Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 18. Januar 2014 / 11.05 - 12.00 Uhr Bürger haften für ihre Bauten - Schweizer Mitbestimmung auf dem Prüfstand Mit Reportagen von Stefanie Müller-Frank Am Mikrofon: Norbert Weber Musikauswahl: Babette Michel Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Opening: (Stimmen) Musik Mod Eine Anwohnerin aus Kleinbasel, die sich nicht mehr allein auf Worte verlassen will, wenn ihr Viertel umgebaut wird. Heidi Mück: Ich wohne hier und deswegen muss ich hoffen. Ich werde den Finger draufhalten und sofort, wenn ich merke, die Mitwirkung, die ist nur zum Schein, da werde ich intervenieren und Lärm machen. Mod Und ein Direktor für Stadtentwicklung, der das Schweizer Mitsprachemodell bei Großbauprojekten lobt. Thomas Kessler: Das ist die beliebteste Grundhaltung, die Sie in der Schweiz immer finden, in jedem Projekt. Das ist Teil unseres demokratischen Bewusstseins. Punkt eins ist immer Skepsis, sogar wenn wir dabei sind in der Partizipation, soll man noch zweifeln. Und das ist eine gute Grundhaltung. Mod Gesichter Europas: Bürger haften für ihre Bauten - Schweizer Mitbestimmung auf dem Prüfstand. Eine Sendung mit Reportagen von Stefanie Müller-Frank. Am Mikrofon begrüßt Sie Norbert Weber. Musik Atmo Bahnhof, Hafen Mod Stuttgart 21 ist der Alptraum jeder deutschen Kommune. Seit sich dort aufgebrachte Bürger den Wasserwerfern stellten und den Bahnhofsumbau mit Klagen stilllegten, ist klar: Wer die Menschen vor Ort nicht für ein geplantes Großbauprojekt gewinnen kann, droht zu scheitern, auch wenn alles formal genehmigt wurde - und sich der Widerstand erst dann regt, wenn bereits die Bagger rollen. In der Schweiz lässt man das Volk lieber mitreden und gegebenenfalls abstimmen, um jede Eskalation zu vermeiden. Direkte Demokratie gilt hier bis in die Stadtplanung, auch wenn das im Einzelfall schon mal dazu führt, dass ein Großprojekt komplett gekippt wird - wie der Bau der Zürcher U-Bahn. - Der Kanton Basel-Stadt hat die Mitwirkung der Bevölkerung im Juni 2007 sogar in seiner Verfassung festgeschrieben: Stadtteilsekretariate, Infoveranstaltungen, Begleitgruppen - all das soll dazu dienen, die Menschen vor Ort bereits in den Planungsprozess einzubinden. Auf dem Papier gilt das auch für eines der größten Bauprojekte, das die Stadt Basel je in Angriff genommen hat: Auf dem bisherigen Hafengelände im Norden der Stadt soll ein komplett neues Wohnviertel am Wasser entstehen - von den Medien auf den Namen "Rheinhattan" getauft. Erste Gelder sind schon beantragt, Investoren und Baufirmen stehen bereit. Bei den Bewohnern der angrenzenden Quartiere Klybeck und Kleinhüningen aber formiert sich Widerstand gegen die Pläne einer Hochglanzhochhausinsel. Reportage 1 LIEBER SCHERBENVIERTEL ALS HOCHGLANZINSEL - Eine Mutter mischt sich ein Atmo Schranke geht runter Autorin Die Hafenbahn hat hier Vorfahrt. Noch zumindest. Heidi Mück steigt abrupt vom Rad, um der Schranke auszuweichen. Eine Apfelsine springt ihr aus dem Fahrradkorb, rollt unter der Schranke hindurch und kullert Richtung Gleise. Die Mutter von drei Söhnen lebt seit über zwanzig Jahren in Kleinhüningen, dem nördlichsten Teil von Kleinbasel. Nachts hört man hier die Güterzüge mit den Überseecontainern rangieren, tagsüber sieht man schon mal Menschen in Schlafanzug und Pantoffeln an der Tramhaltestelle. Die höchste Ausländerquote, die höchste Arbeitslosenrate, die meisten Sozialhilfeempfänger. Weil die Wohnungen günstig sind und die Sozialhilfe auch einen gewissen Druck auf die Leute ausgeübt hat, dorthin zu ziehen, weil es dort weniger kostet. (162, 1.24) Autorin Heidi Mück steht ehrenamtlich dem Quartiertreff von Kleinhüningen vor, sie kennt also auch die Gesichter hinter der Statistik. Atmo Auf dem Rad Autorin Wer aus dem Zentrum von Basel kommt, über den Rhein fährt und am Ufer entlang Richtung Norden - also Richtung deutsche Grenze - der kehrt spätestens an der Dreirosenbrücke um. Denn hier scheint die Stadt zu Ende zu sein: auf der einen Rheinseite der abgeschottete Firmencampus des Pharmariesen Novartis, am anderen Ufer Öltanks, Logistikfirmen und Getreidesilos. Also man sieht, die Psychiatrie, die wurde immer an den Rand der Stadt gebaut. Und dann die Kehrichtverbrennung, die ist gerade hier. Wir haben all die Sachen, die man nicht so gerne sieht. Die drängt man gerne an den Rand. Wenn man von der Stadt her kommt, dann ist die Industrie ja wie ein Riegel. Also man merkt, das ist so ein bisschen ein Unort, und dann geht man da durch und dann kommen wieder die Häuser. Da sind wir so ganz abgeschlossen von der Stadt. Atmo Schulkinder auf der Straße Autorin Lange Zeit wohnte in Klybeck und Kleinhünigen vor allem, wer sich die Mieten anderswo nicht leisten konnte: Arbeitslose, Migranten, Studenten. Auch der älteste Sohn von Heidi Mück lebte bis vor kurzem in einer günstigen WG in der Inselstraße, mit Ofenheizung und WC im Treppenhaus. Und jetzt wurde