KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : Literatur Titel der Sendung : "Ansichten der vergänglichen Welt" Katastrophen in der japanischen Literatur AutorIn: : Sabine Grimkowski Redakteurin : Dorothea Westphal Sendetermin : 05.07.2011 Regie : Klaus-Michael Klingsporn Besetzung : Sprecherin/Zitator O-Töne und Atmos auf CD Musik Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. 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Alles kann passieren. Zitator: Insgesamt hatte ich etwa dreißig Jahre meines Lebens damit verbracht, die Widrigkeiten dieser Welt und des menschlichen Lebens zu ertragen und mich über allerlei zu grämen. Die häufigen Fehlschläge und Enttäuschungen, die mir in jener Zeit widerfuhren ließen mich schließlich wie von selbst die Unseligkeit meines Schicksals erkennen. So kehrte ich mit fünfzig Jahren der Welt den Rücken. (Kamo no Chomei: Aufzeichnungen aus meiner Hütte. Insel Verlag Frankfurt am Main 1997, S.28) Sprecherin: Im Jahr 1209 zog sich der buddhistische Mönch Kamo no Chomei als Einsiedler in die Berge zurück, um über die Vergänglichkeit des Seins nachzudenken. Er hatte Entsetzliches erlebt. 1175 brannte Kyoto bei einer Feuersbrunst nieder. Fünf Jahre später suchte ein Wirbelsturm das Gebiet heim und verwüstete die die Stadt erneut. Danach gab es zwei Jahre lang Hungersnöte, und 1185 wurde Kyoto von einem schweren Erdbeben erschüttert. In wenigen Jahren hatte Kamo no Chomei alle nur möglichen Naturkatastrophen am eigenen Leib erfahren und, was noch schwerer wog, er war vom Verhalten der Menschen enttäuscht. 2. O-Ton Yoko Tawada (0'30) Die Menschen waren aufgeregt, sie wurden kriminell, sie kämpften gegenseitig, also ganz hässliche Szenen unter Menschen, und daraufhin sagt er, dass er nicht mehr in der menschlichen Welt leben möchte, sondern zurückgezogen in einer meditativen Reinheit, und Verzicht auf Angst, Gier, Konkurrenzgefühl, alles das, was im Fall der Erdbeben stark auf die Oberfläche kommt. Sprecherin: Die Schriftstellerin Yoko Tawada ist in Tokyo geboren und aufgewachsen mit der ständigen Bedrohung durch Erdbeben. Im März 2011 gingen Bilder von Japanern um die Welt, die nach dem Tsunami infolge eines schweren Erdbebens und der Katastrophe im Atomreaktor Fukushima alles verloren hatten, was sie besaßen, und zum Erstaunen von Westeuropäern dennoch ruhig blieben. 3. O-Ton Yoko Tawada (0'17) Diese Erfahrungen haben sie seit dem Mittelalter oft genug gemacht, dass im Laufe der Zeit man festgestellt hat, dass man sich ruhig verhalten soll, dass man nicht kriminell werden soll, um sich zu schützen, dann werden die meisten überleben. [Sprecherin: Europäische Begriffe wie Stoizismus, Demut oder Disziplin taugen wenig, dieses Verhalten zu erklären, meint der Japanologe Peter Pörtner. 4. O-Ton Peter Pörtner (0'27) Die japanische Sozialisation ist ja eine sehr eigene, und ich glaube, sie ist hauptsächlich dafür verantwortlich, dass die Japaner sich so verhalten, wie sie sich jetzt verhalten. Das ist natürlich eingebettet in bestimmte historische Voraussetzungen, Sie kennen ja den Shinto, Buddhismus und Konfuzionismus, aber die Frage, in welcher Weise diese Traditionen nun wirklich teilnehmen an dem heutigen Verhalten sozusagen, das ist sehr schwer zu beurteilen, das ist eine Gemengelage, und das macht es so problematisch.] (kann evtl. gestrichen werden) Sprecherin: Yoko Tawada interessiert sich als Schriftstellerin für die Irritationen, die sich bei der Betrachtung der Unterschiede zwischen deutscher und japanischer Gesellschaft, Geschichte und Sprache ergeben. Der Begriff "Natur" wird zum Beispiel in Japan anders verstanden als in Westeuropa. 