KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : LITERATUR 19.30 Titel der Sendung: Leichter als Luft Das flüchtige Element in der Poesie Von Autor : Carola Wiemers Redaktion: : Sigried Wesener Sendetermin : 19.09.2014 Besetzung : Erzählerin : Sprecher o.Ton/ Musik Regie : Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Autorin: Carola Wiemers Sendung: Literatur Sendedatum: 19.9.2014 Leichter als Luft Das flüchtige Element in der Poesie Redakteurin: Sigried Wesener Erzählerin: Sprecher: (1) Musik: H. W. Henze "An Eine Äolsharfe I. Sehr ruhig. Wie ein Lied". Musik für konzertierende Gitarre & 15 Soloinstrumente nach Gedichten von Eduard Mörike (2) Inger Christensen: "alphabet", CD 1, Track 16 0:00-1:15 "das leben, die luft die wir einatmen gibt es eine leichtigkeit in allem, eine gleichheit in allem eine gleichung, eine offen bewegliche aussage in allem, und während baum um baum hinaufbraust in den frühen sommer, eine leidenschaft, leidenschaft in allem, als gäbe es für das spiel der luft mit dem fallenden manna eine einfache modellzeichnung, einfach wie wenn das glück massenhaft nahrung hat und das unglück keine, einfach wie wenn die sehnsucht massenhaft wege hat und das leiden keine, einfach wie der heilige lotus einfach ist weil man ihn essen kann, eine zeichnung so einfach wie wenn das lachen dein gesicht in luft zeichnet" (3) Musik: H.W. Henze "An Eine Äolsharfe I. Sehr ruhig. Wie ein Lied". Musik für konzertierende Gitarre & 15 Soloinstrumente nach Gedichten von Eduard Mörike Musik als Atmo dem Text unterlegen Erzählerin Die Luft ist ein unsichtbares, aber allseits spürbares Element. Flüchtig und im doppelten Sinn un-fassbar ist es wie die komplementären Elemente Wasser, Feuer, Erde stets in Bewegung. Die Metamorphosen verlaufen mit brachialer Gewalt oder sind kaum wahrnehmbar. Für den Menschen wird das enorme Potential der Luft im täglichen Wetterverlauf sichtbar, wo es mal nützlich-reproduzierende, dann chaotisch-vernichtende Kräfte entfaltet. Beim Ein- und Ausatmen nehmen wir an diesem Geschehen unmittelbar teil. Sich ihm zu entziehen, bedeutet den Tod. Musik: Abbruch (4) Sprecher (Johann Wolfgang Goethe) "Im Atemholen sind zweierlei Gnaden: die Luft einziehen, sich ihrer entladen. Jenes bedrängt, dieses erfrischt: so wunderbar ist das Leben gemischt. Du danke Gott, wenn er dich presst, und dank' ihm, wenn er dich wieder entlässt." Erzählerin In Begriffen wie Lebenshauch, Atemseele, Luftgeist spiegelt sich das Seelenartige des Elements. Ein ewiges Rätsel aber bleibt, wie die Luft - dieses Gasgemisch der Erdatmosphäre - Leib und Seele konstituiert und zugleich als Pneuma den Kosmos belebt und bedroht. (5) Sprecher (Platon) "Indem also nun als Mitte zwischen Feuer und Erde der Gott das Wasser und die Luft setzte und sie zueinander, soweit es möglich war, in gleichem Verhältnis ausarbeitete, - nämlich wie Feuer zu Luft, genau so Luft zu Wasser, und wie Luft zu Wasser, so Wasser zu Erde - verband und komponierte er den sichtbaren und betastbaren Himmel. Und deswegen entstand aus eben diesen, derartigen und der Zahl nach vieren der Leib der Welt als durch Entsprechung Übereinstimmendes." Erzählerin Das Bild vom "Leib der Welt" verbindet Platon in seinem "Timaios"-Dialog - datiert um 360 v. Chr. - mit der Lehre von den vier Elementen. Platon bezieht sich auf den griechischen Philosophen Empedokles, der bereits im 5. Jahrhundert vor Chr. von den vier "Wurzelkräften" der