COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Zeitreisen am 24. März 2010 Redaktion: Peter Kirsten Angst vor dem "Nazi-Racoon"? Vom wechselvollen Image der Waschbären Von Brigitte Schulz ZITATOR: Horden von Waschbären erobern Europa. SPRECHERIN: So titelte die britische Boulevardzeitung "The Sun" am 10. März 2004. In dem Beitrag wird verkündet: ZITATOR: Sie stehen gegenüber von Großbritannien am Ärmelkanal, nachdem sie in einem pelzigen Blitzkrieg durch Frankreich, Belgien und Holland marschiert sind. Hitler-Gehilfe Herrmann Göring hatte 1934 die ersten dieser amerikanischen Säugetiere in einem Wald ausgesetzt, um die Fauna des Deutschen Reiches zu bereichern. Doch unaufhaltsam vermehrten sie sich und dringen nun in immer neue Gebiete vor - wie einst die Nazis. Deutschland hat mehr als eine Million Waschbären. SPRECHERIN: Und damit die Briten genau wissen, was bald auf sie zukommt, ist ein Foto des Nazi- Waschbären abgedruckt: ein possierliches Tierchen mit der typischen Masken- maserung im Gesicht, die ihm hier das Aussehen eines Banditen verleiht. An der rechten Pfote eine Hakenkreuzbinde, erhoben zum Hitlergruß. Natürlich ist die Angst vor einer solchen Waschbären-Invasion abwegig. Denn der Klein- bär hat keinen Grund, durch den mindestens 34 Kilometer breiten Ärmelkanal zu schwimmen - äußerst fraglich ist auch, ob er das überhaupt schafft. Außerdem fehlen Großbritannien die weiten Mischwälder mit uralten Bäumen, die es dem US- Immigranten Waschbär einst ermöglichte, in Deutschland Fuß zu fassen. Doch tatsächlich sind mittlerweile rund eine Million Waschbären in Europa zu Hause und die meisten ihrer Vorfahren stammen aus Deutschland. Allein 500 000 vermuten Experten in deutschen Wäldern und Städten. Biologisch gelten sie als "Neubürger", da sie seit mehr als 25 Jahren hier leben - aus unserer Fauna sind sie nicht mehr wegzudenken. In den 20-er Jahren schipperte man die ersten Waschbären von Nordamerika nach Hamburg - seitdem hat ihr Image starke Schwankungen durchlaufen: Als wertvolle Pelztiere gezüchtet, hat man sie bald in die Freiheit entlassen und unter Naturschutz gestellt. Dann wurden sie als Jagdwild zum Abschuss freigegeben. In den 70-erJahren galten die Pelztiere als Zerstörer einheimischer Artenvielfalt, und bis heute werden sie in der ausländischen Presse als aggressive Eroberer und Nazierben gebrandmarkt. Musik:20-er Jahre 1. O-TonTake: Es war eigentlich ein Wirtschaftsobjekt, das muss man einfach so nüchtern sagen, sollte eigentlich der Konsumgüterbedarf in den 20er Jahren damit gedeckt werden. Es waren die wilden 20er, wenn man so will, Pelzmode war angesagt, und man hat sich einen gewissen Profit davon versprochen, Pelztiere eben nicht nur aus USA zu importieren, sondern hier auch zu produzieren und dann letztendlich von hier aus zu vermarkten. SPRECHERIN: Forstamtsleiter Eberhard Leicht weiß: Auch der hessische Geflügelzüchter Rolf Haag stieg damals ins Pelzgeschäft ein und hielt einige Waschbären in seinen Gehegen. 