Deutschlandradio Kultur Deutschlandrundfahrt - 16.2.2008 Noch nicht abgegrast Die neue Kunstadresse in Berlin Redaktion: Sonja Scholz Autorin: Stefanie Müller-Frank Jingle und Kennmusik O-Ton 1 Hamish Morrison Als wir umgezogen sind aus der Reinhardtstraße hier in die Heidestraße, ein paar Kollegen haben uns gesagt: Mein Gott, was macht Ihr dort? Da gibt es doch nichts. Musik hoch O-Ton 2 Thommy Schwenk Also mir war das immer ganz wichtig früher, wenn ich mich auf die Suche nach neuen Clubs gemacht habe, dieses: Man weiß nicht ganz genau, wo das ist, und dann noch durch einen Zaun und im zweiten Hinterhof und dann hat man's endlich gefunden. Musik hoch O-Ton 5 Christian Lem: (A, 4.79) Ist allet mehr in die künstlerische Richtung gegangen hier. Na ja, kommt allet voll mit Galerien und Museen und dat wird allet ausgebaut und alles andere muss weg. Musik hoch O-Ton 4 Kristian Jarmuschek (I, A 3.15) Natürlich lebt eine Galerie von Laufkundschaft. Aber es ist natürlich auch so, dass der Kunstmarkt selbst über gewisse Geheimnisse funktioniert: Also dass es auch darum geht, Insider zu sein. Eben an einem Ort zu sein, den niemand kennt. Und das ist auch ein Grund, dorthin zu gehen. Musik hoch SpvD Noch nicht abgegrast. Die neue Kunstadresse in Berlin. Eine Deutschlandrundfahrt mit Stefanie Müller-Frank Atmo 1 S-Bahn fährt vorbei und Atmo 2 Durchsage Hauptbahnhof Autorin 1 Berlin Hauptbahnhof. Wer hier ankommt und den falschen Ausgang nimmt, landet unvermittelt auf einer Brache: Pfützen, hüfthohes Gras, ein Bauzaun. Atmo 3 Verkehrslärm Heidestraße Autorin 2 Während im Süden die Reichstagskuppel glänzt und eine Fußgängerbrücke zur neu gestalteten Promenade an die Spree führt, scheint hier die Stadt abrupt zu Ende. Dichter Verkehr drängt aus dem Tiergartentunnel und wälzt sich Richtung Norden, die Heidestraße hoch. Vorbei an grauen Lagerhallen, Speditionen und Getränkemärkten. Von Kunst keine Spur. Und doch wird die Heidestraße unter Galeristen, Kuratoren und Sammlern als DIE neue Kunstadresse Berlins gehandelt. Atmo 4 Auto über Kopfsteinpflaster Musik? Autorin 3 Friedrich Christian Flick machte 2004 den Anfang. Im Hamburger Bahnhof, dem Museum für zeitgenössische Kunst, war schlicht nicht genug Platz für seine Sammlung. Also ließ er kurzerhand die Rieck- Hallen, ehemalige Speditionshallen hinterm Museum, umbauen und über einen Zugang mit dem Hamburger Bahnhof verbinden. Seitdem ist der Ort in der Szene bekannt. Immer mehr Künstler, Architekten und Galeristen ziehen vom angesagten Berlin-Mitte an die Heidestraße. Denn Platz ist genug: Bezahlbarer, gestaltbarer Platz. Kein Wunder, dass auch die Clubs längst da sind. Noch überwiegen allerdings Getränkeabholmärkte und Autowerkstätten. Atmo 5 Ausladen Lieferwagen und Atmo 6 "Schönen Feierabend" Autorin 4 Ein Tor geht auf, zwei Männer kommen heraus, lachen. Der eine verabschiedet sich, klopft seinem Kollegen auf die Schulter. Fünf Jahre arbeite ich jetzt hier, sagt Christian Lem, aber wohl nicht mehr lange. O-Ton 5 Christian Lem: (A, 4.79) Ist allet mehr in die künstlerische Richtung gegangen hier. Na ja, kommt allet voll mit Galerien und Museen und dat wird allet ausgebaut und alles andere muss weg. Atmo 8 Tor auf Autorin 5 Christian Lem winkt ab, schlendert zurück in die Werkstatt zu einem Auto mit laufendem Motor. Der KFZ-Mechaniker tritt noch einmal kräftig aufs Gaspedal und greift dann zur Luftpistole. Motorwäsche beendet. Atmo 9 Motor läuft und Atmo 10 Luftpistole Autorin 6 Der kräftige, braungebrannte Mann geht zum Waschbecken, dreht den Hahn auf. Atmo 11 Händewaschen Autorin 7 Im hinteren Teil der Halle hat sich Christian Lem ein komplettes Wohnzimmer eingerichtet: Eine Couchgarnitur aus braunem Leder, mit Kerzenleuchter und Aquarium. Auf einem riesigen Wandposter prunkt ein roter Drei-50er Porsche. Aber im Sommer wird's erst richtig gemütlich, sagt Christian Lem, da haben wir nämlich eine eigene Terrasse direkt am Kanal. Atmo 12 Schlüsselgeräusche "Wenn man schon die meiste Zeit hier ist... gemütlich machen.. dann Riegel hoch, Tür auf O-Ton 6 Christian Lem (B, 0.38)Also jetzt ist es natürlich ein bisschen trostlos hier hinten, weil es hier im Winter alles ein bisschen kalt und eklig aussieht. Aber im Sommer ist es ganz gemütlich hier. Dann fahren hier die Ausflugsdampfer vorbei. Schmeißen wir den Grill an, trinken zehn Bierchen, sitzen hier nach Feierabend. Und dann genießen wir den Abend. Atmo 13 Ausflugsdampfer fährt vorbei Autorin 8 Die gelb-orange-gestreifte Markise ist eingerollt, die Hollywood- Schaukel eingemottet, aber das Idyll ist auch so vorstellbar. Keine fünf Meter sind es bis zum Berlin-Spandauer-Schifffahrtskanal. Und wie auf Kommando gleitet ein Ausflugsdampfer vorbei - unter Deck ein paar vereinzelte Gäste. O-Ton 7 Christian Lem (B, 0.60) Das ist so'n Ausflugsdampfer. Ist natürlich im Winter kein Mensch drauf. Aber im Sommer sind die alle voll. Das ist