Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 26. April 2014, 11.05 - 12.00 Uhr Die Helden des Meeres - Seenotretter in Frankreich Mit Reportagen von Suzanne Krause Redakteur am Mikrofon: Norbert Weber Musikauswahl: Babette Michel Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Opening: (Stimmen) Musik Atmo Orkan Februar 2014. Wieder einmal tobt ein Orkan an Frankreichs Westküste. Beim Seenotrettungsdienst SNSM herrscht Alarmstufe 1. Ein Segler wurde vom Mast am Kopf verletzt. Er blutete sehr stark. Wir haben ihm zwei Mann für die Erste Hilfe an Bord geschickt und dann wurde er von einem Rettungshubschrauber geborgen. Windgeschwindigkeiten bis zu 150 Kilometer pro Stunde verursachen Monsterwellen auf dem Meer. Jeder Einsatz bedeutet auch Gefahr für das eigene Leben. Man muss immer versuchen die Lage richtig einzuschätzen. Vor allem muss man schnell überlegen. Wenn wir rausfahren, wissen wir nie, was uns genau erwartet. Auf dem Wasser ist man vor Überraschungen nie sicher. Gesichter Europas: Die Helden des Meeres - Seenotretter in Frankreich. Eine Sendung mit Reportagen von Suzanne Krause. Am Mikrofon begrüßt Sie Norbert Weber. Musik Unzählige heftige Stürme tobten in den ersten drei Monaten dieses Jahres an der französischen Atlantikküste. Zahlreiche Schiffe gerieten in Seenot, Menschen kamen ums Leben. Die Société Nationale de Sauvetage en Mer, die "Französische Seenotrettungsgesellschaft", kurz SNSM, hatte alle Hände voll zu tun. Rund 7.000 Mitglieder zählt dieser gemeinnützige Verein, mehr als die Hälfte davon arbeiten ehrenamtlich. Im vergangenen Jahr haben die "Helden des Meeres", wie sie auch genannt werden, mehr als 8.000 Menschen aus Seenot gerettet. Oft sind es Leichtsinn, Ignoranz und Unachtsamkeit, die die Menschen in Not geraten lassen. ATMO Kinder Vorbeugen und sensibilisieren ist besser als retten müssen, lautet deshalb eine Losung der SNSM. Mit unterschiedlichsten Mitteln klärt der Verein über die Gefahren des Meeres auf: mit Plakaten, die in Yachthäfen aushängen, mit kurzen Spots im Fernsehen und mit Foren, die der SNSM rund um das Thema Sicherheit für seine Mitglieder und Partner anbietet. Wie beispielsweise Anfang April in Suresnes, im Westen von Paris. Dort, einen Steinwurf von der Seine entfernt, befindet sich das moderne SNSM-Ausbildungszentrum für den Pariser Großraum. Veranstaltet werden nicht nur Podiumsdiskussionen sondern auch praktischer Anschauungsunterricht für Schulklassen. Rep 1 Forum ATMO Vorhof Kinder Vor dem Gebäude drängen sich Kinder einer benachbarten Grundschule um einen jungen Mann. Sein Name ist François Gabart und Gabart ist in Frankreich ein Sport-Star. Der Einunddreißigjährige hat, als jüngster und schnellster Sieger bislang, den letzten Vendée Globe gewonnen, die härteste Einhandregatta rund um den Globus. Dabei wirkt der schmale Blonde wie der große Bruder der Zehnjährigen, die ihn umringen. Etwas abseits steht ein älterer unauffälliger Herr im schicken Anzug. Um seine Mundwinkel spielt ein Lächeln. Amüsiert schaut er dem Treiben zu. Sehen Sie nur, wie die Augen der Kinder vor Begeisterung glänzen, weil sie einen großen Skipper vor sich haben. ATMO Ernest Cornacchia hat Regattastar Gabart als Ehrengast zum Forum gebeten: der Skipper soll den Kindern den Umgang mit einer Rettungsweste erklären. Ein Thema, das Cornacchia sehr am Herzen liegt. Zehn Jahre lang war der Mittsechziger im Pariser Transportministerium zuständig für den Bereich Hobbyschifffahrt. Nun als Rentner kümmert er sich bei der SNSM ehrenamtlich um den Sektor Prävention. Dozierend hebt Cornacchia den Zeigefinger: Von zehn Menschen, die im Meer sterben, könnten wir acht retten - wenn sie eine Rettungsweste tragen. Denn damit können sie selbst bei einer Wassertemperatur von zehn Grad ein bis zwei Stunden durchhalten, je nach ihrer körperlichen Verfassung. Doch laut einer Studie, die die SNSM kürzlich unter französischen Hobbyseglern durchführte, legen nur elf Prozent der Erwachsenen beim Bordgang eine Rettungsweste an. Ernest Cornacchia schüttelt missbilligend den Kopf und öffnet mit Schwung die schwere Glastür zur Aula. Rechterhand auf einem Podium, vor gut einhundert Zuschauern, diskutieren Fachleute Fragen der Sicherheit an Bord. Ernest Cornacchia jedoch zieht es in den kleinen verglasten Raum gegenüber. Dort hängen große Plakate, ein Unterrichtsprojekt der Schüler, die draußen gerade Skipper Gabart umlagern. In Schönschrift haben die Kinder selbsterdachte Umgangsregeln für Strand und Meer festgehalten. Mit vorgebeugtem Oberkörper studiert Cornacchia die lange Liste auf einem der Poster. Hier haben die Kinder aufgeschrieben, wie man sich auf einem Boot verhalten soll. Erstens: wenn ich aufs Meer raus fahre, schaue ich vorher in den Gezeiten-Kalender. Richtig! Zweitens: ich lese den Wetterbericht. Das ist sehr wichtig; das empfehlen wir vom Seenotrettungsdienst auch immer wieder. Drittens: ich habe eine Rettungsweste an Bord. Viertens: ich gebe Acht auf Leute, die im Meer schwimmen. Das ist erfreulich, dass die Kinder auch an die Sicherheit anderer in ihrem Umfeld denken. Die Liste endet mit der Empfehlung, bei einem Notfall die SNSM anzurufen. Wobei: da haben die Kinder ein bisschen vereinfacht. In Wirklichkeit geht ein Notruf nicht direkt an unseren Seenotrettungsdienst, sondern zuerst an die Küstenwache, die uns dann benachrichtigt. ATMO Ernest Cornacchia reibt sich kurz die Hände: die Schüler haben offensichtlich begriffen, worauf es beim Thema Sicherheit an Bord ankommt. Dabei waren die wenigsten von ihnen selbst schon einmal auf hoher See. Aber die meisten träumen davon, sagt Ernest Cornacchia mit einem Lächeln. Die Begeisterung der Franzosen für das Segeln geht auf Eric Tabarly zurück. Der bretonische Skipper war der erste Franzose, der 1964 die berühmte Transat-Regatta gewonnen hat. Das führte zu einem wahren Boom der Hobbyschifferei in Frankreich. Damals kamen die so genannten Optimisten in Mode, kleine Segelboote für Kinder. Die gibt es heute noch. Und seit dieser Zeit verfolgen auch viele in den Medien die unterschiedlichen Regatten. Weil sie als sehr gesellige Ereignisse aufgezogen werden, mit viel Tamtam schon vor dem Start. Auch das Festival der alten Windjammer, das jährlich in einem anderen französischen Hafen stattfindet, zieht viel Publikum an. Da wird gefeiert, so wie es die Franzosen mögen. ATMO Segeln ist in Frankreich zum Massensport geworden. Doch längst nicht jeder Freizeitkapitän ist sich der Risiken bewusst, weiß Cornacchia aus leidvoller Erfahrung. Er hebt kurz bekräftigend die Hände: Jeden Sommer seien Mitarbeiter der Seenotrettungsgesellschaft auf Tour: durch Yachthäfen an Atlantik und Mittelmeer, an französischen Ferienstränden, um Urlauber über die Gefahren des Meeres aufzuklären. Ernest Cornacchia schaut auf die Uhr: gleich beginnt die Übung der Rettungsschwimmer. Er eilt hinaus zum Anlegesteg. Draußen hängt der Himmel tief, die Seine und die Hochhausblöcke am anderen Ufer schimmern grau. Dafür leuchten die orangefarbenen Westen der Rettungsschwimmer am Steg umso mehr. Sie simulieren die Rettung eines Ertrinkenden in der Seine. Gebannt schauen die Schüler den Männern in ihren schwarzen Neopren-Anzügen bei ihren Aktionen zu. Ernest Cornacchia überwacht routiniert den Ablauf und scheint sichtlich zufrieden. Er, der in Luxemburg geboren wurde, aber fast sein ganzes Leben am Atlantik verbracht hat, weiß um die Gefahren des Meeres, aber auch um die unendliche Weite und Schönheit. Zwar gibt es immer mehr Schifffahrtsregeln, aber die sind nötig um Unfälle auf dem Meer zu verhindern. Es ist wichtig Respekt vor diesem Element Wasser zu haben, denn es ist eine Urgewalt. Aber dennoch: das Meer ist für mich Freiheit. Man setzt die Segel und schippert los, sieht Sonnenauf- und Sonnenuntergänge. Was gibt es schöneres. Für mich und für manchen anderen ist das Meer einer der letzten Orte der Freiheit. ATMO Kinder Die lautstarken Rufe der Kinder bringen Ernest Cornacchia in die Gegenwart zurück. Sie wollen wissen, wie man mit einer Rettungsweste umgeht. Musik Pierre Schoendoerffer machte sich nicht nur in Frankreich als Filmemacher und Buchautor einen Namen. In seinem Roman: "L'Aile du papillon" - "Der Flügel des Schmetterlings", beschreibt der ehemalige Matrose unter anderem den Schiffbruch des Seglers Roscanvel. Musik Ein phänomenaler dumpfer Schock, das Segelboot erzittert, ächzt. Ein weiterer Stoß, der ihm das Herz herauszureißen scheint. Hals über Kopf kippt Roscanvel um, als habe ihn ein Vorschlaghammer im Nacken getroffen. Er verschwindet im schwarzen Wasser, es ist kalt, so kalt! Er hat Schmerzen: eine Art Dolchstoß in der rechten Körperseite. Er ringt, ergreift was ihm unterkommt, in einem phänomenalen Überlebensreflex. Eine Want? Eine Segelleine? Heulend und fluchend zieht er sich an Bord. Er denkt, er sei auf ein Stück Treibgut geprallt, das zu drei Vierteln unter Wasser liegt, ein Wal vielleicht? Ein Meeres-Ungeheuer? Aus voller Fahrt gerissen, legt sich das große Segelboot langsam auf die Seite, wie ein Tier, das zu sehr leidet, das aufgibt, um Gnade bittet. Musik Im März 1978 brach der Riesen-Öltanker Amoco Cadiz vor der bretonischen Nordküste auseinander und löste eine verheerende Ölpest aus. Es war nur einer von einer ganzen Kette von Schiffbrüchen. Seit 35 Jahren sind nun private Bergungsflotten im Auftrag des französischen Staates im Einsatz, um