das Haus verkauft, das hat auch so ein diffuses Konsortium gekauft und die haben die Leute rausgeschmissen und gesagt: Jetzt machen wir Eigentumswohnungen dort. Und das ist ein Quartier, wo niemand mit Geld freiwillig hinzieht und eine Eigentumswohnung kauft. Also das heißt, die Leute spekulieren schon auf die Aufwertung. Autorin Auslöser war ein Architekturentwurf, den die Stadt Ende 2011 veröffentlicht hatte. Er zeigt eine von Wasser umschlossene Rheininsel auf dem Gebiet des bisherigen Hafens, dicht bebaut mit schnittigen Hochhäusern und Bürotürmen. Schöner wohnen im Schweizer "Rheinhattan", hieß es in den Medien. Atmo Ins Haus, Treppen hoch Ja, es riecht nach Geld. Es sind teure Wohnungen mit einem wunderschönen Ausblick am Wasser. Und es gab auch entsprechend heftige Reaktionen darauf. Jetzt ist die Regierung auch zurückgekrebst und hat gesagt: Ja, das war nur ein Versuch, mal zu zeigen, was möglich wäre. Aber es ist noch überhaupt noch nichts fix. Und da bin ich einfach unsicher, wie weit soll ich ihnen glauben? Atmo Minze auf Balkon ernten Autorin Auf dem Balkon pflückt Heidi Mück frische Minze, dann setzt sie heißes Wasser auf. Bis zur Sitzung der IG Klybeckinsel heute Abend muss sich die 49-Jährige noch durch einige Stapel Papier durcharbeiten. In der Interessengemeinschaft haben sich Anwohner mit recht unterschiedlichen Ideen für das neue Viertel zusammengeschlossen. Einig sind sich alle jedoch darin, dass sie ein "Rheinhattan" um jeden Preis verhindern wollen. Heidi Mück hat versprochen, den aktuellen Ausgabenbericht - also den Haushaltsplan - der Regierung zusammenzufassen. Atmo Teekessel pfeift Autorin Das Baudepartement hat nämlich beim Großen Rat - also dem Parlament von Basel - Geld für die Entwicklung des Gebiets beantragt. Heidi Mück sitzt für das Grüne Bündnis im Großen Rat, sie kennt sich also aus mit Anträgen dieser Art. Trotzdem wird sie nicht schlau aus dem Papier vor sich. Einerseits heißt es: Es geht nur darum, die Rahmenbedingungen für die Erweiterung des Hafens abzuklären. Und gleichzeitig kommen aber immer wieder Sachen wie: Es ist geplant, ein urbanes Stadtquartier zu machen. Und auch die Insel ist immer wieder erwähnt. Und dann kommt wieder ein nächster Satz: Es ist aber überhaupt noch nichts konkret, es geht wirklich nur um den ersten Schritt. Und das finde ich schwierig, damit umzugehen. Und das macht auch misstrauisch. Atmo Tee aufgießen Autorin Knapp 1,4 Millionen Schweizer Franken will das Baudepartement für die ersten Planungen ausgeben, für die Mitwirkung der Bevölkerung sind 80.000 Franken veranschlagt. Also ungefähr sieben Prozent der Gesamtsumme. Atmo Papiere durchblättern Es hat auch einen Teil drin für die Mitsprache. Hier: Mitwirkung und Kommunikation. 210.000 Franken. 80.000 für die Mitwirkung und 130.000 für die Kommunikation. Da könnte man jetzt gemein sagen: 80.000, dafür machen sie die Begleitgruppe, und dann wird mal gesammelt, was die Leute wollen. Und dann 130.000, um das zu verkaufen - und den Leuten klarzumachen, dass sie dann doch nicht das bekommen, was sie wollen. Atmo Küche aufräumen Autorin Aus Heidi Mücks Worten spricht Misstrauen. Kein Wunder, findet sie, nach allem, was bei der Entwicklung des Erlenmatt-Quartiers schiefgelaufen sei. Auch dieses Großbauprojekt, ein ehemaliges Bahngelände in Kleinbasel, wurde mit Bürgerbeteiligung geplant. Die Wünsche der Bevölkerung wurden vom Großen Rat übernommen und der Regierung für die Entwicklung der Fläche übergeben. Der private Investor aber hielt sich nicht an die Vorgaben. Rein juristisch waren der Stadt die Hände gebunden, meinen die einen. Die Stadt hat versäumt, das Gelände zu kaufen, sagen die anderen. Auf jeden Fall glauben viele Nachbarn und Freunde von Heidi Mück seitdem nicht mehr an Mitsprache. Musik Mod LIT 1 Nicht nur in Stuttgart kam es zu Protesten von Bürgern gegen die Staatsmacht. In ganz Europa gehen die Menschen auf die Straße, um gegen Politiker zu demonstrieren, von denen sie sich nicht mehr vertreten fühlen und verlangen mehr Mitsprache - "mehr Demokratie". Die repräsentative Demokratie sei in einer Krise, so lautet die Diagnose, neue Formen der Legitimität müssten her. Diese Bürgerproteste nahm die "Neue Zürcher Zeitung" zum Anlass, in einer Folge von Essays an das "Projekt Volksherrschaft" zu erinnern. Mit der Demokratie als Regierungs- und als Lebensform, schreibt die NZZ, verbinde sich noch immer ein Versprechen. Wie das einzulösen wäre? Zu Wort kommen Schweizer wie der Schriftsteller Adolf Muschg, der Politikwissenschaftler Leonhard Neidhart oder der Ökonom Bruno Frey - aber auch Stimmen aus den Nachbarländern wie die des Berliner Historikers Herfried Münkler. Musik Literatur 1 Sprecher Es scheint, als stünde die Weiterentwicklung der Demokratie an einem Scheideweg, an dem man sich zwischen einem Mehr an zeitlich befristetem Vertrauen in die Eliten und einem Mehr an bürgerschaftlicher Beteiligung entscheiden