KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : Literatur Ko Kostenträger : P 62 110 T Titel der Sendung : „Seher, Provokateur, Pessimist“ Dr Der Schriftsteller Michel Houellebecq und sein verstörendes Werk M Autor/in : Dirk Fuhrig Redakteurin : Dorothea Westphal Sendetermin : 22.05.2015 Besetzung : Erzähler (Kommentar), Sprecher (Houellebecq und Werkzitate); Übersetzer, Übersetzerin Regie : Clarisse Cossais Produktion : O-Töne, Musik Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig © Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503- Zeitfragen. Literatur Seher, Provokateur, Melancholiker - der Schriftsteller Michel Houellebecq und sein verstörendes Werk Sendedatum: 22.05.2015 Redaktion: Dorothea Westphal Autor: Dirk Fuhrig Besetzung: ERZÄHLER SPRECHER (Houellebecq und Werkzitate) ÜBERSETZER ÜBERSETZERIN 1 - OT Leserstimmen 1 „Soumission“ hat mich in den Bann geschlagen. Ich fand es provozierend, kühn, kess. 2 - OT Houellebecq Bof .... (Publikum lacht) mais en fait ... il y a ... une bonne question… je vais fumer une cigarette – (ohne Übersetzung) 3 - OT Leserstimmen 2 Das Buch hat mich gleichzeitig abgestoßen und wahnsinnig fasziniert, weil es auch uns in Deutschland den Spiegel vorhält. – Auch wenn es nicht das Beste ist sprachlich, aber ich fand manche Stellen wunderbar geschrieben. Selbstironie und Ironie und eine sehr genaue Abrechnung mit der Dekadenz des Westens. SPRECHER (Zitat) Ich bremste den Wagen abrupt ab und fuhr sehr vorsichtig zur Tankstelle vor. Die Kassiererin lag in einer Blutlache auf dem Boden. Totale Stille. Als ich die Ausfahrt ansteuerte, nahm ich flüchtig zwei hingestreckte Körper auf dem LKW-Parkplatz wahr. Zwei junge Nordafrikaner in typischer Vorstadt-Kluft, erschlagen. Der eine hielt noch eine Maschinenpistole in der Hand. Was war hier wohl passiert? ERZÄHLER „Soumission“ – deutsch: „Unterwerfung“, Erscheinungstag: 7. Januar 2015 SPRECHER (Zitat) Ein erster Feuerstoß war zu hören, ein kurzes Knattern. Da konnte ich die Angreifer erkennen: drei Männer mit Turban, die Maschinenpistolen in den Händen hielten und auf uns zu rannten. In der Stille, die vom Bersten des Glases unterbrochen wurde, folgte ein Feuerstoß auf den anderen. ERZÄHLER „Plattform“, erschienen im Sommer 2001. Wenige Wochen vor der Zerstörung der Türme des New Yorker World Trade Centers hatte Michel Houellebecq diesen Roman veröffentlicht, in dem er einen blutigen Anschlag radikal-islamischer Terroristen auf einen Ferien-Sexclub in Thailand schildert. SPRECHER (Zitat) Die Bombe war mitten im „Crazy Lips“, der größten Bar, zu einem Zeitpunkt hohen Andrangs explodiert. ERZÄHLER Als am 7. Januar 2015 die Redaktion der Satire-Zeitschrift „Charlie Hebdo“ in Paris angegriffen wurde, wirkte es wie ein gespenstischer Zufall, dass just an jenem Morgen Houellebecqs Islam-Roman „Unterwerfung“ erstmals in den französischen Buchhandlungen auslag. 4/1 - OT Wittmann Die Titelseite war ‘ne Karikatur von Michel Houellebecq. ERZÄHLER …so der Übersetzer Uli Wittmann… 4/2 OT Wittmann Dann war in der Nummer ein Artikel von Bernard Maris über Michel Houellebecq, über das neue Buch. Und Bernard Maris ist bei dem Anschlag ums Leben gekommen. Das heißt, da hat er tatsächlich einen Menschen verloren, der ihn schätzte und positiv über ihn geschrieben hat. Das hat ihn persönlich getroffen. 