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In the case of Yiddish it is a very particular case. Zitator: Jede Sprache ist mehr als nur Sprache. Jede Sprache ist auch Kultur. Das Jiddische ist ein ganz besonderer Fall. Denn an keinem Ort, zu keiner Zeit war Jiddisch bloß die einzige Sprache einer bestimmen Gruppe von Menschen. Es bestand in Koexistenz mit der ?Heiligen Sprache?, dem Hebräischen, und natürlich zu einem früheren Zeitpunkt mit dem Deutschen oder slawischen Sprachen. Jiddisch war demnach immer Bestandteil einer multikulturellen Situation...So Yiddish was always part of a multicultural situation.? O-TON (Hana Wirth-Nesher)?It is a transnational language, everybody is interested in transnationalism. Sprecherin: Es ist eine supranationale Sprache. Eine Mischsprache. Eine Sprache ohne Staat und ohne Flagge. Jiddisch überschreitet alle möglichen Grenzen. It is a language that crosses all kinds of boundaries.? O-TON (Jossif Gofenberg) ?Bei jiddischer Sprache singt man. De Sprache ist wie eine Melodie. Das ist nicht eine Sprache einfache...Beispiel: Nu wie geht es? - dadadam. Antwort: Wie geht es dir? Mir geht es gut - dadada! Das ist eine jiddische Sprache.? Sprecher: Vor hundert Jahren sprachen über acht Millionen Menschen Jiddisch, 1939 waren es fast dreizehn Millionen. Lebten sie in Polen, so sprachen sie auch Polnisch. Lebten sie in Russland, konnten sie Russisch. Mameloschn, Muttersprache, aber war ihnen das Jiddische. Die meisten von ihnen wurden im Zweiten Weltkrieg ermordet. So starb eine Kultur und mit der Kultur jene Sprache, die sich vor mehr als eintausend Jahren aus dem Mittelhochdeutschen herausgebildet hatte. Heute gilt Jiddisch als Nahsprache des Deutschen, nicht als Dialekt, sondern als Mischsprache; und darum als besonders ausdrucksreich. Musik 1 Zero Mostel, If I were a rich man Sprecher: Wenn ich einmal reich wär?, wäre das Leben ein anderes, denkt sich der Milchmann im kleinen ukrainischen Dorf Anatevka. Die Geschichte des Milchmanns stammt vom Dichter Sholem Alejchem. Er gilt neben den Erzählern Mendele Mocher Sforim und Isaak Leib Peretz als einer der Väter der klassischen jiddischen Literatur. Sein Roman ?Tewje der Milchiger? machte ihn berühmt. Er ist die Grundlage für das Musical ?Anatevka?. 1964, siebzig Jahre nach Erscheinen des Romans, wurde es unter dem Titel ?Fiddler on the roof? am Broadway uraufgeführt. Nicht auf Jiddisch, sondern auf Englisch. Musik Zero Mostel, If I were a rich man Sprecher: Das Leben des Milchmanns Tewje, von dem Sholem Alejchem in seinem Roman berichtet, gab es zum Zeitpunkt der Uraufführung von ?Fiddler on the roof? nicht mehr. Seine Sprache, das Jiddische, war am Aussterben. () Häufig wurde sie wie eine Art Geheimsprache eingesetzt. So benutzten die Mutter und die Großmutter von Aaron Lansky immer dann Jiddisch, wenn er und seine Brüder nicht verstehen sollten, worüber sich die Erwachsenen unterhielten. Der 1955 in Massachusetts geborene Aaron Lansky studierte dann in den 1970er Jahren ?Jiddische Literatur? ? damals ein Orchideenfach. O-TON (Aaron Lansky) ?I would probably go on to a very conventional academic career if there weren?t this one very basic problem: There were no books to read.... Zitator: ?Sicherlich hätte ich eine ganz normale akademische Laufbahn eingeschlagen, wenn es nicht ein Riesenproblem