Schöpfung spricht. Ein Gedanke, der später in die Vier- Säfte-Lehre und in die Heilkunde Hildegard von Bingens einmündet. Als eines der ältesten Denkmodelle ist diese Lehre Teil der Kulturgeschichte. (6) Sprecher (Hildegard von Bingen) "Wie die Elemente die Welt zusammenhalten, so bilden sie auch die Verbindung des Menschenkörpers, und ihre ausströmenden Wirkungen vertheilen sich in dem Menschen, dass er durch sie gefestigt wird, wie sie in der ganzen Welt ihre Wirkung ausüben. Feuer, Luft, Wasser, Erde sind im Menschen, aus ihnen besteht er. [...] Wenn der Mensch nicht ein- und ausathmete, würde er den Körper nicht bewegen können, und sein Blut würde nicht fließen, wie ja auch Wasser ohne Luftbewegung nicht fließt." Erzählerin Ungefähr 23.000 Mal atmet der Mensch täglich und er bewegt dabei annähernd 12 1/2 Kubikmeter Luftmasse. Damit er atmen kann, muss die Luft mit Sauerstoff angereichert sein. Wird sie knapp oder versagt das Zwerchfell - der wichtigste Atemmuskel -, kommt Todesangst auf. Dabei wird die Luft von den Menschen erst spät als Element wahrgenommen. Der griechische Philosoph Anaximenes erklärt es im 5. Jahrhundert v. Chr. erstmals zur fundamentalen Substanz. Er sieht in ihr ein alles belebendes Prinzip und verweist auf die ständige Veränderbarkeit des Urstoffes. 1969 hat der irische Dramatiker Samuel Beckett die scheinbar simple Tatsache in seinem Einakter "Atem" in radikalster Form inszeniert. Becketts Szene dauert 35 Sekunden - und sie erfüllt absurderweise die aristotelischen Regeln des Theaters. Das Leben vollzieht sich in minimalistischster Form, aber als Handlung zwischen Ein- und Ausatmen und zwei Schreien - zwischen Geburt und Tod. (9) Musik: Henze "An Eine Äolsharfe I. Sehr ruhig. Wie ein Lied". Musik für konzertierende Gitarre & 15 Soloinstrumente nach Gedichten von Eduard Mörike Erzählerin Seitdem Otto von Guericke im 17. Jahrhundert mit dem Experiment der "Magdeburger Halbkugeln" nicht nur den Luftdruck, sondern auch die Abwesenheit von Luft - das Vakuum - nachwies und der Naturforscher Robert Boyles zeitgleich das erste Gasgesetz erkannte, ist das Element immer mehr zu einem lukrativen Forschungsterrain geworden. Ihr elementarer wie metamorpher Charakter wurde vor allem in der Literatur und Musik bewahrt. Denn der Kehlkopf, die menschliche Klangquelle, benötigt Luft, um den Buchstabenkörper aus seiner unbewegten Stummheit zu befreien. Bereits 1621 vergleicht der Mystiker Jakob Böhme in "De signatura rerum" den Menschen mit einem Musikinstrument. (10) Sprecher (Jakob Böhme) "Ich soll ein Instrument und Saitenspiel Gottes ausgesprochenen Wortes und Halles seyn; [...] wir sind alle Saiten in seinem Freudenspiel; der Geist seines Mundes ists, der unsere Saiten seiner Stimme schläget." Erzählerin Drei Jahrhunderte später bezeichnet Hugo von Hofmannsthal in seinem "Gespräch über Gedichte" das vollkommene Gedicht als einen "Elfenleib" (11) Sprecher (H. v. Hofmannsthal) "durchsichtig wie die Luft, ein schlafloser Bote, den ein Zauberwort ganz erfüllt; den ein geheimnisvoller Auftrag durch die Luft treibt: und im Schweben entsaugt er den Wolken, den Sternen, den Wipfeln, den Lüften den tiefsten Hauch ihres Wesens und der Zauberspruch aus seinem Munde tönt getreu und doch wirr, durchflochten mit den Geheimnissen der Wolken, der Sterne, der Wipfel, der Lüfte." (12) Sprecher (R.M. Rilke) "Atmen, du unsichtbares Gedicht! Immerfort um das eigne Sein rein