5/1 OT Beigbeder ÜBERSETZER Das war dann auf einmal nicht mehr so lustig. Michel musste unter Polizeischutz gestellt werden… ERZÄHLER … erinnert sich der Schriftsteller Frédéric Beigbeder an den Tag des Attentats. 5/2 OT Beigbeder ÜBERSETZER Vor seinem Verlag stand ebenfalls die Polizei. Die Handlung von Michels Buch bekam durch das alles einen seltsam prophetischen, zumindest sehr finsteren Beigeschmack. ERZÄHLER Die Karikatur auf dem „Charlie-Hebdo“-Cover zeigte Michel Houellebecq mit spitzem Zauberer-Hütchen. Unter der Überschrift „Die Prophezeiungen des Magiers“ ließ der Karikaturist ihn in Sprechblasen kuriose Orakel absondern: SPRECHER (Zitat) 2015 verliere ich meine Zähne. Und 2022 halte ich Ramadan. ERZÄHLER Damit wurde die verblüffende Fähigkeit Houellebecqs aufs Korn genommen, scheinbar treffsicher in die Zukunft zu blicken. Der Roman „Unterwerfung“ schreibt eine Radikalisierung der französischen Gesellschaft fort, die dazu führt, dass aus Angst vor dem rechtsextremen Front National ein Moslem zum Staatspräsidenten gewählt wird. 6 - OT Houellebecq SPRECHER Der Front National hat mit zwei Dingen angefangen: Kampf gegen die Immigration und Kampf für die Sicherheit. Außerdem hat er als einzige Partei den Kampf gegen Europa geführt. Seit kurzem ist der Kampf gegen den Islam hinzugekommen. MUSIK (Célibataires) ERZÄHLER Die Literatur-Kassandra aus Frankreich hatte schon in früheren Werken brisante Visionen fantasiert. Bereits „Elementarteilchen“, womit Michel Houellebecq 1998 zum weltweit gefeierten Kult-Autor der Jahrtausendwende aufstieg, war teilweise eine Art Science-Fiction-Roman: 7/1 - OT Houellebecq Je défends la science fiction. SPRECHER Ich verteidige die Science Fiction Literatur. ERZÄHLER Als Houellebecq „Elementarteilchen“ schrieb, war er überzeugt davon, dass der wissenschaftliche Fortschritt künftig alles andere bestimmen würde. Künstliche Befruchtung, Klonen, Genmanipulation – das werde die Menschheit grundlegend verändern. Daher sah er sich als Schriftsteller geradezu dazu verpflichtet, diese Themen anzuschneiden. 7/2 - OT Houellebecq Il me faut en parler. SPRECHER Ich muss darüber sprechen. ERZÄHLER Vor zwei Jahrzehnten beschäftigte sich kaum jemand mit solchen Fragen – inzwischen wird die Reproduktionsmedizin breit diskutiert. Houellebecq stellte die wissenschaftlichen Entwicklungen in einen gesellschaftlichen Zusammenhang und destillierte daraus seine literarische Fiktion. 8 - OT Houellebecq „Alors, le soir avec un autre collègue, ils s’ennuie - abends ist er mit einem Kollegen zusammen und langweilt sich - donc, au fait il cherche des femmes - er langweilt sich und sucht nach Frauen - en trouve pas - findet keine - se couche frustré et recommence le lendemain - geht frustriert ins Bett und fängt am nächsten Morgen die Suche von vorne an.