COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : LITERATUR Titel der Sendung: Chiles traumatische Landschaften. Drei Schriftsteller-Lebensläufe Autor: Peter B.Schumann Redakteurin: Barbara Wahlster Sendetermin: 19.6.2012 Regie : Beate Ziegs Besetzung: Autor, Sprecher 1 (Fontaine), Sprecher 2 (Zurita), Sprecher 3 (Sepúlveda) Take 1 Hymne Autor: Tausend Kadetten in weißen Uniformjacken singen die chilenische Nationalhymne im Auditorium der Militärakademie - Auftakt zu einer Dichterlesung. Im September 1973 hatte General Pinochet von hier aus seine Machtergreifung verkündet. 32 Jahre später sitzen auf der Bühne namhafte Poeten: Chilenen, die von Militärs während der Diktatur verfolgt und gefoltert wurden. Einer von ihnen ist Raúl Zurita. Er liest das Gedicht Lied an seine verschwundene Liebe. Take 2 Zurita Sprecher 2: - Mein Gesicht tropfte, als die Herren mit mir gingen. - Doch ich traf niemanden, zu dem ich hätte "Guten Tag" sagen können, - nur ein paar Hexer mit Mausergewehren; sie verlangten von mir eine sehr blutige ... - Ich sagte: "Ihr spinnt doch". Sie erwiderten: "Glaub das bloß nicht". - Man sah nur Kreuze und die von irgendwas bedeckten alten Hallen. - Mit einem Bajonett hackten sie mir in die Schulter und ich spürte meinen Arm - ins Gras fallen. - Und dann schlugen sie mit ihm auf meine Freunde ein. - Sie hörten nicht auf, und als sie auf meine Eltern einschlugen, - rannte ich zur Latrine, um mich zu übergeben. (Raúl Zurita: Lied an seine verschwundene Liebe. Übersetzt von Timo Berger, Berlin 2011) Autor: Ein gespenstischer Akt. Zum ersten Mal haben es die Militärs gestattet, dass in dieser erlauchten Szenerie von ihren Verbrechen während der Gewaltherrschaft gesprochen wird, wenn auch in poetischer Form. Sie hoffen auf Versöhnung mit der Bevölkerung. Unter den Kadetten sitzen zwei weitere Schriftsteller: Arturo Fontaine und Luis Sepúlveda. Fontaine war als Student gegen das sozialistische Experiment von Salvador Allende und hat später in seinen Romanen die erste kritische Innensicht der erzkonservativen Gesellschaftsschicht geliefert, aus der er stammt. Sepúlveda war das jüngste Mitglied in der Leibgarde Allendes, wurde nach dem Putsch zu 28 Jahren Gefängnis verurteilt und durch internationalen Druck vorzeitig ins Ausland abgeschoben. Er gehört zu einer Exilgeneration, die nicht wieder in Chile heimisch wurde: ein Thema in seinen Erzählungen und Romanen, besonders in seinem jüngst auf deutsch publizierten Buch Die Schatten dessen, was wir waren. Take 3 Sepúlveda Sprecher 3: Ich wollte über die Rückkehr von Personen sprechen, die Anfang der 70er Jahre nicht wie ich an vorderster Front in der von Salvador Allende angeführten politischen Entwicklung standen: von normalen Menschen, die emigrieren mussten. Eines Tages kamen sie in ein derart verändertes Land zurück, dass ihr eigentliches Exil erst jetzt begann. Autor: Auch Luis Sepúlveda fand sich in Chile nicht mehr zurecht. Er war zu einem unsteten Wanderer geworden, seit er 1977 nach jahrelanger Haft der Diktatur entfliehen konnte. Zunächst begann für ihn eine Odyssee durch Lateinamerika. Dann erhielt er 1980 politisches Asyl in Hamburg. Mit der deutschen Sprache hatte er sich im Gefängnis vertraut gemacht. Take 4 Sepúlveda Sprecher 3: Ich habe stets an einem Prinzip festgehalten, und das gilt auch heute noch: Mein Brot verdiene ich mit meiner Hände Arbeit. Und ich habe alles angenommen, was sich mir geboten hat. Zuerst habe ich in Hamburg als Spanisch-Lehrer an einer Volkshochschule gearbeitet. Weil ich dabei