eingetauschter Weltraum. Gegengewicht, in dem ich mich rhythmisch ereigne. Einzige Welle, deren allmähliches Meer ich bin; sparsamstes du von allen möglichen Meeren, - Raumgewinn. Wieviele von diesen Stellen der Räume waren schon innen in mir. Manche Winde sind wie mein Sohn. Erkennst du mich, Luft, du, voll noch einst meiniger Orte? Du, einmal glatte Rinde, Rundung und Blatt meiner Worte." Erzählerin Für Rainer Maria Rilke bedeutet Atmen Schreiben und Schreiben Leben. Im Gedicht "Atmen, du unsichtbares Gedicht" - aus den "Sonetten an Orpheus", dem griechischen Sänger und Dichter - vollzieht sich diese Symbiose. Jeder Atemzug ereignet sich als poetische Geste - als eine Art atmosphärischer "Raumgewinn" für das lyrische Ich. Doch nur die menschliche Stimme kann das rhythmische Ereignis zum Klingen bringen. Dem Stimmapparat müssen dafür Luftmassen zugeführt werden, sogenannte Phonationsströme. Rilke übersetzt diesen physikalischen Vorgang in ein poetisches Geschehen. (13) Sprecher (R.M. Rilke) "Erkennst du mich, Luft, du, voll noch einst meiniger Orte? Du, einmal glatte Rinde, Rundung und Blatt meiner Worte". Erzählerin Die Stimme als "Artikulation leiblicher Anwesenheit" hat die Geschichte der Poesie wesentlich geprägt. Nicht nur die sinnfreie Nachahmung von Naturgeräuschen und Tierstimmen gehört seit der Antike zum Sprachrepertoire, sondern auch geräuschartige Laute wie Zischen, Schnalzen oder Röcheln. Ihre historische Veränderbarkeit und synästhetische Bedeutung ist Teil der sogenannten "Ästhetik der Atmosphären", mit der sich der Philosoph Gernot Böhme beschäftigt. (14) Sprecher (Gernot Böhme) "Stimme ist die atmosphärische Präsenz von etwas oder jemandem. Sie ist eine der Dimensionen, in denen etwas oder jemand aus sich heraustritt und die Atmosphäre in der Umgebung wesentlich emotional tönt. Sie ist im Unterschied zu verbalen Äußerungsformen höchst individuell, so daß man die Atmosphäre, die sie bestimmt, als je eigene bezeichnen und erkennen kann." (15) Musik: W. Henze "An Eine Äolsharfe I. Sehr ruhig. Wie ein Lied". Musik für konzertierende Gitarre & 15 Soloinstrumente nach Gedichten von Eduard Mörike Als Atmo Erzählerin-Text leise unterlegen Erzählerin Keine literarische Gattung ist mehr vom sinnbildlichen Hauch der Inspiration umgeben als die Poesie. Man spricht auch von Afflatus: vom Einhauchen. Die Äolsharfe - das Sinnbild des Poeten - bezieht sich darauf. Der griechische Gott der Winde, Aiolos, soll dabei Pate gestanden haben. Die Äolsharfe, auch als Wind- und Wetterharfe bekannt, ist ein Saiteninstrument, das durch Luftströme zum Klingen gebracht wird. Seine Resonanz ist vom Ort und von der Windstärke abhängig. Cicero spricht bereits 45 v. Chr. in "De Natura Deorum" davon, dass der Dichter von einem göttlichen Wind erfasst wird, der ihm Kreativität einhaucht. Die Vorstellung von einer Beseelung oder dem Einhauchen der "inspiratio" hat sich, bei allem Zweifel daran, bis heute hartnäckig gehalten. Abbruch Musik! Für den Philosophen Friedrich Nietzsche ist die Arbeit des Künstlers allerdings nur als Wechselspiel von Inspiration und Disziplin denkbar. (16) Sprecher (Friedrich Nietzsche) "Jeder Künstler weiß, wie fern vom Gefühl des Sich-gehen-Lassens sein ,natürlichster' Zustand ist, das freie Ordnen, Setzen, Verfügen, Gestalten in den Augenblicken der ,Inspiration' - und wie streng und fein er gerade da tausendfältigen Gesetzen gehorcht, die aller Formulierung durch