DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag, 26.05.2015 Redaktion: Karin Beindorff 19.15 - 20.00 Uhr Die Blutanklage Zur Geschichte des Antisemitismus in Ungarn Von György Dalos und Andrea Dunai URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - Musik Sprecher 1 Hoher Gerichtshof! Noch nie habe ich die Schwere meiner Amtspflicht so hart empfunden, wie in diesem Augenblicke, in dem es sich darum handelt, das traurige Ereignis aufzuklären, dass ein Sohn seinen Vater und dessen Glaubensgenossen eines todeswürdigen Verbrechens bezichtigt. Ansage: Die Blutanklage Zur Geschichte des Antisemitismus in Ungarn Ein Feature von György Dalos und Andrea Dunai Autor: Der 1. April 1882 begann in dem winzigen, verarmten ostungarischen Dorf Tiszaeszlár lebhafter als sonst. Es war ein Samstag. Die Siedlung am Theissufer zählte nur einige hundert Einwohner, mehrheitlich reformierte Bauern. Der Ort lag gewissermaßen am Rand der Welt, sogar in die Komitatshauptstadt Nyíregyháza brauchte man mit guten Pferden mindestens drei Stunden. Das Osterfest und Pessach standen bevor - in jenem Jahr fielen die Feste der Christen und der Juden zusammen. Alle waren mit den Vorbereitungen beschäftigt. Im Haus der christlichen Familie Huri wurde gerade renoviert. Die Farbe ging zur Neige und Frau Huri schickte ihr 14-jähriges Dienstmädchen, Esther Solymosi, ins Dorfszentrum, um neue Farbe zu holen. Sieben Kreuzer gab man ihr mit. Es muss zwischen 10 und 11 Uhr vormittags gewesen sein. Das Mädchen sei an diesem Tag sehr gut gelaunt gewesen, erzählte man später. Auch die Nachbarn beauftragten Esther mit verschiedenen Besorgungen. Die 14-Jährige trug ein weißes Kopftuch mit rotem Band, ein altes Kattunröckchen und eine rotgeblümte Schürze. Barfuß machte sie sich auf den Weg. Es war recht kühl. Nur selten konnte sich die Sonne einmal gegen die Wolken durchsetzen. Die genaue Zeit ließ sich nur durch das Mittagsläuten feststellen. Musik Sprecherin: Es ist zunehmend klar geworden, dass die ungarischen Behörden die Beschönigung tragischer und krimineller Episoden der Vergangenheit Ungarns ermutigen. Insbesondere handelt es sich um die Verharmlosung der aktiven Rolle der damaligen ungarischen Regierung bei der Deportation und Ermordung Hunderttausender jüdischer Mitbürger. Mit solchen Aktivitäten will ich nicht in Verbindung gebracht werden. Darum gebe ich hiermit den Verdienstorden der Republik Ungarn zurück, der mir im Jahre 2004 vom ungarischen Staatspräsidenten verliehen wurde. Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel, Juni 2012 Musik Autor: In der Synagoge herrschte reges Treiben. Nach dem Morgengebet blieben zwanzig Gläubige im Haus. Die jüdische Religionsgemeinde wollte einen neuen Schächter wählen. Die Stelle war erst vor kurzem vakant geworden. Drei Bewerber hatte man aus der benachbarten Ortschaft eingeladen. Damals war der Schächter zugleich auch der Vorbeter der Synagoge. Die Kandidaten beteten an diesem Vormittag im jüdischen Tempel zur Probe. Ringsherum auf den Straßen und Höfen konnte man ihren Sprechgesang hören. Musik Autor Frau Huri wurde immer ungeduldiger. Es vergingen Stunden, der Nachmittag war bereits angebrochen und Esther immer noch nicht zurückgekehrt. Frau Huri machte sich auf die Suche. Zuerst ging sie zu Esthers Mutter, die einige Häuser weiter wohnte. Das Ausbleiben des Mädchens beunruhigte auch die Mutter. Sie wandte sich an ihre Schwester, und gemeinsam durchsuchten sie das ganze Dorf, gingen zum Flussufer hinunter, schauten in jede Grube und befragten alle, die sie trafen. Niemand hatte das Mädchen gesehen, niemand wusste etwas. Nur Esthers Schwester, die das Mädchen am Vormittag bis zur Mühle begleitet hatte. In den frühen Abendstunden kreuzten sich die Wege der suchenden Frauen und der jüdischen Familie Scharf vor der Wohnhütte der Scharfs. Der jüdische Tempeldiener von Tiszaeszlár versuchte die verzweifelten Frauen zu beruhigen. Sprecher 3 Als ich noch ein Kind war, hörte ich von meiner Mutter, dass in unserem Nachbarort ein Kind in Verlust geriet, und man sagte, die Juden hätten es umgebracht; selbst die Öfen durchsuchte man bei den Juden, und schließlich fand man das Kind auf der Wiese. Autor Warum rief der Tempeldiener gerade dieses Beispiel in Erinnerung, fragte sich Esthers Mutter. Von diesem Moment an wurde sie von einer fixen Idee beherrscht: Ihre Tochter konnte nur den Juden zum Opfer gefallen sein... Sicher kannte sie die weit verbreitete, uralte Legende, nach der Juden das Blut von Christen zum Backen von Mazze benutzten... Und gerade jetzt, vor Pessach backte man doch Mazze. Musik Sprecherin: Nach Lesart der (ungarischen Regierung), wie sie auch in der Präambel der neuen, seit 2012 gültigen ungarischen Verfassung festgehalten ist, hatte Ungarn vom 19. März 1944 bis zum 2. Mai 1990 seine Souveränität verloren. Die Idee dahinter: Der ungarische Staat sei nur eingeschränkt oder gar