gegeben hätte: Es gab einfach keine Bücher. Jede Woche verwies mein Professor auf einen von Dutzenden Romanen herausragender jiddischer Autoren. Nach dem Seminar raste immer ein Student in die öffentliche jüdische Bibliothek, um die einzige Kopie dieses Buches zu ergattern. Der Rest ging leer aus.? Sprecher: Aaron Lansky machte sich auf die Suche nach jiddischen Büchern. Büchern, deren Besitzer Hitler und Stalin überlebt hatten, die es aus ihrer alten Heimat in die Vereinigten Staaten und nach Kanada verschlagen hatte. Er brachte kleine Schilder in der jüdischen Nachbarschaft an. Zitator: Junger Studen sucht jiddische Bücher. Sprecher: Bevor er sich umsehen konnte, riefen scharenweise fremde Menschen an, brachten ihm Bücherkisten, überschwemmten damit seine Wohnung. Schnell ging es ihm nicht mehr nur darum, jiddische Bücher lesen zu können, sondern sie als kulturelle Zeugnisse zu bewahren. O-TON (Aaron Lansky) ?It was a sort of an emotional understanding that when people hand you their books, they were saying: ?Junger Mann, dos is meine jerushe. This is my heritage. Zitator: Ich habe verstanden, was es den Menschen bedeutete, dass sie mir ihre Bücher gaben. Auf ihre Art sagten sie: Junger Mann, das ist mein Erbe. Das ist, was ich der Welt vermache. Was sie mir überließen, war eine entschwundene Welt. Eine Welt, die mit dem Holocaust ihr Ende gefunden, eine Welt, die sich unter dem Druck der Assimilation aufgelöst hatte. A world that was shuttered in the Holocaust, a world that was vanished under the pressure of assimilation.? Sprecher: Heute leitet Aaaron Lansky das ?National Yiddish Book Center? in Amherst, Massachusetts. Als Lansky in den 1980er Jahren mit dem Aufbau der gemeinnützigen Organisation begann, um jiddische Bücher zu bergen, zu erhalten und zu verbreiten, schätzten Experten vorsichtig, es gäbe noch maximal 70.000 jiddische Titel. Inzwischen hat das ?National Yiddish Book Center? 1,5 Millionen Exemplare zusammengetragen. Die Hälfte der Titel, die zwischen 1864 und 1939 auf Jiddisch publiziert wurden, hat das ?National Yiddish Book Center? bereits auch digitalisiert. Darunter Übersetzungen vieler Autoren der Weltliteratur ins Jiddische wie beispielsweise Plato, Cervantes, Shakespeare, Goethe, Nietzsche, Tolstoi und Thomas Mann. Musik Sprecher: Längst zeigt sich wieder ein vermehrtes Interesse am Jiddischen und der untergegangenen Kultur des Shtetl. Abgesehen vom nostalgischen Folklorismus, passt Jiddisch auch in eine globalisierte Welt, in der Multikulturalität zum Alltag gehört. Und es ist Gegenstand von Forschung und Wissenschaft geworden, von Geschichte und Linguistik. O-TON (Hana Wirth-Nesher)?What is interesting maybe unique too I don?t know is that it has large component of the language that it surrounds. So let?s say Yiddish is something like 70 percent words that were originally germanic, but written in hebrew letters... Sprecherin: ?Interessant am Jiddischen und vielleicht einzigartig ist der hohe Anteil der Sprachen, die es umgeben. Wir können sagen, siebzig Prozent der Wörter kommen ursprünglich aus dem Deutschen. Allerdings mit hebräischen Buchstaben geschrieben. Weitere fünfzehn Prozent stammen aus dem Hebräischen. Nicht aus dem heutigen Hebräisch, sondern dem, was wir ?loschn koydisch?, ?Heilige Sprache? nennen, die Mischung von Hebräisch und Aramäisch: Ausdrücke die aus der Liturgie stammen, den Gebeten, den rabbinischen Texten, dem Talmud. Und dann sind da noch mal fünfzehn Prozent, aus der jeweiligen Umgebung. Romanische, slawische Einflüsse, je nachdem, wo man sich befindet. Eine interessante Mischung. Und der bleibende Einfluss solch ?heiliger? Wörter erzeugt Spannung, eine wirklich hohe Spannung. ...That?s an interesting blend. And the constant presence of the sacred words creates a kind of tension, creates a very interesting tension. ? Sprecher: Hana Wirth-Nesher, Direktorin am ?Goldreich-Family-Institute for Yiddish Language, Literature and Culture? in Tel Aviv. Die amerikanische Professorin bietet Einführung und Vertiefung in jiddische Kultur, Sprache und Literatur an. Denn Jiddisch lernt man heutzutage in Kursen, nicht im Elternhaus. Philip Schäfer aus Berlin studiert hier. Sein Hauptfach ist Geschichte. Während eines Auslandsemesters begann der nichtjüdische Deutsche in Israel Jiddisch zu lernen - und liegt damit im Trend. O-TON (Philip Schäfer) ?Ich fand es interessant, eine Sprache, die sich vom Deutschen abgespalten hat vor 500 Jahren und sich individuell weiterentwickelt hat und trotzdem noch sehr Deutsch klingt, die kennen zu lernen. Ich hätte auch Niederländisch lernen können, das wäre kein großer Unterschied gewesen in dem Fall, nur dass es eben nicht so exotisch ist.? Sprecher: Philip Schäfer ist typisch für seine Generation. Einer von vielen jungen Leuten, die derzeit die jiddische Sprache für sich entdecken. Musik Sprecher: Sie ist inzwischen auch Medium einer neuen Art von Popmusik. Das Berliner Label ?Oriente? vertreibt eine große Anzahl von Aufnahmen junger Musiker, die alte jiddische Lieder wiederentdecken und sie neu bearbeiten. Unter ihnen der gebürtige amerikanische Songwriter Daniel Kahn. Er mischt amerikanische Folkmusik, Punkrock und Theater-oder Kabarettmusik nach Art von Bert Brecht und Hans Eisler in seine Musik, die er als eine Art jiddisches Punk-Kabarett bezeichnet. Kahn ist in Detroit aufgewachsen - mit Gewerkschaftlern, den Liedern von Woody Guthrie und Bob Dylan und hat dann zu den jiddischen Arbeitersongs gefunden. Gerade ist sein Album ?Partisans an Parasites? erschienen. Sprecher: Konzerte, Kongresse, Symposien und Zeitschriften fördern Interesse und Verbreitung des Jiddischen. So stellte etwa der 1963 geborene französische Schriftsteller Gilles Rozier vor genau einem Jahr in Paris eine neue literarische Zeitung vor, das Magazin ?Gilgulim?. Es ist ausschließlich jiddischsprachigen Erzählungen und Gedichten gewidmet. Die Mehrzahl der Autorinnen und Autoren, bzw. deren Familien, kommen aus Osteuropa. Gilles Rozier schreibt seine Romane auf Französisch und verwendet Jiddisch für seine Gedichte: Zitatorin: In dayn midber Es shimern iber dayn yam Ale shtern vos in himl. Inem shimer iber dayn yam Frukhpern zikh un mern Zilberne fishelekh. Di tsvey dyunes fun dayn midber Kushn zikh vi halbe levones, Tseveynen zikh mit milkhtrern. A heyser vint blozt fun dorem Un lozt iber Oyfn shtegl vos shlenglt zikh Tsvishn dayne tsvey levones Faykhte zemdelekh krishtol. Sprecher: Vor allem auf akademischer Ebene boomt Jiddisch. Weltweit gibt es neue Lehrstühle für Jiddistik. Seit einigen Jahren wird Jiddisch an israelischen, europäischen, amerikanischen Universitäten und Sprachinstituten verstärkt