5. O-Ton Yoko Tawada (0'41) Man hat auch nicht das Wort "Naturkatastrophe" benutzt, das Wort "Natur" war auch nicht gängig..... Die Menschen bauen die Häuser, die vergehen, und dann baut man wieder, dieser Kreislauf wird ähnlich verstanden so wie ... Bäume wachsen und wieder sterben oder die Tiere geboren werden und wieder sterben, die Häuser waren auch so, und aus welchem Grund sie sterben? Die Menschen sterben auch, an Krankheiten, manchmal werden sie vom Wagen überfahren. Das sind Zerstörungen, aber was ist davon die Natur, was ist die Zivilisation? Diese Trennung wurde nicht gemacht. Sprecherin: Wie auch zwischen den von der Natur verursachten und den von Menschen verursachten Katastrophen nicht wesentlich unterschieden wird. Die Frage war immer nur, wie man sie übersteht. 6. O-Ton Yoko Tawada (0'07) Er wollte weglaufen vor den Katastrophen, aber die Katastrophen sind ihm hinterhergelaufen. ... Sprecherin: Der Schriftsteller Junichiro Tanizaki war sein Leben lang auf der Flucht vor Katastrophen, vierzigmal soll er umgezogen sein. Nach dem schweren Erdbeben 1923 in Tokyo ließ er sich in Westjapan nieder, wo er 1938 eine große Überschwemmung erlebte. 7. O-Ton Yoko Tawada (0'08) In seinem Roman "Die Schwestern Makioka", ..., da beschreibt er, wie das Wasser immer höher kommt in einem Haus. Zitator: Die drei mussten sich mit vereinten Kräften gegen die Tür stemmen, die unter dem Anprall der dumpf klatschenden Wassermassen aufzuspringen drohte. In aller Eile wurde eine Barrikade aus Sesseln, Stühlen und Tischen errichtet. Hiroshi, der im Schneidersitz in einem der Sessel hockte, lachte plötzlich laut auf: die Tür hatte nachgegeben, und der Junge schwamm in dem Sessel durchs Zimmer. "Wie furchtbar! Lasst mir bloß die Grammophonplatten nicht nass werden!" rief Frau Tamaki. Wenig später ging ihnen das Wasser schon bis zur Hüfte. (Junichiro Tanizaki: Die Schwestern Makioka. Rowohlt Verlag Reinbek bei Hamburg 1964, S.217/218) 8. O-Ton Yoko Tawada (0'33) Die Natur ist viel stärker und macht, was sie will, mit uns, tötet uns. Natur ist nicht was Schönes, Kleines, was man schützen soll, sondern das ist eine Dynamik, eine Kraft, eine Gewalt in der Welt, und dadurch passieren manchmal Schäden, und da können wir nichts für, manchmal können wir ein bisschen für, aber wir sind nicht ganz und gar verantwortlich, sondern nur ein bisschen. Während in Europa, ein europäischer Mensch ist hundertprozentig verantwortlich, für alles, was auf der Erde passiert, weil sie sind der Herr der Erde. Sprecherin: Am 1. September 1923 um 11 Uhr 58 erschütterte ein Beben der Stärke 7,8 Tokyo. Durch das Erdbeben und die daraus entstandenen Brände kamen etwa 60.000 Menschen ums Leben. Der Schriftsteller Morio Kita stellt die Katastrophe in seinem Familienepos "Das Haus Nire", das die Zeit von 1918 bis 46 umfasst, aus zwei Perspektiven dar, sagt die Literaturkritikerin Katharina Borchardt. 9. O-Ton Katharina Borchardt (0'23) Kiichiro ist der Direktor der Nire-Klinik für Gehirnpathologie in Tokyo und er befindet sich hier in dieser Szene mit seinem Bruder zusammen auf dem Rückweg von einem Landhaus, das er in der Gegend von Hakone besitzt, zurück nach Tokyo. Die beiden haben sich gut angezogen, sind ins Dorf gelaufen und wollen mit dem Zug jetzt zurücklaufen, da plötzlich bebt die Erde. Zitator: Ein tiefes Dröhnen lief durch die Erde, vergleichbar einem dumpfen, anhaltenden Donnerschlag, ein unheimliches Geräusch jenseits aller Erfahrung, das Shirokichi in Angst und Schrecken versetzte. Gleichzeitig wurde sein Körper von der Schockwelle erfasst und in die Höhe gedrückt und im nächsten Moment durchgeschüttelt, nach oben und unten, nach links und rechts. Die Erde brüllte, sie schwankte und wand sich wie ein lebendiges Wesen. (Morio Kita: Das Haus Nire. Japan Edition im be.bra Verlag Berlin 2010, S.240) Sprecherin: Als zweite Perspektive wählt Kita eine Außensicht. 