schon ganz lustig, wenn die ganzen Omis und Opis da winken. Kann man schon schön lachen. Atmo 14 draußen am Kanal, Wasser plätschert Autorin 9 Der KFZ-Mechaniker schüttelt den Kopf, dass seine dicken Goldohrringe schaukeln. Dann zeigt er auf einen Berg Gerümpel direkt nebenan: Campingstühle, allerlei Werkzeug, Blumentöpfe und Sandförmchen stapeln sich dort auf den vier Quadratmetern zwischen Lagerhalle und Kanal. O-Ton 8 Christian Lem (B, 65) (Und wohnt hier auch jemand?) - Du wirst lachen: Hier drinne wohnt wirklich jemand. So'n Verrückter mit seiner Familie. Der hat sich das hier drüben ausgebaut. - (Ist ja auch zentral, oder?) - Aber ein bisschen trostlos hier draußen. Der hat sieben, acht Kinder oder so - und die flitzen alle hier auf dem Hof rum. Keen Spielplatz jar nischt. Autorin 10 Eigentlich darf hier niemand wohnen, sagt Christian Lem, ist ja alles Gewerbe. Außer man ist Hausmeister. Und der hat sich den ehemaligen Bürotrakt der Lagerhallen eben zu einem Reihenhäuschen mit Garten und Wasserblick ausgebaut. Der KFZ- Mechaniker grinst. Plötzlich steht sein Kollege wieder in der Tür, zwei Bierflaschen in der Hand. O-Ton 9 Kollege (B, 0.84)Sieht ja lustig aus hier. Gehört aber nicht zu uns! Unsere Grenze ist hier. Gucken Sie mal, wie ordentlich das hier ist. Wir hatten hier so schön mit Markise und Schirmchen, wat ne Kuschelecke. Wir haben uns richtig gemütlich gemacht mit Hollywoodschaukel. Aber da wir hier von Idioten umringt sind, haben wir keine Lust mehr. Autorin 11 Christian Lem pflichtet ihm bei, muss dann aber doch lachen. O-Ton 10 Kollege (B, 1.02) Dabei könnte das so schön sein hier am Wasser. Ist das nicht wunderschön? (beide lachen) Autorin 12 Der Fünf-Jahres-Mietvertrag der KFZ-Werkstatt ist gerade ausgelaufen, jetzt verlängert er sich immer nur noch um ein Jahr. Vielleicht noch ein, zwei Sommer, meint Christian Lem, aber dann - dann wird's vorbei sein. O-Ton 11 Kollege (B, 1.09) Dann hat der Senat beschlossen, dass hier ein Hotel, ne Gasstätte, irgendwelche Luxusbauten und ein Einkaufszentrum hinkommen. Genau, das brauchen wir nämlich unbedingt. So sieht's dann hier aus. Aber wir sind dann leider nicht mehr hier. Atmo 16 Riegel wieder vor, überblenden in Atmo 17 vor Lagerhalle rollen die Laster übers Kopfsteinpflaster Autorin 13 Damit an der Heidestraße gebaut werden darf, muss das Gelände jedoch erstmal entwidmet, also aus seiner bisherigen Nutzung als Bahnfläche entlassen werden. Lange Zeit wurden hier Container vom Nordhafen zwischengelagert und auf die Schiene oder auf LKWs verladen. Hier wurden Loks und Waggons rangiert, die an den Kopfbahnhöfen aus Hamburg oder Lehrte ankamen und dann wieder nach Norden aus der Stadt herausfuhren. So war die Heidestraße den Berlinern nie ein Begriff. Zumal sie direkt im Schatten der Mauer lag - auf Westberliner Seite. Aber auch, als der Ort mit dem Mauerfall plötzlich mitten ins Zentrum der Stadt rückte, änderte sich daran nicht viel. Der Hamburger Bahnhof wurde zum Museum für Gegenwartskunst, der Lehrter Bahnhof ist heute der Hauptbahnhof. Aber das Gelände nördlich vom Hauptbahnhof gilt noch immer als die Rückseite der Stadt. Wie die Garage oder der Geräteschuppen im Hinterhof: Wird zwar genutzt, aber auf die Idee, dort einzuziehen, würde ja auch niemand kommen. MUSIK 1 Element of Crime: "Nichts mehr wie es war" Die schönen Rosen Atmo 18 Galerie hämmern und Atmo 19 Bild auspacken Autorin 14 Heidestraße 46. Berlin-Moabit. In der Hamish Morrison Galerie herrscht das Chaos: Großformatige Leinwände liegen, halb ausgepackt, über den Boden verteilt, ein Fotograf irrt umher, das Telefon klingelt. Am nächsten Abend ist Ausstellungseröffnung. Nicht nur bei Hamish Morrison, sondern in allen Galerien, die hier an der Heidestraße, auf dem Gelände einer ehemaligen Vergaserfabrik residieren. Also kommt man noch mal kurz zusammen, um die letzten Vorbereitungen durchzusprechen. Atmo 20 Zusammenkunft der Galeristen (ziehen Frühsorge auf, weil er so schick angezogen ist) Autorin 15 Jörg Judin von der Berliner Dependance der namhaften Galerie "Haunch of Venison" stößt als letztes dazu, entschuldigt sich für seine Verspätung. Video, sagt er, ist das Schlimmste: Nie funktioniert die Technik so, wie der Künstler es sich vorgestellt hat. Mit hochgezogenen Augenbrauen mustert er seinen Kollegen Jan Philipp Frühsorge, der gelassen und geschniegelt, mit schickem Jackett und schwarzer Kastenbrille, auf einem Stuhl Platz genommen hat. Dann blickt er fragend zu Hamish Morrison, der, wie er selbst, in Jeans und Polo-Shirt steckt und etwas abgekämpft wirkt. Atmo 21 Hintergrund Galerie Autorin 16 Jan hat eben die beste Assistentin, meint Hamish Morrison grinsend. Nein, widerspricht Jörg Judin, es sind die Zeichnungen: Ein Nagel in die Wand, fertig. Die drei lachen. Irgendwie schafft man es dann doch immer, da sind sie sich einig. Und dass nicht genug Kunstinteressierte sich auf den