“ MUSIK (Célibataires) kurz hoch ERZÄHLER Im neuen Roman „Unterwerfung“ werden Frauen zurück an Heim und Herd verbannt - was in der satirischen Logik der Fiktion die Arbeitslosigkeit beseitigt. Raphaëlle Leyris, Redakteurin der Tageszeitung Le Monde, findet das befremdlich: 9 - OT Raphaëlle Leyris ÜBERSETZERIN Seine Sicht auf die Frauen ist außerordentlich negativ. Er fordert die Rückkehr zum Patriarchat. Und jetzt die Polygamie, die er in „Unterwerfung“ beschreibt, das ist so ähnlich wie der Sextourismus in „Plattform“. Auch hier sieht man also seine reaktionäre Seite: Er ist für das Klonen von Menschen und gegen die Abtreibung. ERZÄHLER In „Elementarteilchen“ klang diese Sehnsucht nach „geordneten“ Familienverhältnissen so: SPRECHER (Zitat) Es ist nicht uninteressant, dass diese „sexuelle Befreiung“ manchmal als Traumvorstellung von einer Gemeinschaft dargestellt wurde, während es sich in Wirklichkeit nur um eine weitere Etappe auf dem unaufhaltsamen Siegeszug des Individualismus handelte. Wie der schöne Begriff „Schutzgemeinschaft der Ehe“ andeutet, stellten das Ehepaar und die Familie die letzte Insel des Urkommunismus im Schoß der liberalen Gesellschaft dar. Die sexuelle Befreiung hatte die Zerstörung dieser letzten Gemeinschaftsformen zur Folge, der letzten Zwischenstufen, die das Individuum vom Markt trennten. ERZÄHLER Und heute? - In seinem sechsten Roman „Unterwerfung“ spitzt Houellebecq diese Haltung noch zu. 10 - OT Houellebecq SPRECHER (Übersetzung) François, die Hauptperson, sagt ja, dass er nicht weiß, was er von der Sache mit dem Patriarchat halten soll. Das ist eine relativistische Haltung, die man womöglich auf den Autor übertragen kann. - Ich habe keine Ahnung. ERZÄHLER Denkt der Autor - hier bei seiner bislang einzigen Lesung in Deutschland aus dem neuen Buch, im Januar in Köln - tatsächlich wie seine Hauptfigur? Mit dieser Ambivalenz kokettiert Michel Houellebecq. Wie mit so vielen Dingen – beispielsweise mit seiner Rolle als Erfolgsautor: 11 - OT Houellebecq SPRECHER (Übersetzung) Warum die Leute mein neues Buch kaufen? Na, wahrscheinlich, weil sie auch das vorherige gekauft haben. Da muss man keine komplizierten Erklärungen suchen, zumindest in meinem Fall. Wenn sie das eine Buch gemocht haben, kaufen sie halt auch das nächste. ERZÄHLER So kennen und lieben ihn seine Fans. Der zögerliche Typ, der lange überlegt, bevor er etwas sagt. Und wenn er etwas sagt, dann weiß man oft nicht so ganz genau, was er jetzt gerade gesagt hat. 12 - OT Houellebecq „… bien … disons que …(ohne Übersetzung) 13 - OT Wittmann Er war sicherlich total verklemmt, er hat, soweit ich weiß, Beruhigungstabletten nehmen müssen, jahrelang. Und er konnte kaum zwei Sätze aneinanderreihen. Das war der Horror aller Journalisten, weil er immer sagte „mh“, „vielleicht“ und das mit minutenlangen Pausen dazwischen. Das hat sich natürlich, nachdem er Hunderte, wenn nicht Tausende Interviews gegeben hat, sehr viel gebessert. Heute ist das sicherlich ne Pose, anfangs war’s keine. ERZÄHLER Uli Wittmann kennt Michel Houellebecq seit vielen Jahren. Der Übersetzer hatte bereits „Elementarteilchen“ ins Deutsche übertragen. Er hat hautnah miterlebt, wie dieser schüchtern und undurchschaubar wirkende Schriftsteller, der so affektiert und effektvoll raucht, die Massen – gerade auch in Deutschland – anzog. 