1934 schenkte er dem benachbarten Forstamt in Vöhl zwei Pärchen, um sie in der freien Natur auszusetzen: aus reiner Freude, und um die einheimische Fauna zu be- reichern, wie er in einem Brief beteuerte. Der heutige Forstamtsleiter Eberhard Leicht hat da allerdings seine Zweifel: 2. TonTake: Dann wissen wir, 1929, der Börsencrash, der schwarze Freitag letztendlich, der dann die Weltwirtschaftskrise eingeleitet hat, und dann ist natürlich gerade im Luxusgüter- bereich die Nachfrage zusammengebrochen. Und was wirklich nahe liegend ist, dass die Produktion von Pelztieren absolut unwirtschaftlich geworden ist und auch der Züchter selber eigentlich die Entledigung im Sinne hatte und nicht so sehr, wie es in den Akten steht und oft auch zitiert wird, die Freude, jetzt die Fauna zu bereichern. Man will sie auch nicht töten, weil man sie lange Zeit gepflegt und gepäppelt hat und stellt sich vor, wenn sie vielleicht draußen rumlaufen, ist das schön. SPRECHERIN: Die Akten über die Freilassung des ersten Waschbärenpaars liegen noch heute in dem alten Forsthaus in Vöhl, einem romantischen Dorf am hessischen Edersee. Doch für die Fakten schien sich bislang niemand so richtig zu interessieren, dafür beflügelte die Fantasie Journalisten und vermeintliche Zeitzeugen. So will ein ehemaliger Soldat bei der Aussetzung der Waschbären dabei gewesen sein: ZITATOR: Ich wurde am 12. April 1934 zusammen mit meinen Kameraden ins Revier Asel am Edersee abkommandiert, um während der Aussetzung Spalier zu stehen. Neben zahlreichen Gästen nahmen auch verschiedene hohe Beamte an dem Ereignis teil. Eine Blaskapelle war vor Ort und nachdem der damalige Forstmeister Freiherr Sittich von Berlepsch seine feierliche Rede beendet hatte, erklang die Nationalhymne. An- schließend wurden zwei verblendete Holzkisten geöffnet, in denen sich je ein Waschbärpärchen befand. 3. O-TonTake: Von einem offiziellen Staatsakt mit derartiger musikalischer Umrahmung kann über- haupt nicht die Rede sein. Letztendlich war es ein praktischer Vorgang, man hat die Tierkisten mit in den Wald gebracht und hat sie dort dann abgestellt. Und was durchaus im Bereich des Möglichen ist, dass die Forstbeamten ihr Jagdhorn umhängen hatten und dann vielleicht aus einem gewissen Traditionsgefühl das eine oder andere Signal am Ort geblasen haben. SPRECHERIN: Eberhard Leicht hat die Freilassung der Waschbären genau recherchiert und doku- mentiert, denn zunehmend ärgert er sich über die blumigen Ausschmückungen der Presse. In einem Brief bittet das hessische Forstamt 1934 den Landesjägermeister in Berlin, die Aussetzung der exotischen Waschbären zu genehmigen, was später auch geschieht. An der Spitze der obersten Jagd- und Forstbehörde steht Ministerpräsident Hermann Göring. Doch Eberhard Leicht glaubt nicht, dass Göring die Auswilderung selbst angeordnet oder gar selbst durchgeführt hat: 4. O-TonTake: Es war ein reiner Verwaltungsakt, auch die Zeichnung, es war ein Herr von Keudell, der den Erlass unterschrieben hat. Das ist im Prinzip ein Verwaltungsmann, daran erkennt man letztendlich auch, dass ne Einflussnahme Görings nicht stattgefunden hat und eigentlich spricht auch alles dagegen, dass er überhaupt ein persönliches Interesse hatte. Wer ihn näher kennt und sich mit ihm beschäftigt, weiß, dass sein Interesse ganz anders gelagert war. SPRECHERIN: Forstamtsleiter Eberhard Leicht vermutet, dass der kleine und tollpatschige Waschbär für den prestigehungrigen Göring kein Objekt der Begierde war - der begeisterte Jäger ließ sich meist mit stattlichen Hirschen als Beute fotografieren. Allerdings hat das Forstamt in Vöhl