nicht viel verdiente, bin ich immer wieder aufs Arbeitsamt gegangen. Eines Tages fragte mich dort eine sympathische Frau, ob ich einen Führerschein für Kleinlastwagen besäße. Den hatte ich zwar, war aber noch nie mit so etwas gefahren. Und nun sollte ich einen Laster im Konvoi mit 32 Fahrzeugen von Hamburg nach Istanbul überführen. Das war eine wunderbare Reise, an der Deutsche, Chilenen, Polen, Russen teilnahmen. Vielleicht war es sogar der multikulturellste Konvoi, der jemals Europa durchquert hat. Autor: In Hamburg begann Luis Sepúlveda zu schreiben: phantastische Erzählungen, Kindergeschichten, Reiseberichte und Krimis. Doch immer wieder trieb es ihn in die Welt, bis zum Amazonas, wo er seine lateinamerikanische Identität fand. Heute lebt der inzwischen 63-jährige in Gijón, an der spanischen Nordküste, aber die chilenische Vergangenheit beschäftigt ihn nach wie vor, beispielsweise in dem Roman Die Schatten dessen, was wir waren von 2009. Sprecher 3: Die junge Garde waren sie nicht mehr. Die Jugend war an Hunderten von Orten auf der Strecke geblieben, unter den Elektroschocks der Verhöre verendet, in geheimen Massengräbern verscharrt, die allmählich wieder auftauchten, in langen Gefängnisjahren, in fremden Zimmern noch fremderer Länder, nach mehr als nur einer homerischen Heimkehr nach nirgendwo. Geblieben waren die Kampflieder, die keiner mehr sang, weil die Herren des heutigen Chile beschlossen hatten, dass es junge Leute wie die Brüder Arancibia nie gegeben hatte, das Lied von der jungen Garde nie gesungen worden war und die Genossinnen nie den Geschmack der Zukunft auf den Lippen gehabt hatten. Aus dem Exil kommt man nicht zurück. Jeder Versuch ist eine Täuschung und absurd das Vorhaben, ein Land der Erinnerung bewohnen zu wollen. Alles ist wunderschön in einem solchen Land, es gibt keine Unannehmlichkeiten, die Erde bebt nicht, und sogar der Regen ist lieblich. Nimmerland von Peter Pan ist das Land der Erinnerung. (Luis Sepúlveda: Der Schatten dessen, was wir waren. Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen. Rotpunktverlag Zürich 2011. S. 31 f.) Autor: Jahrzehnte nach dem Putsch sind drei ehemalige Kampfgenossen aus dem Exil nach Chile zurückgekehrt. Ausgebrannt und desillusioniert treffen sie auf ein Land, das sie nicht wiedererkennen oder anders gesagt: das sich zur Kenntlichkeit verändert und eine von Diktatur und Neoliberalismus deformierte Gesellschaft hervorgebracht hat. Im Exil waren sie irgendwie heimisch geworden. Das neue Chile wirkt dagegen auf sie so befremdlich wie die erste Zeit in der Emigration. Sie sind zurückgekehrt und doch nicht angekommen. Diesen Stoff hat Luis Sepúlveda in die Form eines Kriminalromans verpackt. Take 5 Sepúlveda Sprecher 3: Das schien mir die beste Art, meine Geschichten zu erzählen: mit den Mitteln des ,schwarzen lateinamerikanischen Romans'. Er ist eine Synthese verschiedener Gattungen: des Reisetagebuchs, des klassischen Krimis, der traditionellen dramatischen Romanstruktur eines Balzac. Autor: Die drei Typen warten auf einen vierten, denn der kennt den Ort, wo eine Gruppe von Anarchisten einst die Beute eines legendären Bankraubs versteckte. Doch der Mitwisser wird durch einen Ehestreit verhindert, bei dem die Fetzen fliegen: ein Plattenspieler kracht durchs Fenster und erschlägt einen Passanten auf der Straße. Bei dieser Leiche macht der Kriminalinspektor den entscheidenden Fund. Auch er ist kein Mann dieses neuen Chile, eher ein Gleichgesinnter der Außenseiter. Er findet in dem Versteck, zu dem sie schließlich doch