14 - OT Wittmann Er provoziert gerne, er will sehen, wie weit er gehen kann. Das ist eine Machtfrage bei ihm, als Starautor, und das ist er sicherlich auch, und da gehen die Starallüren auch, die kommen dann mit. 15 - OT Houellebecq (raucht) (ohne Übersetzung) 16 - OT Raphaëlle Leyris ÜBERSETZERIN Er hat diese medienwirksame Aura geschaffen, indem er sich scheinbar gerade nicht mediengerecht inszeniert. Der ungepflegte Kerl, der sich nicht kämmt und immer eine Zigarette auf so absurde Weise zwischen Mittel- und Ringfinger balanciert. Es ist ihm gelungen, diese mediale Persönlichkeit zu schaffen, die eine Signalwirkung hat auch bei Leuten, die noch nie etwas von ihm gelesen haben. Er ist der einzige Schriftsteller, den man mit ein paar Strichen zeichnen könnte, und jeder würde ihn sofort erkennen. Wir haben wenige Literatur-Stars in Frankreich. 17 - OT Houellebecq (Lesung - ringt nach Worten) „… oui… Publikum lacht und applaudiert (ohne Übersetzung) ERZÄHLER Immer wieder waren seine Bücher im Gespräch für den „Prix Goncourt“, Frankreichs prestigeträchtigsten Literaturpreis. 2010 bekam er ihn schließlich für seinen ausladenden Künstler-Roman „Karte und Gebiet“ – obwohl oder gerade weil es sein wohl harmlosestes Buch ist; er nimmt darin den weltweiten Kunsthype und den Pariser Kulturbetrieb humoristisch aufs Korn. Auch sein Schriftsteller-Freund Frédéric Beigbeder kommt darin vor: 18 - OT Beigbeder ÜBERSETZER Ich war von Houellebecqs erstem Roman fasziniert. Wir haben uns ein bisschen angefreundet. Er hat mich auf die Idee gebracht, mein Buch „39,90“ über die Werbeszene zu schreiben. Wir sprechen häufig über unsere Projekte und geben uns gegenseitig Ratschläge. MUSIK (Paris-Dourdan) ERZÄHLER Der Erfolg des Schriftstellers, der übrigens immer wieder auch als Sänger und in jüngerer Zeit sogar als Film-Schauspieler auftritt, lässt sich von Anfang an nicht von der Stilisierung seiner Person trennen. Houellebecqs französischer Verlag Flammarion hat es stets geschickt verstanden, Hochspannung um jede neue Veröffentlichung zu erzeugen. Raphaëlle Lyris von „Le Monde“: 19 - OT Raphaëlle Leyris ÜBERSETZERIN Sein Verlag weiß ganz genau, was er tut. Ebenso wie Houellebecq selbst. Er antwortet auf jede Frage geschickt verächtlich – und bleibt dabei immer vage. ERZÄHLER Zur Inszenierung des Autors Michel Houellebecq gehört auch der schonungslose Umgang mit seinem Erscheinungsbild. Die Fotos, die von ihm gerade in den letzten Monaten erschienen sind, zeigen ein verwittertes Gesicht, die Haare hängen dünn und strähnig herunter. Der Blick ist noch schwerer zu deuten als früher –Ängstlichkeit und Melancholie, gemischt mit funkelnder Angriffslust. In „Karte und Gebiet“ hatte er sich als Romanfigur selbst so karikiert: SPRECHER (Zitat) Sein Bauch war seit dem letzten Mal dicker geworden, aber sein Hals und seine Arme waren so mager wie immer. Er sah aus wie ein alte, kranke Schildkröte. 