Manuskript Kultur und Gesellschaft Reihe : Forschung und Gesellschaft Titel : Wann war was bekannt? Erkenntnisse und Debatten über die NS- Verstrickungen des Auswärtigen Amtes Autor/in: : Annette Wilmes Redakteur : Winfried Sträter Sendung : 18. November 2010 - 19:30 Uhr Regie : Rita Höhne Produktion : 15. November 2010 Besetzung : Autorin Zitator Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken ge- nutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Take 1 (Ulrich Herbert) Für uns Historiker, die wir in der Regel nicht so viel mit der Öffentlichkeit zu tun haben, selbst die NS-Historiker nicht, ist das jetzt schon eine etwas verblüffende, zuweilen, das muss man sagen, auch etwas skurrile Aufgeregtheit, ein Hype sozusagen, dass die verschiedenen Redaktionen sich gegenseitig übertreffen und die Artikel immer länger und immer ausgreifender werden. Autorin Ulrich Herbert, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Freiburg. Take 3 (Marga Henseler) Ich war platt, überhaupt nicht mit gerechnet. Überhaupt nicht. Aber ich bin zufrieden. Nicht so sehr, dass ich hier in den Blickpunkt der Öffentlichkeit geraten bin, sondern der Sache wegen. Dass die Historiker-Kommission in der Lage war, dieses großartige Buch zu schreiben. Das ist für mich wichtig, anders gar nichts. Autorin Marga Henseler, die gerade 92 Jahre alt geworden ist und in Bonn-Bad Godesberg lebt, war Dolmetscherin im Auswärtigen Amt und lange pensioniert, als sie den Anstoß für das Buch gab. Autorin Der Freiburger Historiker Ulrich Herbert ist erfreut über den Erfolg des Buches, sagt aber auch: Take 5 (Ulrich Herbert) Keiner, der ein bisschen was davon weiß, wird überrascht gewesen sein, dass in einem Außenministerium in der Nazi-Zeit eine Menge Nazis gesessen haben. Und die taz hat ja auch witzigerweise mal damit aufgemacht: Große Überraschung! Sogar in der Reichskanzlei soll es Nazis gegeben haben. Autorin Tatsächlich waren viele der im Buch genannten Fakten bereits bekannt. Eine der ersten zugänglichen Informationsquellen für eine breite Öffentlichkeit war der Nürnberger Wilhelmstraßenprozess. Vor Gericht standen damals, 1948/49, hohe Beamte des Nazi- Staates. Es war der letzte der Nürnberger Prozesse, die auf den Hauptkriegsver- brecherprozess von 1946 gefolgt waren. Wilhelmstraßen-Prozess wurde das Verfahren nach jener Berliner Straße genannt, in der das Auswärtige Amt und andere wichtige Ministerien ihren Sitz hatten. Prominentester Angeklagter war Ernst von Weizsäcker, Staatssekretär im Auswärtigen Amt unter Ribbentrop. Er war im Amt geblieben, obwohl er von den Gräueltaten der Nazis wusste. 1942 erteilte er Adolf Eichmann die Genehmigung für die Deportation von 6.000 Juden aus Frankreich nach Auschwitz. Weizsäcker wurde zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt, die später auf fünf Jahre reduziert wurde. Bereits im Oktober 1950 kam Ernst von Weizsäcker vorzeitig frei. Er starb im August 1951 nach einem Schlaganfall. Sein Sohn Richard, der spätere Bundespräsident, gehörte als damals 28jähriger zum Ver- teidigungsstab Ernst von Weizsäckers. Über die Dokumente, die für Ankläger und Richter in Nürnberg die Schuld seines Vaters bewiesen, sagte er 1998 im Deutschlandradio: Take 6 (Richard von Weizsäcker) Dass die Abzeichnung dieser Dokumente durch meinen