die Genehmigung aus Berlin nicht abgewartet, sondern die zwei Waschbärenpaare auf eigene Faust entlassen: Ein Weibchen war trächtig und sollte seine Jungen in der freien Natur gebären. Und als ein Brief des Hamburger Zoodirektors Heinrich Hagenbeck in Vöhl eintraf, tummelten sich die Tiere bereits in den hessischen Wäldern. Hagenbeck warnte in seinem Schreiben ausdrück- lich vor der Auswilderung der Waschbären, denn er bewertete ihre Lebensweise als bedenklich für die einheimische Natur: ZITATOR: Ich konnte dies in meinem Garten beobachten, wo ein weibliches tragendes Exemplar entwichen war. Es hatte sechs Junge zu ernähren und stahl mir täglich mehrere Enten, Meerschweinchen und dergleichen, bis ich seinen Schlupfwinkel fand und es wieder in seinen Käfig zurückbringen konnte. Da ich annehme, dass die Waschbären in einem Jagdrevier ausgesetzt werden sollen, möchte ich dringend hiervon abraten, da kaum Fasane, Rebhühner und anderes Federwild, desgleichen Kaninchen, aufkommen werden. Mit Waidmannheil Heinrich Hagenbeck Musik AtmoTake: Natur im Frühling, Frühlungsgezwitscher unter O-Ton ziehen (Atmo muss aus dem Archiv besorgt werden) 5. O-TonTake: Sie sehen etwa einen Kilometer von hier von links kommend einen Talzug, der in den Edersee einmündet, und ziemlich nahe an diesem Talzug, dem Banfetal, wie wir es nennen, sind die Waschbären dann an einem Waldrand ausgesetzt worden. Die haben hier eine Kombination, sowohl tierische als auch pflanzliche Nahrung, zum andern ist das Wasser in der Nähe und zum Dritten haben wir sehr, sehr viele uralte Bäume mit sehr vielen Hohlräumen, wo der Waschbär sich nicht nur verstecken kann, sondern auch seinen Nachwuchs dann zur Welt bringen und pflegen kann. Wir haben hier Eichen die sicher mehrere hundert Jahre alt sind, 400, 500, 600 Jahre alt sind, Buchen, die etwa 200 bis 300 Jahre alt sind. SPRECHERIN: Berlin erteilte die Erlaubnis zur Freilassung der Waschbären unter einer Bedingung: Die Förster sollten sie genau im Auge behalten und regelmäßig Bericht erstatten, was dann auch geschah. Aus einem Brief des hessischen Forstmeisters vom 7. Mai 1935: ZITATOR: Im Sommer 35 ist kein Bär mehr gesehen oder aufgespürt worden. Dies war so auf- fallend, dass ich schließlich annahm, die Bären seien abgewandert oder eingegangen. Jetzt haben sich seit Anfang April wieder verschiedene Bären gezeigt, und zwar drei Stück, davon zwei Stück zusammen und ein Stück einzeln an verschiedenen Tagen. Ich glaube aber annehmen zu müssen, dass es den Waschbären schwer fällt, sich zu halten. Jedenfalls sind sie allerhand Gefahren ausgesetzt und die Vermehrung ist nicht sehr stark. SPRECHERIN: Da man 1935 die Überlebenschancen der Waschbären als gering einstufte, wurden sie unter Naturschutz gestellt. Dazu veröffentlichte das Forstamt in Vöhl eine Pres- semitteilung: Man wollte die Bevölkerung informieren, denn die wusste damals fast nichts über das fremde Tier: ZITATOR: Zunächst eine Bemerkung zur Beruhigung ängstlicher Gemüter: Der Waschbär gehört zwar zur Familie der Bären, ist aber mit jenen fürchterlichen Tieren, denen der kühne Jäger nur bis zu den Zähnen bewaffnet entgegentreten konnte, nur ganz fern verwandt und hat auch keine gefährlichen Eigenschaften. Hat er eine Beute gemacht, so wird sie mit den zarten fingerartigen Krallen