müsse. In Zeiten der Globalisierung ist der Staat zwar nach wie vor der Adressat von Erwartungen, aber er hat viel von seiner früheren Handlungsmacht verloren. Und darüber wird die Erosion der Staatsmacht zur Krise der Demokratie. Anstatt auf die Verlagerung der Entscheidungszentren hinzuweisen, tun die Politiker nämlich so, als seien sie nach wie vor Herren der Lage. Da sie es aber immer weniger sind, sprechen sie von der "Alternativlosigkeit" ihrer Entscheidungen. Alternativlosigkeit aber ist eine Vorstellung, die mit der Demokratie unvereinbar ist. Und so kommen zu den "Verdrossenen" die "Empörten" hinzu, die, denen die politischen und wirtschaftlichen Eliten zum Objekt des Zorns und der Wut geworden sind und die mit demonstrativen Methoden ihre Verachtung für "das System" zum Ausdruck bringen. Ihr Problem ist, dass sie nicht wirklich wissen, was und wie etwas anders gemacht werden kann. Sie drücken Empörung aus, ohne konkrete Alternativen ins Spiel bringen zu können. Der Zerfall des "Volkes" in Verdrossene auf der einen und Empörte auf der anderen Seite ist für die Demokratie gefährlich. Hier können direktdemokratische Verfahren hilfreich sein, wenn sie die Verdrossenen aus ihrer Lethargie holen und die Empörten zwingen, Alternativen zu formulieren und dafür Mehrheiten zu gewinnen. Musik Mod So erstaunlich es für deutsche Ohren klingen mag: In der Schweiz können die Bürger bei Volksabstimmungen über die Architektur in ihren Städten mitentscheiden. Das Luzerner Konzerthaus von Jean Nouvel hat einen Volksentscheid überlebt, ebenso Renzo Pianos Kleemuseum in Bern. Abgelehnt wurde dagegen der Entwurf, den Zaha Hadid für das Basler Casino umsetzen wollte. Atmo Wellen schlagen gegen den Quai Andererseits scheint das Recht auf Stadt für die Bürger dort aufzuhören, wo die Interessen der Großkonzerne beginnen. Mit der Drohung, seinen Standort zu verlagern, kaufte das Pharmaunternehmen Novartis dem Kanton Basel-Stadt sogar eine ganze Straße ab. So entsteht nun direkt gegenüber vom Hafen, auf der Großbasler Rheinseite, ein abgeschotteter Industriecampus auf 200.000 qm mit bislang bereits 14 neuen Büro- und Laborgebäuden. Die Werkstore öffnen sich nur für Mitarbeiter. Den Basler Bürgern bleibt der Zugang verwehrt. Abstimmen konnten sie darüber nicht. Reportage 2 DAS "PALAWER-PRINZIP" - Ein Politiker lobt das Schweizer Mitsprachemodell Autorin Die Abendsonne treibt die Basler über den Rhein. Nach Feierabend besteigen sie eine Fähre in der Altstadt oder überqueren die Brücken, um auf der Kleinbasler Seite noch einen Apero zu trinken. Im Sommer gleicht die Uferpromenade einem Freizeitpark: Bistrotische und Stehgrills, lange Schlangen vor den Eisbuden und im Wasser die bunten Badesäcke der Rheinschwimmer. Offiziell ist das Baden bis zur Dreirosenbrücke erlaubt, danach beginnt das Hafengelände. Atmo Hafenbahn rangiert Autorin Lange konnte man den Hafen hier nur durch eine kleine Pforte betreten. Im vergangenen Sommer ließ die Stadt dann einen Teil des Zauns wegschneiden und einen offiziellen Weg über die Gleise anlegen. Kübel mit Birken und Gräsern wurden herangekarrt, um die Uferstraße zu verschönern, außerdem Sitzbänke aus Europaletten. Alles für die Menschen vor Ort, sagt Thomas Kessler. Der 54-Jährige leitet das Ressort für Stadtentwicklung beim Kanton Basel-Stadt. Die Leute wollen hier schnell mehr Grün, mehr Natur. Und da kann man einfach ein Birkenwäldchen hinstellen - und schon steht es da. Und in der Zeit, in der sie dastehen, keimt daneben auch die reale Natur. Und Birken wachsen schnell. Autorin Thomas Kessler trägt Lederjacke und Sonnenbrille. Er ist mit dem Rad aus der Altstadt gekommen, wo die Verwaltung ihren Sitz hat. Vor allem die jüngeren Mitarbeiter in seinem Team gingen gerne in die Strandbars an der Uferstraße, erzählt der Politiker. Im Sommer war er mit der ganzen Abteilung hier am Hafen zum Grillen nach Feierabend. O-Ton 10 Thomas Kessler Im Sommer haben wir natürlich fantastisch die Sonnenuntergänge. Bis zum flachen Horizont. Quasi eine Meersituation. Wenn wir da noch ein paar Palmen aufstellen, merkt das hier eigentlich kein Mensch mehr, dass wir hier am Rhein sitzen - und nicht an der Côte d'Azur. Atmo Bullaugen mit Wasser abspritzen Autorin Das ist auch für die Passagiere von Kreuzfahrtschiffen attraktiv. Thomas Kessler zeigt auf eine weiße Luxusyacht am Quai. Ein Mann in weißer Uniform spritzt die Glasfront des Speisesaals mit einem Wasserschlauch ab, die Seifenlauge fließt in den Rhein. Ein Jogger läuft vorbei, ihm folgt ein Paar mit Hund. Die Uferstraße wird offensichtlich von der Bevölkerung genutzt. Trotzdem fühlen sich viele hier nicht ernst genommen von der Stadt. Kessler kennt die Kritik. Das ist die beliebteste Grundhaltung, die Sie in der Schweiz immer finden, in jedem Projekt. Das ist Teil unseres demokratischen Bewusstseins. Punkt eins ist immer: Skepsis. Die Schweizer sind Anarchist und Bürger in einem. Zuerst