlangen die sich sehr hohe Arbeitsstunden ab. Da steht keine Gewerkschaft hinter, keine Führungskraft dahinter, die sich eventuell darum kümmern würde dieser Person dabei zu helfen, Grenzen zu setzen. Die haben auch keine Lobby. Sprecherin Ein solches Schicksal könnte 2030 vielen niedrig Qualifizierten drohen. Sie könnten mit Jobangeboten überhäuft werden, die sie kaum über Wasser halten. Damit wird sich ihre seelische Situation kaum von Langzeitarbeitslosen unterscheiden. Die Angst um den Arbeitsplatz kann seelisch krank machen, heißt es in einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Und zwar so krank, dass es prekär Beschäftigten sogar kurzzeitig besser geht, wenn sie ihren Job dann tatsächlich verlieren. Gegen solche Szenarien helfe nur eine Qualifizierungsoffensive, glaubt die Arbeitspsychologin Doris Fay. 23. O-Ton Fay Was immer es an Instrumenten gibt, die in den Schulen zunehmend angefahren werden, die Arbeitsagenturen fahren, die Weiterbildungsträger verwenden, um diese jungen Leute einzufangen, sie für Weiterbildungen zu begeistern, damit sie doch noch einen Ausbildungsberuf machen, desto besser. Und da müssen auch Ressourcen reinfließen. Sprecherin Tritt die Prognose der Wirtschaftsinstitute ein, wird umworben sein, wer 2030 in den Beruf startet. Berufsanfänger werden Chancen haben, von denen man heute nur träumen kann. Nun kommt es darauf an, diejenigen zu motivieren, die sich jetzt in Schule und Studium befinden. 24. O-Ton Schneider In zehn Jahren hat sich der Arbeitsmarkt soweit in die Richtung entwickelt, dass die Knappheiten für jedermann offensichtlich sind. Dann werden die Jugendlichen begriffen haben, dass es sich lohnt, sich anzustrengen. Aber die nächsten zehn Jahre werden eine Phase sein, wo es darauf ankommt, von diesen Chancen auch zu erzählen. Die Jugendlichen davon zu überzeugen, dass es sich lohnt sich anzustrengen. Sprecherin Vorbilder seien Regionen etwa in Süddeutschland, in denen es heute schon faktisch keine Arbeitslosigkeit mehr gibt. 25. O-Ton Schneider Wenn es heute schon möglich ist, in Freising oder in Eichstätt, auch Jugendliche mit schwierigem sozialen Hintergrund, mit geringen Qualifikationen, auf die Beine zu helfen, dann wird das Zukunft wahrscheinlich auch in anderen Regionen funktionieren, jedenfalls den Jugendlichen aus den Regionen. Sprecher Im Jahr 2010 lag die Zahl der angebotenen Lehrstellen erstmals seit Jahren wieder deutlich über der Zahl der Bewerber. Allen Prognosen zufolge wird das Angebot an freien Lehrstellen weiter steigen. Betriebe werden sich anstrengen müssen, um geeigneten Nachwuchs zu finden; sie werden mehr für die Aus- und Weiterbildung tun müssen als heute. 26. O-Ton Schneider Natürlich gibt es immer Menschen mit Handycaps, denen muss man auch helfen, das ist gar keine Frage. Die Zahl derjenigen, die hilfebedürftig sind, ist weitaus kleiner, als die Zahl, die wir heute noch in den Statistiken haben. Die sind heute hilfsbedüftig, weil der Arbeitsmarkt ihnen nicht genügend Chancen bietet. Sprecher Solche wird es auch im Jahr 2030 geben, wie auch Menschen, die einfach keine Lust haben zu arbeiten. Das sind nach einer aktuellen Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung aber relativ wenige. Danach würden 90 Prozent aller Hartz IV- Empfänger eine kurzfristig angebotene Stelle jederzeit annehmen. Hawaii-Gitarre Sprecher 2030 werden die Chancen auf ein ausgefülltes Arbeitsleben groß sein wie lange nicht mehr. Aber auch die Ansprüche werden zunehmen. Arbeitnehmer werden mehr Verantwortung übernehmen und ihr Leben lang dazulernen müssen. Unternehmen werden gezwungen sein, ein spannendes Betriebsklima zu bieten, in dem sich die Mitarbeiter wohlfühlen und das Gefühl haben, die Welt ein klein wenig verbessern zu können. Für diejenigen, die sich auf die neuen Anforderungen einstellen, wird es im Jahr 2030 eine Menge zu tun geben. Musik SPRECHER v. Dienst Vollbeschäftigung 2030? Ein Bummel über den Arbeitsmarkt von morgen Eine Sendung von Mirko Heinemann Es sprachen: Nadja Schulz-Berlinghoff Viktor Neumann Stefan Goslar Adam Nümmm Ton: Andreas Narr Regie: Klaus Michael Klingsporn Redaktion: Martin Hartwig Produktion: Deutschlandradio Kultur 2011 Nächste Woche hören Sie an dieser Stelle: Warum überhaupt Helden? Die postheroische Gesellschaft und ihre Vorbilder Manuskripte und weitere Informationen zu unseren Zeitfragen-Sendungen finden Sie im Internet unter www.dradio.de (Absage darunter) 1