20 - OT Sylvain Bourmeau ÜBERSETZER Michel Houellebecq versteht es, sich selbst ganz direkt darzustellen. Er schaltet die Selbstzensur aus. Das geht manchmal so weit, dass er Fotos zulässt, die nicht unbedingt vorteilhaft sind. Genau so unverblümt hat er auch immer die französische Gesellschaft gezeigt. ERZÄHLER Dem Journalisten Sylvain Bourmeau hatte Michel Houellebecq das erste, exklusive Interview zu „Unterwerfung“ gegeben. 21 - OT Sylvain Bourmeau ÜBERSETZER Ich kenne Michel Houellebecq seit 1994. Ich habe ihm damals vorgeschlagen, bei der Zeitschrift „Les Inrockuptibles“ mitzuarbeiten. Sein Prinzip ist, dass er immer er selbst ist - und alles ernst nimmt. Er ist überhaupt nicht der Provokateur, als der er gilt. Man muss alles, was er in seinen Büchern oder in Interviews sagt, wörtlich nehmen. Er ist niemand, der Billard über drei Bande spielt. ERZÄHLER Und doch: Sind es nicht gerade seine Uneindeutigkeit und Rätselhaftigkeit, die den „Typen“ Houellebecq und seine Werke so faszinierend machen? 22/1 - OT Wittmann Also, zumindest ist er auch sehr selbstironisch, wie man in „Karte und Gebiet“ gesehen hat, wo er sich selbst in Szene setzt. Und wie er in Irland damals noch lebt, und der junge Maler besucht ihn. Und da beschreibt er sich als totalen Alkoholiker, der immer im Bett isst und Fernsehen guckt. Das ist natürlich völlig überzogen, aber ein kleiner Kern von Wahrheit ist darin. ERZÄHLER Der Übersetzer Uli Wittmann weiß um die Schwierigkeiten, Houellebecqs subtilen, doppelbödigen Stil zu durchdringen: 22/2 – OT Wittmann Überhaupt ist in seinen Büchern – zumindest in „Elementarteilchen“, Plattform“, „Die Möglichkeit einer Insel“ - sehr, sehr viel Ironie drin, das ist immer eine Gratwanderung. Der Leser darf nie wissen, ob es ernst gemeint ist oder ob es Ironie ist, das ist genau typisch seine Schreibe. 23 - OT Raphaëlle Leyris ÜBERSETZERIN Houellebecqs Humor rettet viele seiner Bücher. Diese kalte Ironie in vielen seiner Texte ist wirklich außerordentlich. MUSIK (Paris-Dourdan) ERZÄHLER Der Schriftsteller dürfte vor allem deshalb so erfolgreich sein, weil er das Unbehagen an der modernen Welt seismografisch erspürt und radikal offen legt - gleichzeitig aber Schlussfolgerungen andeutet, die mit dem Konsens der pluralistischen Gesellschaft, so wie wir sie kennen und pflegen, mitunter brechen. SPRECHER (Zitat) Allein das Wort „Humanismus“ verursachte bei mir ein leichtes Gefühl von Übelkeit, aber vielleicht waren es auch die weichen Teigtaschen, mit denen ich es übertrieben hatte; ich nahm noch ein Glas Meursault, um das Gefühl zu vertreiben. ERZÄHLER Zu den wenigen Dingen, die Houellebecq auch außerhalb seiner Romane klar benennt, zählt seine Ablehnung der Aufklärung. Die Werte des Humanismus, die die Befreiung des Individuums aus familiären, gesellschaftlichen und religiösen Zwängen zum Ziel hat, sieht der Schriftsteller als gescheitert an. Seine unerbittliche Gesellschafts- und Ideologiekritik trifft einen Nerv, rührt an die Grundüberzeugungen unserer kapitalistischen Gesellschaftsordnung und Lebensweise. Das wird auch in seiner Haltung zur Religion deutlich, wie Houellebcq sie in den Hauptnachrichten des zweiten französischen Fernsehens am im Gespräch mit David Pujadas Abend vor dem Erscheinen von „Soumission“ formulierte: 24 - OT Houellebecq SPRECHER (Übersetzung) Nicht