Weg in die Heidestraße machen - oder gar nicht erst her finden, die Sorge haben die drei Galeristen nicht mehr. Im Herbst 2006 sah das noch anders aus. O-Ton 12 Hamish Morrison Als wir umgezogen sind aus der Reinhardtstraße hier in die Heidestraße, ein paar Kollegen haben uns gesagt: Mein Gott, was macht Ihr dort? Da gibt es doch nichts. O-Ton 13 Jörg Judin Na ja, also ich fand immer, der Ort war eigentlich schon immer da: Hamburger Bahnhof, große Räumlichkeiten, dieses seltsame Zwischending zwischen Industrie, Gewerbe und Brachland - und dann die Nähe zum Hauptbahnhof. Ich bin eigentlich erstaunt, dass das nicht längst vor uns von Kollegen entdeckt wurde. O-Ton 14 Jan Philipp Frühsorge (A, 1.51) Das ist DER Ort. Und es macht auch schon Spaß, an so einem Ort sozusagen der Erste gewesen zu sein. Atmo 22 Schlüssel, Schritte über den Hof Autorin 17 Was den Ort so reizvoll macht? Das lässt sich eigentlich nur auf dem Dach zeigen - auch wenn für die Klettertour eigentlich keine Zeit ist. Aber sie lassen sich erweichen. Atmo 23 im Hof: Auto fährt ab, Tür von Autowerkstatt geht auf und wieder zu, Stimmen Autorin 18 Im Hof arbeitet eine KFZ-Werkstatt. Als Hamish Morrison im vergangenen Jahr einen ramponierten Porsche ausstellte, boten die Mechaniker kurzerhand an, ihn zu reparieren - oder: dem Künstler lieber gleich ein besseres Modell zu besorgen. O-Ton 15 Jörg Judin (A, 0.97)Die haben sich an uns gewöhnt. Am Anfang haben die schon etwas konsterniert geblickt, aber inzwischen finden sie es ganz witzig. Vor allem, weil es alle sechs Wochen Freibier gibt. Die haben noch nicht erkannt, dass wir eigentlich die Verdränger, die bad guys sind, die ihnen die ebenfalls kostengünstigen Werkstätten dann nach und nach wegnehmen werden. Das haben die zum Glück noch nicht ganz mitgekriegt. Atmo 24 Leiter hochklettern und aufs Dach, dann: Atmo 25 Krähen rufen Autorin 19 Der Blick vom Dach reicht weit: Über verrostete Schienenstränge, hüfthohes Gras und Stromkästen bis in die Hinterhöfe und Kleingärten von Moabit und bis zum Glasdach des Hauptbahnhofs. Eine riesige, überwucherte Steppe, direkt hinterm Regierungsviertel. Ein Niemandsland, das einem zuzuraunen scheint: Hier ist noch alles offen, hier ist noch alles möglich. Atmo 26 ICE rast vorbei - überblenden in Musik? Autorin 20 Plötzlich rast der ICE nach Hamburg aus dem Tunnel und durchschneidet die Brache. Mit 40 Hektar ist das Areal dreimal so groß wie das am Potsdamer Platz. Um diese innerstädtische Wunde zu schließen wurde die Heidestraße im Sommer 2005 vom Senat als eines von fünf Gebieten für das Programm Stadtumbau West ausgewählt. Ziel ist es, die ehemaligen Industrieflächen zu erschließen und in ein lebendiges Stadtviertel umzuwandeln. Geplant sind zum Beispiel ein durchgehender Uferweg entlang des Berlin-Spandauer-Schifffahrtkanals, eine Fußgängerbrücke übers Wasser, eine Marina für den Nordhafen, ein zusätzlicher S-Bahn- Halt an der Perleberger Brücke - und vor allem: die Heidestraße zu einem Boulevard mit Bäumen, Cafés und Ladengeschäften zu machen. Noch fehlt es selbst an der minimalen, städtischen Infrastruktur: Wer mal schnell einen Kaffee trinken will, dem bleibt nur die Tankstelle. O-Ton 16 Jörg Judin (A, 2.76) Mich hat einer unserer Künstler auf der Suche nach einem Atelier gebeten, mir dieses Backsteingebäude mal anzugucken, ob ich an seiner Stelle da ein Atelier einrichten würde, aber ich fand das für ein Atelier nicht besonders geeignet. Ich guckte aus dem Fenster und sah runter auf das, was heute die Hamish Morrison Galerie ist und sah einfach einen großen Raum mit Dachfenstern - und da sagt der Galerist sofort: Groß, Tageslicht von oben - Galerie! Fragte den Vermieter und der sagte: Ja, das steht leer, das können wir gerne angucken gehen. Autorin 21 Das Interessante an der Galerienszene von Berlin-Mitte ist doch, sagt der Geschäftsführer von "Haunch of Venison", dass es eine tolle, gute Szene ist. Aber das waren kleine Ladenlokale. Vom Programm her, meint Jörg Judin, waren das internationale Galerien, aber mit sehr provinziellen Räumlichkeiten. Er spricht im Imperfekt - so als ob es die Galerien in Berlin-Mitte alle schon nicht mehr gäbe. O-Ton 17 Jörg Judin (A, 2.29) Die Galerien ziehen eben auch, wie die Künstler, dem günstigsten Raum nach. Wenn man mit einem Immobilienhändler in London spricht, der wird sagen: "Follow the artists". Die Künstler haben eben ein Sensorium dafür: Die finden günstigen Raum, belegen ihn und dann kommen die Galerien. Und wenn die Galerien da sind, dann kommen die schicken Bars und Restaurants und irgendwann kommt dann die Kleiderindustrie. Dann müssen die Künstler und die Galerien schnellstens verschwinden. Wenn einmal die Boutiquen da sind mit ihren Klamotten, dann ist sowohl der Mietpreis oben als auch die Stimmung weg. Aber das ist eine Tendenz, die kann man überall feststellen. Autorin 22 Dass dieser Kreislauf sie zwangsläufig