mal Anarchist. Wir glauben nichts. Dem Staat auch nicht. Und sogar wenn wir dabei sind in der Partizipation, soll man noch zweifeln. Und das ist eine gute Grundhaltung. Autorin Auch für die Entwicklung bzw. Umnutzung des Hafengeländes hat die Stadt eine Mitwirkungsvereinbarung unterzeichnet und eine Begleitgruppe eingesetzt. Ja, da wird jedes einzelne Wort protokolliert. Der ganze Prozess ist transparent und wird überprüft. Also noch weiter kann man nicht gehen im Einbezug. Sogar vor demokratischen Prozessen sind wir gleich nach den Naturvölkern, die das Palawer-Prinzip haben. Wir bleiben unter dem Baum, bis alle zustimmen. Direkt danach kommt die Schweiz, insbesondere Basel. Also noch mehr Einbezug geht gar nicht. Autorin Das steht sogar in der Kantonsverfassung. In Paragraph 55 heißt es dazu: "Der Staat bezieht die Quartierbevölkerung in seine Meinungs- und Willensbildung ein, sofern ihre Belange besonders betroffen sind." Mitwirkung bedeutet allerdings nicht automatisch auch: Mitbestimmung. Die Anliegen der Bevölkerung sollen zwar berücksichtigt werden - aber nur: "soweit sinnvoll und möglich". Das lässt viel Spielraum, meinen die Kritiker. Das Gegenteil ist der Fall, sagt Thomas Kessler. Die Bevölkerung beschließt sowieso mit letztem Wort, was realisiert wird und was nicht. Auch diese Projekte hier. Jeder Kredit, jedes große Projekt kann per Referendum zur Abstimmung gebracht werden. Also die Wirklichkeit ist genau anders herum: Realisiert wird nur, was die Bevölkerung beschließt. (111, 38.20) Atmo Schritte Autorin Für das letzte größere Entwicklungsprojekt im Viertel trifft das allerdings nicht zu: Auf dem so genannten Erlenmatt-Areal, einem ehemaligen Bahngelände, sollte Wohnraum für Familien entstehen - so hatte es sich die Bevölkerung gewünscht, so wurde es auch vom Parlament beschlossen und in die Planung aufgenommen. Der private Investor aber entschied sich anders. Um mehr Rendite zu erzielen. Kein Wunder, meint Kessler. Vom Moment an, wo man den Boden in Privatbesitz gibt, spielen die rechtlichen Möglichkeiten. Und die Investoren haben dort alle Freiheit zu sagen, die Kundenbedürfnisse haben sich verändert in den letzten zehn Jahren, wir bauen jetzt ein bisschen anders. Und das gibt Enttäuschung. Und deshalb will man ja den Boden möglichst im Eigenbesitz haben jetzt. Atmo Möwen Autorin Bislang waren die Flächen der Hafenverwaltung in Erbpacht übergeben - also für eine Mietdauer von 99 Jahren. Aber sobald diese Verträge in den kommenden Jahren auslaufen und die Flächen an den Kanton zurückfallen, will der Stadtentwicklungschef den Grund und Boden nicht mehr aus der Hand geben. Das ist sein persönliches Fazit aus der Entwicklung des Erlenmatt-Quartiers. Finanziell könnte es sich Basel leisten, die Flächen zu behalten - und damit tatsächlich auf die Vorschläge der Bevölkerung einzugehen. Auch Thomas Kessler hätte schon eine Idee für die Rheininsel: Schwimmende Hausboote. Ich sehe diese Boote, die will ich dort. Die sind ideal für Entwicklungen, weil die kann man auch verschieben. Und die geben auch eine gute Atmosphäre. Die strahlen Romantik aus. Wärme. Und die Leute suchen das überall. Auch unsere Oberskeptiker, die knallharten Autonomen, die sich da vermummen, wenn man mit denen diskutiert. Im Kern wollen die eigentlich Romantik. MUSIK Mod Erhebungen zeigen, dass Menschen in demokratischeren Gemeinwesen glücklicher sind als Menschen in weniger demokratischen. Dabei spielten nicht nur die Ergebnisse, sondern auch die politischen Entscheidungen eine Rolle, meint der Schweizer Wirtschaftswissenschaftler Bruno Frey. In seinem Essay für die "Neue Zürcher Zeitung" stellt er die Frage: "Macht Demokratie glücklich?" Musik Literatur 2 Sprecher Die Mitwirkungsmöglichkeiten des Volkes unterscheiden sich wesentlich in den 26 Kantonen der Schweiz. Beispielsweise können die Bürgerinnen und Bürger im Kanton Genf nur in vergleichsweise wenigen Bereichen direkt mitbestimmen. Im Kanton Basel-Landschaft können sie hingegen in bedeutend mehr Fragen mitentscheiden. Wird die geäußerte Lebenszufriedenheit in den verschiedenen Kantonen der Schweiz mit dem Umfang der direktdemokratischen Partizipationsmöglichkeiten verglichen, zeigt sich: Je ausgeprägter die direktdemokratischen Mitsprachemöglichkeiten sind, desto höher ist die Lebenszufriedenheit der Bürger. Die ermittelte Zunahme an Lebenszufriedenheit in einem demokratischen Staatswesen lässt sich auf zwei unterschiedliche Gründe zurückführen. Der erste Grund bezieht sich auf das Abstimmungsergebnis. Je ausgeprägter direktdemokratisch ein Gemeinwesen ist, desto mehr entsprechen die durch Abstimmung erzielten Ergebnisse den Wählerwünschen. Der zweite Grund bezieht sich auf das Recht, am politischen Entscheidungsprozess zu partizipieren. Die Bürgerinnen und Bürger ziehen einen Nutzen aus der grundsätzlichen Möglichkeit, ihren politischen Willen zu äußern. Damit wird das Grundbedürfnis der Menschen