10. O-Ton Katharina Borchardt (0'33) Tetsukichi, das ist Kiichiros Schwiegersohn und Nachfolger in der Klinik, der ist 1923, also zu der Zeit, in der das Erdbeben in Japan passiert, in München, in Deutschland. Er studiert dort Medizin und Hygiene, wie das viele Japaner in dieser Zeit gemacht haben. Er ist in München und sitzt in einer Kneipe und bestellt sich gerade ein Bier, da kommt ein Junge, der verkauft die Abendzeitung, und Tetsukichi kauft sich gleich zwei verschiedene Ausgaben, blättert die durch und stößt dabei auf die Schlagzeile, dass in Japan ein ganz schlimmes Erdbeben stattgefunden hat. Das beunruhigt ihn natürlich total. Sprecherin: Schwiegersohn Tetsukichi bricht seinen Aufenthalt in Deutschland ab, kehrt frühzeitig nach Japan zurück und kommt in ein zerstörtes Tokyo. Von einem Wunder erzählt der Literaturnobelpreisträger Yasunari Kawabata in dem Buch "Die rote Bande von Asakusa", das sich nach dem Erdbeben im Tempel Sensoji im Tokyoter Stadtteil Asakusa ereignet haben soll. Zitator: So waren denn auch in der Feuersbrunst nach dem großen Erdbeben im zwölften Jahr Taisho, als der Höllenbrand schon einen Großteil der kaiserlichen Hauptstadt in Schutt und Asche gelegt hatte, weit mehr als hunderttausend Schutzsuchende allesamt von den Flammen eingeschlossen, die bereits hier und dort an den Klostergebäuden unseres Tempels hochzüngelten, und eben schien es, als gebe es kein Entrinnen aus dem qualvollen Gefängnis des Infernos, da hat die wundersame Kraft der allseits verehrten Statue Buddhas den stolz rasenden Flammen vollends Einhalt geboten und so Menschen und Tempel gleichermaßen gerettet. (Yasunari Kawabata: Die rote Bande von Asakusa. Insel Verlag Frankfurt a.M. 1999, S.66) Sprecherin: Fünfzehntausend Menschen sollen so auf wundersame Weise dem schon sicher scheinenden Tod entkommen sein. Tokyo war dem Erdboden gleich, aber schon drei Tage nach der Katastrophe begannen die Hilfs- und Aufräumarbeiten. Das Militär verteilte Nahrungsmittel an die Überlebenden im Tempelbezirk. Zitator: Dann räumte die Fuji-Grundschule die geborstenen Mauern, Glasscherben, Tafeln und Pulte einigermaßen beiseite, und mit dem 8. September kam der Tag, an dem Leute, die bisher im Freien oder in Verschlägen übernachtet hatten, dort einziehen durften. Die Klassenzimmer vom Erdgeschoss bis hinauf in den zweiten Stock waren gerammelt voll mit fast tausend Personen. (Yasunari Kawabata: Die rote Bande von Asakusa. Insel Verlag Frankfurt a.M. 1999, S.69) Sprecherin: Moderne japanische Literatur ist ein Forschungsschwerpunkt der Japanologin Lisette Gebhardt von der Universität Frankfurt. Sie befasst sich unter anderem mit Haruki Murakami. 