ähnliche Katastrophen auf hoher See zu verhindern. Der SNSM hingegen untersteht an erster Stelle die Personenrettung. Die ersten Seenotrettungs-Einrichtungen in Frankreich kamen zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf, fast gleichzeitig in der Bretagne und am Mittelmeer. Eine Bewegung, die sich innerhalb von 50 Jahren strukturierte. Zu dieser Zeit verfügten die Retter über knapp zehn Meter lange Boote mit zehn Rudern - es brauchte viel Wagemut. Seit 1967 haben sich alle Einrichtungen im Land in der SNSM zusammengeschlossen. Sie betreibt entlang der Küste insgesamt 220 Rettungsstationen, und verfügt heute landesweit über die zahlenmäßig größte Flotte. ATMO Auf dem Boot Der Heimathafen der 'Notre Dame de Rocamadour' ist Camaret-sur-Mer, eine kleine Gemeinde, an der äußersten Spitze der Halbinsel Crozon gelegen, unterhalb von Brest. Hier ist das Meer voll gefährlicher Strömungen, blasen häufig starke Winde, herrscht viel Verkehr. Der Einsatzradius des knapp 15 Meter langen Kreuzers, in leuchtendem Orange gestrichen, beträgt normalerweise 20 Seemeilen von der Küste entfernt - knapp 40 Kilometer. Im Ernstfall, auf Order der Küstenwache, fährt die Notre Dame de Rocamadour auch noch weiter hinaus. Wie allmonatlich, läuft der Rettungskreuzer heute zu einer Übung aus. Rep 2 ATMO BOOT Nach mehreren Anläufen klappt es endlich mit der Funkverbindung zwischen der Küstenwache und der Mannschaft an Bord des Rettungskreuzers Notre Dame de Rocamadour. Wie ein Fels in der Brandung steht Kapitän Michel Torillec in der mit High-Tech-Instrumenten ausgestatteten Steuerkabine. Nun schnappt sich der kleine drahtige Mann ein Din-A-5-Heft und notiert konzentriert mit: ein Verletzter an Bord eines Segelboots. Die Positionsangabe der Yacht. Den Bootstyp. Dann ruft er über seine Schulter: Ein verletzter Passagier mit einer Oberschenkelverletzung, die stark blutet. Leinen los! Während er das Ruder ergreift, holt seine Mannschaft die Leinen ein. Sieben Mann sind an Bord, normalerweise sind es acht. Aber der jüngste Rekrut beim Seenotrettungsteam spielt bei der heutigen Übung das Opfer. Torillec hat den Kreuzer vorsichtig aus der Hafenzone heraus manövriert. Nun heißt es: volle Kraft voraus. Zügig gleitet das Boot über die spiegelglatte See. Noch ist der Himmel blau, aber am Horizont über dem Meer tauchen dunkle Wolken auf. Die Mannschaft hat Position bezogen. Jeder Handgriff ist einstudiert. Die Verständigung klappt nahezu wortlos. Zwei Männer inspizieren das motorisierte Schlauchboot unter der Bodenklappe am Heck, Brendon Bosenech hat sich den Erste-Hilfe-Koffer geschnappt. Während er dessen Inhalt überprüft, stellt der Mittdreißiger die Mannschaft vor. William baut normalerweise Windräder. Sébastien schiebt Dienst auf einem U-Boot. Patrice war früher bei der Kriegsmarine für eine Werft zuständig. Jean-Luc arbeitete als Mechaniker bei der Marine. Unser Kapitän leitete eine Druckerei. Ich bin bei der Handelsmarine. Stéphane ist Maurer. Was uns eint, ist die Liebe zum Meer. In unserer Rettungsstation in Camaret gibt es noch relativ viele Seeleute: zehn in der 24-köpfigen Mannschaft. In manch anderer Station arbeitet kein einziger Seemann mehr mit, nur noch Landratten. Es gibt ja kaum noch Fischer. Wir machen das ehrenamtlich, wir bekommen für unsere Arbeit keinen Cent. Wenn ein Notruf eintrifft, müssen wir innerhalb von 15 Minuten startklar sein, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Und nächste Woche fahren wir alle nach Brest, zwei Tage lang, für die Bootswartung. Wir opfern unsere Freizeit, um so viel wie möglich selbst zu machen, um die Kosten gering zu halten. Pierre Dessin hat Brendon aufmerksam zugehört. Pierre, Anfang Fünfzig, wirkt wie ein Seebär. Er ist groß und kräftig. Seit zwanzig Jahren baut er im Kongo Ölplattformen im Meer. Die Schicht dauert sieben Wochen, dann ist er ebenso lang auf Heimaturlaub in Camaret. Er streicht sich kurz eine Strähne aus dem Gesicht. Seit zehn Jahren bin ich nun beim Rettungsteam. Ich bin oft auf Heimaturlaub und ich mag es, mich nützlich zu machen. Wenn ich mal eines Tages auf dem Meer Probleme haben sollte, wäre ich auch sehr dankbar, wenn mir jemand zu Hilfe käme. Deswegen gehe ich der SNSM zur Hand. Jetzt muss ich aber los, auf meinen Posten. ATMO Bordfunk Denn zwischenzeitlich haben sich zwei Kollegen mit dem Schlauchboot auf den Weg zur Segelyacht gemacht. Doch der Seegang ist so heftig, dass sie die Hobbysegler anweisen, ruhigere Gewässer anzusteuern. In der Steuerkabine des Rettungskreuzers greift Kapitän Torrilec zum Fernglas. Im vorletzten Sommer haben wir einen ähnlichen Fall gehabt: ein Segler wurde vom Mast am Kopf verletzt. Er blutete sehr