nicht verantwortlich gewesen für den Holocaust an den ungarischen Juden. Der Spiegel, Februar 2014 Musik Autor Was nun der Aberglaube einer ungebildeten Frau aus einem abgelegenen Dorf war, machten hoch gebildete Herrschaften zum Mittel ihrer Politik. Es dauerte nicht lange bis die Nachricht vom angeblichen Mord im kaum bekannten Kaff auch Budapest erreichte. Der Parlamentsabgeordnete Viktor Istóczy, Führer der "Antisemitischen Landespartei", griff das Thema begierig auf. Sprecher 2 Geehrtes Haus! Es mag sein, dass hier nur der Fall eines einfachen Mordes vorliegt, von einem Menschen an einem anderen verübt. Doch ist auch die andere Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass es sich hier um die Ermordung eines Christen durch einen Juden aus religiösen Motiven handelt. Dieser Verdacht wird durch den Umstand genährt, dass der Mord in der Synagoge unmittelbar vor dem jüdischen Ostern durch einen zum rituellen Schlachten berufenen Schächter vollzogen wurde. (...) Ich sage also, es ist auch nicht unmöglich, dass es sich hier um einen Fall eines solchen mysteriösen konfessionellen Mordes eines Menschenopfers handelt, dessen genaue Untersuchung für das Los der gesamten Judenheit für Jahrhunderte entscheidenden Einfluss besitzt. (...) Ich behalte mir vor bei gegebener Gelegenheit und im Falle der Notwendigkeit, diese Sache von Zeit zu Zeit zu prüfen. Autor: In den 1880-er Jahren lebten im ungarischen Teilstaat der Doppelmonarchie rund sechshunderttausend Juden, die nach dem Emanzipationsgesetz von 1867 als gleichberechtigte Bürger galten. Mehr als die Hälfte von ihnen betrachtete Ungarisch als Muttersprache und neigte bei allen konfessionellen Bindungen zu einer möglichst schnellen und erfolgreichen Assimilation, so wie es der Zeitgeist vorgab. Ein kleinerer Teil der Judenheit kam aus Galizien. Diese Einwanderung wurde vom Staat mit dem Ziel gefördert, durch deren ‚Magyarisierung' den Anteil der ungarischen Bevölkerungsgruppe gegenüber der kroatischen, serbischen, slowakischen und rumänischen Minderheit zu erhöhen. Die Integration der galizischen Juden verlief während der Hochkonjunktur der 1870er-Jahre relativ reibungslos. Dennoch stieß der ökonomische Aufschwung sehr bald an seine Grenzen. Die ungarische Landwirtschaft etwa wurde von einer Absatzkrise erschüttert. Gleichzeitig brach 1881 in der benachbarten Ukraine eine von den zaristischen Behörden zumindest geduldete Pogromwelle aus, vor der die Juden hauptsächlich in die Donaumonarchie flüchteten. Das Erscheinen der bettelarmen, jiddisch sprechenden und frommen Juden löste in den ungarischen Dörfern soziale und kulturelle Spannungen aus, während in der Hauptstadt der politische Antisemitismus seine Stunde gekommen sah. Istóczys Parlamentsrede blieb nicht ohne Widerspruch - als er aus einem Hetzblatt einen Artikel vorzulesen begann, meldete sich der liberale Ministerpräsident, Kálmán Tisza zu Wort. Sprecher 3 Meine erste Bemerkung ist die, dass es unstatthaft ist, von irgendeiner Rasse oder Konfession in unserem Vaterlande zu sagen, dass sie niedrig sei und volle Verachtung verdiene. Was die Frage selber anbelangt - und das wäre zu bemerken -, so habe ich von der Sache bisher keine Kenntnisse gehabt. In jedem Falle ist es sonderbar, wenn sich ein solcher Fall wirklich zugetragen hat, (....) dass die Angelegenheit erst zum Gegenstande eines Zeitungsartikels, danach einer Polemik gemacht wird. Autor Die ostungarische Provinz war bereits weiter gegangen. Der junge, ambitionierte Vize-Notar Josef Bary wurde zum Untersuchungsrichter berufen und in der zweiten Maihälfte 1882 nach Tiszeszlár entsandt. Er agierte schnell und entschieden: alle Dorfjuden, die ihm aus irgendeinem Grund verdächtig erschienen, nahm er in Vorbeugehaft. Gleich nach seiner Ankunft wurde Moritz, der ältere Sohn des Tempeldieners Scharf, mitten in der Nacht in die Wohnung des örtlichen Sicherheitskommissars gebracht: Dort sollte er zum ersten Mal ein Geständnis ablegen. Doch es enthielt zunächst nichts Brauchbares für eine Anklage. Sein kleiner, viereinhalbjähriger Bruder plapperte aber herum, er hätte gesehen, wie der Vater mit Hilfe von Moritz das Mädchen ermordet habe. Bary wollte aus dem älteren Bruder Moritz einen Kronzeugen fabrizieren. Der Untersuchungsrichter nahm sich den Jungen vor: Sprecher 4 Ich lauschte und blickte durch das Schüsselloch in die Judenkirche und sah mit eigenen Augen, wie am 1. April dieses Jahres, in den nächtlichen Stunden, vier Schächter und der Kirchenaufseher im Vorgemach der Synagoge Esther Solymosi die Hände rückwärts banden, den Mund verstopften, sie nackt auszogen, ihre Füße wuschen, und der damals neu erwählte Schächter, sie ergreifend, ihre Kehle aufschnitt, dass fließende Blut abwechselnd in zwei Tellern auffing, und es dann in ein größeres Gefäß schüttete. (...) Da es im Tempel keinen Platz zum Verstecken des Leichnams gab, mussten die Täter den