11. O-Ton Lisette Gebhardt (0'17) Murakami ist, glaube ich, weniger politisch, sondern er geht bei diesen Erdbeben- Erzählungen in die Psyche der Leute und beschreibt das innere Erdbeben, die innere Katastrophe der Menschen. Sprecherin: In seiner Erzählung "Frosch rettet Tokyo" wird der japanische Bankangestellte Katagiri von einem rätselhaften Wesen, einem sprechenden Frosch, heimgesucht. Der Frosch beabsichtigt, gegen den in der Erde lebenden und Erdbeben verursachenden Wurm zu kämpfen, und benötigt dabei Katagiris Hilfe. Zitator: (dialogisch lesen) "Sie sagten, Sie wollen Tokyo vor der Zerstörung bewahren, nicht wahr?" "Habe ich gesagt." "Vor welcher Art von Zerstörung?" "Vor einem gewaltigen Erdbeben. Es soll Tokyo am 18. Februar um halb neun Uhr morgens treffen. Also in drei Tagen. Es wird noch schwerer sein als das Erdbeben von Kobe vorigen Monat." Sprecherin: In Kobe bebte am 17. Januar 1995 die Erde mit einer Stärke von 7,3. Über sechstausend Menschen starben. Haruki Murakami hielt sich zu der Zeit in den USA auf, seine Eltern aber lebten in Kobe. Das Erdbeben war für Murakami ein Anlass, nach Japan zurückzukehren. Zitator (weiter): Die Zahl der Todesopfer wird vermutlich hundertfünfzigtausend betragen. Die meisten davon wird es bei Verkehrsunfällen geben, weil Züge entgleisen, umstürzen und aufeinanderprallen. Hochbahnen und U-Bahnhöfe stürzen ein, und Tanklastwagen explodieren." "Und Sie wollen dieses Erbeben verhindern?", fragte Katagiri. Frosch nickte. "Genau. Ich werde mit Ihnen unter der Zweigstelle der Sicherheitskreditbank in die Erde steigen und dort gegen Wurm kämpfen." (Haruki Murakami: Frosch rettet Tokyo. In: Nach dem Beben, Erzählungen. Dumont Verlag Köln 2004, S.123/124) 12. O-Ton Haruki Murakami (wie O-Ton 1) (0'11) This is a very temporary world and you live here very temporary and anything could happen, Sprecherin (dazwischen): Die Welt ist vergänglich, sagt Haruki Murakami, und alles kann passieren, ein Angriff einer Sekte auf einen Zug, ein Erdbeben. Nichts ist sicher. So ist die Welt in meinen Büchern. 13. O-Ton Haruki Murakami weiter: (0'23) the train you are on could be attacked by the cult members and your ground could be broken by a great earthquake. Nothing ist solid. So this is the world of my books. 14. O-Ton Lisette Gebhardt (0'33) Murakami gibt uns ja mit Absicht viele, viele Rätsel auf. Er will es uns ja nicht einfach machen. Und da er mit diesem Erdbebenkommentar nichts Politisches eigentlich sagen will, nur am Rande ein wenig, der Held ist ja Angestellter einer Bank, er ist Krediteintreiber, ein kleiner, feiger Krediteintreiber, der sich seinem Unbewussten stellt und es integriert. Also er integriert diese hässlichen animalischen Teile zum ganzen Menschen. Zitator: "Sie waren mir im Kampf eine große Hilfe, Herr Katagiri." "Ich habe Ihnen geholfen?" "Ja, sicher, Im Traum haben Sie mir sehr geholfen. Das hat mir ermöglicht, den Kampf gegen Wurm bis zum Ende durchzustehen." (Haruki Murakami: Frosch rettet Tokyo. In: Nach dem Beben, Erzählungen. Dumont Verlag Köln 2004, S.140) 15. O-Ton Lisette Gebhardt (0'09) Vielleicht steht der Wurm für den klassischen japanischen Erdbebenfisch, das ist ja ein Wels ... (Stimme ist oben) 16. O-Ton Alexander Hofmann (0'35) In der populären Druckgrafik gibt es schon ab dem 19. Jahrhundert eine in unseren Augen vielleicht etwas verniedlichende Darstellung der Erdbebengefahr insofern als ein populärer Glaube dargestellt wird, wonach ein großer Wels, ein Fisch, unter den japanischen Inseln liege und wenn der sich bewege und um sich schlage, dann kommt es zu Erdbeben, und dieser Wels wird dargestellt, der Fisch wird dargestellt. Sprecherin: Der Kurator der japanischen Abteilung im Museum für Asiatische Kunst in Berlin, Alexander Hofmann, zeigt auf eine Darstellung des breitmäuligen, langgestreckten Fisches. Obwohl Japan schon immer von Naturkatastrophen heimgesucht wurde, von Erdbeben, Feuersbrünsten, Stürmen, Flutwellen und Hungersnöten, hat sich das in der bildenden Kunst bis ins 19. Jahrhundert nur sehr begrenzt niedergeschlagen. 