stark. Wir haben ihm zwei Mann für die Erste Hilfe an Bord geschickt und dann wurde er von einem Rettungshubschrauber geborgen. Auf 20 bis 25 Einsätze kommt das Rettungsteam von Camaret jährlich, sagt Torrilec, und im Sommer ist Hochsaison. - Die Hobbykapitäne, seufzt der Mann von der Seenotrettung. Immer öfter wird die Notre Dame de Rocamadour gerufen, weil Freizeitsegler nach einem ausführlichen Apéritif auf hoher See nicht mehr alleine in den Hafen finden, verrät er hinter vorgehaltener Hand. Dann legt Torrilec beide Hände fest ums Ruder. Während der Orkane im letzten Winter sind wir nur einmal gerufen worden, nachts, bei Böen von 150 Stundenkilometern. Letztendlich hat der Skipper es alleine geschafft, er hat sein Boot an einer Boje festgemacht. Uns hat es dabei ganz schön durchgeschüttelt. Aber nun gut, wir sind es gewohnt, mit Risiken umzugehen. Bei diesem Einsatz mussten wir erkennen, dass wir nicht viel tun können. Es bringt ja nichts, wenn bei dem Versuch, ein Leben zu retten, acht Leute absaufen. Man muss immer versuchen, die Lage richtig einzuschätzen. Vor allem muss man schnell überlegen. Wenn wir raus fahren, wissen wir nie, was uns genau erwartet. Auf dem Wasser ist man vor Überraschungen nie sicher. ATMO Bergen Heute jedoch geht alles glatt: der Verletzte mit seiner Messerattrappe im Oberschenkel liegt nun auf einer Sanitäter-Bahre in der Kabine des Rettungskreuzers. Flankiert von Brendon und Pierre, die erste Hilfe leisten. Michel Torrilec steuert zurück zum Hafen. Die Stimmung an Bord ist nun gelöst, entspannt. Jede gelungene Rettungsaktion, sagt Torrilec, ist ein unvergessliches Ereignis. Einmal habe ich jemanden aus dem Wasser geholt. Ich packte ihn an der Hand und zog ihn heraus, wir waren Aug in Aug. Sein Blick hat mich sehr berührt. ATMO Motor aus Sanft hat die Notre Dame de Rocamadour am Kai angelegt, die Männer räumen auf und packen ihre Sachen. Der angeblich Verletzte erhebt sich von der Bahre und zieht grinsend die Messerattrappe aus dem Hosenbein. Pierre Dessin schaltet den Motor ab und verkündet das Einsatzende. Jetzt gehen wir auf eine Runde ins Hafen-Café. Musik Die Luv steigt in einer sanften Bewegung aufwärts, höher und höher, fast bis in die Vertikale - bis in die Vertikale! Dann, ganz sacht inmitten des Tumults der tobenden Elemente, den entnervenden Schreien des Sturms, taucht der Mast ins Wasser ein. Ein unheilverkündender Alarm in der Unterkunft des Mittelrumpfs schrillt los, durchdringend. Es birst, es reißt, Stöße peitschen wie Schüsse. Die Luv, vertikal aufgestellt, schwankt. Eine dumpfe Detonation. Der Rumpf neigt sich, kippt im Wind um, immer noch in majestätischer Langsamkeit. Nun liegt das Segelboot kieloben, es hat sich einmal komplett gedreht. Das Herz schlägt bis zum Hals, die Alarmglocke verbreitet weiter ihre unnütze Warnung und die Nacht bricht herein. Musik Fünf Millionen Euro braucht die französische Seenotrettungsgesellschaft jährlich, um ihre Arbeit zu finanzieren. Das Budget stammt zu drei Vierteln aus privaten Geldern - aus Spenden, dem Verkauf von T-Shirts, Schlüsselanhängern und ähnlichem mit dem SNSM-Logo sowie Benefizveranstaltungen. Menschenleben retten ist die oberste Prämisse der Seenotretter. Und dies tun sie kostenlos. Handelt es sich jedoch um das Bergen eines Bootes, muss der Besitzer für den Einsatz zahlen - pro Stunde 300 Euro. Nicht jede Rettungsaktion hat allerdings einen guten Ausgang - manchmal können nur Leichen geborgen werden. Die meisten, die aus Seenot befreit wurden, möchten sich im Anschluss dazu nicht mehr äußern: vielfach aus Scham über die eigenen Fehler, die sie in eine Notlage brachten. ATMO Schritte Wendelin Richter hingegen macht keinen Hehl daraus, dass er den Männern der SNSM-Station im nordbretonischen Kerlouan sein Leben verdankt. Regelmäßig feiert der Deutsche mit den Rettern in seinem Ferienhaus, das er und seine Frau Gisela vor einem Vierteljahrhundert direkt an der Küste erstanden - mit Blick auf den damaligen Unglücksort. Rep 3 ATMO Schritte/ Garten Vom Meer weht eine steife Brise herüber zu dem hohen Steinhaus direkt hinter der Düne. Der Wind scheint die beiden Männer fast vor sich herzutreiben. Als eingefleischte Bretonen sind sie es gewohnt. Der Kleinere, Ferdi Lansonneur, erinnert ungemein an Jean Gabin im Rentenalter. Der zweite ist Lansonneurs Schwiegersohn Jean-Michel Colliou. Für den mit zahlreichen Blumen, Sträuchern und Skulpturen bestückten Garten hinter dem Eingangstor haben die beiden keinen Blick: sie kennen ihn seit vielen Jahren, denn sie sind Freunde der Deutschen, die hier wohnen. ATMO Begrüßung Herzlich begrüßt Wendelin Richter, der Hausherr, seine Gäste. 