Leichnam über die Fenster in einem Heuschober verstecken. Danach schaffte jemand die Leiche, in Stroh verpackt, auf einem einspännigen Wagen aus dem Dorf. Mindestens ein Dutzend Menschen waren da: Meine Eltern, Abraham Buxbaum, Jakob Römer, Taub, Schwarz, Braun... Autor Und die über Nacht andauernde Bearbeitung von Moritz trug in den frühen Morgenstunden bereits erste Früchte. Die Ermittlungsmaschinerie war nicht mehr zu stoppen. Nach Moritz Aussage fuhr eine Gruppe von Fahndern nach Tiszaeszlár und begann auf dem Grundstück des Tempeldieners zu graben. Auch das Wohnhaus der Familie wurde durchsucht. Nirgendwo fand sich eine Spur, nirgendwo eine Leiche. Auch der Teil der Theiss, der nahe an der Synagoge lag, wurde in einer Länge von 400 Klaftern mit Spitzhacken untersucht. Und auf dem Friedhof wurde ein Grab geöffnet. Doch alle Mühen waren vergebens! Der Untersuchungsrichter widmete sich Moritz nun gezielter. An seiner Aussage musste gefeilt werden. Die Bestrebungen konzentrierten sich darauf, das angebliche Geschehen anders zu akzentuieren. Am 22. Mai sagte Moritz vor dem Sicherheits-Kommissär aus: Sprecher 4 Am Sonnabend, vor dem jüdischen Osterfest, gegen ein Uhr mittags, nach Beendigung des Gottesdienstes, als die Gläubigen bereits nach Hause gegangen waren, blieben außer meinem Vater, dem Tempeldiener, dem Schächter nur noch einige Tiszaeszláer Juden, mehrere fremde Schächter und ein fremder, aus Galizien zugereister jüdischer Bettler in der Synagoge zurück. Der Vater wies mich sowie meinen kleinen Bruder aus dem Tempel. Wir entfernten uns jedoch nicht, sondern blieben in der Hofecke zurück. Der Vater konnte uns nicht sehen, wir ihn aber doch. Er verließ die Synagoge und begab sich in sein nahe gelegenes Wohnhaus. Er lehnte sich aus dem Fenster und blickte in die Richtung, aus welcher Esther Solymosi kam. Sie trug in ihrer Hand ein gelb und weiß gestreiftes Tuch, in welchem etwas eingewickelt war. Mein Vater trat vor die Haustür, sprach das Mädchen an, sie möge herein kommen, und die Güte haben, da an dem Tag gerade Sabbath war, für Juden Arbeitsverbot, die Mittagsschüssel vom Herde in das Zimmer zu tragen. Das Mädchen leistete dem Wunsche auf das Willigste Folge, trat in die Vorhalle und legte ihr Bündel auf die Bank. In diesem Augenblick packte sie mein Vater von hinten, band ihr mit raschem Griff die Hände am Rücken fest, während die Mutter ihr, mit dem Bettler aus Galizien, rasch den Mund knebelte. Alle drei zogen dann das Mädchen aus, und stießen sie über die Treppe, in die Mikve, wo Esther gewaschen, danach an Händen und Füßen gefesselt, in ein Tuch eingewickelt wurde. Nach Anbruch der Dämmerung haben meine Eltern und der Bettler sie in die Vorhalle der Synagoge getragen. Autor Der junge Kronzeuge behauptete nun auch, er habe die dramatischen Geschehnisse in der Synagoge beobachtet: Sprecher 4 Hier wurde das Tuch vom Körper des Mädchens entfernt, ihm die Augen verbunden und das Haar gekämmt, und sie wurde auf den in der Mitte der Vorhalle zur Synagoge stehenden rituellen Tisch geschnallt. Dann trat mein Vater an das Mädchen heran und schächtete das Mädchen am Halse durch einen langgezogenen Schnitt mit dem rituellen Schächtermesser. Das herausquellende Blut wurde in bereit gehaltene Teller aufgefangen und in ein größeres Gefäß geschüttet. Autor Und zum Schluss fügte der Junge hinzu. Sprecher 4 Das habe ich ohne jeden Zwang ausgesagt. Musik Autor Wie es dem Knaben möglich gewesen sein soll, alles so präzise zu beobachten - das hat niemand gefragt. Wenn diese Mordtat an einem Sabbath stattgefunden hat, dann mussten Moritz und seine Eltern als fromme, orthodoxe Juden, die konfessionellen Regeln einhalten. Sie mussten den Ausgang des Feiertags begehen. Und nebenan sollte ein gefesseltes, christliches Mädchen liegen? Die Boulevardpresse, wie das deutsche Extrablatt, störten die Fragen nach den Details und der Glaubwürdigkeit des jungen Kronzeugen nicht: Sprecherin Ein die ganze Christenheit aufs Äußerste empörende, todwürdiges jüdisches Kapital-Verbrechen wird uns aus Ungarn gemeldet, das ganz dazu angetan ist, den seit Jahrhunderten gegen die Juden genährten und immer wieder von Neuem ausgesprochenen Verdacht zur Gewissheit zu machen, dass die Israeliten zu rituellen Zwecken Christenkinder schlachten. Autor Das Deutsche Tageblatt widmete dem Ereignis sogar eine Extranummer. Sprecherin Die neuesten Nachrichten lassen nicht mehr daran zweifeln, dass ein rituelles Verbrechen vorliegt. Autor Die Information der deutschen Zeitung stammte aus erster Quelle: Ein Journalist namens Marciányi György, alias Georg von Marcziányi, dessen Lieblingsthema ansonsten das Leben der Aristokraten war, bot der Antisemitischen Partei in Ungarn seine Dienste an. Er sprach Deutsch und Ungarisch und informierte die interessierten Kreise rund um die Uhr. Ungewollt erreichte er, dass die Nachricht vom angeblichen Ritualmord von