erforscht und gelehrt. Die Lehrer kommen meist aus den USA. Die Motive der Lernenden sind vielfältig. Wie am Goldreich- Institut in Tel Aviv. O-TON (Hana Wirth-Nesher) ?We have had three summer programs now, and we are the largest number of students in the world. We have more than fifteen countries represented: Sprecherin: Wir hatten schon drei Sommer-Programme und die Nachfrage von Studenten aus aller Welt ist bei uns am größten. Sie kommen aus über 15 Ländern: aus Osteuropa, den USA, Australien, Japan. Wirklich eine Menge Studenten - und sie kommen aus unterschiedlichsten Gründen. Some of them, what we call heritage learners; they don?t really intend to use this language for any academic or intellectual purpose. It is part of their heritage. Manche nennen wir ?die Erben?. Sie sind nicht an akademischen oder intellektuellen Aspekten interessiert. Jiddisch ist Teil ihres Familienerbes. Sie möchten es einfach besser kennenlernen. Andere kommen, weil Jiddisch ein wichtiger Bestandteil ihrer akademischen Ausbildung ist: Linguisten. Oder Studenten jüdischer Geschichte. Dazu kommen welche aus rein wissenschaftlichem Interesse. Wenn man beispielsweise über die amerikanische Arbeiterbewegung arbeitet, muss man Jiddisch können. Alle Originaldokumente zu den Treffen der Arbeiter in New York sind in Jiddisch verfasst. Dann gibt es wieder Studenten, die sich für Mittelhochdeutsch interessieren. Andere für den Holocaust. Oder für Hebräische Literatur - denn die Schöpfer der hebräischen Sprache waren zweisprachig. Viele schrieben auf Jiddisch und Hebräisch. Und sie übersetzten selbst ihre eigenen Werke von einer Sprache in die andere. And many them wrote both in Yiddish and in Hebrew; and they translated their own work back and forth. We have had rabbinical students. We have had cantatorial students. Es gibt Studenten, die Kantor werden wollen. Die daran interessiert sind, jenseits von Gebeten und der synagogalen Liturgie ihrer Gemeinde oder Jugendgruppe jiddische Lieder des 19. oder 20. Jahrhunderts vorsingen zu können. In a cultural sense to be able to sing to the congregance or to the youth movements or groups Yiddish songs from the 19th century and early 20th century. ? O-TON (Philip Schäfer) ?Ich wollte einfach, also ne neue Sprache lernen, weil ich selbst weiß, was für ne große Tür man öffnet, wenn man eine neue Sprache kennt. Für mich ist der Zugang zu einer neuen Kultur Sprache und sonst nichts. Der ganze Schatz der jüdischen Literatur, der öffnet sich ja nur, wenn man die Sprache kann. Und das ist ein enorm großer Schatz bei Jiddisch.? O-TON (Hana Wirth-Nesher)?There is no substitute for reading these things in the original. And so therefore the culture remains alive in a way that it can not remain alive in translation. And so that is the great with the joy of seeing this is happening, people are able to read these writers original. Sprecherin: Es gibt keinen Ersatz für das Lesen der Originaltexte. Und so kann die Kultur in einer Weise am Leben erhalten werden, wie es nicht möglich ist, hätte man nur Übersetzungen. Es ist wirklich toll, wenn jemand in der Lage ist, jiddische Autoren im Original zu lesen. Zumal es auch dem sentimentalen ?Fiddler on the roof?