70 ist er vor ein paar Monaten geworden. Dass er dieses Jubiläum feiern durfte, hat er auch seinem heutigen Besuch zu verdanken. Vorbei an dem kleinen Wintergarten steigen die drei Männer die Treppe empor ins Wohnzimmer. Dort wartet schon Wendelins Frau Gisela. Der Raum nimmt die gesamte erste Etage ein. Zehn Jahre lang, immer in den Schulferien, hat das frühere Lehrerehepaar das ehemalige Bauernhaus eigenhändig renoviert. Jetzt ist es ein Schmuckstück. Durch das riesige Fenster haben die beiden einen einzigartigen Blick auf das weite Meer. Vor dem Fenster steht eine schicke Couch mit Beistelltisch und drei Designer-Sesseln. Gegenüber ein alter abgebeizter Holzschrank. Hausherr Richter hat die Schranktür geöffnet und hoch stielige Gläser sowie eine Flasche Rotwein herausgeholt. Wie immer, wenn Besuch kommt. ATMO Anstoßen Ferdi Lansonneur lehnt sich seufzend auf der Couch zurück. Der Rücken, sagt er mit leicht verzerrtem Gesicht. Früher bin ich sehr häufig mit dem Schlauchboot auf dem Meer unterwegs gewesen, das hat mir den Rücken kaputtgemacht. Ich habe schon vier Operationen hinter mir. Jetzt fahre ich nicht mehr raus, denn mit 65 hat man die Altersgrenze erreicht. Jahrzehnte war Ferdi Lansonneur als Seenotretter aktiv, leitete die Station in seinem Heimatort Kerlouan im äußersten Nordwesten der Bretagne. Nun hat Jean-Michel, sein Schwiegersohn, die Nachfolge angetreten. Lansonneur reibt sich zufrieden das Kinn. An Nachwuchs mangelt es der SNSM nicht. Im Gegenteil. Wir haben immer wieder junge Leute, die zu uns kommen und uns helfen wollen. Nicht alle bleiben, denn manchem ist es zu gefährlich, was wir tun. Doch auch, wenn er dann wieder geht, ziehe ich meinen Hut vor ihm, denn er hat es zumindest versucht. Die Arbeit ist alles andere als einfach, das Meer ist wirklich sehr gefährlich. Auf der anderen Tischseite hat Wendelin Richter, tief in seinen Sessel gedrückt, seinem Freund aufmerksam zugehört. Nun rutscht er vor auf die Kante. Ich weiß, dass das Meer sehr gefährlich ist. Man muss Respekt vor dem Meer haben. Ich kannte dieses Meer gar nicht vorher, als wir hier Urlaub gemacht haben. Ich habe immer auf dem Rhein gesurft und das Meer ist schon etwas anderes von der Surferei. Es war der 22. Juni und wir sind drei Tage vorher in der Bretagne angekommen und wir waren noch nie in der Bretagne. Und von daher kenne ich auch nicht das Meer und kenne nicht die Windverhältnisse aus der Bretagne. Wir wollten eigentlich Abendbrot essen und da war der Wind so schön, acht bis neun Windstärken, und da dachte ich, ich gehe nochmal raus, weil das so schön geblasen hat. Gisela: Er wollte wie immer ohne Kautschukanzug gehen, ohne Neopren-Anzug. Und ich hab gesagt, das kann kühl draußen sein, du ziehst den Longjohn an. Und er war so wütend, dass er gesagt hat, dann ziehe ich auch noch eine Weste drüber. Und am nächsten Tag haben uns die Ärzte gesagt: Die Weste hat ihm das Leben gerettet. Allein über die nackten Arme hätte er soviel Wärme verloren, dass er es wahrscheinlich nicht überlebt hätte. Zwischen dem Zeitpunkt, als Wendelin Richter mit seinem Surfbrett an den Strand ging und der Einlieferung ins Krankenhaus liegt fast ein ganzer Tag. Vor allem aber 13 Stunden, in denen der Freizeitsurfer auf dem Meer verschollen war. Abends um sieben schoss er noch vergnügt über die Wellen. Bis er das teure Segel neu verzurren musste - und es dabei verlor. Dann setzte die Ebbe ein. Wendelin Richter setzt sich auf seiner Sesselkante auf. Dann bin ich raus getrieben worden und.. Gisela ...und hast England gesehen Wendelin Und ich dachte, meine Frau wird schon irgendwie die Rettungswacht oder irgendwen benachrichtigen. Ich hatte sehr großes Vertrauen und das erste, als ich dann nachher an Land kam, war: warum hast du nicht früher die Rettungswacht geschickt? Gisela Den Hubschrauber geschickt. Warum hast du keinen Hubschrauber geschickt, waren seine ersten Sätze nach 13 Stunden. Der aufkommende dichte Nebel vereitelte den Einsatz des Rettungshubschraubers. Wendelin Richter krallte sich am Brett fest, die ganze Nacht. Sang Seemannslieder. Um neun Uhr abends war Gisela Richter besorgt an den Strand geeilt. Fischer schickten sie zu Ferdi Lansonneur, damals Präsident der lokalen SNSM-Station. Sofort trommelte er seine Mannschaft zusammen. Doch auf dem Meer konnte man nicht die Hand vor den Augen sehen. Um Mitternacht wurde die Rettungsaktion bis zum Morgengrauen vertagt. Fast 27 Jahre ist diese Nacht nun her - Jean-Michel Colliou erinnert sich daran, als sei es gestern gewesen. Schwer liegen seine Hände auf den Knien. Als wir nachts in unserem Hauptquartier warteten, war ich ziemlich pessimistisch. Aber ich kannte Wendelin nicht. Für mich ist er ein Held des Meeres. Denn