einer lokalen Angelegenheit zu einem weltweiten Skandal wuchs. Am 15. Juni übersetzte er die Presseerklärung eines besonders berüchtigten Judenhassers, des Parlamentsabgeordneten Onody: Sprecher 2 In Bezug auf den Tiszaeszláer Fall bin ich so frei, Sie zu benachrichtigen, dass jenes Verbrechen Gegenstand der gesetzlichen Nachforschungen ist, dessen wichtigen Moment das durch Eid bekräftigte Geständnis des Kirchenaufsehers 14-jährigen Sohnes, Namens Moritz Scharf, bildet und im ganzen monströsen Sündenprozess den sensationellen Blutverdacht stärkt.. Autor In Deutschland war nur die obskure rechte Szene von dem jüdischen Verbrechen überzeugt. In Ungarn selbst flammte die Hetze erst jetzt richtig auf. Das ‚Geständnis' von Móritz Scharf bildete die Grundlage der Anklage. Vorgeladene Zeugen sollten das Konstrukt noch untermauern. Eine Frau behauptete, sich an Hilferufe von Esther aus der Gegend der Synagoge Samstag gegen Mittag zu erinnern. Eine andere sagte unter Eid aus, dass sie an dem verhängnisvollen Tag gegen Mittag in der Nähe der Synagoge ein leises Weinen gehört hätte. Dann wollte sie zwei Juden gesehen haben, die zu jeder Seite der Synagogentür standen und Wache hielten. Eine dritte Frau sagte aus, sie erinnere sich eindeutig an die Abendstunden, in denen in der Synagoge Licht gebrannt habe. Sie vermutete, dass die rituelle Abschlachtung in jener Zeit stattgefunden habe. Selbst Untersuchungsrichter setzten zunächst Fragezeichen am Rand der Protokolle. Doch nicht alles lief im Sinne der Anklage: Die Zeugin, die das Abendlicht in der Synagoge gesehen haben wollte, veränderte den Zeitpunkt plötzlich auf Mittag. Weitere Überraschungen waren nicht auszuschließen. Und so klammerte sich der Untersuchungsrichter Bary krampfhaft an seinen jungen Kronzeugen. Der durfte mit niemandem Kontakt halten. Statt der Eltern kümmerten sich seine Gefängniswärter um ihn und gaben sich als seine Lehrer: Den Lehrstoff bildete die jeweils aktuelle Fassung seines Geständnisses. Später wurde er aus dem Gefängnis in das Komitatshaus verlegt. Als zusätzliche Begünstigung führte man ihn ins Theater. Zu einem anderen Anlass begleitete man ihn in ein nahegelegenes Lokal. Unter den Melodien einer Zigeunerkapelle genoss er ein gutes Abendessen. Der Knabe wurde konsequent präpariert. Bary fand für die Absonderung des Jungen eine plausibel scheinende Erklärung. Sprecher 2 Mit Rücksicht ferner darauf, dass nach dem Bekenntnis von Moritz Scharf den Zeitungen publik geworden ist, dass er über seine Glaubensgenossen belastende Aussagen gemacht hatte, wonach man bei der gereizten Stimmung seiner Glaubensgenossen, die in der hochwichtigen Mordaffäre interessiert erscheinen, fürchten kann, dass ihn dieselben misshandeln, wird er zur vollkommenen Wahrung seiner Person von ferneren Dispositionen abgehalten. Autor Um das jüdische Verbrechen noch auszuschmücken, musste auch an Esthers Legende gearbeitet werden: Ihre christliche Güte und Unschuld sowie die menschliche Behandlung durch ihre Herrin sollte die Verwerflichkeit der Mordtat unterstreichen. Und Frau Huri, die Brotherrin, spielte mit: Sprecherin 1 Ich zürnte ihr nur manchmal ein wenig, sie war ein so gutes Kind, und sie trieb das Schwein nur mit Worten, und da sagte ich zu ihr: So nimm doch einen Stock in die Hand, was bittest du das Vieh, schlag nur drauf los. Auch zürnte ich ihr, als sie das Geschirr wusch. Und das kam so, dass ich ihr sagte, sie solle das Geschirr spülen. Der Seifentrog war aber mit Windeln gefüllt und sie hatte denselben nicht geleert. Dabei besitze ich auch einen Backtrog, der so groß ist, dass auch ein Kübel Mehl darin gebacken werden kann, und in diesem Trog wollte sie das rußige Geschirr abwaschen, da sagte ich ihr: Wenn du einmal dienen wirst, so sorge immer dafür, dass dein Seifentrog rein sei, denn sonst kann dich Gott strafen. Musik Autor Und dann passierte etwas Überraschendes. Am 18 Juni 1882, im dritten Monat der Untersuchung, wurde eine Leiche in der Nähe des Dorfes in der Theiss gefunden. Bezirksärzte untersuchten den Leichnam und stellten sofort fest: Es handelt sich um ein mittelmäßig genährtes, circa 14 Jahre altes Mädchen. Die Untersuchungsrichter waren von dem Fund wenig begeistert: schließlich wollten sie einen Mord beweisen und keinen Selbstmord. Die Untersuchung führte zu keinem eindeutigen Erfolg. Viele der Befragten behaupteten, in dem Körper die verschwundene Esther Solymosi erkannt zu haben. Esthers Mutter jedoch verleugnete jede Ähnlichkeit mit ihrer Tochter und ihre Aussage fiel schwer ins Gewicht. Nun wurde die Leiche obduziert. Namhafte Universitätsprofessoren aus Budapest konstatierten in ihrem mehrseitigen Gutachten, dass der Hals zu etwaiger Blutgewinnung nicht aufgeschnitten worden war. Das Resümee klang eindeutig. Sprecher 1 Erkennbare Spuren einer äußeren Gewalt, ob absichtlich oder zufällig, sind nicht gegeben. Autor Die Propagandisten des