Vater und seinen nächsten Mit- arbeiter, Herrn Wörmann, ein in dem Zusammenhang für unsere heutigen Kenntnisse schwer verständlicher Vorgang ist, das kann ja doch im Ernst nicht bestritten werden. Bei allem tiefen Zutrauen nicht nur im menschlichen, sondern auch im politisch ge- wissensbezogenen Beziehung zu meinem Vater, er hat sich wohl der Vorstellung hin- gegeben, dass auf der einen Seite das Schicksal der Juden sowohl in, sagen wir mal, dem besetzten Frankreich, als auch im Osten aufs äußerste gefährdet sein würde, war sich im Jahr 42 gewiss nicht über das im Klaren, was wir unter dem Begriff des Holocaust oder des Vernichtungslagers von Auschwitz genau wissen. Trotzdem ist, bei aller, wie soll ich sagen, vollkommen eingeschränkten Einwirkungsmöglichkeit gegenüber diesen Vorgängen, dies eine schwer nachvollziehbare Komponente der damaligen Zwangslagen gewesen, wie wir sie aus heutiger Sicht sehen. Autorin Der Nürnberger Gerichtshof hatte eine Fülle von Dokumenten aus dem Auswärtigen Amt als Beweismaterial vorliegen. Auch das einzige erhaltene Protokoll der geheimen Wannsee-Konferenz, auf der am 20. Januar 1942 die Ermordung aller europäischen Juden beschlossen wurde, war dabei. Vom Auswärtigen Amt hatte Unterstaatssekretär Martin Luther daran teilgenommen. Der ehemalige Staatssekretär von Weizsäcker bestritt, darüber informiert gewesen zu sein. Genauso wenig habe er davon gewusst, dass Auschwitz ein Todeslager war. Die Richter des amerikanischen Militärtribunals schrieben damals im Urteil: Zitator Wir sind zwar bereit und sogar darauf bedacht, in jedem Fall im Zweifel zugunsten des An- geklagten zu entscheiden - das ist sein Recht -, aber hier ist es schwer, einen Zweifel zu hegen, selbst wenn wir annehmen, dass zu jener Zeit keiner der Angeklagten wusste, dass Auschwitz ein Todeslager war. Aber sie waren immerhin wohl unterrichtet über das Schicksal jedes Juden, der der SS und der Gestapo auf Gnade und Ungnade ausgeliefert war; sie kannten das Schicksal der polnischen Juden und der Juden aus dem Baltikum und Russland; sie kannten das entsetzliche Los der deutschen Juden. Autorin Das Urteil im Wilhelmstraßenprozess ist 833 Schreibmaschinenseiten lang. Jeder, der wollte, konnte es kurze Zeit nach der Verkündung im April 1949 nachlesen. Denn bereits 1950 wurde es im Alfons Bürger-Verlag veröffentlicht, mit Einführungen des Anklägers Ro- bert W. Kempner und des Verteidigers Carl Haensel. Wer wissen wollte, wie die hohen Beamten in die Nazi-Verbrechen verwickelt waren, konnte es schon damals erfahren. Aber es interessierte kaum jemanden. Mehr noch: Take 7 (Ulrich Herbert) Die westdeutsche Öffentlichkeit war empört darüber, dass die Kriegsverbrecherprozesse der Amerikaner weitergegangen sind. Sie hielt es eigentlich für abgemacht, dass mit dem ersten großen Kriegsverbrecherprozess mit Göring und anderen die Sache abgetan sei. Und es gab dann eine breite Kampagne gegen die Fortsetzung der Kriegsver- brecherprozesse, insbesondere gegen den Wilhelmstraßen-Prozess, also den Prozess der Beamten des Außenministeriums, wo Weizsäcker einer der Hauptangeklagten war. Dafür gab es bereits in der sich gerade konstituierenden Bundesrepublik kein Verständnis mehr. Und die Ablehnung in der Öffentlichkeit gegenüber diesen Prozessen lag bei etwa zwei Dritteln. Take 