er hat die ganze Nacht auf dem Meer durchgestanden. In einem fremden Milieu, das er nicht kannte. Ich kenne kaum jemanden, der da nicht vor Angst halb umgekommen wäre. Selbst für die Einheimischen hier wäre eine Nacht auf dem Surfbrett, auf hoher See, im Nebel - eine verdammt große Herausforderung. Ich ziehe meinen Hut, das hat er unglaublich gut gemeistert. Ich weiß noch, wie wir ihn auf dem Meer dann ausfindig machten. Zwischen zwei Wellen haben wir ihn immer mal wieder vor uns treiben sehen. Wir haben ihn gefunden und alle waren glücklich. In dieser Nacht ist eine innige Freundschaft entstanden. Und es ist eine der schönsten Erinnerungen meines Lebens. ATMO Einschenken Jean-Michels Stimme bricht. Seine Augen werden feucht. Wendelin Richter findet als erster die Fassung zurück: kräftig schenkt er die Gläser nach. Dann prostet er seinen Freunden zu und erklärt, warum diese Nacht so wichtig für sie war. Dass sie jetzt jemanden gerettet haben, der noch gelebt hat. Denn davor waren noch viele, die sie gerettet haben, die dann tot waren. Gisela Und für sie ist, glaube ich, auch wichtig: es gibt, das glaubt man kaum, es gib eine Menge Leute, die lassen sich von ihnen retten, Urlauber, die schreiben noch eine Karte, dass sie zuhause gut angekommen sind und dann lassen die nie wieder was von sich hören. Und das war bei uns anders. Das beeindruckt sie auch. ATMO Aufbruch AUT Vor 24 Jahren haben die Richters das alte Bauernhaus am Meer gekauft, um ihren bretonischen Freunden nahe zu sein. Die kommen regelmäßig zum Boule-Spielen: hinterm Haus auf einem weiträumiges Terrain. Dort wollen sie auch heute den Nachmittag gemütlich ausklingen lassen. Musik Das französische Institut für Meeresforschung IFREMER koordiniert seit Jahren ein internationales Forschungsprojekt zum Thema Meereswellen. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, welche Kräfte wirken, wenn die Meereswogen die Küste überschwemmen. Auch in l'Aber Wrac'h haben die Anwohner während des vergangenen stürmischen Winters am eigenen Leib erlebt, was dies zur Folge hat: immer wieder kochte die See hier rund um die Landzunge im Nordwesten der Bretagne vor Gischt. ATMO AUTO Ein Anblick, wie ihn auch Jacques Menut so drastisch noch nicht erlebt hat. Dabei kennt der ehemalige Seemann das Meer von Kindesbeinen an, denn sein ganzes Leben hat er auf und am Wasser verbracht. Heute ist er unterwegs zur Küste, die Sturmschäden zu begutachten. Rep 4 ATMO Auto hält an/Türen Vorsichtshalber wählt Jacques Menut den Parkplatz, der ein gutes Stück vom Strand entfernt liegt. Beim Aussteigen weist er mit einer Hand auf den breiten Weg, der direkt zum Meer führt. Er ist vom Sand verweht. Mit weit ausholenden Schritten zieht der mittelgroße, salopp gekleidete Mann los. 72 ist er, seine burschikose Art lässt ihn jedoch viel jünger erscheinen. Menut kennt die Gegend wie seine Westentasche. Sie ist von einzigartiger Schönheit, sagt er. Seit dem letzten Sturm vor ein paar Wochen war ich nicht mehr hier an der Landspitze. Deshalb weiß ich nicht, in welchen Zustand der Weg weiter vorne ist. Die Gegend hat sehr unter den Orkanen gelitten. Denn mehr als zwei Monate hatten wir einen großen Sturm nach dem anderen. ATMO Schritte Auch heute ist der Himmel bedeckt, treibt ein kühler Wind die Wolken vor sich her. Links und rechts vom Weg stehen niedrige Büsche, etwas entfernt einige Nadelbäume, vom ewigen Wind verkrüppelt. Weit vorne wird ein blauer Strich sichtbar - das Meer. Der Strand entpuppt sich als eine Halbbucht, an ihrem Eingang, im Wasser, bilden einzelne Felsen eine Art natürlicher Wall. Der höchste erhebt sich gut 15 Meter über die Wasserlinie, erklärt Menut und kratzt sich kurz am Nasenflügel. Ganz ehrlich, ich kann mich nicht daran erinnern, jemals gesehen zu haben, dass die Wellen über den Felsen da hinten drüber gegangen sind. Die Gischt, ja, das sieht man immer wieder. Aber dass die Wellen selbst den Felsen überspülten, das gab es noch nie. Sie waren gigantisch, unvorstellbar. Und sie haben auf ihrem Weg ans Land alles kaputtgeschlagen. Atmo Schritte Sein ganzes Leben hat Jacques Menut am und auf dem Meer verbracht. Schon als kleiner Junge ist er mit seinem Großvater zum Angeln rausgefahren. Später heuerte er bei der Kriegsmarine an und arbeitete auf einer Bohrplattform. Nach dem Ende seines Berufslebens kehrte er nach L'Aber Wrac'h zurück. Seitdem engagiert er sich für den lokalen Seenotrettungsdienst. Das Meer ist eine mächtige Geliebte, sagt Menut mit einem Lächeln, und zitiert dabei längst verstorbene Dichter, es kann einen auch das Fürchten lehren. Sehen Sie, die Dünen. Von denen ist seit den Stürmen nicht mehr viel übrig geblieben. Da drüben war mal