17. O-Ton Alexander Hofmann (0'26) ..., weil die Autoritäten darauf achteten, dass solche Naturkatastrophen nicht zur Darstellung kamen. Der Grund hierfür war, dass solche Darstellungen die Autorität und die Legitimation der Herrschenden unterhöhlt hätten, die nicht ganz wie in China ein Mandat des Himmels hatten. Sprecherin: Mit dem Niedergang des Feudalsystems und der Militärherrschaft der Shogune Mitte des 19. Jahrhunderts lockerte sich die Zensur, und es kam in der Folge zur realistischen Wiedergabe von Katastrophen. 18. O-Ton Alexander Hofmann (0'44) Hier, das ist jetzt ein Beispiel aus den 1860er Jahren, eine lange Querrolle, die die Stadt Edo zeigt oder Stadtviertel von Edo zeigt, die von den Feuern heimgesucht werden, und wir sehen, die Feuersbrunst vernichtet alles Gebäude aus Holz, und lediglich die Vorrats- oder Speicherhäuser, die in Stein errichtet sind, können hier dem Feuer trotzen. Und man sieht die Feuerwehrleute, die hier versuchen, das Feuer zu bekämpfen, sehr gut organisiert sind, aber doch mit relativ primitiven Mitteln wenig gegen diese enormen Feuergewalten ausrichten können. Sprecherin: Das große Erdbeben von 1923 hat dann, ebenso wie Schriftsteller, auch Künstler inspiriert. Der Maler Takeshiro Kanokogi ist durch die zerstörte Stadt gelaufen und hat Skizzen der Ruinenlandschaft angefertigt, Bilder wie nach einem Krieg, wo nur einzelne Häuser stehen geblieben sind. 19. O-Ton Alexander Hofmann (0'14) In der Zeit um 1923 gab es in Tokyo schon viele Gebäude, die aus Stein errichtet waren, und die haben sich etwas besser durchgesetzt gegen das Erdbeben und die nachfolgende Feuersbrunst natürlich. Sprecherin: Als Symbol einer Naturkatastrophe schlechthin, als Sinnbild eines Tsunami, gilt in der westlichen Welt Hokusais Holzschnitt "Die große Welle vor Kanagawa". Keine Naturkatastrophe sei hier dargestellt, sagt Alexander Hofmann, sondern .. 20. O-Ton Alexander Hofmann (0'24) Es ist die Ambivalenz eines Lebens mit der Natur, wo man einerseits den Reichtum des Meeres - davon lebten die Japaner, der Fisch neben dem Reis ist ja eines der Hauptnahrungsmittel - der Natur sehr viel verdankt, andererseits sich aber auch immer bewusst ist, dass die Natur eben etwas Gewaltiges ist, Elemente, denen der Mensch ausgesetzt ist. Geräusch Atombombenabwurf Sprecherin: Im August 1945 warfen die Amerikaner zwei Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki ab. Sie machten die Städte dem Erdboden gleich. Mehr als 150.000 Menschen starben, die durch Langzeitschäden ums Leben Gekommenen nicht gerechnet. Von Beginn des Atomzeitalters im Jahr 1938 an war den Wissenschaftlern klar, dass mit der Spaltung des Atoms sowohl gewaltige Energiemengen erzeugt als auch eine Bombe von ungeheurer Sprengkraft entwickelt werden konnte. 21. O-Ton Lisette Gebhardt (0'39) Die eigentliche Atombombenliteratur, auf japanisch genbaku bungaku, die ab 1945 entstanden ist und bis in die 50er Jahre hinein geht, ist von einigen wenigen Augenzeugen getragen, die eben durch das Erlebte sich gedrängt fühlten, darüber zu schreiben, vielleicht noch nicht so im Bewusstsein, eine neue Kunstform schaffen zu wollen, ... und das hat man dann hinterher, in den 50er Jahren als genbaku bungaku gefasst. Zitator: Die, die im Atomzeitalter überleben wollen, müssen mit der Kraft des Waldes eins werden, sie müssen fliehen aus den Städten allenthalben, aus den Dörfern allenthalben, Einsiedler werden im Wald. (Kenzaburo Oe: Der Waldeinsiedler im Atomzeitalter. 