8 (Gerhard Lütkens, Bundestag) Meine Damen und Herren, seit der letzten Etatdebatte sind mehrfach, zuletzt unter dem Nom de plume Mansfeld in der Frankfurter Rundschau, heftige Angriffe auf bestimmte Aspekte der Personalpolitik des Herrn Außenministers gemacht worden. Autorin Der SPD-Abgeordnete Gerhard Lütkens während der Debatte im Deutschen Bundestag am 16. Oktober 1951. Das Auswärtige Amt war sieben Monate zuvor neu gegründet worden und schon wieder in die Schlagzeilen geraten. Die Frankfurter Rundschau hatte in einer Artikelserie scharf kritisiert, dass nicht nur ehemalige NSDAP-Mitglieder, sondern auch aktive Nazis und Mittäter im neuen Auswärtigen Amt untergekommen seien. Zitator Ihr naht Euch wieder … Autorin Mit diesem rudimentären Zitat aus Goethes Faust – „Ihr naht Euch wieder, schwankende Gestalten, die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt“ – hatte der freie Journalist Michael Mansfeld eine fünfteilige Artikelserie in der Frankfurter Rundschau veröffentlicht. Untertitel: Zitator Einblicke in die Personalpolitik des Bonner Auswärtigen Amtes. Autorin Der Journalist nannte eine ganze Reihe Namen von ehemaligen Beamten oder Ange- stellten aus der Wilhelmstraße, die in die Nazi-Verbrechen verstrickt und jetzt wieder im Auswärtigen Amt untergekommen waren. Die Reaktionen in der Presse auf die Artikelserie in der Frankfurter Rundschau waren in der Regel sachlich. Aus dem Rahmen fiel jedoch die Wochenzeitung „Die Zeit“: Zitator Abermals Robert W. Kempner. Einem Schädling muss das Handwerk gelegt werden Autorin Unter diesem Titel unterstellte „Zeit“-Chefredakteur Richard Tüngel, der ehemalige An- kläger im Wilhelmstraßenprozess – Kempner - habe die Artikelserie in Gang gesetzt. Zitator Unsere Leser wissen, wer er ist. Er hat den Staatssekretär von Weizsäcker ins Gefängnis und in den Tod gehetzt. (…) Schon während der Nürnberger Prozesse war er so großmäulig, rundherum zu verkünden, nur er allein sei auf Grund seiner Aktenkenntnis fähig, das neue Auswärtige Amt aufzubauen. Man hat ihn nicht berufen, und nun rächt er sich. Autorin Robert W. Kempner reagierte cool. Zitator Solche Angriffe sind für meine Freunde und mich eine ehrenvolle Bestätigung, dass wir in Nürnberg unsere Pflicht gegenüber der Menschlichkeit getan haben, denn „Die Zeit“ hat sich ständig für Verbrecher eingesetzt, die in Nürnberg wegen ihrer Beteiligung an Mas- senmorden und ähnlichen Verbrechen verurteilt worden sind. Autorin Im Bundestag hatte die SPD einen Untersuchungsausschuss beantragt, der auch in der Sitzung vom 16.Oktober 1951 beschlossen wurde. Take 9 (Gerhard Lütkens, Bundestag) Wie ich glaube, hat sich die Frankfurter Rundschau ein Verdienst erworben, durch diese Veröffentlichungen aufzudecken, dass in der Öffentlichkeit ein weit verbreitetes Misstrauen besteht und die Sorge, ob die personelle Zusammensetzung des Auswärtigen Amtes für unsere Demokratie politisch tragbar sei. Autorin Sagte der SPD-Abgeordnete Lütkens. Für die CDU antwortete Konrad Adenauer, Bun- deskanzler und seit März 1951 Außenminister in einer Person. Er hatte eigentlich einen Neuanfang ohne ehemalige NSDAP-Mitglieder angestrebt. Jedenfalls wollte er keine „Restaurierung des alten Auswärtigen Amtes“. In der Debatte vom 16. Oktober 1951 jedoch relativierte er: Take 10 (Konrad