gelangen, Belege, mit denen er die Korruption der Militärs während der Diktatur aufdecken kann. Dieser Plot voll komischer Wendungen dient Luis Sepúlveda dazu, den äußeren Spannungsbogen zu schaffen. Die innere Dramatik entsteht durch die Reaktionen und Erinnerungen der Hauptfiguren. Sprecher 3: Ich konstruierte ein paar Wurfmaschinen, die Harpunen mit einem daran befestigten Seil und mehreren Metern Kette hochschleudern konnten. Ich habe mir vor Lachen beinahe in die Hose gemacht, vor Freude geweint, gesungen und getanzt, als die Jungs von der Patriotischen Front Manuel Rodríguez zum ersten Mal halb Santiago das Licht ausknipsten. Meine Harpunen flogen über die Hochspannungsleitungen, und wenn die Eisenketten sich über die Kabel legten, kam es zu monumentalen Kurzschlüssen. Und die Jungs, die das bewerkstelligten, waren von der Kommunistischen Jugend, waren Kinder der Toten, der Exilierten, der Verarschten, wie ich einer war. "Scheiße, Cacho, ich hab dir doch gesagt, du sollst mir eine Backpfeife geben, wenn ich zu viel quatsche", sagte Arancibia. Die vier Männer schauten sich an. Dicker und älter geworden, kahlköpfig und graubärtig, warfen sie immer noch die Schatten dessen, was sie einmal gewesen waren. (Luis Sepúlveda: Der Schatten dessen, was wir waren. Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen. Rotpunktverlag Zürich 2011. S. 125 f.) Autor: Auf einen Tag hat Luis Sepúlveda die Handlung konzentriert. In dieser Zeit erfahren die Akteure, dass sie "zum Inventar der Verluste" gehören, "aus dem eine künstliche Normalität entstanden war" - wie er schreibt, "die Normalität zweier absolut gegensätzlicher Länder", des superreichen und des verarmten Chile. Es ist das Gegenteil des demokratischen Sozialismus, für den sie Anfang der 70er Jahre gekämpft hatten. Es war zwar "die beste Zeit ihres Lebens", aber sie glorifizieren sie nicht. Luis Sepúlveda, damals selbst Aktivist, lässt sie auch von ihren Fehlern sprechen und von den Untaten der extremen Linken. Es ist ein aufrichtiges Buch der Desillusionierung vieler Chilenen. Take 6 Sepúlveda Sprecher 3: Meine Gestalten haben zwar allen Grund, enttäuscht zu sein, aber sie besitzen auch eine innere Kraft, die sie antreibt, eine Bestimmung, die stärker ist als jede Enttäuschung. Deshalb dreht sich mein Roman letztlich um die Frage: Machst du weiter, oder gibst du auf? Und die Antwort ist eindeutig: Es war wichtig, was wir getan haben, und es lohnt sich, es erneut zu versuchen. Musikintervall Autor: Luis Sepúlveda kämpfte bedingungslos für das sozialistische Experiment von Präsident Allende. Der gleichaltrige Arturo Fontaine lehnte es ebenso bedingungslos ab. Take 7 Fontaine Sprecher 1: Ich habe damals geglaubt, das Ende der Demokratie sei angebrochen. Und ich fragte mich, ob wir nun eine Diktatur im Stil Castros oder der Militärs zu erwarten hätten. Keine der beiden Möglichkeiten gefiel mir, denn ich fühlte mich damals als Liberaler. Ich habe Pinochets Putsch gegen die Regierung Allende nicht unterstützt, aber er schien mir unvermeidlich, weil - wie ich glaubte - inzwischen der demokratische Weg leider verschlossen war. Ich konnte allerdings nicht absehen, dass dann eine so lange, blutige und in der Anwendung von Gewalt so irrationale Militärdiktatur folgen würde. Autor: Arturo Fontaine war tief verwurzelt in seiner rechtskonservativen Oberschicht-Familie. Seine Mutter verlor ihren Landbesitz durch die Enteignungen der Regierung Allende. Sein Vater war Direktor des Mercurio, des Zentralorgans der chilenischen Rechten. Der jungen