- Image des Jiddischen entgegenwirkt. Je mehr junge Menschen Jiddisch studieren, desto eher werden sie mit der modernen jiddischen Dichtung, der jiddischen Avantgarde, in Berührung kommen. Mit Vertretern jiddischer Kultur also, die nicht religiöse Melodien summen und im Shtetl ihre Kühe melken... the more they will be exposed to yiddish modernists, to the yiddish avantgarde, to Yiddishists who were not humming synagoge tunes and milking their cows in the shtetl, right?? Musik Sprecher: Einer der Großen der modernen jiddischen Dichtung ist Abraham Sutzkever, geboren 1913 in der Nähe von Wilna, dem heutigen Vilnius. Er gehörte zur Avantgarde des jüdischen Schriftstellerkreises ?Jung-Wilne?. 1937 erschien sein erster Gedichtband. Im 1941 errichteten Wilner Ghetto schloß sich Sutzkever den Partisanen an. Er schmuggelte Bücher und Waffen ins Ghetto, floh vor den Deutschen in die Wälder und schlug sich bis nach Moskau durch. Sprecher: Nach dem Krieg wanderte Sutzkever nach Israel aus. Dort gründete er die jiddische Zeitschrift ?Di goldene kejt? - Die Goldene Kette. Sie sollte eine durch die Shoah fast ausgerottete und über den ganzen Globus verstreute Leserschaft ermutigen, weiterhin an der jiddischen Kultur festzuhalten. Sprecher: Der Frankfurter Campus Verlag veröffentlicht im Mai 2009 Sutzkevers Biographie, Lyrik und Prosa, der Schweizer Ammann Verlag im Juni des Jahres eine Auswahl seiner Gedichte und sein Tagebuch aus dem Ghetto von Wilna. Für Amman hat Hubert Witt die Texte Sutzkevers ins Deutsche übertragen. O-TON (Hubert Witt) ?In der jiddischen Literatur ist er zweifellos, in der jiddischen Lyrik ein Höhepunkt, und ich hoffe, dass es beileibe kein Endpunkt sein möge. Er hatte eine ganz eigene Begabung, war besessen von Dichtung hatte auch die Vorstellung, dass er die schlimmsten Situationen im Ghetto unter der Fuchtel der SS überstehen wird, solange er Gedichte schreibt. Der Engel der Poesie wird ihn bewahren.? Sprecher: Seit den 1960er Jahren beschäftigt sich Hubert Witt als Herausgeber und Übersetzer mit jiddischer Dichtung. Noch zu DDR Zeiten ließ er sich von Reiner Kunze, der ins westliche Ausland reisen durfte, Sutzkevers Bücher mitbringen. Er besitzt viele Originalausgaben und Widmungsexemplare des Dichters, der heute hochbetagt in Tel Aviv lebt. O-TON (Hubert Witt) ?Das Eigentümliche an Sutzkevers Entwicklung war ja, dass er in seiner Jugend in Wilne auf eine Dichtergruppe, Jung Wilne, stieß, seine Freunde zwar, aber die Anträge Sutzkevers, dort aufgenommen zu werden, wurden mehrmals negativ beschieden. Die sagten: Du schreibst zu abwegiges Zeug. Wir wollen den Klassenkampf. Wir wollen die Welt verändern, und darüber wollen wir dichten. Das Eigentümliche ist, dass es vielen der anderen eher die Sprache verschlagen hat, als die schrecklichen Ereignisse über sie hereinbrachen, und er mit seinem Dichtungskonzept konnte, wollte weiterhin Dichtung dagegensetzen, und hat danach auch gegen alle Schwierigkeiten und Widerstände am Jiddischen festgehalten. Das große Werk einer jiddischen Zeitschrift über Jahrzehnte durchgehalten und hartnäckig an der Vision einer jiddischen großen Dichtung festgehalten, selber mit seinen Texten Entscheidendes dazu beigetragen.? Musik 7 Nizza Thobi , Unter dajne wajsse schtern Sprecher: In ihrem Vorwort zum Buch über Sutzkever schreibt die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Heather Valencia: ZITAT (Heather Valencia) Sprecherin: ?Er hat die jiddische