zerlegt, und, falls Wasser in der Nähe ist, sorgfältig abgewaschen. Daher, und nicht weil er das Bedürfnis zeigte, sich selbst zu waschen, hat er seinen Namen. SPRECHERIN: Dass diese Beobachtung falsch war, fanden Biologen später heraus: Denn was so aussah, als würde das Tier seine Beute waschen, war in Wirklichkeit Nahrungssuche. Der hessische Jagdaufseher Frank Becker: 6. O-TonTake: Der Waschbär ist sehr gewandt mit seiner Fingertätigkeit. Der hat praktisch wie kleine Hände und er tastet mit den Tasthärchen die Schlurfgeräusche von Regenwürmern, bis in 30 Zentimeter Tiefe. Was er sehr gerne frisst, sind Bachflohkrebse. Im Winter sucht er mit seinen Vorderpfoten nach diesen Bachflohkrebsen bei 4 bis 7 Grad kaltem Wasser und das macht er bis zu einer Stunde bei diesen Temperaturen während beim Mensch nach 5 Minuten bereits ganz massive Einschränkungen vom Gefühl da sind. Der fühlt nach einer Stunde noch Bachflohkrebse, welche die Größe haben von einem Zentimeter langem Streichholz. SPRECHERIN: Dieses Verhalten gab dem Waschbären seinen englischen Namen "racoon". Das Wort stammt aus der Indianersprache der Algonquin: Dort heißt "Aroughcun" so viel wie "der mit den Händen kratzt". Die Indianer schrieben dem Waschbären sogar hellseherische Kräfte zu: Denn neben dem ausgeprägten Tastsinn seiner Vorderpfoten verfügt er über ein erstaunliches Ortsgedächtnis und weiß genau, wann die ersten Früchte reif sind. Als die Europäer die neue Welt entdeckten, wussten sie den Waschbären nicht ein- zuordnen. Er lebe wie ein Eichhörnchen auf Bäumen, sehe aber dem Dachs ähnlich, wurde berichtet. Zoologen des 17.und 18. Jahrhunderts ordneten ihn mal den Hunden, mal den Bären zu. Erst der Tübinger Mediziner Gottlieb Storr erkannte vor 130 Jahren seine anatomische Besonderheit und gab ihm den Status einer eigenständigen Raubtiergattung, die er "Procyon" nannte, was so viel heißt wie "Vorhund". Unklar ist, ob Storr mit diesem Namen die Ähnlichkeit mit dem Hund meinte oder das Sternbild "Procyon", was auf die Nachtaktivität des Waschbären hinweisen würde. So ist sein lateinischer Name seit 1870 "Procyon lotor" - waschender Vorhund. Atmo oder Musik Da die Förster am Edersee auch gegen Ende der 30-er Jahre kaum einen Waschbären zu Gesicht bekamen, geriet er langsam in Vergessenheit: 7. O-TonTake: Und dann in den 5, 6, 7 Jahren nach dem Krieg ist es auffällig geworden, weil dann die ersten Schäden hier in den Obstgärten und in der Landwirtschaft eingetreten sind. Und dann hat man halt gemerkt, aha, das muss erfolgreich gewesen sein. SPRECHERIN: Nach ein paar Jahren hatte die hessischen Waschbären - Population bereits mehrere Landkreise besiedelt, und langsam wuchs die Angst vor dem zugewanderten Tier. Förster und Jäger erklärten es zum "unerwünschten Faunenverfälscher", und 1954 gab Hessen es als erstes Bundesland zum Abschuss frei. In den 70-er Jahren ging es erstmalig Tausenden von Waschbären an den Kragen, denn jetzt galten die Tiere als eine Hauptgefahr für die einheimische Artenvielfalt. Der Jäger Hans Kampmann appellierte 1975 an seine Zunft: ZITATOR: Es bleibt die Hoffnung, dass wenn wir alle eifrige Waschbärenjäger werden, wir das Waschbärenproblem doch noch in den Griff bekommen werden. SPRECHERIN: Doch die hessischen Jäger wunderten sich: Obwohl sie immer mehr