1967. Textausschnitt übersetzt von Lisette Gebhardt, FAZ vom 22.3.2011) Sprecherin: Dieser Ausschnitt aus dem Text "Der Waldeinsiedler im Atomzeitalter", mit dem der Nobelpreisträger Kenzaburo Oe auf die Gefahren des Atoms hingewiesen hat, stammt aus dem Jahr 1967. 22. O-Ton Lisette Gebhardt (0'30) Er hat in den 60er Jahren seine Stimme erhoben, ist nach Hiroshima gereist, als Intellektueller, der sich pazifistisch, antimilitaristisch engagiert hat gegen ... Atomwaffen und auch gegen Kernenergie sich positionieren wollte. Und sein Schreiben und das einiger anderer Schriftsteller auch könnte man als atomkritische Literatur der zweiten Generation sehen. Hier die Musik aus dem Anime Astroboy 1963. Youtube: Astro Boy 1960 Episode 1, The birth of Astro Boy japanisch (WingedMushroomOfDoom) gesamt: 9'59 Musik am Beginn Sprecherin: 1951, sechs Jahre nach der Atombomben-Katastrophe, betritt ein Roboter in Gestalt eines kleinen Jungen die Bühne der manga-Welt. Sein Name: Tetsuwan Atomu, Eisenarm Atom, oder auch Astroboy. Sein Schöpfer: Osamu Tezuka, der manga- Zeichner der 50er Jahre. Aus den Astroboy-Fortsetzungsbänden ging 1963 eine Anime-Fernsehserie hervor. Die von Tatsuo Takai komponierte Titelmusik kann wohl heute noch jedes japanische Kind mitsingen. Die Geburt von Astroboy (japanisch) aus dem Anime Astroboy 1963. Youtube: Astro Boy 1960 Episode 1, The birth of Astro Boy japanisch (WingedMushroomOfDoom) gesamt: 9'59, Geburt etwa ab 7'08 Sprecherin: Astroboy hat das Aussehen eines kleinen japanischen Jungen, ist aber mit supermanhaften Eigenschaften ausgestattet und kämpft gegen Unrecht und Krieg. Aber er ist eine Maschine und kein Mensch. 23. O-Ton Susanne Phillipps (0'28) Dieser Roboter hat immer eine gespaltene Persönlichkeit und wird dadurch den Lesern, den Kindern, dem Lesepublikum unheimlich nahe, weil er auf der einen Seite immer einen Teil auf der Schulbank verbringt. Und diese Annäherung an den Menschen wurde durch sehr sehr viele manga vermittelt, dieses Uns-Ähnliche. Es wird immer wieder ausgehandelt, wo sind die Maschinen uns ähnlich und wo müssen wir eine Grenzlinie ziehen. Das ist ein ganz großes Thema in den manga. Sprecherin: Susanne Phillipps ist Japanologin und hat über die manga von Osamu Tezuka promoviert. Astroboy besitzt ein mit Atomkraft betriebenes Herz und ein Programm, mit dem er gut und böse unterscheiden kann. 24. O-Ton Susanne Phillipps (0'31) Diese manga aus den 50er Jahren für die Kinder, die waren schon so angelegt, dass die Technik, die Roboter, immer zweigeteilt waren. Es waren auf der einen Seite die Guten, die auch von guten Wissenschaftlern entworfen worden waren zum Wohle der Menschheit, und eben die Bösen, die die Weltherrschaft anstrebten uns so weiter und das auch für Kriegszwecke nutzten. Und das war zu sehen vor diesem Hintergrund 1953 mit dem Koreakrieg, wo durchaus in Japan die Angst war, dass da wieder Atombomben zum Einsatz kommen könnten. Godzilla trailer Brüllen und Musik. Youtube: Godzilla 1954, Main Title (Filmversion) (DaBears0685) gesamt 2'04 Sprecherin: 1954 dann kam er: Godzilla. Der Film des Regisseurs Ishiro Honda mit dem Soundtrack von Akira Ifukube war sehr erfolgreich und begründete in Japan ein eigenes Filmgenre, den Monsterfilm. Von amerikanischen Nukleartests in seinem Unterwasserreich aufgeschreckt, geht das Monster an Land, verwüstet Tokyo und hinterlässt eine radioaktive Spur der Zerstörung. Durch ein Menschenopfer und intelligente Wissenschaftler kann die Gefahr gebannt werden. Doch Professor Yamane warnt am Schluss: Brüllen und Musik Godzilla hoch Zitator: Mit der Vernichtung des Godzilla ist die Gefahr für uns alle nicht aus der Welt geschafft. Wenn wir in maßloser Vermessenheit fortfahren, die Atomkraft zu missbrauchen, kann es sein, dass Schlimmeres geweckt wird, kann es sein, dass größeres Unheil über uns hereinbricht als dieser Godzilla. 