Adenauer, Bundestag) Man kann nicht einfach bei dem Aufbau eines so wichtigen Ministeriums auf erfahrene Leute der früheren Zeit rundweg verzichten. Ich stehe weiter auf dem Standpunkt, dass wir jetzt im Jahre 1951 endlich einmal auch einen Strich darunter machen sollen, dass früher Leute der NSDAP angehört haben, ohne irgendwie da etwas pecciert zu haben. (Beifall bei den Regierungsparteien. – Zurufe von der SPD) Autorin Der Untersuchungsausschuss Nr. 47 nahm seine Arbeit auf. Ziemlich genau ein Jahr nach der Debatte im Bundestag legte er im Oktober 1952 seinen Abschlussbericht vor. Take 11 (Hans-Jürgen Döscher) Die Abgeordneten haben sich nicht die Mühe gemacht, die Aussagen der Diplomaten vor dem Untersuchungsausschuss quellenkritisch zu prüfen. Sie waren kein historisches Gremium. Sie haben die Aussagen häufig hingenommen. Autorin Kritisiert der Historiker Hans-Jürgen Döscher von der Universität Osnabrück, der sich seit Jahren mit der Geschichte des Auswärtigen Amtes befasst. Take 12 (Hans-Jürgen Döscher) Zur fraglichen Zeit hatte die CDU/CSU und die FDP die Mehrheit im Untersuchungs- ausschuss. Und trotzdem haben sie sich auf ein Ergebnis einigen können, in dem sie feststellen, dass nur wenige Diplomaten von den Inkriminierten, die in der Frankfurter Rundschau genannt worden sind, sich als geeignet erwiesen haben. Und einige Diplomaten, die besonders in die Berichterstattung über die Vernichtung der Juden involviert waren, sie für ungeeignet hielten. Sie haben dann diesen fragwürdigen Satz hinzugefügt: Diese Diplomaten können aber in anderen Zweigen der Bundesverwaltung eingesetzt werden. Autorin Was nichts anderes hieß, als dass sie doch weiter beschäftigt wurden. Übrigens auch wieder im Auswärtigen Dienst, denn ein Rechtsberater des Amtes hatte beamtenrechtlich festgestellt, dass ein Beamter, wenn er für die eine oder andere Behörde kompetent ist und dort arbeitet, auch für das Auswärtige Amt arbeiten kann. Hans-Jürgen Döscher: Take 13 (Hans-Jürgen Döscher) Dann hat man also diese Diplomaten, von denen ich eben sprach, die inkriminiert waren, nicht mehr allseitig einsetzen können, sondern hat sie dann vorrangig in den arabischen Hauptstädten oder in Südafrika oder in der Zentrale eingesetzt. Das heißt, hier waren sie personae gratae. Hier waren sie willkommene Personen. Aber man musste sich hüten vor den Hauptstädten, den Regierungen der ehemaligen Feindmächte, sie dort einzusetzen. Es gab dann einige Male auch da Ärgernisse. Und das Auswärtige Amt hat also aus dieser Sicht dann, aus dieser Erfahrung die Konsequenz gezogen, dass die inkriminierten Diplomaten dann nur in der arabischen Welt einsetzbar sind. Autorin Etwa zur gleichen Zeit, als der Untersuchungsausschuss des Bundestages noch unter Aus- schluss der Öffentlichkeit arbeitete, begann vor dem Landgericht Nürnberg-Fürth das Strafverfahren gegen einen Mann, der heute wieder für Schlagzeilen sorgt: gegen den früheren Legationsrat und Judenreferenten in der Wilhelmstraße, Franz Rademacher. Im September 1951 wurde er verhaftet, angeklagt wegen Beihilfe zum Mord an mehreren tausend Juden. Verurteilt wurde er jedoch nur wegen Beihilfe zum Totschlag an 1.300 Juden. Zitator „Drei Jahre und fünf Monate für Rademacher“ Autorin Als die FAZ am 18. März 1952 unter diesem Titel über den Prozess