nur der Islam gewinnt an Bedeutung, sondern das Religiöse insgesamt. Diese Entwicklung wird sich noch verstärken. Es gibt immer mehr Leute, die es nicht aushalten, ohne Gott zu leben. Ihnen fehlt der Sinn im Leben. Konsumieren reicht ihnen nicht mehr, und deshalb wenden sie sich dem Glauben zu. Das ist doch ein Fakt – und keine Erfindung von mir. ERZÄHLER Michel Houellebecq bezeichnet sich selbst als Atheist. In einem Interview vor einigen Jahren noch sehr entschieden: 25 - OT Houellebecq SPRECHER (Übersetzung) Ich habe mich mein ganzes Leben lang angestrengt, eine Sympathie für die Religion zu entwickeln, obwohl ich immer ein radikaler Atheist gewesen bin. Die Vorstellung vom Gott Vater ist, um ehrlich zu sein, doch ziemlich dumm. Mit Christus und der Erlösung der Menschheit könnte ich mich vielleicht anfreunden. Leichter noch mit der Jungfrau Maria – von ihr gibt es immerhin so viele schöne Abbildungen. ERZÄHLER Im Zusammenhang mit dem neuen Buch „Unterwerfung“ hat er betont, dass er sich gerne in die Arme einer Religion werfen würde – allein: Es gelingt ihm nicht. Die Frage nach dem Glauben führt wieder mitten hinein in Houellebecqs aktuelles Buch: Wie wäre es, wenn wir uns in das gesicherte, geordnete, widerspruchsfreie Universum einer Religion flüchten könnten? 26 - OT Houellebecq SPRECHER (Übersetzung) Leider ist der Islam ein radikaler Monotheismus. Der radikalste Monotheismus von allen. Und deshalb findet man darin kaum einen interessanten Aspekt. ERZÄHLER .. so hatte sich Houellebecq noch vor ein paar Jahren geäußert. 27 - OT Houellebecq SPRECHER (Übersetzung) Die Moslems in Frankreich befinden sich in einer schizophrenen Lage. Einerseits wollen sie religiös sein, aber sie wollen auch Alkohol trinken. Sie treffen selten jemanden, der sagt: Ich bin Moslem – Punkt aus. Die meisten sagen: Ich esse kein Schwein, aber trinke manchmal Alkohol. Nein, den Ramadan halte ich nicht oder so… die Bandbreite ist da groß. ERZÄHLER Nach intensiver Lektüre des Korans, wie er behauptet, hat Houellebecq den Absolutheitsanspruch dieser Religion in den Mittelpunkt seines aktuellen Romans gestellt. SPRECHER (Zitat) Es ist die Unterwerfung... Der grandiose und zugleich einfache Gedanke, dass der Gipfel des menschlichen Glücks in der absoluten Unterwerfung bestehe. ERZÄHLER Dieser Lust an der „Unterwerfung“ spürt Houellebecq in seinem Roman nach, indem er sich auf die Spuren des Schriftstellers Joris-Karl Huysmans begibt, der Ende des 19. Jahrhunderts Erlösung aus der Leere des Daseins im Glauben suchte. 28 - OT Houellebecq SPRECHER (Übersetzung) Ich habe das geschrieben, weil ich glaube, den Kern von Huysmans gefunden zu haben. Das ist ein komplizierter Autor. Er kam vom Naturalismus und hat dann das größte dekadente Buch aller Zeiten geschrieben, vielleicht das einzige wahrhaft dekadente Buch. Und am Ende seines Lebens konvertierte er schließlich zum Katholizismus. MUSIK (“Derniers temps“), kurz frei + unterlegen ERZÄHLER Wegen seines Talents zum Kratzen an Tabus, im sexuellen und gesellschaftspolitischen Bereich, wegen seiner scheinbaren Anti-Bürgerlichkeit war Michel Houellebecq lange der Lieblings-Poet einer eher linksliberalen Leserschaft. In Frankreich hat der neue Roman „Unterwerfung“ jetzt aber die Konfrontationslinien in Kritik und Gesellschaft durcheinander gewirbelt. 