Fontaine wurde kurz nach dem Putsch Studentenrats-Präsident an der Katholischen Universität und war deshalb einige Monate lang sogar Mitglied in Pinochets sog. Staatsrat. Aber er spürte den Zwiespalt, trat nach einigen Monaten zurück und ging mit einem Philosophie- Stipendium in die USA. Take 8 Fontaine Sprecher 1: Ich wollte weg, denn ich fühlte, dass ich der Erfahrung, die Chile durchlebte, nicht gewachsen war, dieser so schwer verständlichen Gewalt. Ich brauchte Abstand. Ich wollte auch darüber schreiben und hoffte, dass es mir durch Distanz leichter fiele, aber es war schwerer, als ich dachte. Ich konnte einfach nicht glauben, was da vor sich ging. Doch ich bin froh, weggegangen zu sein, denn sonst hätte ich diese Welt nicht so von außen und von innen sehen können, wie ich sie in meinen Arbeiten zeige. Autor: In zwei Romanen - Ihre Stimme hören von 1992 und Als wir unsterblich waren von 1998 - erzählt er von den Profiteuren der Diktatur: Unternehmern und Militärs. Es sind die ersten Innensichten der neoliberalen Machtelite. Sprecher 1: Ob mich die Chose der Vergewaltigung der Menschenrechte irgendwie beschäftigt? Aliro Toro hat mir mal gesagt: "Hier bezahlen wir dich, damit du mit deinen Neuronen denkst und nicht mit deinen Tränendrüsen." Damit war die Sache für immer erledigt, und ich habe niemals Probleme gehabt, habe es sogar verstanden, ihre Achtung zu gewinnen. Toro hat einen starken Charakter, und er liebt die Macht. Er weiß aber auch, Führungsfähigkeiten zu schätzen, die wir hier in der Gruppe weiterentwickeln. Früher waren die großen Führer der Welt Generäle und Politiker. Heute sind es Unternehmer wie Toro. Er ist nicht nur der reichste Mann Chiles, sondern auch die stärkste politische Kraft. Das sog. 'Wirtschaftswunder' trägt für immer die Unterschrift 'Aliro Toro'. Und das war grausam genug. Selbst wenn das Regime eine andere Richtung eingeschlagen hätte, dann hätte er sich problemlos damit arrangiert, um seine Macht zu erhalten. (Arturo Fontaine: Oír su voz. Planeta-Biblioteca del Sur, Santiago de Chile 1992. Übersetzt von Peter B. Schumann, Berlin 2010) Autor: Als Arturo Fontaine 1992 seinen Roman Ihre Stimme hören publizierte, hatte Chile bereits wieder zur Demokratie zurückgefunden. Und Fontaine war Direktor des CEP geworden, des Zentrums für öffentliche Studien, einem soziologischen Forschungsinstitut der Unternehmer. Die weniger konservative Rechte unterstützte den politischen Wandel, denn sie war überzeugt, dass ein demokratisches Chile ihren Geschäften nur förderlich sein konnte. Und da machte sich ein brillanter Liberaler an der Spitze einer solchen Einrichtung sehr gut. Arturo Fontaine ließ sich aber dadurch als Schriftsteller nicht verbiegen. Take 9 Fontaine Sprecher 1: Meine beiden ersten Romane sind tief in der 'Vergangenheit, die peinigt' - wie wir sagen - verankert. Sie peinigt mich, sie peinigt meine ganze Generation und selbst die jungen Leute von heute. Deshalb wollte ich diese Wirklichkeit erforschen, die ich erlebt hatte, um zu zeigen, wozu menschliche Wesen in der Lage sind. Was z.B. ein Unternehmer fühlt, der weiß, dass Menschen gefoltert werden und sterben, während er seinen Geschäfte mit dieser Regierung treibt. Die Beziehung zwischen der Macht des Geldes und der Macht des Militärs hat mich sehr interessiert. Autor: 1998 publizierte Arturo Fontaine seine zweite literarische Annäherung an die Vergangenheit: Als wir unsterblich waren. Darin geht es um die Vorgeschichte, um das Chile der 50er und 60er Jahre, als das kleine Andenland aus seinem