Literatursprache auf eine vorher unerreichte Höhe gebracht und sie durch vielfältige Neuschöpfungen bereichert. Seine Lyrik vereinigt eine klassische Strenge in Metrum, Reim und regelmäßiger strophischer Form mit einer großen sprachschöpferischen Ausdruckskraft.? (Heather Valencia in: Abraham Sutzkever "Geh über Wörter wie über ein Minenfeld. Lyrik und Prosa." Hrsg. Renate Heuer, Übersetzer Peter Comans. Campus Verlag, Frankfurt/M. 2009) O-TON (Hubert Witt liest Sutzkever ?Wer wird bleiben??) ?Wer wird bleiben? Wer wird bleiben? Was wird bleiben? Bleiben wird ein Wind. Bleiben wird die Blindheit eines Blinden, die verrinnt. Bleiben wird ein Meereszeichen, nur ein Krönchen Schaum. Bleiben wird ein kleines Wölkchen, hoch auf einem Baum. Wer wird bleiben? Was wird bleiben? Bleiben wird ein Wort, Schöpfungsgras, hervorzukeimen heut und immerfort. Bleiben wird die Fiedelrose, ährenfest und schön. Sieben Gräser all der Gräser werden sie verstehen. Mehr als all die vielen Sterne über diese Welt, jener Stern wird bleiben, der in eine Träne fällt. Auch ein Tropfen Wein wird bleiben, hier, in seinem Krug. Wer wird bleiben? Gott wird bleiben. Ist dir?s nicht genug?? (Abraham Sutzkever in: Abraham Sutzkever "Gesänge vom Meer des Todes. Gedichte. Jiddisch und deutsch. Aus dem Jiddischen von Hubert Witt. Ammann Verlag, Zürich 2009.) Musik 8 John Zorn, Lucky me, I?m an orphan O-TON (Awrom Nowershtern) ?I can say one of the most interesting aspects of Yiddish: It is a Germanic language, because it is close to German that developed in Slavic countries for people, for Jews I mean. Zitator: Das ist mit das Interessanteste am Jiddischen: Man benutzt die hebräischen Buchstaben für eine deutsche Sprache mit slawischen Einflüssen. Und diese Verschmelzung von drei unterschiedlichen Einflüssen wirkt sich nicht allein sprachlich, sondern auch kulturell aus. Das ist die besondere Eigenheit des Jiddischen. Sprecher: Professor Awrom Nowershtern ist in Südamerika geboren. Er hat die Bibliographie zum Werk Abraham Sutzkevers verfasst. In Jerusalem leitet er den jiddischen Zweig am Institut für Hebräische Literatur, in Tel Aviv das ?Beit Sholem Alejchem?, ein kulturelles Zentrum, das sich dem Werk Scholem Alejchems, der jüdischen Kultur Osteuropas und somit dem Jiddischen widmet. Vor einigen Jahrzehnten noch hätte es in Israel weder Bedarf, noch Unterstützung für diese Art der Traditionspflege gegeben. Heute ist das anders. O-TON (Hana Wirth-Nesher) ?Yiddish is not a threat to anyone any longer... Sprecherin: Jiddisch ist heute keine Bedrohung mehr. Es ist nun für die zweite, dritte oder vierte Generation von Israelis möglich, nostalgisch auf das Jiddische zuzugehen, es kennenlernen zu wollen und sich in die Lage zu versetzen, mit den Großeltern zu sprechen, sollten sie noch leben. Deshalb kam es zu einem Comeback von Jiddisch an der Universität in Tel Aviv. Und plötzlich wurde es auch in anderen Teilen der Welt wiederbelebt. And so Yiddish has seen a comeback at Tel Aviv University. A little later then it has been revived in the rest of the world.? Sprecher: Absehbar war das nicht. In der Diaspora sprachen die versprengten Überlebenden der Shoah gezwungenermaßen die jeweilige Landessprache. Ihre kulturelle Gemeinschaft war zerbrochen worden. Und in Israel, ausgerechnet im jüdischen Staat, war Jiddisch als Ausdruck