auch selbst wieder vertreiben wird, beunruhigt die Galeristen, alle drei so um die 40, nicht. Im Gegenteil: O-Ton 18 Jan Philipp Frühsorge (A, 2.48) Wir alle sind irgendwie Trüffelschweine - oder hoffen es zu sein. Und wenn wir in Ateliers gehen, dann hoffen wir jedes Mal, eine Entdeckung zu machen. Also den Moment festzuhalten auf ewig, das ist gar nicht so nahe liegend, wie man das jetzt denken könnte. Wer weiß, was in zehn Jahren ist: Vielleicht gibt es dann einen noch spannenderen Ort. Autorin 23 Jörg Judin schaut ungeduldig auf die Uhr, er muss zurück zu seinem Videokünstler. Die Sonne geht unter, taucht den Schornstein des Heizkraftwerks am Kanal in ein mattes Rosa. Auf der anderen Seite der Heidestraße fährt gerade ein Tanklaster mit Heizöl rückwärts an die Laderampe einer Lagerhalle. Morgen nach der Vernissage, sagt Jörg Judin beim Runterklettern, feiern wir unsere After-Party zum ersten Mal im Tape Club gegenüber. Liegt nahe. O-Ton 19 Jörg Judin (A, 1.81) Die Clubs haben das gleiche Bedürfnis: Viel Platz und nicht unbedingt hohe Mieten und eine Atmosphäre, die nicht zu geschliffen und zu geschleckt ist. MUSIK 2 2raumwohnung: "oben" es wird morgen Atmo 29 Hintergrund Tape Club Autorin 24 Samstag abend im Tape Club an der Moabiter Heidestraße. Wer hierher zum Feiern kommt, kennt sich aus im Berliner Nachtleben. Das Tape inseriert nicht in Stadtmagazinen und wirbt nicht mit Flyern. Bewusst nicht. Denn Clubs, die als Ausgehtipps in Reiseführern landen, laufen Gefahr, zu Touristenschuppen zu verkommen. Abschreckendstes Beispiel ist die Oranienburger Straße in Berlin-Mitte. Seit dem Boom der Billigflieger kann man hier nicht mehr ausgehen, ohne auf Horden junger, grölender Touristen auf Sauftour zu stoßen. O-Ton 20 Thommy Schwenk (B, 3.65) Also mir war das immer ganz wichtig früher, wenn ich mich auf die Suche nach neuen Clubs gemacht habe, dieses: Man weiß nicht ganz genau, wo das ist, und dann noch durch einen Zaun und im zweiten Hinterhof und dann hat man's endlich gefunden. Für mich hat das so einen Charme vom Nachtleben, von Underground-Clubs. Ich kenne noch zwei, drei Läden, wo das so passiert, aber die meisten Clubs werden schon so auf Touristen ausgelegt und auf Hochglanz - allet clean und schick. Autorin 25 Der Tape-Club bleibt davon verschont. Auch weil niemand zufällig in der Heidestraße vorbeikommt, sagt Thommy Schwenk. Er hat den Tape-Club vor einem knappen Jahr eröffnet. O-Ton 21 Thommy Schwenk (B, 3.35) Die Leute kennen das nicht, das ist für die Niemandsland und die haben sich auch schwer hergetraut. Unser Freundeskreis hat gemeint: Na, das ist ja schon weit weg. Und dann hat man die gefragt, wo geht ihr denn sonst noch hin? Und dann kriegst du Adressen genannt, wo du genau weißt, das ist aber doch von da aus, wo du wohnst, genauso weit weg. Autorin 26 Rum gesprochen hat sich die Adresse trotzdem. Auch, dass ein Taxi von Mitte hierher nicht mehr als eine Kurzstrecke kostet. Eigentlich hatte Thommy Schwenk gar nicht das Ziel, einen Club zu eröffnen. Der 30-Jährige arbeitet als Ausstatter beim Film und war auf der Suche nach einer Lagerfläche für seine Requisiten - zentral gelegen und kostengünstig versteht sich. Als er die Halle an der Heidestraße gefunden hatte, machte nebenan gerade die Papiererzeugnisfabrik pleite und zog aus. Knapp 1.000 qm wurden frei - und Thommy Schwenk konnte nicht widerstehen. Zusammen mit seinem Freund baute er die Lagerhalle in drei Monaten eigenhändig zum Club aus. Im März 2007 war Eröffnung, im Mai standen eines Abends 1.000 Leute auf der Rampe und im Sommer ging's nach dem Feiern noch raus an den Kanal. O-Ton 22 Thommy Schwenk (B, 4.26) Im Sommer ist es hier ganz toll. Wir haben ja hinten noch unsere Rampe, und da haben wir einen freien Blick bis zum Wasser, da läuft der Kanal längs und da sitzen wir im Sommer und grillen. Und das ist echt eine Idylle, die man selten in der Großstadt findet. Atmo 30 Schwenk führt durch Tape Club (leises Gemurmel und Musik im Hintergrund) Autorin 27 Die Lampen über der Tanzfläche sind aus Parabolspiegeln zusammengesetzt, die Lounge ist mit silbernen Blechplatten verkleidet - und heute außerdem mit großformatigen, beleuchteten Fotos, die zur Ausstellung gehören. Niemand scheint sie zu beachten: Man lümmelt auf den Sesseln oder sitzt auf den Treppenstufen, ein Bier in der Hand. Aber alle reden über Kunst, so viel ist aus den Gesprächsfetzen mitzubekommen. Die Tanzfläche ist leer. Atmo 31 rüber gehen und Musik wird lauter Autorin 28 Kennen gelernt hat Thommy Schwenk seine Nachbarn bei der Polizei. In den Galerien war eingebrochen worden - so wie bei ihm, in den Büroräumen des Clubs. Also überlegte man, wie man das Areal an der Heidestraße gemeinsam sichern könnte. Dabei hatte der Clubmacher auch die Idee mit der Party nach der Vernissage. Atmo 32 am Eingang (Autos Heidestraße und Bierflaschen in Kasten) Autorin 29 Und das Konzept scheint