ein Küstenpfad, der ist weggespült und muss neu angelegt werden. Und hier, links, das Blockhaus. Mitten aus dem Strand ragt es nun heraus. Vorher stand es 50, 80 Meter weiter hinten, auf der Düne. ATMO Gespräch Ein Bekannter kommt vorbei, in Ölzeug, Anglerstiefeln, Käscher und Eimer in der Hand. Ein Krabbenfänger, der die Ebbe nutzen will. Ja, die Stürme hätten das Leben am Strand durcheinandergebracht, pflichtet Menut dem Mann bei, als der klagt, nur noch schwer Beute finden zu können. ATMO Strand Nach einigen Schritten steht Jacques Menut am Wasser. Ja, das Meer ist eine unberechenbare Geliebte. Der 72-Jährige spricht es nicht aus, doch hinter seiner Stirn arbeitet es sichtlich. Gedankenverloren schaut er in die Wellen, die sanft, aber beharrlich anbranden. Einmal kreuzten wir mit der Marine im Spanischen Golf, Richtung Azoren. Neben uns war ein Boot der Wetterwacht unterwegs. Die See war sehr sehr stürmisch - 18 Meter Wellentäler, sagten uns die Leute von der Wetterwacht, die Messinstrumente an Bord hatten. Es war überaus beeindruckend. Unser Boot war nicht allzu groß, ein so genannter schneller Begleitkreuzer. Jedes Mal, wenn wir oben auf dem Wellenkamm ankamen, tat sich vor uns ein 18 Meter tiefes Loch auf. Das Boot schaukelte kurz und dann kippte es vornüber ab, talwärts. Unten angekommen, stand das Meer wie eine Wand vor uns. Und dann sagten wir uns: jetzt müssen wir wieder da hoch. Das war weniger lustig. Die Wellen schlugen über den Bug, die Gangway, der Kreuzer richtete sich auf und kämpfte sich den Wasserberg hoch. So ging es Stunden um Stunden. Da kam viel Stress auf, weil man das Boot überall krachen spürte. In einem solchen Moment ist kein Mann an Bord mehr krank. Jeder bezwingt seine Angst. Jeder ist auf seinem Posten, um im Ernstfall sofort einzugreifen. Aber so was bleibt als Foto im Kopf. 42 Jahre ist das nun her, mein Leben lang werde ich diesen Tag nicht vergessen. ATMO Auto Schweigsam ist Jacques Menut zum Auto zurückgegangen. Nachdenklich tritt er den Heimweg an. Dann, als hinter einer engen Kurve der Yachthafen von l'Aber Wrac'h erscheint, leuchtet sein Gesicht auf. In einem Jahr will er auch den ehrenamtlichen Dienst beim Seenotrettungsdienst quittieren - um endlich Zeit für sein eigenes Boot zu haben. Musik Da ist ein Signallicht. Roscanvel glaubte, ein Licht zu sehen. Er reißt die Augen auf, heult vor Freude und aus Elend, aus Leid, wegen der Kälte und dem Salz. Da ist ein Signallicht! Unbeständig wie ein Hirngespinst zuckt es, flackert es, verkümmert in einem bösen Windstoß, scheint wieder aufzuleben, um dann erneut zu erlöschen. Da ist ein Licht und die Hoffnung wächst wie eine Flamme. Leben! Leben! Die unglaubliche Kraft des Lebens! Roscanvel findet Energie in einer tierischen Kraft, die er eigentlich nicht mehr hat, um eine seiner barmherzigen Leuchtraketen gen Himmel zu schießen. Seine Hände sind gefühllos wie Stein, so ungeschickt wie Krabbenzangen - er nahm gar seine Zähne zu Hilfe! Leben! ... Wie ein Wunder gehen nun andere Lichter neben dem verschwimmenden Ersten an, leuchten wie ein Weihnachtsbaum. Eine Leuchtrakete antwortet auf den Hilferuf und lässt Roscanvels Herz höher schlagen. Er wird leben! Musik Im Pariser Marine-Ministerium ist ein ungewöhnlicher Verein beherbergt: der der Schriftsteller der Marine. Ein Klub teils sehr illustrer Autoren, die sich in ihren Werken mit dem Meer beschäftigen. Einmal im Jahr veranstaltet der Verein eine öffentliche Lesung in einer Hafenstadt, um das Publikum an ferne Horizonte zu entführen. Für Isabelle Autissier, einzige Frau im Marine-Schriftsteller-Klub, ist dies eine fast alltägliche Beschäftigung. Denn wenn sie nicht gerade durch die Weltmeere kreuzt, tourt sie mit einem poetischen Kulturprogramm zum Meer durch Frankreich. ATMO Aufführung In gewissem Sinne gilt Autissier in Frankreich als Botschafterin des Meeres. Sie war die erste Frau, die 1991 an einer Segelregatta rund um den Globus teilnahm. Später segelte sie zwei Mal bei der berühmt-berüchtigten Vendée-Globe mit: der härtesten Einhand-Regatta der Welt. Legendär ist, dass sie während des Rennens umdrehte, um tagelang nach einem schiffbrüchigen Kollegen zu suchen - leider erfolglos. Rep 5 ATMO Trommeln Abends um halb sieben in der modernen Mediathek von Notre Dame de Gravenchon. Trommelnd tänzelt Pascal Ducourtioux im Hemd mit bunten Südseemotiven in den Veranstaltungsaal. Ihm folgt Isabelle Autissier. Die beiden werden heute das Publikum auf einen imaginären Segeltörn mitnehmen. Autissier erzählt selbst erlebte, selbstverfasste Geschichten, von Pascal musikalisch untermalt. Kerzengerade steht die 58Jährige vor dem Publikum, reckt den Hals, der Blick fixiert einen