25. O-Ton Lisette Gebhardt (0'30) Dann, muss man sagen, ist eigentlich nicht mehr viel Kritisches über das Atomare geschrieben worden. Und das leitet über zur Post-Fukushima-Ära, in der sich jetzt Schriftsteller und Intellektuelle fragen müssen: Haben wir dieses Thema nicht vernachlässigt? Und ich denke, es wird eine Renaissance einer Atombombenliteratur, einer Literatur gegen das Atomare geben. Sprecherin: Kenzaburo Oe hat für seinen nächsten Roman eine Neuschreibung der japanischen Nachkriegsgeschichte angekündigt, in der die Stimmen aller Opfer von atomaren Katastrophen gehört werden sollen, wozu er auch die nuklearen Versuche am Bikini- Atoll und den Reaktor-Unfall von Fukushima zählt. 26. O-Ton Lisette Gebhardt (0'30) Ebenso wie Oe schon daran schreibt, bin ich auch gespannt, welche Fortsetzung Murakamis Trilogie nehmen wird, und ich denke, wenn er einen Band vier publiziert, dass der auch auf etwas Fukushima-artiges eingeht. Und eventuell werden auch die jungen Literaten und Literatinnen sich wieder solchen etwas ernsteren Themen von öffentlichem Interesse zuwenden. 27. O-Ton Yoko Tawada (0'30) Tokyo ist jetzt nicht mehr so hell beleuchtet, und viele Japaner fangen jetzt an, das schön zu empfinden, und die Dunkelheit ist nicht mehr die Verkörperung der Armut oder Depression, im Gegenteil. ... Die Nacht muss ja dunkel sein, dafür ist die Nacht da, umso schöner sind die Laternen und die Kerzen und die kleinen Flammen und kleinen Feuer, die man dort sieht. Sprecherin: Tokyo ist durch eine Katastrophe in die "schon halb verlorene Welt der Schatten" zurückgekehrt, die sich der Schriftsteller Junichiro Tanizaki 1933 in seinem Essay "Lob des Schattens" für die Literatur wünschte. Zitator: Ich möchte am Gebäude, das sich Literatur nennt, das Vordach tief herabziehen, die Wände beschatten, was zu deutlich wird, ins Dunkel zurückstoßen und überflüssige Innenverzierungen wegreißen. Ich sage nicht, dass ich mir das für alle Häuser wünsche, aber wenigsten eines von dieser Art darf doch wohl bestehen bleiben. Und um zu sehen, was dabei herauskommt, lösche ich probeweise einmal das elektrische Licht. (Junichiro Tanizaki: Lob des Schattens. Manesse Verlag Zürich 1987, S.74) Sprecherin: (vielleicht in den letzten Satz hinein) ... löschen wir probeweise einmal das elektrische Licht. Zitierte Literatur: Kamo no Chomei: Aufzeichnungen aus meiner Hütte. Aus dem Japanischen übertragen und mit einem Nachwort versehen von Nicola Liscutin. Insel Verlag Frankfurt am Main 1997. 5 Zeilen Junichiro Tanizaki: Die Schwestern Makioka. Aus dem Japanischen übertragen von Sachiko Yatsushiro. Rowohlt Verlag Reinbek bei Hamburg 1964. 7 Zeilen Morio Kita: Das Haus Nire. Aus dem Japanischen übersetzt von Otto Putz. Japan Edition im be.bra Verlag Berlin 2010. 6 Zeilen Yasunari Kawabata: Die rote Bande von Asakusa. Aus dem Japanischen von Richmond Bollinger. Insel Verlag Frankfurt a.M. 1999. 13 Zeilen Haruki Murakami: Frosch rettet Tokyo. In: Nach dem Beben, Erzählungen. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Dumont Verlag Köln 2004. 13 Zeilen Junichiro Tanizaki: Lob des Schattens. Aus dem Japanischen von Eduard Klopfenstein. Manesse Verlag Zürich 1987. 5 Zeilen 17