aufzugehen: Die Gäste, überwiegend so zwischen 25 und 45, schick gekleidet, eher alternativ, intellektuell, wechseln ganz selbstverständlich die Straßenseite, kommen die Rampe hoch, stellen ihre Bierflachen in den Kasten am Eingang und schlendern, ohne ihr Gespräch zu unterbrechen und den Türsteher auch nur eines Blickes zu würdigen, in den Club. Thommy Schwenk schaut in die Dunkelheit, die immer wieder unterbrochen wird von den Scheinwerfern der vorbeiziehenden LKWs. O-Ton 23 Thommy Schwenk (B, 2.95)Also wenn ich hier auf meiner Rampe stehe, kann ich so 400m ins Leere gucken, bis das nächste Haus anfängt. Wo kriegt man soviel Fläche für so wenig Geld - und das mitten in der Stadt? Autorin 30 Sein Mietvertrag läuft noch knapp ein Jahr, bis Anfang 2009. Keine lange Zeit - gemessen an dem, was er an Arbeit in den Ausbau des Clubs gesteckt hat. Aber es wird noch fünf bis sieben Jahre dauern, bis hier was passiert, glaubt Thommy Schwenk. Und danach müssen wir uns sowieso was Neues einfallen lassen, sonst wird's langweilig. Er nickt kurz dem Türsteher zu und geht wieder rein. Der mustert mich skeptisch, als ich ihn frage, ob heute abend eigentlich andere Leute hier sind als sonst. O-Ton 24 Niko (Türsteher) Das Publikum ist anders heute, klar. Ist ja ne Vernissage. Außerdem wir haben kein Selektor hier vorne. (Nachfrage: Was macht der sonst?) Sonst selektieren wir hier ein bisschen. (Wonach?) Das kann ich dir nicht sagen. Die junge Frau, die das macht, die ist heute nicht da. Sonst könnte sie dir Antwort geben. Also Publikum ist gemischt heute. Aber ist okay. Solange es keinen Streit gibt. Autorin 31 Die Antwort des Türstehers macht mich neugierig. Was ist ein gemischtes Publikum? Und vor allem: Woran erkennt man dann das typische Tape-Publikum? O-Ton 25 Niko (Türsteher) Generell: Wie sie sich kleiden. Ist einfach ne andere Szene. Also ich habe in vielen Clubs gearbeitet, aber das ist alles so ein Mischmasch heute hier. Ist nicht dieses typische Tape-Publikum. Heute sind sehr viele Männer da. (Woran liegt das?) Woher soll ich das wissen? Aber ist schade, ne? Aber wie gesagt: Hoffen wir, dass es heute Party gibt. MUSIK 3 Tocotronic: "In höchsten Höhen" Atmo 33 S-Bahn fährt vorbei Atmo 34 aus HBF an die Invalidenstraße und Atmo 35 Koffer rollt vorbei Autorin 32 Berlin-Moabit. Der U-Bahn-Eingang "Hauptbahnhof" ist verwaist, das Schild mit der braunen U5 durchgestrichen. Bis die so genannte "Stummellinie" vom Brandenburger Tor zum Hauptbahnhof fährt, kann es noch einige Jahre dauern. So lange werden wohl auch die provisorischen Imbissbuden bleiben. Wie überdimensionierte, beleuchtete Aludosen stehen sie aufgereiht vor dem Bauzaun, Plastikplanen sollen die leeren Stehtische vor Nieselregen schützen. Es riecht nach kaltem Frittenfett. Autorin 33 Derk Ehlert trinkt noch schnell einen Kaffee zum Aufwärmen, dann geht's los. Der 40-Jährige ist Jagdreferent und Wildtierbeauftragter des Berliner Senats. Er hat kein Fernglas um den Hals und trägt auch keinen Lodenmantel, sondern Jeans und Daunenjacke. Regelmäßig schaut er auf dem Gelände hinterm Hauptbahnhof nach den Tieren, die hier leben: Tatsächlich gibt es hier, mitten im Stadtzentrum nicht nur Füchse, sondern auch Marder, Dachse und sogar Wildschweine. Deren Reviere registriert Derk Ehlert, erfasst die Bauten und kümmert sich um kranke Tiere. Meistens aber kümmert er sich um Bürger, die ganz erschrocken anrufen, weil gerade ein Fuchs in ihrer Mülltonne stöbert. Atmo 37"Wir klettern jetzt mal über den Bauzaun" und Atmo 38 Nebelkrähen Autorin 34 Der Wildtierbeauftragte zeigt auf ein Bauschild, das zwischen Gestrüpp aus der Brache ragt. Auf dem Schild sitzen zwei Krähen. Die beobachten, was wir hier in ihrem Revier machen, erklärt Derk Ehlert. Revier? Ich sehe nur Schutthalden, Müll, einen alten Güterschuppen und ein lila Dixie-Klo. Ja, Derk Ehlert nickt belustigt, das Stadtgebiet ist auch für viele Vogelarten interessant, weil sie hier reichlich Nahrung finden. In Abfallkörben zum Beispiel. Plötzlich fliegt eine der Krähen auf uns zu und landet hinter den Imbissbuden. O-Ton 26 Derk Ehlert Hier unmittelbar hinter uns - ja, drei Meter von uns entfernt macht die Nebelkrähe das, wovon ich eben gesprochen habe. Die ist an so einem großen Müllcontainer und fischt sich aus diesem Müllcontainer gerade einen Rest Pommes raus, guckt uns komisch an - ne, wir nehmen ihr das ja auch nicht weg - frisst es. Und jetzt macht sie was ganz Interessantes: Sie frisst es nicht alles auf, sondern sie versteckt es für schlechte Zeiten. - (Wo versteckt die das?) - Sie hat's gerade eben im Boden versteckt. Da war ein Teil des Bodens nicht ganz gefroren. Sie sehen, jetzt hat sie nichts mehr im Schnabel, guckt, als hätte sie überhaupt nichts getan. Aber das ist ein ganz typisches Verhalten. - (Tiefkühltruhe im Boden?) - Genau. Sie legen sozusagen Vorrat an, denn sie wissen ja nicht, ob eventuell der