angeblicher Ghettomentalität verpönt. Erst 1996 hat die Knesset das Jiddische offiziell als ?Nationalschatz des jüdischen Volkes? anerkannt. Bereits zu Theodor Herzls Zeiten, als die Gründung einer nationalen Heimstatt für Juden, die Errichtung eines jüdischen Staates, ins Auge gefasst wurde, gab es hitzige Auseinandersetzungen, welche Sprache im neuen Staat gesprochen werden sollte. Musik Sprecher: Das Image des Rückständigen erhielt Jiddisch schon im Zeitalter der Aufklärung. Und Juden, die im 19. Jahrhundert gleichberechtigte Bürger ihrer Länder werden wollten, transportierten ebenso Vorbehalte gegen das Jiddische als ?minderwertige Sprache?. Sie passte nicht zu Emanzipation und Assimilation. Moses Mendelssohn hatte sie ein ?Kauderwelsch? genannt, für Theodor Herzl symbolisierte sie das Ghettodasein, das die Juden hinter sich lassen wollten, er bezeichnete Jiddisch als ?verkümmerten und verdrückten Jargon?. Ende des 19. Jahrhunderts erlebte die tausend Jahre alte Volkssprache eine erste Wiedergeburt. Die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Haether Valencia hat dafür folgende Begründung: ZITAT (Heather Valencia) Sprecherin: ?Der Auslöser für diese erstaunlichen Entwicklungen waren die weitreichenden religiösen und gesellschaftlichen Umwälzungen, die ab Mitte des 18. Jahrhunderts die ehemals geschlossene osteuropäische jüdische Welt aufrüttelten. Die traditionelle jüdische Gesellschaft Osteuropas wurde also im Laufe des 19. Jahrhunderts weitgehend umgestaltet; dadurch entstand eine moderne, der Weltkultur offene jiddische Literatur, zuerst in Osteuropa, und später in Amerika sowie in anderen Migrationsländern.? (Heather Valencia in: Abraham Sutzkever "Geh über Wörter wie über ein Minenfeld. Lyrik und Prosa." Hrsg. Renate Heuer, Übersetzer Peter Comans. Campus Verlag, Frankfurt/M. 2009) Sprecher: Im Jahr 1906 setzte Südafrika, in das damals immer mehr russische Juden auswanderten, Jiddisch auf die Liste der europäischen Sprachen, anhand derer Immigranten ihre Lese- und Schreibkenntnisse nachweisen durften. ZITAT ( Miriam Weinstein) Sprecherin: ?Zum ersten Mal in der Welt hatte Jiddisch eine offizielle staatliche Anerkennung gefunden. Das war ein Meilenstein für die Sprache und das Volk.? (Miriam Weinstein in: Miriam Weinstein "Jiddisch. Eine Sprache reist um die Welt.? Aus dem Amerikan. von Mirjam Pressler, Kindler Verlag, Berlin 2003.) O-TON ( Hubert Witt) ?Es gibt viele nationale Literaturen, die eigentlich erst im 19. Jahrhundert beginnen, die nicht solche Traditionen haben wie die englische, die deutsche und so weiter. Und die jiddische ist von den großen Prosaikern der jiddischen Literatur durchaus kunstvoll und bewusst geschaffen worden aus Volkssprache mit einem gehörigen Schuss Intellektualität, und es ist eine sehr lebendige und sehr reizvolle und vielschichtige, ausdrucksvolle Sprache geworden, die so teils geschaffen und teils aufgenommen wurde aus der lebendigen, aus der mündlichen Sprache, und praktisch, wie auch sonst große Autoren, haben eben diese Sprachschöpfer eine Literatursprache wesentlich geschaffen.? O-TON (Itzik Manger liest ?Ovnt Lid?) ?Shtiler ovnt, tunkl-gold. Ikh zits baym glezl vayn. Vos iz gevorn fun mayn tog? A shotn un a shayn - Zol khotsh arege tunkl-gold in mayn lid arayn. (Itzik Manger in: Itzik Manger "Dunkelgold" Gedichte. Jiddisch und Deutsch. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2004.) Musik Chava Alberstein, Ovnt Lid Sprecher: Chava Alberstein, eine der populärsten israelischen Sängerinnen, vertont ein Gedicht von Itzik Manger, der 1901 in Czernowitz geboren wurde. 2004 brachte der Frankfurter Suhrkamp Verlag eine Auswahl seiner Gedichte und Balladen unter dem Titel ?Dunkelgold? in einer aufwändigen Ausgabe heraus. Die jiddischen Texte waren ins Deutsche übersetzt und einmal mit hebräischen Buchstaben, einmal in lateinischer Umschrift abgedruckt. Einen größeren Kreis von Lesern aber erreichen solche Ausgaben nicht. O-TON (Awrom Nowershtern) ?There are a few writers, unfortunately fewer and fewer with time going on. Zitator: Es gibt noch ein paar jiddische Schriftsteller. Mit der Zeit werden es immer weniger. Daher würde ich sagen, es ist vor allem eine Sprache für Studenten. Es gibt zwar ein neues Feld, das vor einer Generation noch nicht existierte: die Klezmer Musik. Sie erzeugt Interesse für das Jiddische. Aber die Möglichkeiten Jiddisch tatsächlich zu sprechen schrumpfen leider mehr und mehr. Unfortunately the areas where Yiddish is spoken and used are becoming smaller and smaller.? O-TON (Jossif Gofenberg) ?Ich kann sagen, nur dass wenn ich treffe eine älteren Mann oder Frau jüdischer Abstammung, dann versuche ich mit ihnen Jiddisch zu sprechen. Für mich ist das so wie eine Liebe zu seiner Vergangenheit, so eine Liebe zu etwas Altem, ich vermisse etwas, zu meinen Großeltern, zu meinen Eltern jetzt schon beiden meiner Mutter Vater, wo ich habe zuhause als kleines Kind mit ihnen Jiddisch gesprochen und diese Liebe ist geblieben in mich drinnen bei mir.? Sprecher: Jossif Gofenberg wurde 1949 in Czernowitz geboren und leitet seit einigen Jahren in Berlin einen jiddischen Chor. Die Mitglieder sind überwiegend keine Juden. Der Chorleiter selbst kann noch Jiddisch sprechen, doch die Liedtexte im Original, also in den Buchstaben des hebräischen Alphabets, kann er nicht lesen. Seiner Begeisterung und seiner Liebe zur Sprache tut das keinen Abbruch. Musik Gofenberg& Chor, Schlof ein mein Jankele Sprecher: Nun, schläft das Jiddische ein oder erwacht es wieder? Was heißt Einschlafen - bei diesem Lärm? Vielleicht ist Jiddisch die Sprache eines Traums? Aber was heißt dann Traum? O-TON (Jossif Gofenberg) ?Das ist typisch Jiddisch: Wie geht es dir? Ach, wie soll es mir gehen? Nu was machst du? Was soll ich machen? Wie bist du gesundlich? ach was gesundlich? Immer auf eine Frage mit einer Anfrage antworten, mir gefällt das einfach, einen gefälln saure Apfel, andern gefälln, weiß nicht, rote, ich weiß nicht, einen Schnee, Regen, so gefällt mir die Sprache.? Zitate : Gilles Rozier Heather Valencia in: Abraham Sutzkever "Geh über Wörter wie über ein Minenfeld. Lyrik und Prosa." Hrsg. Renate Heuer, Übersetzer Peter Comans. Campus Verlag, Frankfurt/M. 2009. Abraham Sutzkever in: Abraham Sutzkever "Gesänge vom Meer des Todes. Gedichte. Jiddisch und deutsch. Aus dem Jiddischen von Hubert Witt. Ammann Verlag, Zürich 2009. Miriam Weinstein in: Miriam Weinstein "Jiddisch. Eine Sprache reist um die Welt." Aus dem Amerikan. von Mirjam Pressler, Kindler Verlag, Berlin 2003. Itzik Manger in: Itzik Manger "Dunkelgold" Gedichte. Jiddisch und Deutsch. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2004.