unsichtbaren Punkt am Horizont: das Kap Horn. Der Morgen ist klar, der Ostwind leicht. Das Boot plätschert im grauen Wasser. Und am Horizont erscheint diese braune Form. Da ist es - das große böse Horn. Das Kap der Kälte, des Sturms, der aufgewühlten See. Dass die Seeleute frisst. Das Kap, für dessen Umsegelung es Tage, Wochen braucht. Das Kap der Verschollenen, das der dem Schicksal Entronnenen. Und nun segele ich zu seinen Füßen und erfülle mir den Traum, den ich als Achtjährige gebar. ATMO Musik Eine Stunde lang entführt Isabelle Autissier ihre Zuhörer aufs Meer. In ihren Geschichten kämpft sie an einem unsichtbaren Ruder mit dem Sturm, spielt einen Matrosen, der eine Seejungfrau umschwärmt, die sich später als Seekuh entpuppt, mimt eine Sardine im Meer. Ihr künstlerisches Talent begeistert das Publikum. In die Wiege gelegt war ihr dies keinesfalls: Autissier ist ausgebildete Agrar-Ingenieurin, spezialisiert auf Fischerei und arbeitete anfangs in Forschung und Lehre. Mit dreißig beschloss sie ihr Leben zu ändern. Zehn Jahre lang segelte sie auf allen Ozeanen und nahm an zahlreichen Regatten teil. Seit einigen Jahren ist sie nun journalistisch, künstlerisch tätig. Sie hat eine feste Sendung im Radio, schreibt preisgekrönte Romane und tourt mit mehreren Stücken kreuz und quer durch Frankreich. Und immer steht das Meer im Mittelpunkt - seit sie als kleines Mädchen mit der Familie in den Ferien immer vom Pariser Vorort aus zum Segeln in die Bretagne fuhr. Nach der Veranstaltung wird Isabelle Autissier von Zuschauern umringt. Ihre blauen Augen strahlen, als eine zierliche alte Dame die Aufführung lobt: FRAU (Publikum) Vielen Dank! Ihr Stück hat mir wirklich sehr gefallen. Man spürt: Sie leben, was Sie erzählen. Autissier: Ja, das stimmt. FRAU Und Sie segeln immer noch? Autissier Ja, demnächst breche ich wieder gen Grönland auf, ich kreuze durch die Antarktis. Andere FRAU Wir sind sehr beeindruckt von Ihnen! FRAU Sie haben uns gerade auf hohe See mitgenommen. Das ist eine Premiere für uns. Autissier Sehen Sie: Sie waren an Bord, ohne Angst vor der Seekrankheit haben zu müssen. FRAU Die Natur ist wirklich wunderschön. Autissier Wenn wir ein bisschen sorgsamer damit umgehen, können wir uns noch geraume Zeit an der Natur erfreuen. Im Hotelrestaurant gönnen sich Isabelle und Pascal als erstes ein kühles Bierchen. Mit wohligem Seufzer streckt Autissier die Beine unterm Tisch aus, während die Bedienung das Essen bringt. Sie will mit ihren Auftritten etwas verändern, sagt sie und zieht die Stirn in Falten. Dem Ozean geht es schlecht. Wir Menschen haben da verdammt was angerichtet. 80 Prozent der Speisefisch-Bestände sind überfischt, der Säuregehalt der Ozeane steigt besorgniserregend und unaufhaltsam, alle Weltmeere sind mit Plastik verseucht. Selbst in der Antarktis, wo es sonst nichts gibt, zählt man 40.000 Plastikschnipsel pro Quadratkilometer. Das ist verdammt traurig, denn das Meer hat uns schon viel gegeben. Und wir brauchen es auch weiterhin, wenn wir einigermaßen anständig leben wollen. Dieses Thema sprechen wir in unserem alten Programm an. MANN In diesem Stück nennen wir die Dinge beim Namen. Da reagieren viele abweisend. Als wir uns um Auftrittsmöglichkeiten in Schulen bemühten, hieß es beim Erziehungsministerium: hört doch auf, die Schüler damit zu belästigen! Und die Zuschauer - die verlangen wie bei einem Hollywood-Film ein Happy End. ATMO Restaurant Isabelle Autissier nickt, ihre Augen blitzen kampfeslustig. Seit Jahren leitet sie die französische Sektion der Umweltorganisation WWF. Kürzlich engagierte sie sich mit weiteren Mitstreitern für ein europaweites Verbot der Tiefseefischerei. Sie stochert im Fisch auf ihrem Teller. Es stimmt, die Leute wollen nichts von den von den Menschen verursachten Umweltproblemen wissen. Und dennoch kann man sie mobilisieren. Ich denke da zum Beispiel an die Kampagne im letzten Jahr gegen die Tiefseefischerei: wir haben schlussendlich gesiegt. Es war nicht einfach, aber wir haben gesiegt, weil 800.000 Personen unsere Petition unterschrieben haben. ATMO Restaurant Ihre zusammengepressten Lippen lassen keinen Zweifel daran: Isabelle Autissier wird auch weiterhin alles in ihrer Macht stehende tun, um das Meer vor den Menschen zu retten. Musik Sie hörten Gesichter Europas: Die Helden des Meeres - Seenotretter in Frankreich. Eine Sendung mit Reportagen von Suzanne Krause. Musik und Regie: Babette Michel; Ton und Technik: Michael Morawitz und Angelika Brochhaus. Die Literaturauszüge entnahmen wir dem Buch "L'Aile du papillon", von Pierre Schoendoerffer, erschienen im Verlag Grasset, Paris 2003, gelesen von Hendrik Stickan. Redakteur am Mikrofon war Norbert Weber. Musik 2