Container gleich abgeholt wird, dann die Pommes wegkommt und sie dann nichts mehr zu fressen bekommen. In aller Regel vergessen sie auch das eine oder andere. Und jetzt versucht sie, sich ein neues Versteck zu öffnen, prüft quasi den nächsten Kühlschrank - und jetzt, passen Sie auf: gleich fliegt sie rüber und holt sich das nächste Stück Pommes. Atmo 39 Nebelkrähen in Pfütze Autorin 35 Tatsächlich ist jetzt erstmal baden an der Reihe: Die Nebelkrähe landet in einer tiefen Pfütze, schlägt mit den Flügeln, dass das braune Wasser nur so spritzt. Die andere Krähe kommt dazu geflogen. Im Februar fangen sie schon kräftig an zu balzen, sagt Derk Ehlert. Und in der Pyramidenpappel dort drüben, er zeigt auf einen der wenigen Bäume auf der Brache, thront das Nest des Nebelkrähenpärchens. Jetzt sehe ich es auch: Ganz oben in der Krone der Pappel. Nicht schlecht: Mit direktem Blick auf den Hauptbahnhof. Atmo 40 Handschuhe an Autorin 36 An einer Sandfläche bleibt Derk Ehlert stehen und zeigt auf Trittsiegel, die kaum von einem Hund oder einer Katze stammen können. Eindeutig von einem Fuchs, meint er. Atmo 41 Schritte O-Ton 27 Derk Ehlert (Können wir denn die Fuchsspuren mal verfolgen hier?) - Die werden wir jetzt mal verfolgen, aber ob wir den Fuchs jetzt tatsächlich beobachten, das sei mal dahingestellt, aber wir werden dem Fuchs mal nachschnüren. - (Heißt das so?) - Das heißt tatsächlich so. Atmo 42 Fährtenlesen "hier mal gerade schauen..." O-Ton 28 Derk Ehlert Da! Hier geradezu ist sie wieder. Die geht quer über die Sandfläche Richtung Invalidenstraße in westliche Richtung und die zieht sich jetzt hier oben lang und endet unmittelbar an der vierspurigen Straße, was den Fuchs allerdings nicht hindert. Viele meinen immer: Au weia, das kann doch nicht sein, in der Stadt können die Füchse doch gar nicht leben. Mitnichten. Die leben in Berlin sogar auf Autobahntrassen, man mag es kaum glauben. Autorin 37 Da Berlin polyzentrisch strukturiert ist, also die Grünanlagen sternförmig von innen nach außen verlaufen, können Tiere entlang dieser Trassen problemlos in die Stadt dringen. Und gerade die unwirtlichen Orte wie Brachen oder Gewerbegebiete bieten ausreichend Unterschlupfmöglichkeiten. O-Ton 29 Derk Ehlert Der hat keinen Erdbau, wie wir uns das noch aus dem Wald vorstellen. Sondern der kann in Verschlägen, in nicht genutzten Gebäuden, sogar unter Dächern kann er hausen, unter Containern, auf Baustellen - überall da, wo man ihn eigentlich nicht erwartet. Der hat auch keinen eigenen Bau mehr, sondern er nimmt zum Beispiel große Baucontainer und darunter hat er dann im Frühjahr seine Jungen. Und da kommt kein Hund ran und kein Mensch ran. Autorin 38 Nur mit den Künstlern gab es letzten Sommer Nachbarschaftsstreit, erzählt Derk Ehlert. Die haben hier Sandskulpturen errichtet und da will der Fuchs natürlich mit graben, seine Beute verstecken. Also haben Ehlert und seine Kollegen am Rand der Sandskulpturen Wolfsgerüche ausgebracht. Atmo 43 Elstern Autorin 39 Mit der Bebauung des Geländes würden natürlich auch die Imbissbuden, die Container, der alte Lagerschuppen - und damit auch der Unterschlupf für die Füchse verschwinden. Die sind die perfekten Zwischennutzer, sagt Derk Ehlert gelassen, die passen sich an. Bevor wir anfangen zu bauen, sagt er und grinst, bringt die Fähe ihre Jungen in Sicherheit. Die hat immer genug Ausweichquartiere auf Vorrat. O-Ton 30 Derk Ehlert Wenn jetzt eine Fläche von einer öden, offenen Brache in eine dicht bebaute Fläche umgewandelt wird, dann ist das für den Fuchs überhaupt kein Problem. Wichtig ist: Wie viel Futter finde ich auf einer Fläche und finde ich genug Versteckmöglichkeiten, um meine Jungen zur Welt zu bringen und sie gesichert großziehen zu können. Und das sind nicht die Argumente, die wir noch im Kopf haben von dichtem Gebüsch und ruhigem Wald, sondern das kann auch im sechsten Stock einer Etage sein, die keiner nutzt. Das kann ein Kellerraum sein, das kann ein U-Bahn-Schacht sein. - (Das heißt, es muss nicht schön aussehen?) - Nein, es muss nicht schön aussehen. Berlin hat ja manchmal so einen merkwürdigen Charakter, dass es schmuddelig ist. Und vielleicht ist das auch der Grund, warum wir die artenreichste Stadt Europas sind. MUSIK 4 Wir sind Helden: "Denkmal" Die Reklamation Atmo 44 Bauarbeiten draußen Autorin 40 An der Heidestraße in Berlin-Moabit haben die ersten Bauarbeiten begonnen: Eine Lagerhalle direkt hinterm Hamburger Bahnhof, zwischen dem Feinkostgroßhandel "Mitte Meer" und der KFZ- Werkstatt "Schlöricke", ist eingerüstet und soll zu einem Galeriehaus umgebaut werden. Auf 2.500 Quadratmetern wollen fünf Galeristen und ein Sammler hier im April ihre Kojen beziehen. Atmo 45 Bagger und Atmo 46 Schritte draußen Autorin 41 1,4 Millionen Euro kostet der Umbau den Eigentümer. Im Gegenzug haben die Galeristen einen Mietvertrag über zehn Jahre unterschrieben - und zugesichert, nach sechs