Kleinbären er- legten, vermehrten sich diese in rasantem Tempo weiter. Zunehmend verloren sie ihre Scheu und rückten in den 80-er und 90-er Jahren in städtisches Gebiet vor - besonders in die Vororte von Kassel in der Nähe des Edersees: In Obstgärten und Mülltonnen fanden sie Nahrung im Überfluss, es gab kaum Futterkonkurrenten und keine natürlichen Feinde. Heute gilt Kassel als Wasch- bärenhauptstadt Europas: Auf jeden Einwohner kommt ein Waschbär. Musik: 8. O-TonTake: (Kassler Bewohner) Die kommen aus dem Wald raus und die laufen hier runter, gehen an die Biotonnen, gucken, was sie finden können. Wir haben schon ein Gummiband über die Biotonne gemacht, aber die sind so clever, die machen das Gummiband ab, Deckel auf, rein.... Frage: Haben Sie sie schon gesehen? Ich habe sie schon gesehen, meistens in den frühen Morgenstunden trauen sie sich da raus. Robert Meyer: Heute Morgen um halb 5, gestern Abend um 19.00 habe ich sie gehört, um 22.00 wieder, Sie werden wahnsinnig, wie sie toben. SPRECHERIN: Robert Meyer konnte es anfangs nicht glauben: Unter seinem Dach haben sich Waschbären einquartiert. Erst in der Nacht werden sie so richtig munter, poltern und scharren, an Schlaf ist nicht zu denken. Herausjagen kann er die Tiere nicht, denn sie hausen in einem niedrigen Zwischenboden, für Menschen unerreichbar. 9. O-TonTake: (Robert Meyer) Dann stellte ich fest, dass sie an der Rückseite des Hauses mir die gesamte Wärme- dämmung herausgerissen hatten, es ist alles demoliert, da ist ein Schaden von mindes- tens 1500, 2000 Euro entstanden. Und das ist praktisch jede Nacht so. Das schabt richtig, ich merke richtig, wie sie sich in die Wärmedämmung reinwühlen und wohl dort ihre Nacht verbringen. Ganz abgesehen davon befürchte ich, dass sie unter dem Dach ihren Urin und ihren Kot absetzen, und das habe ich auch schon an einigen Stellen gerochen. Es ist sehr nervenaufreibend, ich bin jetzt am Ende meiner Nerven. SPRECHERIN: Dann sollte die Stadt helfen, die die Sache an den Förster weiterleitete. Doch der war nicht zuständig und schickte ihn weiter. Schließlich griff er zur Selbstjustiz, baute eine Falle und suchte nach Giften - beides ist laut Naturschutzgesetz verboten. Erfolg hatte er nicht, doch dann hörte er von Frank Becker. Der hatte sich vor einigen Jahren mit seiner Forstfirma "Waschbärenschutz" selbstständig gemacht. Ein Anruf genügte: Frank Becker wusste sofort eine Lösung: 10. O-TonTake: (Frank Becker) Wir spannen hier ein paar Drähte, die unter Spannung stehen, das ist vergleichbar mit einem Elektrozaun von einer Kuhweide oder Pferdeweide. Wenn der Waschbär jetzt hier hochklettert, kriegt er praktisch einen kleinen Stromschlag, da stirbt er nicht von, aber er wird nicht weiterklettern und kommt praktisch nicht aufs Hausdach. SPRECHERIN: Frank Becker hat einen geübten Blick für alles, was ein Haus waschbärenunsicher macht: Efeu, nah stehende Bäume und sogar Stacheldraht dienen als Kletterhilfe. Doch Becker muss immer neue Schutzmaßnahmen finden, denn die Waschbären lernen schnell und entwickeln ihre Kletterfähigkeit rasant weiter: 11. O-TonTake: (Frank Becker) Früher hat es mal gereicht, an nem Fallrohr was zu machen, das ist heute vorbei. Mittlerweile klettern die an den Hausecken hoch, Blitzableiter - das ist schon klasse, was die Jungs können - vom