berichtete, schrieb die Zeitung auch ausführlich über Rademachers Reise nach Belgrad und über jenes Dokument, das nun, im Herbst 2010, großes öffentliches Entsetzen hervorgerufen hat: Rademachers Reisekostenabrechnung mit der Begründung: Zitator „Liquidation von Juden“ Autorin Wie viele andere verurteilte Kriegsverbrecher wurde Rademacher vorzeitig aus der Haft entlassen. Längst war die Legende, die meisten Diplomaten der Wilhelmstraße hätten im Dritten Reich nicht mitgemacht, sondern zähen, hinhaltenden Widerstand geleistet, in der Welt – sie war leichter im öffentlichen Bewusstsein zu verankern als die Wahrheit, die in der Frankfurter Rundschau und in der Bundestagsdebatte 1951 öffentlich bekannt gemacht worden war. Ulrich Herbert: Take 14 (Ulrich Herbert) Es war nicht so, dass in der Bundesrepublik eine Stimmung bestand: Es dürften nicht so viele Nazis im Auswärtigen Amt sein, sondern ganz im Gegenteil: Es ist eine Unver- schämtheit, dass weiter geschnüffelt wird. Die Entnazifizierung ist vorbei. Das waren die zeitgenössischen Kommentare. Und natürlich vor allen Dingen: Wir werden hier von den Amerikanern zu etwas gezwungen, was wir gar nicht wollen. Das hat sich im Laufe der Jahre nur unmerklich geändert, langsam, sehr sukzessive über die 60er, 70er Jahre hinweg. Noch in den 80er Jahren bekam man als Historiker durchaus problematische Kommentare zu hören, wenn man etwa über den Vater des einstigen Bundespräsidenten sprach. Diese Bewusstseinsveränderung ist eine über die Jahrzehnte sehr langsame. Und sie geht gleichzeitig einher mit einer gewissermaßen rhythmischen, mit einem rhythmischen Vergessen. Autorin Dass im Auswärtigen Amt immer noch Diplomaten aus der Wilhelmstraße aktiv waren und die Bundesrepublik im Ausland vertraten, geriet nach 1952 aus den Schlagzeilen und auch in Vergessenheit – zunächst bis Ende der 50er Jahre. Take 15 (Ulrich Herbert) Dann befeuerte die DDR-Seite die Bundesrepublik mit einer ganzen Serie von Veröffent- lichungen zur Kontinuität der Eliten aus der Nazizeit in die Bundesrepublik. Und soweit wir das heute feststellen können, trafen die meisten dieser Beschuldigungen auch zu. Nicht unbedingt im Bezug auf die damals gewählte Begrifflichkeit, also Blutrichter oder Naziverschwörer oder Ähnliches, aber von der Funktionsbeschreibung waren etwa die Aussagen im Braunbuch, das Ende der 50er Jahre veröffentlicht worden ist, soweit wir das überblicken können, durchaus zutreffend. Aber: Den einstigen Nationalsozialisten war diese Propaganda der DDR ganz recht, denn dann wurde gesagt: Da es aus der DDR kommt, ist es disqualifiziert und kann ja gar nicht stimmen. Und so ist man dann in den 60er Jahren in einem Land aufgewachsen, das von sich den Eindruck hatte: Der ganze Vorwurf, es gäbe so viele Nazis in der Bundesrepublik, ist ausschließlich Kalte-Kriegs- Propaganda. Und es brauchte sehr lange und übrigens auch sehr viel Forschung, um das zu widerlegen. Autorin Inzwischen zog eine neue Generation von Diplomaten ins Auswärtige Amt ein. Einer von Ihnen war Manfred Steinkühler, der nach drei Jahren im Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 1965 in das personell eng verbundene Auswärtige Amt wechselte. Der inzwischen 81jährige pensionierte Diplomat lebt heute in Berlin. Als das Buch der Historiker-Kommission