erfüllt, ihr Leben aktiv zu gestalten. MUSIK Mod Überall in Europa wachsen die Häfen, um ihre Infrastruktur dem zunehmenden Containerumschlag anzupassen. So ist angeblich auch der Basler Hafen - trotz seiner logistisch guten Lage am Rhein und im Dreiländereck - nicht mehr konkurrenzfähig. Deshalb soll ein drittes Hafenbecken weiter im Landesinneren, auf dem Gebiet des ehemaligen badischen Rangierbahnhofs gebaut werden - nah am Schienennetz und an der Autobahn. Noch gehören diese Flächen allerdings der Deutschen Bahn, und auch der Bund in Bern hat der Finanzierung bislang nicht zugestimmt. Denn es wurde weder nachgewiesen, inwiefern die Verlagerung des Hafens tatsächlich zu mehr Kapazitäten führt - noch, ob diese Kapazitäten überhaupt gebraucht werden. Atmo Container werden verladen Trotzdem hat der Regierungsrat des Kantons Basel-Stadt im Juli 2013 schon mal Gelder in Höhe von 1,38 Millionen Schweizer Franken beim Parlament beantragt, um einen Entwicklungsplan für das bisherige Hafengelände zu erstellen und die Begleitgruppe zu finanzieren. Im Antrag des Bau- und Verkehrsdepartements ist die Rede von einem neuen urbanen Stadtteil direkt am Rhein. Offenbar bietet ein derartiges Großprojekt auch für Politiker, Planer und Architekten die historisch einmalige Chance, attraktives Bauland zu generieren und sich im Stadtbild von Basel zu verewigen. Reportage 3 "ALIBI-PARTIZIPATION" - Eine Teilnehmerin der Begleitgruppe über die Interessen hinter den Kulissen Autorin Tonja Zürcher stützt sich auf das Geländer am Hafenbecken 1 und schaut dem Schwerlastkran zu, der einen Überseecontainer nach dem anderen von der Schiene hievt und auf ein Schiff verlädt. Wir haben jetzt, glaube ich, Glück. Es werden nicht so viele Schiffe hier gelöscht, dass man immer etwas sieht, aber jetzt ist es voll in Betrieb. (126, 5.23) Autorin Letzten Winter war die junge Frau selbst mit einem Frachtschiff auf dem Meer unterwegs. Mit den echten Hochseehäfen, sagt sie, sei der Basler Hafen natürlich nicht zu vergleichen. Dafür ist er frei zugänglich. Im Gegensatz zu den meisten Häfen, die ich kenne, die dann irgendwie abgeschottet sind, kann man hier am Rhein eigentlich überall durchgehen. Und das ist schon spannend, wenn man so nah rankommt. Für mich haben der Hafen und die Industrie auch eine Identität für das Quartier, die mir sehr gut gefällt. (126, 3.20) Atmo Sirene Kran Autorin Die 30-Jährige ist vor zweieinhalb Jahren mehr aus Zufall nach Kleinhüningen gezogen, auf der Suche nach einer günstigen Mietwohnung. An ihren freien Tagen kommt Tonja Zürcher gerne zum Hafen: Mal ist das Tor zu einem der Schüttgutsilos auf - und überall riecht es nach Getreide. Oder sie findet Kakaobohnen zwischen den Schienen. Atmo Schritte durch Hafen Autorin Deshalb verfolgt Tonja Zürcher auch genau, was die Stadt jetzt für das Hafengelände plant. Offiziell ist noch gar nichts fix, es ist aber schon relativ klar, dass sie eine Insel wollen - also eine Abtrennung vom Festland. Eine exklusive Insel, dicht überbaut mit teuren Wohnungen, teuren Arbeitsplätzen. Wir haben aber die Hoffnung, dass wir noch was kippen können. Autorin Um an verlässliche Information zu gelangen, hat sie sich für die Teilnahme an der offiziellen Begleitgruppe gemeldet. Das macht sie ehrenamtlich, neben ihrer bezahlten 50 Prozent-Stelle für den WWF. Es gibt eine Alibi-Partizipation, es gibt eine Begleitgruppe. Also wir treffen uns so ein paar Mal im Jahr, und wir diskutieren da einfach drin, bekommen ein paar Informationen, die auch nicht wirklich weitergehen als das, was man sowieso in den Zeitungen lesen kann. Also eine Mitwirkung, wie es ja eigentlich die Idee davon wäre, ist es nicht. Mehr ein sich gegenseitig Zuhören im besten Fall. Atmo Lkw, Boot legt ab Autorin Tonja Zürcher hält auch die Verlagerung des Hafens vom Klybeckquai ins Landesinnere für vorgeschoben. Eigentlich, glaubt sie, gehe es der Stadt um den Grund und Boden. Es wird immer begründet: Der Hafen soll ja sowieso weg - und dann wird hier halt eine Brache frei und dann nutzen wir die halt, wenn die sowieso schon kommt. Aber ich gehe davon aus, dass es eigentlich andersrum ist. Man will hier attraktives Land direkt am Rhein gewinnen - und dafür muss der Hafen dann halt weg. Atmo Hafen, Stadt Autorin Mit dem Rad fährt die junge Frau regelmäßig durch das Hafengebiet und an der Uferstraße entlang Richtung Innenstadt, vorbei an den von der Stadt aufgestellten Birkenkübeln und Palettenbänken. Man wolle die Gegend jetzt aufwerten, vermutet sie, um die Grundstücke eines Tages teuer verkaufen zu können. Ich denke, die Idee hinter den ganzen Projektierungen ist wirklich, damit gute Investoren anzuziehen, viel Geld zu machen, aber auch wirklich die Stadt in dem Sinne zu entwickeln, wie es die Stadt will: Also gute Steuerzahler bekommen, viel Prestige, viele schöne Häuser - ich denke, das ist der Hintergrund. Autorin So sehr Politiker die Wünsche der Menschen vor