29 - OT Raphaëlle Leyris ÜBERSETZERIN Er befindet sich in einer Tradition der literarischen Romantik, und die trägt reaktionäre Züge. ERZÄHLER Sagt Raphaëlle Leyris von der Zeitung Le Monde. 30 - OT Sylvain Bourmeau ÜBERSETZER Das ist ein schlechtes Buch – und ein gefährliches Buch ERZÄHLER Sylvain Bourmeau hat Houllebecqs Werk über die Jahre hinweg mit großer Sympathie verfolgt. Das Islam-Buch jetzt hält er für äußerst misslungen. 31 - OT Sylvain Bourmeau ÜBERSETZER Es ist gefährlich, weil es ein gesellschaftliches Klima hier in Frankreich aufgreift, ähnlich wie bei Ihnen die Pegida-Bewegung. Eine Debatte, die eine Gruppe der Bevölkerung stigmatisiert. Das äußert sich in Form von Demonstrationen, in der medialen Berichterstattung - und leider auch in bestimmten künstlerischen Äußerungen. ERZÄHLER In Deutschland fällt es leichter, den packenden Stilisten und beißenden Satiriker in den Fokus zu rücken. In Frankreich fürchtet das kulturelle Milieu den Aufstieg antiliberaler und nationalistischer Kräfte. Daher ruft Houellebecqs Zukunftsszenario heftige Abwehrreaktionen hervor. Journalisten wie Sylvain Bourmeau werfen Houellebecq vor, indirekt die Rechten zu unterstützen: 32 - OT Sylvain Bourmeau ÜBERSETZER Darin liegt genau das Perverse dieses Buchs. Vordergründig ist der Text eher nett zu den Islamisten. Aber das Ganze ist ja auch ein Thriller, der den Leser in Angst und Schrecken versetzen soll. Unter dem Deckmantel der Islamfreundlichkeit versucht der Autor, Islamfeindlichkeit beim Leser zu schüren. 33 - OT Houellebecq (Soumission n'est pas islamophobe – 0’11) “Un: „Soumission“ n’est pas pas un livre islamophobe. Deux: on peut écrire un livre islamophobe, si on veut.” (ohne Übersetzung) ERZÄHLER „Unterwerfung“ sei kein islamophobes Buch, sagt Houellebecq. Um sofort hinzuzufügen, dass man natürlich jederzeit ein islamophobes Buch schreiben dürfe, sofern man das wolle. MUSIK (“Derniers temps“), kurz hoch ERZÄHLER Frédéric Beigbeder, hält den Vorwurf der Islamfeindlichkeit für ein Missverständnis: 34 - OT Beigbeder ÜBERSETZER Ich musste oft lachen, als ich „Soumission“ gelesen habe. Für mich ist das eine sehr komödiantische Satire über das heutige Frankreich. Wer Houellebecq allzu ernst nimmt, versteht nicht, was seine Kunst ausmacht: Er ist wie Charlie Chaplin, der ja auch oft mit ernsten Themen sehr komödiantisch umgegangen ist. Es geht Houellebecq nicht darum, möglichst exakt die Realität abzubilden. Er will die Leser provozieren. Manchmal vielleicht auch nerven. ERZÄHLER Ist Houellebecq der ungeliebte Überbringer der schlechten Nachricht vom Auseinanderbrechen der französischen Gesellschaft? Oder befördert er insgeheim Islamophobie und Politikverdrossenheit? 