Dämmerzustand aufzuwachen begann. Der heranwachsende Emilio beobachtet, wie sich seine Familie allmählich von innen her auflöst. Sein Vater ist ein Repräsentant jener chilenischen Rechten, die nur ein einziges politisches Konzept kannte: die Verteidigung des Besitzes. Nun muss der Sohn zusehen, wie die Welt der Eltern zusammenbricht. Er wird auf eine von Priestern geleitete Erziehungsanstalt geschickt, wie sie auch der junge Fontaine erlebt hat. Dort bläut man ihm jene konservativen, katholischen Werte ein, die bis heute in der Oberschicht Chiles gelten. Diese ideologische Dimension macht der Autor u.a. an der Figur eines Paters und seiner Auffassung von Kunstgeschichte deutlich. Sprecher 1: Woran fehlt es Goya? Denn technisch sind sie selbstverständlich gleichwertig: Goya, Velázquez und Rembrandt. Und trotzdem überragt Velázquez sie als Maler alle. Was ist überhaupt mit dem Bourgeois Rembrandt los? Wieso ist er minderwertiger? Seine Gestalten - versteht ihr - vermitteln etwas Plebejisches, während selbst die zwergwüchsigen Hofnarren von Velázquez eine unleugbare Würde besitzen. Und diese unleugbare Würde entstammt seiner Seele, die in sich den Samen der Auferstehung trägt. Die Protestanten - sagt, was ihr wollt - können damit nichts anfangen, denn sie wissen nicht, wie sie mit der Schuld fertig werden sollen. Und Goya? Nun, seine Personen sind verdammt! Für sie gibt es keine Rettung. Darin unterscheidet sich die Malerei eines Velázquez völlig vom Weg, den die moderne, Ressentiment geladene Kunst eingeschlagen hat. Sie ist eine Religion ohne Moral. Das Auge von Velázquez ist jedoch von katholischer Liebe durchtränkt, d.h. von der Gnade, der ersten und wichtigsten der drei theologischen Tugenden. (Arturo Fontaine: Cuando éramos inmortales. Alfaguara/Aguilar Chilena, Santiago de Chile 1998. Übersetzt von Peter B. Schumann, Berlin 2010) Musikintervall Sprecher 2: Aneinander gekauert auf dem Boden des Schiffes glaubte ich plötzlich, der Sturm, die Nacht und ich seien nur ein einziges und wir würden überleben weil das gesamte Universum überlebt Es war nur ein Augenblick, denn gleich darauf tobte wieder der Sturm in meinem Kopf und es wuchs die Furcht bis aus der anderen Welt man die Seele mir entführte Es war nur ein merkwürdiger Augenblick, aber bei meinem Leben: Nie werde ich ihn vergessen! (Raúl Zurita: Vorhimmel. Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen. Verlag Das Andere, Nürnberg 1993) Autor: Bis heute verfolgt Raúl Zurita jener "merkwürdige Augenblick", als er in den frühen Morgenstunden des 11. September 1973 verhaftet und zusammen mit Tausend anderen Chilenen im Laderaum eines Frachters im Hafen von Valparaíso zusammengepfercht wurde. Sein Verbrechen: Mitgliedschaft in der Kommunistischen Jugend. Nach 40 Tagen wurde er aus dieser Hölle entlassen. Er entschied sich, in Chile zu bleiben, denn er war verheiratet und hatte zwei Kinder. Take 10 Zurita Sprecher 2: Ich habe damals die unsäglichsten Tätigkeiten ausgeübt. Ich wurde beispielsweise zum professionellen Bücherdieb, nicht weil ich sie lesen, sondern verkaufen wollte, um uns zu ernähren. Es gab für Leute wie mich keine Arbeit. Ich habe keine Belletristik geklaut, die interessierte niemanden, sondern Fachliteratur über Medizin und Architektur. 