Ritualmordes weiteten indessen ihre Kampagne aus. Der Parlamentsabgeordnete Geza Onody wollte nun die Affäre Tiszaeszlár weltweit ausschlachten. In der ersten September-Hälfte 1882 tagte der Internationale antijüdische Kongress in Dresden mit 300 bis 400 Teilnehmern. Der ungarische Delegationsleiter brachte den Versammelten ein Präsent mit: ein Ölgemälde des angesehenen ungarischen Malers Ludwig Abrányi, das auf einer monumentalen Leinwand den Ritualmord am Bauermädchen Esther Solymosi verewigte. Das Bild wurde an der Seite des Präsidententisches aufgehängt. Daneben standen die Büsten der Kaiser von Deutschland und Österreich, sowie des Königs von Sachsen. Musik Autor Im Verlauf der gerichtlichen Untersuchung gewann der Prozess allmählich an Konturen. Die verhafteten Schächter bekamen ihre Verteidiger. Der erste war ein örtlicher Anwalt jüdischer Abstammung, Dr. Ignác Heumann. Kaum hatte er begonnen sich mit der Sache zu befassen, wurden er, seine Ehefrau und Kinder beleidigt und öffentlich angepöbelt. Der Hetze schlossen sich auch die Lokalbehörden an. Sie inszenierten im Hause des Anwalts eine Hausdurchsuchung. Sein Ansehen wurde derart demoliert, dass er sich gezwungen sah, am 28. Juni seinen Rücktritt beim Gerichtshof einzureichen. Sprecher 1 Mit gebundenen Händen steht die Verteidigung jener zweifelhaften Ungewissheit gegenüber, welche das ganze bisherige Untersuchungsverfahren charakterisiert und deren Endresultat meines Erachtens kaum ein anderes sein dürfte, als ein völliges Dunkel und ein in keiner Hinsicht befriedigendes langsames Erlöschen. (...) Ich trete bedingungslos zurück. Autor Für die Rolle des Hauptverteidigers gelang es, den bekannten Juristen und liberalen Politiker Karl von Eötvös zu gewinnen. Er lebte und praktizierte in Budapest. Der Untersuchungsrichter Bary forderte ihn jedoch auf, für die Zeit der Verhandlung in die Komitatshauptstadt Nyiregyháza zu übersiedeln. Zuerst wohnte der Advokat im Hotel Europa, dann zog er in ein Gasthaus an den Stadtrand - im Zentrum war es zu gefährlich. In die Stadt fuhr er mit einer Droschke. Auf den sandigen Straßen tratschte man über die neuesten Entwicklungen des Prozesses. Nyiregyháza mit seinen 30.000 Einwohnern war eine belebte Getreide- und Tabakhandelsstadt in der großen ungarischen Tiefebene, die nun nicht bloß für ihre Kornhalle landesweit bekannt war, sondern auch als Schauplatz einer Verhandlung gegen angebliche jüdische Mörder eine Sensation. Dabei war das Zusammenleben von Juden und Nichtjuden bisher weitgehend friedlich gewesen. Einige Jahre zuvor hatte die Stadt immerhin einen jüdischen Bürgermeister gehabt. Eötvös blieb bis zuletzt neben anderen Anwälten die Hauptstütze der Verteidigung, Er erinnerte sich später: Sprecher 1 Die Tiszaeszláer Angelegenheit war zu jener Zeit, als ich im vollen Bewusstsein der Unpopularität dieser Aufgabe die Verteidigung übernahm, weit über die Grenzen eines einfachen Rechtsfalles gegangen und hatte teils durch das gelegentliche Zusammentreffen mit der in den benachbarten Staaten aufgetauchten Judenfrage, teils durch die Übertreibung eines Teils der Presse eine solche gesellschaftliche und ich möchte sagen politische Wichtigkeit erlangt, dass derjenige, der objektiv und gerecht sein will, zugeben wird, dass in deren konstitutive Elemente ein fremder Stoff gemengt wurde, den die Strafrechtswissenschaft nicht kennt, den ich aber nenne: die Judenfrage. Musik Sprecherin In Budapest haben am vergangenen Sonntag rechtsextreme Fußballfans des Klubs Ferencvaros den Vorsitzenden der ...Raoul-Wallenberg-Gesellschaft, Ferenc Orosz, beschimpft und zusammengeschlagen. Auslöser der Attacke war offenbar, dass Orosz einige der für ihren Antisemitismus berüchtigten Ultras aufgefordert hatte, ihre "Sieg Heil"-Rufe zu unterlassen. Er sei darauf als "jüdischer Kommunist" diffamiert und derart geschlagen worden, dass er eine Nacht im Spital verbringen musste. Neue Züricher Zeitung ,Mai 2013 Musik Autor Die öffentliche Verhandlung begann am 18. März 1883 und betraf 15 Angeklagte. Die meisten von ihnen wurden beschuldigt, das Verschwinden des 14-jährigen Mädchens bewerkstelligt zu haben, der Rest galt als Helfershelfer. Die anderen 72 zeitweilig eingesperrten Personen waren bis dahin freigelassen worden. Die Untersuchung dauerte 14 Monate und Unmengen Dossiers wurde zusammengetragen. Der hübsch eingerichtete, ziegelförmige Komitatssaal gab den Verhandlungen den Rahmen. Auf der linken Seite befand sich die Bank der Angeklagten. Daneben nahmen die Verteidiger Platz. Auf der gegenüberliegenden Seite saß Esthers Mutter, Frau Solymosi mit ihrem Anwalt. Links von ihr arbeiteten die Stenographen - als Teilnehmer ungarischer Gerichtsverhandlungen ziemlich neu. In der Mitte, vor dem Podest der Staatanwaltschaft, wurde eine schmale Pultreihe für ein Dutzend Berichterstatter von großen ungarischen, österreichischen und deutschen Blättern