Begriffe gerade auf Grund ihrer Härte und Bestimmtheit spotten." Erzählerin Mit dem Negativdenker Nietzsche beginnt eine Epoche, in der die göttliche oder den Künstler im Schlaf-Traum-Zustand ergreifende Inspiration ad absurdum geführt wird. Die Dadaisten, allen voran die Lautpoeten, heben in optisch-akustischen Montagen den Materialwert der Sprache hervor. Es geht um das Bloßlegen der Sprachgründe. In der Isolierung und Atomisierung der Laute soll die Ver- und Entwertung der Sprache sichtbar gemacht werden. Christian Morgenstern setzt dies im Gedicht "Fisches Nachtgesang" konsequent um. Es besteht nicht aus Buchstaben, sondern aus Strichen und Bögen, zwischen denen die Fische förmlich nach Luft schnappen. Morgensterns Partitur einer modernen Verslehre ist nicht stumm. Sie visualisiert die Natur der Poesie: den Gesang als den Ursprung und ihr Wesen. (17) Musik: W. Henze "An Eine Äolsharfe I. Sehr ruhig. Wie ein Lied". Musik für konzertierende Gitarre & 15 Soloinstrumente nach Gedichten von Eduard Mörike Erzählerin Mit der Rehabilitation der Stimme als visualisierter Gesang entsteht zugleich eine Rhetorik des Verschweigens. Der Dada-Künstler Raoul Hausmann erklärt in seinem Optophonetik-Manifest (18) Sprecher (Raoul Hausmann) "Unsere Weltlage verlangt neue Ursignale von uns [...] Obzwar wir diese Elemente der Sprache nur stottern können, erklären wir, dass die Abstraktion, das Übergangszeitalter der l'art pour l'art vorbei ist." Erzählerin In Hausmanns Text-Ton-Collagen werden die Grenzen des tradierten Kunstbegriffs gesprengt. Seine Plakatgedichte leben von dem Wechselspiel zwischen Akustik und Visualisierung. Ziel ist eine "Augenblick-Kunst" - wie das nach ihm benannte optophonetische Gedicht vorführt. (19) Raoul Hausmann: CD 2, Track 20, Dauer: 13'' "fmsbw" Erzählerin Angeregt durch Hausmanns Experimente komponiert Kurt Schwitters 1932 aus einem rhythmischen Reigen von Silben eine Sprechoper, die er "Ursonate" beziehungsweise "Sonate in Urlauten" nennt. (20) Kurt Schwitters "Ursonate": CD 2, Track 31, 0:00-3:17 (Auszug) Erzählerin In Schwitters "Gesamtweltbild" unter dem Label "MERZ" - abstrahiert aus der zweiten Silbe des Wortes COMMERZ - geht es um eine konsequente Multimedialisierung von Kunst und Leben. (21) Sprecher (Kurt Schwitters) "Ich nannte nun all meine Bilder MERZbilder. Später erweiterte ich die Bezeichnung MERZ erst auf meine Dichtung, und endlich auf all meine entsprechende Tätigkeit. Jetzt nenne ich mich selbst MERZ." (22) Kurt Schwitters "Ursonate": CD 2, Track 31, 0:00-3:17 (Auszug) Erzählerin In der Tradition Kurt Schwitters - dem "Ahnherrn der Konkreten Poesie" - steht auch der Österreicher Ernst Jandl. Er führt 1984 in seiner ersten "Frankfurter Vorlesung" mit dem Titel "Das Öffnen und Schließen des Mundes" vor, wie beim Ein- und Ausatmen ein Gedicht entsteht. (23) Ernst Jandl: DVD Track 1, 5:30-6:02 "Was Sie sehen, sind meine Lippen, ein bißchen Zähne, ein bißchen Zunge vielleicht - ich sehe nicht einmal das; aber sehr viel in meinem Inneren wird in Bewegung sein müssen, damit mein Atem etwas von dort, wo es in mir denkt, durch die Luft, die uns verbindet und trennt, bis zu Ihnen befördern kann." Erzählerin In der Unterscheidung von "lippengedicht" und "papiergedicht" erklärt Jandl seine Theorie vom "Sprechgedicht", wie er seine Lautgedichte nennt. Möglichst lautlos soll der durch ihn durchgehende Luftstrom die Gedanken an jene Stelle im Inneren des Hörers