Ort auch berücksichtigen wollten - letztlich, meint Tonja Zürcher, gingen doch die Einnahmen für die Kantonskasse vor. Also ich denke, der Interessenkonflikt ist zu groß. Also wenn man Geld machen will damit, dann muss man nicht machen, was wir wollen - sondern, was die Investoren wollen. Und ich denke, das ist das Grundproblem der Stadtentwicklung hier und eigentlich überall: Dass die Entwicklung für die Investoren und den Standortwettbewerb gemacht wird, nicht für die Bevölkerung. Musik Mod "Wäre die direkte Volksherrschaft" der Schweiz ein Modell für alle Staaten mit demokratischem System?", fragt der Politikwissenschaftler Leonhard Neidhart in seinem Essay für die NZZ, und plädiert dafür, die Besonderheiten direktdemokratischer Verfahren nicht außer Betracht zu lassen. Musik Literatur 3 Sprecher In einigen Nachbarstaaten der Schweiz werden in letzter Zeit vermehrt Wünsche nach direkter Demokratie wach. Bitte - gern, aber sie sollten dabei keine übertriebenen Erwartungen blühen lassen. Denn Volksentscheide sind Mehrheitsbeschlüsse, sie lassen - vor allem in großen Streitfragen - "Minderheiten" als verletzte Verlierer zurück. Auch gilt es zu beachten, dass Sachentscheide die Interessen der Gesellschaftsmitglieder direkt und sofort treffen. Mit alledem können sie hoch konfliktiv und sozial spaltend sein. Unsere Art des Referendums funktioniert oft als Veto von Unzufriedenen. Die Schweiz ist mit ihrem direktdemokratischen Element in den Gemeinden, den Kantonen und im Bund denn auch fast permanent in politische Auseinandersetzungen verwickelt. Volksabstimmungen sind im Unterschied zu Wahlen nicht selten konkrete, das heißt auf einzelne Themen und damit auf partikulare Interessen und Gruppen bezogene Entscheidungen. Dort sind es dann aber die starken Akteure, die Verbände, Medien, Financiers, Populisten, die auf direktdemokratischem Weg ihre Interessen nicht selten besser durchsetzen können. Der kleine Mann und die kleine Frau können das nicht. MUSIK Mod Basel bietet schon aus Platzgründen wenig Raum für Experimente. Nicht nur die historische Altstadt ist dicht bebaut, sondern auch die Wohn- und Industrieviertel auf beiden Rheinseiten. Schließlich liegt die Stadt Basel direkt an den Grenzen von Deutschland und Frankreich. Steht mal ein Haus leer, wird ein Grundstück oder Gewerbekomplex nicht mehr genutzt, spricht sich das schnell herum. Kein Wunder: Die Mieten in Basel sind hoch, Atelierplätze und Werkstätten rar, Ladenlokale kaum zu finden. So schnell etwas besetzt wird, so schnell wird es allerdings auch wieder geräumt. Basel ist bekannt für seine Null-Toleranz-Politik. Atmo Züge rangieren und Lautsprecher Die Besetzung auf dem Hafengelände wurde von der Stadtverwaltung bislang allerdings geduldet. Offiziell darf man hier, zwischen Gleisen und Schiffen, weder baden noch wohnen, auch wenn auf genau diesen Flächen in Zukunft ein Wohnviertel entstehen soll. Die Zeit bis dahin nutzen die Mitglieder der Wagenburg um zu zeigen, wie sich am Rhein auch wohnen ließe - jenseits von Hochglanzarchitektur. Reportage 4 ZWISCHEN GLEISEN UND SCHIFFEN - Eine Wagenburg schafft Fakten und zieht schon mal an den Hafen Atmo Regen auf Plane Autorin Knapp ein Dutzend bunte Bauwagen stehen im Halbkreis auf einer offenen Schotterfläche zwischen Rheinufer und Bahngleisen. Regen prasselt auf eine Plane am Boden. Fritz Rösli läuft mit Sandalen und Wollmütze über den Platz. Atmo Im Küchenwagen Autorin Im Sommer ist er vor dem Frühstück erst mal im Rhein schwimmen gegangen. Jetzt, wo es kalt ist, heißt es: Holz holen und den Ofen einheizen. Aber auch vom Küchenwagen aus lassen sich die Frachter beobachten. Was mir an Basel schon immer gefallen hat, das sind die Schiffe. Weil du so das Gefühl hast, die kommen irgendwo aus der weiten Welt. Und irgendwo gibt es so einen Link zum Meer. In der kleinen Schweiz tut es gut, wenn man das Gefühl hat, da gibt es noch so eine Verbindung zur Außenwelt. Atmo Feuer machen Autorin Die freibadgroße Schotterfläche am Klybeckquai liegt verlassen zwischen einer riesigen Logistikhalle und zwei alten Öltanks. Lange stand sie leer und wurde höchstens mal für Verkehrstrainings- oder Sicherheitsübungen der Polizei genutzt. In der ersten Nacht, erzählt Fritz Rösli, musste er sich erstmal an die Stille gewöhnen. Bis plötzlich ein Lautsprecher ertönte. Da lag ich so im Bett und höre plötzlich diesen Lautsprecher - das war wirklich in der ersten Nacht: "Wagen fünf, zwei Meter zurück!" Und dann bin schlagartig wach gewesen und dachte: Oh nein, jetzt ist was los draußen. Die wollen die Wagen wegziehen oder so. (Polizei?) Ja, ich dachte, es seien die Bullen hier. Und dann bin ich so steif im Bett gesessen und habe dann irgendwann gemerkt: Ach so, es geht einfach um die Güterzüge. (lacht) Atmo Kaffee kochen Autorin Dreizehn Erwachsene und zwei Kinder leben hier in selbst ausgebauten Wagen. Es gibt einen Gemeinschaftswagen für die Küche, dazwischen