erschien, war seine Reaktion: Take 16 (Steinkühler) Überrascht war ich, weil die in dem Buch ausgebreiteten Tatsachen seit gut 30 Jahren bekannt sind. Und nicht überrascht war ich, weil das Buch natürlich an Vorstellungen, an die man sich verzweifelt klammerte, mit Erfolg rüttelte und diese zum Einsturz brachte. Autorin Manfred Steinkühler kannte die profunde Literatur, die schon vor Jahrzehnten zum Auswärtigen Amt im Dritten Reich erschienen ist: Take 17 (Steinkühler) Es gab in der Bundesrepublik seit 1987 die Veröffentlichungen von Hans-Jürgen Döscher, einmal die Veröffentlichung „Das Auswärtige Amt im Dritten Reich, Diplomatie im Schatten der Endlösung“, und dann wenige Jahre später die Fortsetzung „Verschworene Gesellschaft, das Auswärtige Amt zwischen Kontinuität und Neubeginn“ und schließlich im Jahre 2005 aus gegebenem Anlass, weil dies das Jahr des so genannten Nachrufskandals war, das Buch „Seilschaften“. Autorin Vor allem das Buch „Diplomatie im Schatten der Endlösung“ erreichte neben der Fachöffentlichkeit auch ein breiteres Publikum. Denn Rudolf Augstein widmete ihm im März 1987 eine ausführliche Rezension im „Spiegel“. Er befasste sich vor allem mit dem Staatssekretär Ernst von Weizsäcker: Zitator Man wird sich in die Gefühlslage eines gebildeten Menschen kaum einfühlen können, der Juden weder vergasen noch sonstwie ermorden will, aber zwei Jahre lang Kenntnis nimmt, keine Einwände hat, veranlasst, zur Billigung vorlegt, als nirgends entscheidendes, aber immer mitwirkendes Rad der Mordmaschine. Wie er mit seinem Chef, dem Au- ßenminister, noch reden, mit seinem eigennützigen Förderer, dem Reichsführer-SS, noch korrespondieren konnte - man fasst es nicht. Autorin Rudolf Augstein zitiert aus einer „Vortragsnotiz“ vom 10. Dezember 1941, in der es um die Ermordung von vielen Tausend Juden in den Ostgebieten geht. Eine Notiz, die Ernst von Weizsäcker vorgelegen hat. Dann fragt Augstein: Zitator Wäre es mithin nicht an der Zeit gewesen, sich selbst krankheitshalber aus dem Verkehr zu ziehen, was einem 59jährigen Mann mit seinen Verdiensten doch wohl möglich gewesen wäre? Wollte er immer noch das Schlimmere verhüten oder den Frieden, den er nicht hatte bewahren können, wieder herbeiführen? Autorin Wer den Augstein-Text las, erfuhr, dass von Weizsäcker den so genannten Judenboykott „Kauft nicht bei Juden“ vom Frühjahr 1933 so kommentierte: Zitator Die anti-jüdische Aktion zu begreifen, fällt dem Ausland besonders schwer, denn es hat diese Judenüberschwemmung eben nicht am eigenen Leib verspürt. Das Faktum besteht, dass unsere Position in der Welt darunter gelitten hat und dass die Folgen sich schon zeigen und in politische und andere Münze umsetzen. Autorin Mit vielen Zitaten aus Döschers Buch belegte Augstein sein vernichtendes Urteil: Zitator Wahr ist, das Auswärtige Amt hat sich unter Ribbentrops Staatssekretär als willfähriger Handlanger der SS-Mörder betätigt. Autorin Rudolf Augstein im Spiegel am 16. März 1987. Ein bundesdeutsches Leitmedium rückt den verdrängten und vergessenen Skandal um das Auswärtige Amt ins Rampenlicht der großen Öffentlichkeit. Warum, fragt man sich heute etwas erstaunt, hat das damals nicht höhere Wellen geschlagen? Immerhin war es die Zeit des großen Historikerstreits um die Bewertung der NS-Verbrechen, und nur