aufgebaut. Mehrere Telegrafenlinien wurden eingerichtet, mit direkter Verbindung nach Budapest, Wien und Berlin. Nach der ungarischen Strafprozessordnung begann die Verhandlung mit dem Verhör der Belastungszeugen. Der Saal war bis auf den letzten Platz gefüllt. Merkwürdigerweise hatte man dem Untersuchungsrichter Bary erlaubt, im Zuschauerraum Platz zu nehmen. Seine zuvor bearbeiteten Zeugen mussten also an ihm vorbei defilieren. Seine Blicke gaben den Beschuldigten und Zeugen letzte Hinweise. Am ersten Verhandlungstag wurde Esthers Mutter befragt, eine magere, alt aussehende Frau. Sie trug ein dunkles Kleid und ein schwarzes Kopftuch. Alle, die sie kannten, wussten, dass sie abergläubisch war und an die göttliche Vorsehung glaubte. Sprecherin 2 Die Juden haben meine Tochter getötet. Mein Herz sagte mir das vorher, es lag ja gar kein Grund vor, dass Esther Selbstmord begangen hätte. Ich ahnte Böses. Dass das die Juden waren, hat mir Gott zugeflüstert. Ich werde bei dieser Meinung bleiben, bis man mich ins Grab legt. Autor Die Zeugenaussage von Esthers Mutter löste den Widerspruch des Hauptverteidigers Eötvös aus. Sprecher 1 Frau Solymosi! Gott hat Sie mit Erfahrung, vorgerücktem Alter und hellem Verstand gesegnet. Sie wissen, dass nach den weltlichen Gesetzen die Strafe für den Mord eine sehr schwere ist. Ja, dass der Mörder, wenn der Tod absichtlich geschah, mit dem Tode bestraft wird. Sie wissen auch, dass auch unschuldige Menschen in den Verdacht des Mordes geraten können. (...) Ich bitte und ermahne Sie, die Dinge gut zu überlegen, die sich auf das Verschwinden Ihrer Tochter beziehen. (...) Wenn ihr Tod vielleicht auf andere Weise erfolgte, wenn Sie einen solchen Zweifel haben... Autor Die Mutter wiederholte nur immer wieder: Das gibt's nicht, das gibt's nicht, das gibt's nicht. Die Isolierung des Kronzeugen, des halbwüchsigen Moritz - das Werk des Untersuchungsrichters - war eine eindeutige Gesetzesverletzung. Selbst die Staatsanwälte, wenn sie auf diesen und jenen inhaltlichen oder formellen Fehler aufmerksam gemacht hatten, spürten am eigenen Leib die Attacken und Provokationen der Vertreter der Ritualmordtheorie, sowie der antisemitischen Zuhörerschaft und Öffentlichkeit. Bary und seine Helfer hatten in den vorangegangenen Monaten ziemlich präzise Arbeit geleistet. Moritz, der im überfüllten Komitatsaal seine Texte fehlerlos aufsagte, schien ruhig zu sein. Sein äußeres Erscheinungsbild strahlte Glaubwürdigkeit aus. Der arme Dorfjunge von einst hatte einige Kilo zugenommen, trug ordentliche Kleidung und saubere Schuhe. Musik Sprecherin: In Ungarn breitet sich der Antisemitismus ungeniert aus. In keinem anderen europäischen Land wird so offen gegen Juden gehetzt. Und die Wortführer sitzen nicht verschämt in irgendwelchen Bierspelunken, sondern im Parlament. Vor drei Jahren ist die rechtsextreme Jobbik mit mehr als 16 Prozent der Stimmen zur drittstärksten Kraft im ungarischen Abgeordnetenhaus aufgestiegen. Die Presse, Wien, Mai 2013 Musik Autor Das Amt des öffentlichen Anklägers versah zunächst Staatsanwalt Melchior Both. Er glaubte von Anfang an nicht an einen jüdischen Ritualmord - er hatte viele jüdische Freunde und Kollegen, die nicht zuletzt durch Geldspenden das Schicksal ihrer eingesperrten Religionsbrüder zu mildern versuchten. Both wurde sogar nachgesagt, an der Geldsammlung beteiligt gewesen zu sein. Jedenfalls bezichtigten ihn die Antisemiten der Parteilichkeit. In sein Büro wurde eingebrochen und die Handkasse gestohlen. Die Oberste Staatsanwaltschaft ordnete gegen ihn eine Revision an. Als der höchste "Hüter der Gesetzlichkeit" ohne Vorwarnung in Boths Büro erschien, jagte dieser sich, anstatt seine Rechnungsbelege vorzulegen, eine Kugel in den Kopf. Der Wechsel des Staatsanwalts gab Bary Aufwind. Viele der Angeklagten waren nun bereit zu kooperieren, weil ihnen versprochen wurde, dass sie nach der "richtigen" Aussage bereits als freie Bürger das Gerichtsgebäude verlassen könnten. Dem Kronzeugen Moritz stellte man um den Preis seines auswendig gelernten Geständnisses das Leben in einer feinen und reichen Familie sowie gute Ausbildungschancen in Aussicht. Am Morgen des 17. Juli 1883 war es dann soweit: der Gerichtshof, die Verteidiger und die Berichterstatter begaben sich nach Tiszaeszlár, um einen Lokaltermin vorzunehmen. Der Kronzeuge Moritz und sein Vater waren anwesend. Das Dorf hatte sich in den anderthalb Jahren nach dem Verschwinden des Mädchens verändert. Ein Zeitzeuge erinnert sich: Sprecher 1 Das Wohnhaus der Familie Scharf wurde zerstört und Habseligkeiten geraubt. Auch die Synagoge wurde verwüstet: Die wertvollen Gegenstände gestohlen, die Gebetsbücher zerrissen, die Holzbänke zerschlagen, die Fensterscheiben zertrümmert. Alles war mit Kot beschmiert, an den Wänden des Tempels antisemitische Hetzplakate mit Texten wie: "Mitbürger, die Zeit ist da, mordet die Juden, rettet das Vaterland, auch