Gemüsebeete, Wassertanks und eine Feuerstelle. Das Gelände ist von der Uferstraße her offen einsehbar, es gibt weder Zäune noch Verbotsschilder. So trauen sich auch Spaziergänger auf den Platz, schauen sich um und fragen nach. Fritz Rösli erklärt den Besuchern dann, welche Alternativen ein nichtkommerzielles, selbstverwaltetes Wohnprojekt den Menschen bietet, die hier leben. Sollte es einmal zur Abstimmung unter der Bevölkerung kommen, ist die Wagenburg auf jeden Fürsprecher angewiesen. In Bern zum Beispiel gab es vor kurzem einen Volksentscheid über eine Zone für Wohnexperimente. Mit knapper Mehrheit stimmten die Berner dafür, dass sich auf einem 6.000qm großen Areal im Westen der Stadt legal Wagendörfer ansiedeln dürfen. In Basel steht eine solche Zone bisher nicht zur Debatte. Lieber plane man die üblichen Appartementhäuser, kritisiert der 29-Jährige. Gegen diesen Großentwurf "Rheinhattan" - hier in diesem Gebiet eine extreme Aufwertung zu machen mit Hochhäusern oder allgemein mit Häusern für Gutverdienende, direkt am Rhein, zentral in der Stadt, mit Tramverbindung. Da sehen wir uns schon als Gegenentwurf dazu. Autorin Die Wagenburg setzt sich für kostengünstige und basisdemokratische Wohnformen ein, meinen die einen. Die Besetzer wollen nichts von demokratischen Spielregeln wissen und nur ihre eigenen Pfründe sichern, sagen die anderen. Partizipation wird auf dem Wagenplatz in jedem Fall anders definiert als von der Politik. Wenn ich jetzt so denke: Diese Brache ist riesengroß - und alle Leute aus dem Quartier können hier etwas machen, das sie toll finden in Absprache mit allen anderen. Dann finde ich das die direkteste Form von Partizipation. ( MUSIK Mod "Demokratie, oder: Die geraubte Braut" - so hat der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg seinen Essay für die NZZ-Reihe über das "Projekt Volksherrschaft" betitelt. Sein Fazit fällt ambivalent aus: Der Wähler werde von der Politik nicht mehr als Bürger, sondern als Kunde wahrgenommen. Musik Lit 4 Lit 4 Sprecher Es gehört kein böser Blick mehr dazu, demokratische Wahlen für schwerfällige Simulationen der Marktforschung zu halten. Ein Produkt wirbt um freie Wahl des Kunden, den es als König anspricht; als der Größte (oder die Schönste) erscheint er im Spiegel der Reklame. Auch die Politik hat keine größere Sorge, als ihren Souverän persönlich "abzuholen", auch wenn er in der Abrechnung nur noch als statistische Größe erscheint. Die Unternehmer der Demokratie haben sich im Wettbewerb um die Wählergunst alle Techniken des Marketings zu Eigen gemacht. Alle Gewalt geht vom Volke aus", zitiert Brecht im Gedicht die Weimarer Verfassung und fragt nach: "Aber wo geht sie hin?" Steckt im Wähler noch immer ein Bürger, dessen Reflexe gegen Verfestigungen der Macht, jeder Macht, selbst der populärsten nie ganz einzuschläfern sind? Möge uns die Demokratie, wenn sie keinen Glorienschein verdient, wenigstens als Notbehelf erhalten bleiben, denn als solcher bewahrt sie die Möglichkeit, Not zu erkennen und darauf zu reagieren. Musik Atmo Hafen Mod In der Schweiz müssen sich Politiker die Zustimmung der Bevölkerung sichern, damit ihr Bauvorhaben nicht per Referendum gekippt wird. Dafür dienen öffentliche Diskussionsabende im Stadtteilsekretariat ebenso wie Begleitgruppen. Wenn dort allerdings nur Detailfragen zur Diskussion gestellt werden, wirkt die viel gepriesene Mitsprache vorgeschoben. Den eigentlichen Planungsprozess, so scheint es, gibt keine Verwaltung freiwillig aus der Hand. Bestes Beispiel dafür ist die Zwischennutzung am Basler Klybeckquai. Die leerstehenden Flächen am Rheinufer, die nicht mehr von der Hafenbahn oder für Öltanks genutzt werden, schrieb die Stadt öffentlich aus: Wer hier für einen befristeten Zeitraum eine Strandbar oder eine Skaterbahn eröffnen wollte, konnte sich mit einem Geschäftsplan bewerben. Die Vorteile für die Stadt liegen auf der Hand: Die Flächen stehen nicht leer, können also nicht weiter besetzt werden, kreative Zwischennutzer werten das Gelände auf, und die Verwaltung bestimmt dennoch die Spielregeln. Reportage 5 VON ANGELRECHT BIS ZWISCHENNUTZUNG - Was sich der Dorfverein und ein Stadtplaner auf der Rheininsel wünschen Atmo Glocken Autorin Am Hafen setzt die Dämmerung ein. Hier, wo die Überseecontainer von der Schiene gehoben werden, zwischen Rangierhäuschen und Schwerlastkränen, mündet auch das Flüsschen Wiese in den Rhein. Unterhalb der Kaimauer sind bunte Lampions gespannt, die leicht im Abendwind schaukeln. Sie gehören zu einem der beiden Fischergalgen an der Flussmündung. Also einer Art Schrebergartenlaube mit weit ausladenden Fischernetzen. Atmo Am Wieseneck Autorin Georges Böhler und Werner Loosli, Präsident und Vizepräsident vom Dorfverein Pro Kleinhünigen, lassen ihr Auto am Wieseneck stehen und überqueren zu Fuß die rostige Eisenbahnbrücke der Hafenbahn. Wir könnten mal kurz, wenn wir jetzt schon hier sind, über die Brücke gehen. Da