transportieren, wo es "in ihm denkt". In der Tonlosigkeit vollzieht sich die Abfolge Atmen-Sprechen-Hören-Verstehen als Erfahrung der Ungebundenheit der Laute sowie einer lustvollen Befreiung des Sprechenden. (24) Ernst Jandl: DVD Track 1, 12:35-12:55 "das visuelle lippengedicht ist die umkehrung des visuellen papiergedichts. der rezitator ist das papier des visuellen lippengedichtes. das visuelle lippengedicht wird ohne tonbildung gesprochen. es wird mit den lippen in die luft geschrieben." Erzählerin Jandls Sprechgedichte sind ohne die radikalen Theorien der Konkreten Poesie undenkbar. Inspiration versteht sich hier längst nicht mehr als göttliche Eingebung, sondern als Technik. In der betont lustvollen Improvisation hat die Leiblichkeit des Dichters absolute Priorität. Wie Kurt Schwitters geht es Jandl um ein Entformeln der Sprache. Der Sinn der Worte scheint erschöpft. Aber ihre Substanz kann als eine Art Luftpost aus dem Mund des Sprechers in das Ohr des Hörers transportiert werden. (25) Ernst Jandl: CD 5, Track 65 "schtzngrmm", 0:00-0:42 "schtzngrmm schtzngrmm t-t-t-t t-t-t-t grrrmmmmm t-t-t-t s---------c----------h tzngrmm tzngrmm tzngrmm grrrmmmmm schtzn schtzn t-t-t-t t-t-t-t schtzngrmm schtzngrmm tssssssssssssssss grrt grrrrrt grrrrrrrrrrt scht scht t-t-t-t-t-t-t-t-t-t scht tzngrmm tzngrmm t-t-t-t-t-t-t-t-t-t scht scht scht scht scht grrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr t-tt" Erzählerin Die zischenden Klänge der Konsonanten bilden im Gedicht "schtzngrmm" die Munitionsgeräusche des Schützengrabens nach. Der Mundraum wird zum Schlachtfeld. Wie in Samuel Becketts "Atem" rücken Leben und Tod im Sprech-Akt eng zusammen. Jenseits der Metrik wird die Absurdität des Krieges - ohne das Wort zu nennen - als bedrohlicher Klang erfahrbar. (26) Musik: W. Henze "An Eine Äolsharfe I. Sehr ruhig. Wie ein Lied". Musik für konzertierende Gitarre & 15 Soloinstrumente nach Gedichten von Eduard Mörike (27) Sprecher (Thomas Kling) "Die Sprache meinen und von der Sprache gemeint werden" Erzählerin Diesem verspielt-analytischen Anliegen hat sich der Spracharchäologe Thomas Kling verschrieben. Beeinflusst von Ernst Jandl, Friedericke Mayröcker, der "Wiener Gruppe" um H.C. Artmann und Konrad Bayer versteht er das Gedicht als Instrument der Wahrnehmung. Seismographisch spürt es die Erschütterungen in der Sprache auf. Seine tatsächliche Qualität erweist sich im Live-Vortrag. Bis zu seinem frühen Tod hat Kling die klangliche Umsetzung mit dem Schlagzeuger Frank Köllges erprobt. Verspielt ist das poetische Anliegen, wenn das Gedächtnis der Versgeschichte, die Tradition verloren geht. (28) Sprecher (Thomas Kling) "Dichtung ist seit vor-homerischen Zeiten auf den Klang und auf das live gesprochene Wort angewiesen. [...] Ich habe mich auf die Sprechtraditionen von Kraus über Jandl bis Kinski besonnen." (29) Thomas Kling: CD "Sondagen", Track 12 0:00-0:58 "GAUMENSEGEL die salzwellen, schriftsalze, die salzzerfressenen ränder. gedicht ist: das verspielte papier. im zwielicht, im hell aufblakenden schummer, nachts noch, im mondsaal bei flutlicht zu erkennen. die landratte sagt: das meer ist kompliziert; und der wind. das ist die sogenannte rede- qualle, mürbe planke. die welle dagegen schlägt ins komplizierte ohr. Fluten. gedicht ist: kennungsdienst; das sagst mir du, mein brandungsgehör. tondokumente der wind, der wind / das himmlische kind" Erzählerin Der Wind, das im Märchen von "Hänsel und Gretel" als Rettung herauf beschworene "himmlische Kind", steht niemals still. Als Naturerscheinung und als Metapher im Sinne einer kreativ-schöpferischen Denk- und Schreibbewegung des Künstlers hat es eine Vielzahl von Deutungen und eine Bilderschrift erfahren. Die Angst vor einer Windstille, die Geist und Gemüt befallen kann und in eine Schaffenskrise führt, geht jederzeit um. (30) Sprecher (Friedrich Nietzsche) "Für den Denker und für alle empfindsamen Geister ist Langeweile jene unangenehme ,Windstille' der Seele, welche der glücklichen Fahrt und den lustigen Winden vorangeht; er muss sie ertragen, muss ihre Wirkung bei sich abwarten." Erzählerin Friedrich Nietzsche verweist in "Die fröhliche Wissenschaft" auf die Folgen des geistigen und seelischen Stillstands. Cosima Wagner gesteht er in einem Brief allerdings auch seine Sehnsucht nach einer "Windstille", die wohltut. Freunde der Windstille nennt Nietzsche "Halkyonier". Sie verkörpern das Ideal der Gelassenheit, das sich von der Hysterie einer dekadenten Gesellschaft absetzt und dessen Selbstfindung sich in der "vollkommenen Windstille der Seele" erfüllt. (31) Inger Christensen: "alphabet", CD 2, Track 7, 0:57-1:23 "ich schreibe wie der wind der mit der ruhigen schrift der wolken schreibt oder schnell über den himmel in verschwindenden strichen wie mit schwalben ich schreibe wie der wind der stilisiert monoton ins wasser schreibt oder rolle mit dem schweren alphabet der wellen ihre schaumfäden" Erzählerin 1981 veröffentlicht die dänische Schriftstellerin Inger Christensen einen Gedichtzyklus mit dem Titel "alfabet". Mit äußerster Konzentration werden Gegenstände, Wahrnehmungen und Erinnerungen durchbuchstabiert. Behutsam tastet sich das Ich an den Worten entlang. Wie an einer Wand, wo die Gedanken und Gefühle das dünne Seil zwischen Sein und Bewusstsein spannen - und wo im nächsten Augenblick alles zerfällt, was gerade erst im Entstehen war. (32) Inger Christensen: CD 2, Track 12 0:40-1:20 "der stoff der träume und alles woraus ein mensch sonst noch gemacht war flattert in der luft, einzelne klassische streifen aus gaze und flor um die glasklaren gedanken während tropfen von trauer auf einer reingewaschenen stirn ausbrechen; wie wenn schiffe mit winddurchwehten toten das sinkende wasser verlassen und in der kriechenden sonne durch die stadt segeln" Erzählerin Nach einer Schaffenskrise vergewissert sich Christensen in "alfabet" der eigenen Stimme. Es ist eine melancholische Alphabetisierung nach den Regeln der Poesie und der Mathematik. Hinter der scheinbaren Monotonie der Aufzählung verbirgt sich das progressive Prinzip der bereits in der Antike bekannten Fibonacci-Folge: aus der Summe von zwei benachbarten Zahlen ergibt sich die unmittelbar folgende. Christensens "alfabet" findet in diesem Prinzip einen elementaren Halt, was sich in der Länge der vierzehn Abschnitte des Zyklus zeigt. In sparsamen Atembewegungen vollzieht sich die Lesbarkeit dessen, was als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Dabei geben die Buchstaben des Alphabets die bittere Nachbarschaft von Tatkraft und Tod, Zukunft und Zerfall, Leichnam und Liebe vor. Christensens Poesie ist elementar. Zwischen formaler Strenge und freier Improvisation hinterlassen Wortklang und Sprachmelodie einen akustischen Fingerabdruck. (33) Inger Christensen: CD 1, Track 12 0:00-0:35 "die liebe gibt es, die liebe gibt es so selbstvergessen deine