zwei Jahre zuvor hatte Richard von Weizsäcker seine große Bundestagsrede gehalten, in der er das Kriegsende als Befreiung beschrieb. Warum heute die Aufregung – und nicht schon damals…? Take 18 (Hans-Jürgen Döscher) Die Rezeption und die Rezeptionsbereitschaft der politischen Öffentlichkeit war geringer als heute. Und hinzuzufügen ist noch: Akademische Bücher werden nicht so häufig ge- lesen. Autorin Bemerkt Hans-Jürgen Döscher lakonisch und ergänzt: Take 19 (Hans-Jürgen Döscher) Ich bin ja nicht der Einzige, der darüber geschrieben hat. Herr Kollege Browning, USA, hat in seinem ersten Buch „The Final Solution and the German Foreign Office“, 1978, das nur auf Englisch erschienen ist, schon breit die Mitwirkung des Auswärtigen Amtes bei der Endlösung der Judenfrage, also bei der Vernichtung der Juden im Zweiten Weltkrieg, aufgezeigt, auf die verantwortlichen Referate im Auswärtigen Amt. Autorin Kurz nach Döschers Veröffentlichung und Augsteins Spiegel-Rezension erlebte der deutsche Generalkonsul in Mailand, Manfred Steinkühler, wie ungebrochen die Tradition des Auswärtigen Amtes fortgesetzt wurde. Steinkühler musste alljährlich zum Volks- trauertag eine Feier auf dem deutschen Soldatenfriedhof in Costermano abhalten. Take 20 (Manfred Steinkühler) Anfang 1988 wurde mir bekannt, dass auf diesem Friedhof auch der Erfinder der Gas- kammer, nämlich SS-Sturmbannführer Christian Wirth beigesetzt ist. Und ich war scho- ckiert über die Art und Weise, dass man einen solch herausragenden Repräsentanten der Mörderbande der SS dort beigesetzt hatte zusammen mit den gefallenen Soldaten, dass ich dem Auswärtigen Amt den Vorschlag machte, dieses Grab zu verlegen. Das Auswärtige Amt lehnte das ab, wohl unter dem Druck auch des Volksbundes deutscher Kriegsgräberfürsorge. Und wie sich später herausstellte, befanden sich zahlreiche Ver- brecher dieser SS-Einheiten, nämlich des Einsatzkommandos Reinhard, das ursprünglich in der NS-Euthanasie und dann im Judenmord tätig war, dass sich weitere Repräsentanten und SS-Führer dieser Einheit dort befanden. Autorin Das Auswärtige Amt reagierte nicht auf Steinkühlers Vorschläge, es sollte alles so bleiben wie bisher. Als der Diplomat sich weiterhin weigerte, die Feier abzuhalten, schickte das Ministerium einen Inspekteur nach Mailand, um ihn zu maßregeln. Steinkühler bat um seine Versetzung und quittierte schließlich 1991 den Dienst. Take 21 (Manfred Steinkühler) Auch weil mir ein hochrangiger Repräsentant der italienischen Republik mitgeteilt hatte, dass die italienische Regierung in Erfahrung gebracht hatte, dass man alles, aber auch alles getan hätte, um mich in Mailand zu Fall zu bringen. Autorin Manfred Steinkühler hat seine Geschichte schon früher publik gemacht und immer wieder erzählt. Eine breitere Öffentlichkeit nimmt sie jedoch erst jetzt wahr, da sich plötzlich alle für das Auswärtige Amt interessieren – nachdem der Bericht der Historikerkommission erschienen und von der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung zum großen Thema gemacht worden ist. Übrigens ist in diesem Jahr endlich auch Christopher Brownings bahnbrechendes Werk aus dem Jahr 1978 über die „Endlösung“ und das Auswärtige Amt auf Deutsch erschienen –allerdings ohne großes Aufsehen schon im Sommer. Vieles war bekannt, lange bevor Joschka