Klettern her. Ich sage immer, jeder Affe ist dagegen ein Krüppel. Die gehen oben im Schornstein rein und klettern da, die stützen sich seitlich ab und gehen da runter bis zur Reinigungsklappe und legen sich da hin und schlafen ganz normal. Das machen sie aber auch mit nem Schornstein, der in Betrieb ist, dann klettert er da vorbei, dann raucht das mal nen bisschen, nichts Unübliches. SPRECHERIN: Ein Waschbär ist etwas größer als ein Fuchs und äußerst beweglich. So ist es für ihn ein Leichtes, durch die Katzenklappe ins Haus zu kommen. 12. O-TonTake: Das ist natürlich dann auch ein Problem für Leute, die diese Freigängerkatzen haben, die nachts rausgehen. Und dann ist es so, wenn die Katzen nur im Flur Zugang haben und da steht das Futter, da fragt sich Frauchen immer: "Donnerwetter, Katze hat aber guten Appetit und wird nicht dicker!" Weil der Waschbär halt das Katzenfutter frisst, ganz klar. SPRECHERIN: Frank Becker kennt auch Fälle, in denen der Waschbär bis in die Küche vordringt: Geschlossene Türen und Schränke sind für seine geschickten Pfoten kein Hindernis: 13. O-TonTake:(Frank Becker) Und dann hat er also auch die Schränke aufgefingert, der fing an mit Nudeln, Reis, bis er dann den Kühlschrank aufgerissen hat und da er Allesfresser ist, holt er sich dann auch alles herbei. Das geht dann über Erdbeeren und Himbeeren usw., die verschmiert er dann in der ganzen Küche, das sieht dann also toll aus. Und wenn man in die Küche reinkommt, verkriecht er sich natürlich erst einmal, und ja, dann kann es auch passieren, dass man hinter den Schrank guckt und man guckt einen Waschbären an. SPRECHERIN: Oft holen die hilflosen Kassler dann die Polizei, doch auch die kann das Tier meist nicht fangen. Und Vorsicht ist geboten, denn der Waschbär verteidigt sich mit scharfen Zähnen, fühlt er sich in die Ecke gedrängt. Frank Becker ist auch Jäger, der einzige, der für die Kassler Innenstadt einen Jagd- schein besitzt. Doch erschießt er einen Waschbären nur im äußersten Notfall. Wie vor einiger Zeit, als ein Tier sich in einem Lebensmittelladen einnistete. Nachts räumte es die Paletten ab, labte sich an frischem Obst und Gemüse und hinterließ dort seine Fäkalspuren. Als es sich auch nach mehreren Tagen nicht fangen ließ, räumte die Polizei den Laden und sperrte ihn ab: Frank Becker musste den unerwünschten Besucher töten. Doch dies war die Ausnahme, denn die Jagd löst das Problem nicht. Ein Team von Wildbiologen fand heraus: Der Überlebenskünstler Waschbär verfügt über Mecha- nismen, mit denen er Verluste in der Population wieder ausgleichen kann: Die Weib- chen, Fähen genannt, werden einfach früher geschlechtsreif: 14. O-TonTake: (Frank Michler) Das heißt, sie können dann schon im ersten Jahr Junge bekommen, im Vergleich zu den Gebieten, in denen die Waschbären völlig in Ruhe gelassen wurden, wo nur 30 Prozent der Jährlingsfähen sich an der Reproduktion beteiligt haben. Das ist immer das, was man berücksichtigen muss, dass das meistens dann kontra- produktiv ist. Weil die großen Probleme sind natürlich die Wurfplätze. Wenn die Tiere 7, 8, 9 Wochen auf dem Dachboden sind, aufgrund ihrer hohen Spielaktivität dann wirklich den Dachboden grundsätzlich verändern können. Es entstehen dann die großen Schäden und je mehr Fähen sich an der Reproduktion