1979 erschien mein erster Gedichtband Purgatorio, ich sah ihn im Schaufenster liegen, hätte ihn mir aber nicht kaufen können. Es waren extrem harte Jahre, doch nicht nur wegen der Angst und dem Terror, sondern auch wegen dieser Armut. Autor: Raúl Zurita wehrte sich dagegen und gründete zusammen mit Gleichgesinnten das Künstlerkollektiv CADA, das rasch durch spektakuläre Straßenaktionen bekannt wurde. Mit einem Trick beschafften sie sich 10 Lastwagen einer Milchfabrik, fuhren damit langsam durch die Straßen Santiagos und erzeugten so das beängstigende Geräusch einer Militärkolonne. Später verteilten sie Beutel mit Milchpulver in den Armenvierteln: das Pinochet-Regime hatte das Sozialprogramm Allendes beseitigt, das jedem Kind einen Liter Milch pro Tag garantierte. Raúl Zurita ging als einziger noch radikaler vor und setzte seinen eigenen Körper als Mittel des Protestes ein: verbrannte eine Wange mit einem Bügeleisen und versuchte, sich Ammoniak in die Augen zu träufeln. Sprecher 2: Mit der Säure verschloss ich mich dem Anblick des blauen Himmels von diesem neuen Land, ja klar: dem Ruhme dessen, der alles bewegt Und so, geblendet von der ganzen Lauge, da diesen Schwefel ich ins Augenlicht mir geschüttet; so wollte ich das Paradies beginnen. (Raúl Zurita: Vorhimmel. Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen. Verlag Das Andere, Nürnberg 1993) Autor: Anteparaíso/ Vorhimmel hat Raúl Zurita seinen 2. Gedichtband von 1982 genannt. Darin schildert er u.a. solche "Überlebensaktionen" - wie er sie nennt. Mit ihnen drückt er die Verzweiflung angesichts des Ausmaßes an Gewalt aus und auch seine eigene existentielle Krise sowie deren künstlerische Folgen. Take 11 Zurita Sprecher 2: Diesen Bankrott, diesen großen Bruch allmählich zu akzeptieren, das bedeutete für mich, wieder neu sprechen zu lernen. Keine der bekannten literarischen Ausdrucksformen schien mir geeignet, das Geschehen darzustellen, weder die Sprachkunst Pablo Nerudas noch die umgangssprachlichen Formen Nicanor Parras. Ich musste buchstäblich wieder sprechen lernen. Ich wollte ein Werk schaffen, das von totaler Zerstörung und Verzweiflung ausgeht und eines Tages mit einem Schimmer von Glückseligkeit endet. Aber den sehe ich noch immer nicht. Autor: Für Raúl Zurita gibt es ebenso wenig Grenzen wie für das Leid, das er beschreibt. 1982 ließ er Verse aus Anteparaíso von Flugzeugen in den New Yorker Himmel schreiben. Seine Poesie brach aus dem literarischen Raum aus und kehrte transformiert als Foto in einer späteren Ausgabe des Bands wieder zurück. 1993 gelang es ihm in der Demokratie, den kilometerlangen Schriftzug "Weder Leid noch Angst" ins Felsgestein der Atacama- Wüste fräsen zu lassen. Er ist nur vom Flugzeug aus zu sehen. Take 12 Zurita Sprecher 2: Diese Interventionen sind so etwas wie der letzte Widerstand des Realen gegenüber dem Virtuellen. Sie sind Realität: Das hier ist das Dokument. Sie sind nicht am Computer in wenigen Minuten hergestellt worden. Der Vers "Weder Leid noch Angst" steht am Ende von Das neue Leben, dem 3. Band der Trilogie. Ich habe ihn mir lange vor dem Erscheinen ausgedacht, als ich auch die am Himmel geschriebenen Verse formulierte. Ich wollte etwas schaffen, das man nur nach oben blickend oder nur von oben aus lesen konnte, in einer Zeit voller Leid und voller Angst. Autor: Das poetische Werk Zuritas ist einzigartig in der chilenischen Literatur: einzig in seiner obsessiven Auseinandersetzung mit dem kollektiven Trauma der Diktatur und auch einzig in der metaphorischen Einbeziehung der chilenischen Landschaft. Pablo Neruda hat sie als großartigen Naturraum beschworen, bei Raúl Zurita ist sie von den Spuren der Gewaltherrschaft durchzogen: eine Grabstätte unzähliger Verschwundener. Sprecher 2: Es erleidet Schiffbruch, es sinkt. Das rostige Schiff sinkt