die Regierung hat nichts mehr dagegen. Ungarische Brüder, hauet die Juden nieder!" Diese wurden später auf den Befehl des Obergespanns hin entfernt. Autor So musste man jetzt erstmal die Tempeltür wieder einhängen. Dann wurde der junge Moritz Scharf aufgefordert zur Tür zu kommen und wie an jenem 1. April durch das Schlüsselloch zu schauen. Doch der vertraute Ort und die Erinnerung an das frühere Leben hier machten Eindruck auf ihn. Seine Selbstsicherheit ließ nach, er stotterte. Noch peinlicher für die Anklage war, dass durch das Schlüsselloch unmöglich all das zu sehen gewesen sein konnte, was Moritz in seinem Geständnis angegeben hatte. Das Sehfeld erstreckte sich bloß auf eine Breite von 65 cm. Außerdem erwies sich, dass das Schlüsselloch so tief gelegen war, dass es für den gut gewachsenen Knaben unmöglich gewesen wäre, so lange, wie er geschildert hatte, in der gebückten Position den angeblichen Mord zu beobachten. Die so genannten Beweise für die Mordtheorie verloren ihre Kraft. Übrig blieb nur als Tatsache, dass Esther Solymosi an jenem Tag verschwunden war. Musik Autor Über 300 Zeugen wurden vernommen. Der Obergespann des Komitats hatte für den Zeitraum der Verhandlungen besondere Maßnahmen zur Sicherung der öffentlichen Ruhe in die Wege geleitet. Dem zweiten Staatsanwalt gelang es noch bis zur Urteilsverkündigung im Amt zu bleiben. Er und der Hauptverteidiger Eötvös ergriffen am häufigsten das Wort. Die zwei richterlichen Beisitzer mischten sich kaum ein. Dutzende von Gutachten wurden eingeholt. Geladene ärztliche Sachverständige gaben einander die Klinke in die Hand. Insbesondere diskutierte man lange darüber, wie das Blut beim Aufschneiden einer Kopfschlagader fließen sollte. Auch die Identität des später gefundenen Leichnams wurde debattiert. Dann sprach Verteidiger Eötvös. Sprecher 1 Löblicher königlicher Gerichtshof! (...) Jene unbekannte Leiche, welche in größerer oder geringerer Entfernung um Tiszaeszlár gefunden worden ist, steht mit unserer Untersuchungsangelegenheit nicht in strafrechtlichem Zusammenhang, und kann daher auch nicht in einen solchen Zusammenhang gebracht werden: das ist zweifellos. (..) Wenn die Frage einer jeden im Theissgebiete aufgefundenen Leiche, oder jedes müßige Gerücht über eine daselbst angeblich aufgefundene Leiche zu unseren Lasten untersucht wird, so würden wir die Austragung unserer Angelegenheit und das Ende unserer Untersuchungshaft kaum erleben. Ein solches Verfahren wäre keine Rechtspflege, sondern wahrhaftige mit dem Mantel der Gerichtspflege maskierte Grausamkeit. Autor Hinter dem von Eötvös getadelten Tauziehen um den Leichnam steckte die Unsicherheit des Gerichts, sowie des ganzen ungarischen politischen Lebens. In der Tat war die Regierung von der allgemeinen Atmosphäre des Hasses beunruhigt. In einem Rundschreiben mahnte sie die Behörden jeden Pogromversuch im Keim zu ersticken. Im Dorf Tiszaeszlár stationierten sie die ganze Zeit Gendarmen, um Leib und Leben der Juden zu schützen. Der Innenminister gab die Instruktion aus, judenfeindliche Drucksachen zu konfiszieren. Angst hatte man nicht nur vor dem unkontrollierbaren Ausbruch der Volkswut, sondern man bangte auch um den guten liberalen Ruf des Landes. Denn die Weltblätter kommentierten den Prozess parallel zu dessen Verlauf. Sprecherin London, Times: Ungarn wird von England durch drei Jahrhunderte getrennt. Aus diesem Prozess blickt auf uns das Halbdunkel der Epoche der Hexenjagdzeit. Wien, Die Presse: Die Erfinder der Blutanklage vergifteten einen Teil der öffentlichen Meinung. Die Regierung und das Gericht waren schwach, indem sie diese Sache überhaupt bis zur Verhandlung kommen ließen. Paris, Temps: Ungarn lebt immer noch in einem rückständigen Mittelalter. Autor Während in den europäischen Hauptstädten vor allem die politischen Implikationen des Falles hohe Wellen schlugen, spielte sich im Verhandlungssaal ein Familiendrama ab, als das Gericht die Gegenüberstellung des jungen und des alten Scharf anordnete. Sprecher 3 Man sagte mir, dass dir eine Schweinswurst besser schmecke, als das koschere Essen: nicht wahr, die Wurst schmeckt besser? Sprecher 4 Jawohl, sie schmeckt besser. Sprecher 3 Ist es wahr, dass du gesagt hast, du willst kein Jude mehr sein? Sprecher 4 Ich habe das gesagt. Sprecher 3 Warum nicht? Sprecher 4 Darum, weil ich nicht mehr Jude sein will. Sprecher 3 Weißt du nicht, was in den Zehn Geboten steht? Halte dich doch daran, zur Stunde bist du ja noch Jude. Was ist der Grund dessen, mein Sohn, dass du vor unserer Religion einen solchen Abscheu bekommen hast? Sprecher 4 Ich habe eben einen Abscheu vor ihr bekommen. Sprecher 3 Seit wann hast du einen solchen Abscheu vor ihr bekommen? Sprecher 4 Seitdem ich in dem Komitatshaus bin. Weil jetzt eine solche Zeit für die Juden in Ungarn gekommen ist, dass man sie beinahe aus dem Lande jagt. Ich würde mich daher fürchten, ein Jude zu