Jahren an einen alternativen Standort auf dem Gelände umzuziehen, falls die Halle dann ertragreicher genutzt oder das Grundstück am Berlin- Spandauer-Schifffahrtskanal verkauft werden könnte. Denn das ist die Hoffnung, die dem Deal zugrunde liegt: Dass die Kunst das Viertel aufwertet und kaufkräftige Investoren anlockt. Sollte das gelingen, wären die Umbaukosten eine profitable Anschubsinvestition. O-Ton 31 Kristian Jarmuschek (I, B 0.64) Da braucht man keine teuren Projektentwickler zu engagieren oder irgendwelche Ideenschmieden, sondern man lässt einfach mal die Kunst machen. Und wir werden sehen, was sich daraus entwickelt. Also vielleicht kommt ja jemand, der sagt: Also das ist so ein tolles Flair, ich möchte hier daneben die Firmenzentrale haben. Aber ohne uns geht's nicht. Ohne uns passiert da im Moment erstmal gar nichts. Und das war, glaube ich, auch der Grund, weswegen man bei der Vivico gesagt hat: Lass es uns doch mal versuchen. Atmo 47 Schritte durch Hallen und Atmo 48 Baulärm in Halle Autorin 42 Trotzdem, so erzählt der Galerist Kristian Jarmuschek, während er den Stand der Bauarbeiten besichtigt, waren seine Kollegen schneller für das Projekt zu begeistern als der Eigentümer. O-Ton 32 Kristian Jarmuschek (I, A 4.17) Weil man kann ja nicht sagen: Wir kommen da jetzt hin und in zehn Jahren sind dann eben Mieten dort von dreißig Euro pro Quadratmeter. Das können wir ja nicht versprechen. Autorin 43 Aber die Kunst wird diese Entwicklung mit anschieben - und weiterziehen müssen, sobald die Firmenzentralen kommen. Kristian Jarmuschek ist sich dieses Verdrängungskarussells durchaus bewusst. Aber, sagt er, der Mut, ein Risiko einzugehen, macht die Künstler ja gerade zu Pionieren. O-Ton 33 Kristian Jarmuschek (I, B 2.11) Die Frage von Effizienz, das ist eben in der Kunstszene eine völlig andere: Wenn ein Künstler vor einer großen Leinwand steht, denkt er ja auch nicht bei jedem Strich: 1 Euro, 2 Euro, sondern er denkt an das Bild. Und nach ein oder zwei Jahren ist es vielleicht das wichtigste Bild, das er jemals gemalt hat. Und damit ist im Kunstmarkt diese Renditefrage nicht so gestellt und damit sind es gerade die Künstler. Atmo 49 Schritte in eigene Koje, Bauarbeiter begrüßen Autorin 44 Fast ehrfürchtig betritt der Galerist seine Einheit der insgesamt 100m langen und 20m breiten Lagerhalle. Stahlträger halten das Dach, ein Lichtband läuft unter der Decke entlang, die Oberlichter sollen noch ausgetauscht und wie im Museum mit transzluzentem Glas bestückt werden, da diffuses Licht keine Schatten wirft. Sechs Meter hoch ist die Decke, die Wände sind unverputzt, der Raum wirkt riesig. O-Ton 34 Kristian Jarmuschek (I, A 0.49) Es ist heutzutage ja so, dass Kunst sich eigentlich einen sehr klaren Raum wünscht: Die Künstler wollen einen Raum bespielen, bestimmen, gestalten durch ihre Kunst. Und damit ist eine alte Lagerhalle, die einfach nur vier Wände hat und ein Dach, der ideale Ort, um dort Kunst zu präsentieren. Autorin 45 Aber Kristian Jarmuschek staunt selbst über die Dimension des Raums. Atmo 50 laute Säge in Halle Autorin 46 Bauarbeiter zimmern gerade das Holzgestell für eine Servicebox, die auf kleinster Fläche all jene Räume beherbergen wird, die eine Galerie so braucht: Büro, Lager, Toiletten, eine Teeküche. Dieser Kubus, sagt Kristian Jarmuschek und lächelt jetzt ganz offen, hat ungefähr die gleiche Fläche wie meine jetzige Galerie in der Sophienstraße. Damit steckt die hier quasi nochmal drin. Man ahnt: Es muss doch ein ganz schöner Schritt sein, die zwar enge, aber gemütliche, etablierte Szene in Berlin-Mitte zu verlassen. O-Ton 35 Kristian Jarmuschek (I, A 3.53) Das Problem ist vielleicht gar nicht, wie teuer das jetzt im einzelnen ist, sondern es gibt einfach keinen Raum mehr. Also wenn ich jetzt fragen würde, ich brauche einen neuen Lagerraum, dann konkurriere ich hier mit Puma, Hugo Boss und anderen Marken. Und da werden Preise aufgerufen, die ich nicht mithalten kann. Und auch nicht will, weil ja sonst das ganze System Galerie nicht mehr funktionieren würde. Atmo 56 Schritte nach draußen Autorin 47 Die Halle am Berlin-Spandauer-Schifffahrtskanal gehörte, wie ein Großteil des Areals an der Heidestraße, bis vor kurzem der bundeseigenen Bahn-Immobilientochter Vivico. Zu Beginn des Jahres hat die C.A. Immo eine österreichische Aktiengesellschaft, die Vivico samt all ihrer Flächen gekauft. Atmo 51 Schaufel und Atmo 52 Bagger Autorin 48 Natürlich liegt es im Interesse der Großgrundbesitzer, das Gelände an der Heidestraße städtebaulich mit zu definieren. Denn sobald das Areal aus seiner Nutzung als Bahnfläche entlassen wird, ist es planerisch eine weiße Fläche. Und die zukünftige Art der Nutzung bestimmt, neben der Bebauungsdichte, den Ertrag der Grundstücke. Will heißen: Wenn aus den ehemaligen Gewerbeflächen städtisches Wohngebiet wird, steigert sich der Wert um ein Vielfaches. Und die zentrale Lage am