und die Wüste schließt sich über ihm, deckt es zu. Sie schließt sich und Chile sinkt, das tote Kranzgesims des Pazifiks sinkt, der tote Bug der Landschaften sinkt, während die Steine schreiend auf sie fallen, dass nichts lebendig bleibt, das jetzt nicht mehr lebt, dass wenn einer für alle gestorben ist, das bedeutet, dass alle tot sind. Die toten Sandgruben schließen sich, die Grabstätte der toten Landschaften schließt sich. Die ausgedörrten Wellen schließen sich. Mireya sagt, dass es ein Schiff in einem Sandsturm von Toten gibt. Dass es da ist, dass es einmal ein Land gab, aber dass jetzt nur ein Schiff ist eingemauert unter dem toten Meer seiner Landschaften. Sie sagt, dass wenn einer für alle starb alle toten Meere eins sind, die toten Küsten eine sind, die flehenden Steine eins sind und dass die Ruhe der Fels ist der die Gruft der Landschaften einmauerte. Sie sagt, dass einer für alle starb und dass deshalb sogar die Steine der Körper sind, der schreit, während sich die toten Ebenen in Chile einnageln. (Raúl Zurita: Es erleidet Schiffbruch. Übersetzung: Eugen Gomringer, Berlin 2011) Autor: Zurita heißt schlicht sein jüngster und mit 750 Seiten umfangreichster Beitrag der poetischen Aufarbeitung des Schreckens. Er hat ihn 2002 während eines Aufenthaltes als Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD begonnen und nahezu ein Jahrzehnt daran gearbeitet. Damit schließt sich für ihn der Zyklus, an dessen Anfang Purgatorio und Anteparaíso stehen: ein unübersehbarer Verweis auf Dantes Göttliche Komödie, der für ihn wegweisenden Lektüre. Wieder umkreist er den 11. September 1973, das Schicksalsdatum des Andenlandes und seines Lebens. Die Wüste von Atacama wird zum Symbol für das Verhängnis Chiles. Sprecher 2: Ein Meer von Toten versinkt zwischen den Steinen. Die helle Sonne erleuchtet eine Nacht, die auf die Gruft der Wüste herabsteigt. Hier ist der Fleck wie ein Grab. Das Schiff steigt herab, die toten Landschaften steigen herab, während sich die gepflasterten Wellen schließen, sie oben einmauern. Hier ist die Nacht inmitten des Tages, hier sind die Steine, die schreien. Hier ist der Dunst der Wüstennacht, der am hellichten Tag sinkt. Das toten Schiff sinkt unter dem Dunst von den Steinen und diese kreischen. Chile erleidet Schiffbruch und das ausgedörrte Meer schließt sich und deckt es zu, die Wellen aus Steinen schließen sich und schreien. Die Nacht, rostig und schwarz, sinkt schreiend in der Wüste. Ein Schiff von Vermissten sinkt und die toten Felsen schießen sich kreischend darüber. Mireya hält sich die Ohren zu und legt Blumen aus Plastik vor das Grab der toten Küsten, der toten Nacht, ihrer vermissten Kinder, gestorben in den Ozeanen aus Stein der Wüste von Atacama. (Raúl Zurita: Ein Meer von Toten. Übersetzung: Eugen Gomringer, Berlin 2011) Autor: Zurita, der Band seiner letzten Prosagedichte, ist ein erneuter Abgesang auf den Traum von der Veränderung seines Landes, ein umfassender und trostloser Blick dieses singulären Dichters auf die Vergangenheit. Take 13 Zurita Sprecher 2: Ich habe Zeiten schrecklicher Angst erlebt, Angst davor, nicht weiterarbeiten zu können, mein Limit erreicht zu haben, vor einer Mauer zu stehen und sie nicht überwinden zu können. Und diese Angst wollte lange nicht aufhören. Doch jetzt, da ich dieses letzte Buch vollendet habe, empfinde ich einen enormen Frieden. Ich habe seither nichts mehr geschrieben, abgesehen von einigen Artikeln. Und ich weiß nicht, ob ich zum Schreiben zurückfinden werde, denn was ich tun musste, habe ich getan. 1