sehen Sie praktisch den schönsten Teil von Kleinhüningen. Das ist für uns Ältere das Wieseneck hier. Autorin Lange Zeit war das Fischen im Hafengelände verboten. Der Dorfverein Pro Kleinhüningen aber berief sich auf die Vergangenheit und sammelte Unterschriften. Seit Juli 2013 ist das Angeln am Klybeckquai und an der Stirnseite des Hafenbecken 1 nun wieder erlaubt. Georges Böhler findet das eine gute Entscheidung der Stadt. Stolz rückt der Präsident den Schmuckorden mit Kleinhüninger Wappen zurecht, den er um den Hals trägt. Die Fischereizone, die wurde jetzt - weil wir waren ja ein Fischerdorf, wir wollten wieder eine Verbindung erschaffen zu diesem Fischerdorf und haben verlangt, dass wieder eine Fischereizone ausgewiesen wird. Autorin Auch für die Zwischennutzung am Klybeckquai bewarb sich der Dorfverein mit einer eigenen Idee, kam aber nicht in die engere Auswahl. Wir wollten ein so genanntes Fischerhäuschen bauen, damit die Fischer ihre Fänge auch grillieren und gerade verzehren können. Das war ein sehr vernünftiges Projekt. Und das wäre auch etwas gewesen, wo Leute in unserem Alter hätten sich hinsetzen können. Die Fischer, das sind eine andere Klientel als die Zwischennutzer. Die hätten zu uns auch gepasst. Atmo Brunnen Autorin "Wir Kleinhüninger", sagt Georges Böhler - tatsächlich vertritt er die Interessen von gerade mal hundert Mitgliedern. Der "Stammbevölkerung von Kleinhüningen", wie der 76-Jährige es nennt. Zuwanderer, Zugezogene oder Zwischennutzer zählt er nicht dazu. Statt eines Fischerhäuschens ist an der Uferstraße jetzt also eine Skateranlage entstanden, außerdem ein urbanes Gartenprojekt, zwei Strandbars und drei übereinander gestapelte Container, die von Künstlern genutzt werden können. Die Stadt hat dazu Sitzbänke aus Europaletten am Rheinufer aufstellen lassen. Und das, empört sich Georges Böhler, ohne den Dorfverein zu fragen. Das gehört jetzt zur Zwischennutzung. Aber das hätte man nie so bauen dürfen. Das ist wieder typisch, da fragt man die Kleinhüninger nicht. Das passt doch nicht in diese Landschaft, das sieht aus wie auf einem Umschlagplatz. Da müssen wir wieder vorstellig werden. Atmo Skaterbahn Autorin Für die Auswahl der Zwischennutzer beauftragte die Verwaltung Philippe Cabane. Der 50-Jährige ist selbständiger Stadtplaner und war auch auf dem so genannten "nt-Areal", heute: Erlenmatt-Quartier, als Mitinitiator und Projektentwickler aktiv. Dass Zwischennutzung von oben initiiert und gesteuert wird, sei mittlerweile durchaus üblich in Basel, sagt Cabane und erklärt das Verfahren. Also kurz gesagt: Wie kann ich top down einen bottom-up Prozess initiieren? Weil normalerweise haben Zwischennutzungen sich ja immer selbst die Flächen irgendwie verhandelt oder bekommen und haben das immer von unten gemacht. Und das ist eine ganz andere Energie. Und sobald jetzt Zwischennutzungen von oben initiiert werden sollen - also geplante Zwischennutzung gewissermaßen - ist natürlich die Gefahr, dass genau diese Energie wieder rausfällt. Atmo Bar (mit Bauarbeiten) Autorin Der Stadtplaner bestellt ein Bier und zündet sich eine Zigarette an. Er kommt öfters mal an die Uferstraße, spricht mit den Zwischennutzern und verfolgt, wie sich alles so entwickelt am Hafen. Dass die Stadt hier eine Hochhausinsel plant, wundert Cabane nicht. Irgendwo müsse das Geld ja herkommen, um einen komplett neuen Hafen zu bauen, rechnet er vor. Also meistens kalkuliert man solche Projekte so, dass man sagt: Der Landwert, der generiert wird, muss dann eben wieder so Infrastrukturmaßnahmen bezahlen wie das ist, den Hafen rüberzunehmen, um dann überhaupt diese Flächen freizubekommen. Das ist dann bei staatlichen Entwicklungen meistens so, dass man so kalkuliert. Autorin Die Beteiligung der Bevölkerung hält der Stadtplaner dagegen für überbewertet. Eine Begleitgruppe - eigentlich weiß man ja immer schon, was die wollen: Mehr Grünflächen, weniger Autos, schönere Wohnungen und Ruhe. Atmo Schiff legt ab, Schiffshorn Autorin Zumal die angebliche Mitbestimmung von der Politik oft dazu missbraucht werde, glaubt Philippe Cabane, um sich das absegnen zu lassen, was hinter den Kulissen längst entschieden ist. Partizipation in einem hochpartitizipativem System wie die Schweiz, wo wir immer die Referendumskeule haben, hat immer auch den Zweck, ein Projekt zu legitimieren. Das heißt natürlich, dass der Trend der Besänftigung sehr stark ist. Und da haben wir natürlich auch wiederum Instrumente entwickelt, wo man - böse gesagt - den Bürger auch wieder über den Tisch ziehen kann. Musik Sie hörten Gesichter Europas: Bürger haften für ihre Bauten - Schweizer Mitbestimmung auf dem Prüfstand. Eine Sendung mit Reportagen von Stefanie Müller-Frank. Musik und Regie: Babette Michel, Ton und Technik: Beate Braun und Gunter Rose. Die Essays, gesprochen von Simon Roden, sind erschienen in der Neuen Zürcher Zeitung 2012/13. Redakteur am Mikrofon war Norbert Weber. Musik 9 1