Wasser, mitten in der Stadt und in Fußweite zur neuen BND-Zentrale, macht auch hochwertige "town houses" vorstellbar. Die Frage ist nur: Wer will als erstes hier hinziehen? Ein Quartier, so sagen Stadtplaner, lebt erst, wenn mindestens 800 bis 1.000 Menschen dort wohnen. Atmo 53 Autos über Kopfsteinpflaster Autorin 49 Bis dahin werden die KFZ-Werkstätten, Getränkegroßmärkte und Galerien noch als Zwischennutzer gebraucht. Vor den Rieck-Hallen werden zwar bereits Schranken aufgestellt, um den Durchgangsverkehr zu stoppen. Noch aber kürzen die Taxis ab und brettern übers Kopfsteinpflaster am Hamburger Bahnhof vorbei, schlängeln sich durch Baustellen und Parkplätze, über Pfützen und Schotter. Denn noch ist die Heidestraße kein Ort zum Verweilen. Noch. O-Ton 36 Kristian Jarmuschek (I, A 2.57) Wir haben in Berlin doch die glückliche Situation, dass die Innenstadt nicht komplett zugebaut ist, sondern wir können hier mal Dinge entwickeln. Und ich würde favorisieren: So lange wir keine bahnbrechende Idee haben, dass der Raum langsam entwickelt wird. Man kann jetzt alles mit Investorenarchitektur zusetzen. Und dann ist es wieder eine der Situationen in Berlin, wo man sagt: Ja, schade! Aber ist leider nicht über Berliner Maßstab hinaus entwickelt worden, so dass die ganze Welt drauf schaut. Autorin 50 Kristian Jarmuschek blickt sich noch mal nach dem zukünftigen Galeriehaus um, dann verlässt er die Bausstelle. MUSIK 5 Tocotronic In höchsten Höhen Atmo 54 Holz sägen Eine Lagerhalle weiter nördlich, neben der KFZ-Werkstatt Schlöricke, steht ein Mann mit Baseballkäppi und schwarzem Kapuzenpulli auf der ehemaligen Verladerampe und sägt Holz. Ich bin, sagt Jimmy Ortzoschowski und grinst, so etwas wie der Hausmeister hier. Schwarze, lange Haarsträhnen fallen ihm in die Stirn, sein Alter ist schwer einzuschätzen. Vor zehn Jahren war er auf der Suche nach einem Unterstand für seine zwei Oldtimer - und als er die 300 qm große Halle an der Heidestraße fand, mietete er sie gleich ganz. O-Ton 37 Jimmy Ortzoschowski (B, 3.95) Also ich bin ja der Erste gewesen, der hier auf dem Komplex war. Das stand mal alles leer und war auch alles brach. Also hier funktionierte nichts mehr. Hier haben also Obdachlose, also die haben hier richtig gehaust und gegrillt und überall lagen so verschimmelte Lebensmittel. Sah ganz schrecklich aus. Und ich habe erstmal Leben wieder hier reingehaucht sozusagen. Atmo 19 Schritte rein in Halle Tür auf zu Zwischenraum "Kauft sich jemand ne neue Couch und.." Autorin 51 Der Anblick ist überwältigend: Fahrräder mit und ohne Lenker, Lampenschirme, Sofas, eine komplette Friseureinrichtung - kein Quadratzentimeter ist ungenutzt. Und Jimmy Ortzoschewski zimmert gerade an einem Zwischengeschoss. O-Ton 38 Jimmy Ortzoschowski (B, 4.27) Die direkten Nachbarn, das sind, glaube ich, die Skaterbahn. Und daneben, das ist die KFZ-Werkstatt. Die nebenan sind ganz nett. Und die von der Werkstatt: Na ja, wenn die nicht so viel Dreck machen würden, wäre es auch janz jut. Also die stellen halt viel Unfallautos, holen die auch von der Autobahn. Sieht eben nicht schön aus, ne? Ich versuche meinen Platz eben halbwegs sauber zu halten, sofern det möglich ist. Weil auch mit den ganzen Touristen... Atmo 55 Schrauben raussuchen Autorin 52 Seit vergangenem Jahr hört der Hausmeister hier nachts auch mal die Bässe wummern. Wenn die vom Club gegenüber ihre Anlage testen, sagt Jimmy Ortzoschowski, dann fliegen mir die Ohren weg. Man sieht seinem Grinsen an, dass ihn das nicht sonderlich stört. Oft kommen auch junge Leute zu ihm in die Halle und fragen, wo genau der Club denn eigentlich ist. Atmo 56 Schrauben bohren O-Ton 39 Jimmy Ortzoschowski (B 4.55) Als die Zäune noch nicht waren, da war viel los hier hinten. Da haben alle möglichen Leute ihr Schäferstündchen hier hinten gemacht. Wenn ich oben am Dach gearbeitet habe, dann war das ganz lustig. Atmo 22 vor Lagerhalle Autorin 53 Jimmy Ortzoschowski geht raus auf die Rampe und zeigt auf den rauchenden Kamin. Dort drüben, im ehemaligen Büro der Lagerhalle, wohnt er mit seiner Familie. Als Hausmeister darf er das. Im Sommer, sagt Jimmy Ortzoschowski und grinst übers ganze Gesicht, kann ich von meinem Liegestuhl aus im Kanal angeln. Sein Mietvertrag läuft noch zwei Jahre. Und dann? O-Ton 40 Jimmy Ortzoschowski Also ich glaube, dass es ein bisschen ruhiger wird. Werkstattmäßig wird hier nicht viel laufen. Also ich denke eher so ein bisschen klassikmäßig - also eben Kunst, ne? Atmo 57 S-Bahn fährt vorbei Autorin 54 Es beginnt zu dämmern. Auf den Türmen des Hamburger Bahnhofs knipsen sich die blauen Neonleuchtstoffröhren an. Wer den Hauptbahnhof verpasst hat, sieht sie vom Zug aus und weiß: Von der Heidestrasse wird sie kommen, die Kunst. In den nächsten zehn Jahren zumindest. SpvD Noch nicht abgegrast. Die neue Kunstadresse in Berlin. Eine Deutschlandrundfahrt mit Stefanie Müller-Frank Musik hoch 1 1