beteiligen, sprich, je mehr Wurf- plätze im Siedlungsraum vorhanden sind, desto größer sind die Schäden. SPRECHERIN: Frank Michler gehört zu einem Team von Wildbiologen, die das Verhalten der Waschbären im städtischen Raum von Kassel erforschten. Dabei haben sie alle Möglichkeiten durchdacht, wie man der Waschbärenplage Herr werden könnte: Die Tiere zu fangen und in weit abgelegnen Wäldern auszusetzen, wäre zu teuer, die Kosten überstiegen bei Weitem alle Schäden. Außerdem würden andere Tiere das Terrain in den Gärten übernehmen. Und eine Massentötung wäre mit dem Naturschutzgesetz unvereinbar. So müssen die Kassler mit ihren Waschbären leben - der beste Schutz sei, das Eigenheim waschbärensicher zu machen, meint Michler. Musik SPRECHERIN: Während die wirtschaftlichen Schäden durch die Waschbären offensichtlich sind, war lange umstritten, welche Auswirkungen sie auf die einheimische Natur haben. In den 70- er Jahren vermutete man, sie ernährten sich hauptsächlich von Vogeleiern und Jungvögeln, so dass man einen stummen Frühling heraufbeschwor, in dem es keine Vögel mehr geben würde. Die Berner Konvention bezeichnete den Waschbären 1977 als "invasive" Art und empfahl den europäischen Ländern, ihn auszurotten. Wissenschaftliche Beweise gab es kaum. Atmo Straße: SPRECHERIN: Am Ende des kleinen Dorfes Goldenbaum im Müritz-Nationalpark residiert das "Projekt Waschbär" in einem alten Haus aus Naturstein. Geleitet wird es von den Wildbiologen Berit Köhnemann und Frank Michler, der schon zu den Kasseler Waschbären geforscht hat. Sie wollen herausfinden, wie sich die hohe Waschbärendichte im Müritz- Nationalpark auf den Bestand seltener Tierarten auswirkt. Dazu erforschen sie auch Sozialverhalten, Vermehrung und Nahrungsgewohnheiten der Waschbären und suchen ihre Wurfplätze auf. Oft arbeiten sie nachts, denn erst dann werden die Tiere aktiv. Tagsüber schlafen sie in hohlen Bäumen, auf Astgabeln oder erhöhten Wurzelpulten - "übertagen" nennen es die Biologen. 17. O-TonTake: (Michler) Wir führen regelmäßig große Fangaktionen durch, mittlerweile haben wir unseren 315. Wachbärenfang jetzt gerade letzte Nacht gehabt. Von diesen Tieren wurden über 60 mittlerweile mit Radiohalsbändern markiert, sodass wir also durch die Methode der Telemetrie sehr genaue Aussagen treffen können zum Raumverhalten der Tiere, sprich, was nutzen sie für Schlafplätze, für Wurfplätze, wie groß sind die Streifgebiete der Tiere. SPRECHERIN: Telemetrische Antennen führen die Biologen zu den Waschbären. Ihnen fällt dabei auf, dass diese oft neben Vogelnestern schlafen, ohne die Eier anzurühren: 18. O-TonTake: (Michler) Und gerade, wenn man sich jetzt solche sensible Arten anschaut wie den Kranich, wo auch gerade im ostdeutschen Raum dem Waschbären immer ein großer Einfluss unterstellt wird, dass er zu hohen Erstgelegeverlusten bei den Kranichen führt, da brauchen wir uns nur dieses Gebiet hier anschauen. Wir haben es hier mit einer sehr hohen Kranichbrutdichte zu tun und es sind exakt die Gebiete, in denen auch die Waschbären Tag und Nacht anzutreffen sind. Regelmäßig im Frühling neben den Horsten übertagen die Tiere, sind die gesamte Nacht in der Nähe der Kraniche und die Kraniche kriegen ihre Jungtiere immer erfolgreich groß. 19. O-TonTake: (Köhnemann) Was viele nicht wissen ist, dass der Waschbär