sein. Musik Autor Manchmal mussten Dolmetscher das Jiddisch von Angeklagten erst ins ungarische übersetzen. Ende Juli 1883 hielt Hauptverteidiger Eötvös - von seiner Leibwache geschützt - sein Plädoyer. Es wurde der längste Prozesstag des Verfahrens, die improvisierte Rede dauerte von 9 bis 14 Uhr. An diesem Tag waren die Fenster des Komitatsaals weit geöffnet. Bei großer Sommerhitze lauschten der eindringlichen Stimme von Karl Eötvös auf dem überfüllten Hauptplatz alle, die in den Saal mit seinen 240 Zuschauerplätzen, keinen Einlass mehr gefunden hatten Sprecher 1 Ich bin Jurist, ich war Verteidiger in einem großen Prozess, außerdem bin ich Schriftsteller, der gerne in die Seelen der Menschen eintaucht und die Phänomene der Natur beobachtet. Nun habe ich mit dem Phänomen des sonderbaren Verschwindens eines armen Mädchens zu tun. Dieses Phänomen verwandelte sich in eine große juristische Frage, und die Mitarbeit an der Lösung erachte ich als meine Ehrenpflicht. Wäre es überhaupt denkbar, dass ich mich nicht dem Geheimnis von Esthers Tod widme und mit meiner ganzen Sinnenkraft zur Klärung beitrage? Das wäre eigentlich die besondere Aufgabe der Ermittlungen des Untersuchungsrichters und dessen Mitarbeiter gewesen. Sie führten jedoch die Ermittlung mit unreifer Vernunft und befangenem, vermeintlich schlauem Denken auf einen falschen Weg und in törichte Wendungen. Sie suchten das Geheimnis dort, wo man es nicht finden konnte und wo sie es trotz all ihrer Spitzfindigkeit und Gewaltanwendung nicht zu entdecken vermochten. Dieses Gericht suchte in Wahrheit nicht, wie das Mädchen verschwand, sondern, ob die angeklagten Juden schuldig oder unschuldig am Verschwinden des Mädchens waren. Der Staat hält das Gericht nicht dazu an, die Geheimnisse der Seelen zu erforschen und die Phänomene der Natur zu erklären. Dies ist die Aufgabe von anderen. Autor Nach 34 Sitzungen, am 3. August 1883, wurde das Urteil verkündet. Es war der bis dahin längste Prozess der ungarischen Rechtsgeschichte. Die handgeschriebenen Protokolle und Aufzeichnungen umfassen 4000 Seiten. Die 15 jüdischen Angeklagten wurden "aus Mangel an Beweisen" freigesprochen. Auch die zweite und dritte Instanz bestätigte den Freispruch. Sprecher 1 Das Königliche Gericht befand, dass die Aussagen von Moritz Scharf jeglicher Beweiskraft entbehren. Und zwar, zuerst wegen seines Alters und persönlicher Eigenheiten. Namentlich kann man das Alter des genannten Zeugen mangels authentischen Matrikelauszugs nicht feststellen. Es bestehen auch Zweifel daran, dass er seine belastende Aussage aus freien Stücken und ohne Befangenheit machte. Ansonsten verriet er im Verlauf der Verhandlung seinen Glauben und seine Glaubensgenossen, was auch gegenüber den Angeklagten nur Verachtung und Hass bewirkte. (...) Allerdings stößt die Aussage des genannten Zeugen auch wegen des unentschiedenen Inhalts auf Einwand. Musik Autor Der Kampf um die Blutanklage hatte ein langes, auch literarisches Nachspiel. Arnold Zweig schrieb das Drama "Ritualmord in Ungarn" und erhielt dafür 1915 den Kleist-Preis. Und noch heute beflügelt der Prozess von Tiszaeszlár in Ungarn die künstlerische Phantasie. Zuletzt komponierte Iván Fischer die Oper "Die Rote Färse". Leider war der Triumph der nüchternen Vernunft kurzlebig. In Ungarn schrieben sich die antisemitischen Bewegungen der 30er-Jahre, nicht zuletzt die Pfeilkreuzler, den Namen des unglückseligen, verschollenen Mädchens Esther auf ihre Fahnen und missbrauchten es für ihre mörderische Hetze. Selbst 7 Jahrzehnte nach dem Holocaust pilgern Neonazis an das Grabmal von Esther Solymosi in Tiszaeszlár, dort ‚gedenken' die uniformierten Faschisten der "Ungarischen Garde" des "jüdischen Verbrechens". Öffentlichkeit, Regierung und Opposition, christliche Kirchen und zivile Institutionen in Ungarn haben weder den Mut noch die Kraft diese Aktionen zu unterbinden. Der Jobbik-Abgeordnete Zsolt Baráth meldete sich im April 2012 im Budapester Abgeordnetenhaus zum Wort und sagte: Die jüdischen Mörder der 14-jährigen Eszter Solymosi, von deren Schuld der Richter überzeugt war, mussten freigesprochen werden, weil das ‚internationale Finanzjudentum' dem unabhängigen ungarischen Gericht mit dem wirtschaftlichen Ruin Ungarns drohte. Sprecherin: "Ich kenne viele Holocaust-Überlebende, die sich nicht mehr auf die Straße trauen. Ich kann nur hoffen, dass Ungarn ein Land bleibt, in dem Juden weiterhin leben können." Péter Tordai, Vorsitzendre der jüdischen Gemeinde Budapest, Februar 2014 Musik Absage: Die Blutanklage Zur Geschichte des Antisemitismus in Ungarn Ein Feature von György Dalos und Andrea Dunai Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2015. Es sprachen: Sam Gerst, Torben Kessler, Guido Lambrecht, Jochen Langner, Claudia Mischke, Svenja Wasser und Bruno Winzen Ton und Technik: Hendrik Manook und Hanna Steger Regie: Susanne Krings Redaktion: Karin Beindorff 22