Fischers Conze-Kommission nun ihr umfas- sendes Werk herausgab. Trotzdem gibt es in dem Buch über das Amt noch einiges neu zu entdecken. Zum Beispiel das Dokument, mit dem Ernst von Weizsäcker 1936 die Ausbürgerung Thomas Manns befürwortete. Oder dass die Russland-Experten des Auswärtigen Amtes, die 1941 nach Kriegsbeginn gegen die UdSSR zurückgerufen wurden und in einem Russland-Ausschuss arbeiteten, sich nach 1945 sofort den amerikanischen Besatzungsbehörden zur Verfügung gestellt haben. Take 22 (Hans-Jürgen Döscher) Also grundsätzlich muss man sagen, dass die Internationale Historikerkommission mit ihren zahlreichen Mitarbeitern auf breiter Quellenbasis, so wie wir sie nicht vorgefunden haben zu unserer Zeit der Forschung, sehr facettenreiche Quellen mit biografiege- schichtlichen Ansätzen und mit strukturgeschichtlichen Ansätzen zu einem großen Opus verbunden haben. Insofern ist die Arbeit einzigartig. Sie ist sicherlich auch ein Vorbild für zukünftige Arbeiten. Und zukünftige Historiker, die darüber arbeiten wollen oder über Randgebiete arbeiten wollen, sind gut beraten, sich an dieser vorliegenden Arbeit zu orientieren. Autorin Sagt der Osnabrücker Historiker Hans-Jürgen Döscher. Aber reicht die außerordentliche Qualität des Buches aus, um die enorme Öffentlichkeitswirksamkeit zu erklären? Der Freiburger Geschichtsprofessor Ulrich Herbert: Take 23 (Ulrich Herbert) Ja, man hat es ja gewusst. Die Frage ist: Wer ist ‚man’ und was ist ‚Öffentlichkeit’? Wir haben es mit einem nun sattsam bekannten Phänomen zu tun, nämlich, dass die Zeit vergeht und dass wir etwa im Bereich der NS-Diskussion alle acht bis zehn Jahre offenbar ein neues Publikum haben. Das heißt, die letzte richtig große Diskussion zum Nationalsozialismus war diejenige um die Wehrmachtsausstellung Ende der 90er Jahre und etwa zur gleichen Zeit zur Zwangsarbeiterentschädigung. Das ist jetzt zwölf Jahre her, und wir stellen fest, dass ein Großteil der Vertreter in den Medien, aber auch in der Öffentlichkeit sonst, mit denen wir zu tun haben, daran keine Erinnerung mehr haben, sei es individuell oder institutionell. Das heißt, wir haben es mit einer sozusagen sich dauernd erneuernden Öffentlichkeit zu tun. Und die ist nun verständlicherweise jedes Mal wieder neu erschreckt in dem Moment, wo sie sozusagen diesen Firnis des etwas allgemein und ungenau Bescheid-Wissens über die Schrecknisse des Dritten Reiches an einem Punkt durchbricht und gewissermaßen ganz nah an das Geschehen kommt. Und dann ist für jede Generation neu das Erschrecken in Deutschland außerordentlich groß, und zwar un- vermeidlicherweise. Autorin Marga Henseler, die den Anstoß für das Buch gegeben hat, ist zufrieden: Take 24 (Marga Henseler) Also für mich ist der Held der Joschka Fischer. Der auf die Idee gekommen ist, diese Kommission zu gründen, wozu die anderen zu feige waren. Die einzige Befriedigung, die ich habe, dass ich der Auslöser gewesen bin. Aber hätte Joschka Fischer das nicht in die Hand genommen und hätte gesagt, ja schön, Frau Henseler, und dann zu den Akten, wäre es nichts geworden. Autorin Das Urteil des Ex-Diplomaten Manfred Steinkühler über „Das Amt und die Vergangenheit“ lautet: Take 25 (Manfred Steinkühler) Das entscheidende Werk über die deutsche Diplomatie von 1933 bis zum Jahre 2005. *** 18 3