ein klassischer Sammler ist und kein Jäger, wie viele annehmen. Er ist auch viel zu plump, dass er irgendwie auf Jagd gehen könnte, er nimmt also immer nur das, was er gut und viel bekommen kann. Deswegen ist jetzt groß auf Eierdiebtour zu gehen viel zu anstrengend, das heißt, er nimmt wirklich die Sachen zur Obstreife oder im Herbst, die Eicheln, das, was halt ganz viel da ist, das nimmt er sich halt. SPRECHERIN: Ende des Jahres werden alle Untersuchungen ausgewertet sein, doch die bisherigen Ergebnisse verfestigen die Annahme: Der Waschbär bedroht die einheimische Ar- tenvielfalt nicht und wird es wohl auch in Zukunft nicht tun - auch wenn er seine Klet- terfähigkeit immer weiterentwickelt: Atmo: Müritz-Nationalpark (im V-Speicher) SPRECHERIN: Die Waschbären im Müritz-Nationalpark sind die zweitgrößte Population in Deutsch- land. Sie stammen nicht von den vermeintlichen "Nazi-Racoons" am Edersee ab, sondern von Zuchttieren einer Pelztierfarm bei Berlin. Lange dachte man, eine Flie- gerbombe habe das Gehege 1945 zerstört, die Waschbären seien ausgebüchst und hätten die umliegenden Wälder besiedelt. Doch vor kurzem tauchte eine Zeitzeugin auf und stellte klar: Der Züchter selbst hat die Tiere damals entlassen, weil es gegen Kriegsende kein Futter mehr für sie gab. Auch im Osten Deutschlands hatten sie keine Schwierigkeiten, sich den neuen Lebensverhältnissen anzupassen. Damit ist widerlegt, dass die hessischen Waschbären "Adam und Eva" der europäi- schen Population sind, wie gerne behauptet wird. Forstamtsleiter Eberhard Leicht: 21. O-TonTake: (Leicht) Es sind Waschbären überall ausgebrochen oder auch freigelassen worden, es gab auch schon in den dreißiger Jahren Berichte, dass in der Eifel Waschbären freigesetzt worden seien und wir können ganz fest davon ausgehen, dass auch diese Tiere immer wieder ergänzt worden sind durch andere Tiere, deren sich andere Leute entledigen wollten. Da ist einiges zusammengekommen. SPRECHERIN: Auch stammen nicht alle Waschbären, die heute Europa besiedeln, aus Deutschland: In den 60-er Jahren nahmen amerikanische Soldaten einige Tiere aus ihrer Heimat mit auf einen Nato-Stützpunkt in Frankreich und hielten sie dort als Maskottchen. Als die GIs plötzlich nach Vietnam beordert wurden, entließen sie die Waschbären in die französischen Wälder, wo sie sich fleißig vermehrten. Obwohl all dies schon lange bekannt ist, schrieben die Journalisten munter weiter über die "Nazi-Waschbären", die andere Länder bedrohten. Doch Eberhard Leicht war es leid, dass sein Forstamt immer wieder mit Göring und den Nationalsozialisten in Verbindung gebracht wurde: Er schrieb an die deutsche Presseagentur und klärte den Sachverhalt auf. Diese Meldung fand am 19. April vorigen Jahres ihren Weg in das ARD-Kultur-Magazin "Titel, Thesen, Temperamente": 22. O-Ton: (Titel, Thesen, Temperamente vom 19.4.2009) Wo bleibt eigentlich das Positive? Hier kommt's: Seit ein paar Tagen gibt es eine Million Nazis weniger auf dieser Welt. Möglich wurde das durch einen längst überfälligen Schritt, eine Korrektur, kurz gesagt: Durch die Entnazifizierung der Waschbären. Sie wissen schon, die Typen mit der Panzerknackerbrille auf Ihren Dachböden. Aus alten Forstakten geht hervor: Waschbären sind keine Nazis, Göring hatte mit ihrer Aussetzung nichts zu tun. 1