hand in meine geschmiegt wie ein junges, und der tod unmöglich zu erinnern, unmöglich zu erinnern wie ein unverlierbares leben, so leicht wie mit einer chemischen bewegung über kammgras und felsentauben hin, alles, verlorengeht verschwindet" (34) Musik: W. Henze "An Eine Äolsharfe I. Sehr ruhig. Wie ein Lied". Musik für konzertierende Gitarre & 15 Soloinstrumente nach Gedichten von Eduard Mörike (35) Sprecher (Hugo von Hofmannsthal) "Wovon unsere Seele sich nährt, das ist das Gedicht, in welchem, wie im Sommerabendwind, der über die frischgemähten Wiesen streicht, zugleich ein Hauch von Tod und Leben zu uns herschwebt, eine Ahnung des Blühens, ein Schauder des Verwesens, ein Jetzt, ein Hier und zugleich ein Jenseits." Erzählerin Kein Thema besitzt in der Poesie mehr Aufmerksamkeit wie die Regungen des Gemüts. In der Liebeslyrik feiern die Empfindungen als hieroglyphische Landschaft des Elementaren ein opulentes Fest. Sie zu erklären, wäre sinnlos. Die Liebe ist ewig und un-fassbar. Vergleichbar mit den Elementen, deren Bewegung sich ständig vollzieht. Wie diese ist sie Lebenselixier und tödlicher Hauch in einem. Wann und warum sie entsteht und wieder vergeht, bleibt ein Geheimnis. Man kann sie selbst befragen, wie Ingeborg Bachmann im Gedicht "Erklär mir, Liebe". (36) Ingeborg Bachmann: CD "Gedichte 1948-1957", Track 29 0:00-0:30 "Erklär mir, Liebe Dein Hut lüftet sich leis, grüßt, schwebt im Wind, dein unbedeckter Kopf hat's Wolken angetan, dein Herz hat anderswo zu tun, dein Mund verleibt sich neue Sprachen ein, das Zittergras im Land nimmt überhand, Sternblumen bläst der Sommer an und aus, von Flocken blind erhebst du dein Gesicht, du lachst und weinst und gehst an dir zugrund, was soll dir noch geschehen - Erklär mir, Liebe!" Erzählerin Liebe ist subversiv. Sie wiedersetzt sich den Regeln und überschreitet Grenzen. Alle klassischen Liebespaare von Romeo und Julia über Tristan und Isolde bis Orpheus und Eurydike unterlaufen eine Ordnung. Sie sind Chiffren für eine Sehnsucht, die unerfüllt bleibt. Ausgedrückt in der Poesie, die dem Widerstand leistet. (37) Sprecher (Karoline von Günderrode) "Es hat ein Kuß mir Leben eingehaucht, Gestillet meines Busens tiefstes Schmachten. Komm Dunkelheit! mich traulich zu umnachten Daß neue Wonne meine Lippe saugt. In Träumen war solch Leben eingetaucht. Drum leb ich, ewig Träume zu betrachten, Kann aller andern Freuden Glanz verachten Weil nur die Nacht so süsen Balsam haucht." Erzählerin Karoline von Günderrode begegnet dem Schmerz der Entsagung, indem sie ihr Begehren in einer bleibenden Form ausdrückt: im Gedicht. Schreiben wird zur Therapie. Im Traum ist der Hauch die flüchtige Maßeinheit. Sie mündet in das Geheimnis des Dichtens, einer "neuen Wonne", die abseits vom Tagesgeschehen "süsen Balsam haucht". Dort, wo es ewig möglich sein wird, auch von der Ganzheit und Harmonie der Elemente zu sprechen. (38) Sprecher (K. v. Günderrode) "Drum, wer Ohren hat zu hören, der höre! Es ist nicht zwei, nicht drei, nicht tausende, es ist Eins und alles; es ist nicht Körper und Geist geschieden, daß das eine der Zeit, das andere der Ewigkeit angehöre, es ist Eins, gehört sich selbst, und ist Zeit und Ewigkeit zugleich, und sichtbar, und unsichtbar, bleibend im Wandel, ein unendliches Leben." (39) Musik: W. Henze "An Eine Äolsharfe I. Sehr ruhig. Wie ein Lied". Musik für konzertierende Gitarre & 15 Soloinstrumente nach Gedichten von Eduard Mörike 14 1