35 - OT Houellebecq SPRECHER (Übersetzung) Mein Projekt ist ganz einfach: direkte Demokratie. Ich kann das in ein paar Zeilen formulieren: Weg mit dem Parlament! Stattdessen Volksabstimmungen über die Gesetze. Der Präsident wird vom Volke gewählt, ebenso die Richter und Staatsanwälte; sie können auch wieder abgewählt werden. Und auch das Budget wird vom Volk bestimmt. ERZÄHLER Wohlgemerkt: Diese Sätze legt der Schriftsteller Houellebecq keiner Romanfigur in den Mund. Hier spricht die öffentliche Person Michel Houellebecq – bei seinem Auftritt im Januar in Köln. Solche naiv anmutenden Simplifizierungen in Bezug auf das politische System nähren den Verdacht, dass der Autor sich populistischen Bewegungen durchaus nahe fühlt. 36 - OT Wittmann In Frankreich rückt er in die rechte Ecke. Er hat ja große Schwierigkeiten gehabt, sich davon zu distanzieren. Auch in den TV-Interviews. Nein, nein, mit Marine Le Pen habe ich nichts zu tun. Aber allgemein ist er in Frankreich in die rechte Ecke gerutscht, was mir nicht sympathisch ist. ERZÄHLER Houellebecqs Haltung zum Front National ist – öffentlich zumindest – indifferent. Stets besteht er auf seiner unabhängigen, eben „neutralen“ Position als Beobachter des Zeitgeschehens: 37 - OT Houellebecq ohne Übersetzung ERZÄHLER Wer mich vereinnahmen will, der ist noch nicht geboren, so kommentiert er genervt die Vorwürfe, er befördere den Aufstieg von Marine Le Pen. Sie solle es versuchen. MUSIK („Présence humaine“) ERZÄHLER Michel Houellebecq, der kraftvolle Zeitdiagnostiker, genaue Menschenbeobachter, glänzende Stylist und hochironische Provokateur – ist er tatsächlich rechts und reaktionär geworden? Oder ist er, wie sein Held François im Roman „Unterwerfung“ „so stark politisiert wie ein Handtuch“ - also gar nicht? SPRECHER (Zitat) Die Welt ist von mir gelangweilt. Und ich von ihr. MUSIK (Présence humaine), kurz hoch ERZÄHLER „Elementarteilchen“ war ein epochaler Endzeit-Roman, der Band „Die Welt als Supermarkt“ ein trauriger Blick auf die Konsumgesellschaft. In Houellebecqs Gedichten ist die „Suche nach Glück“ sehr deutlich. Eines seiner jüngsten Poeme endet so: SPRECHER (Zitat) Einige Sekunden dauert es, um die Welt auszulöschen. MUSIK (Présence humaine) ERZÄHLER In seinem gesamten bisherigen Werk schwingt eine Form des Lebensüberdrusses mit. Die Lust an der „Unterwerfung“ im neuen Roman ist eine Facette des Verzweifelns an den Existenzbedingungen des Menschen in der Moderne. Seine Romanfiguren sind die verstörten und verstörenden Anti-Helden unserer Zeit, in deren Defekten wir uns so gut wiedererkennen. Michel Houellebecq stellt die existenziellen Fragen der Gegenwart - auf unnachahmlich ironische Weise. 38 - OT Houellebecq ) „Je ne sais pas. En même temps, on peut oublier sa mortalité temporairement, ça m’arrive tout le temps d’oublier que je suis mortel - man kann manchmal vergessen, dass man sterblich ist - et ça revient, effectivement, c’est tout un jeu quoi – und dann kommt das wieder, das ist alles ein Spiel - une autre question, s’il vous plaît – eine andere Frage, bitte.“ (ohne Übersetzung) MUSIK (Présence humaine) - ENDE – Übersetzungen: Unterwerfung, 2015: Noma Cassau und Bernd Wilczeck Plattform (2001), Elementarteilchen (1998) und Karte und Gebiet (2011): Uli Wittmann Gestalt des letzten Ufers (2014): Hinrich Schmidt-Henkel und Stephan Kleiner Die genannten Bücher sind im Dumont Verlag erschienen. 1